IX – 5 Behandlung von Personen mit Substanzstörungen und

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Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
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Behandlung von Personen mit Substanzstörungen und
ADHS in den Polikliniken der ARUD Zürich
THILO BECK, LUIS FALCATO und DANIEL MEILI
Einleitung
Die ARUD Zürich (Arbeitsgemeinschaft für
risikoarmen Umgang mit Drogen) betreibt
im Raum Zürich vier niederschwellige, interdisziplinäre Polikliniken für Suchtmedizin und ist mit ca. 650 laufenden substitutionsgestützen Behandlungen und ca. 200
Behandlungen von Substanzstörungen ohne
Substitution einer der größten auf Drogenmedizin spezialisierten Anbieter in der
Schweiz. Im Einzugsgebiet des Angebotes
leben ca. 500.000 Einwohner. Die Polikliniken Zokl1 und Zokl2 in Zürich werden mit
dem Schwerpunkt substitutionsgestützte
Behandlung (SGB) für opioidabhängige Personen geführt. Die Poliklinik DBB in Horgen bietet sowohl SGB als auch Abklärung,
Beratung und Behandlung von Personen mit
einem problematischen Konsum anderer legaler und illegaler psychotroper Substanzen
an. In der Poliklinik GAIN, ebenfalls in
Zürich, werden Behandlungen mit Schwerpunkt Kokain, Cannabis, Alkohol und Designerdrogen durchgeführt. Die Patienten
melden sich in allen vier Polikliniken vorwiegend selbst, auf freiwilliger Basis, zur
Behandlung (Selbstzuweisung).
In diesem Beitrag werden zunächst die wesentlichen Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
bei Erwachsenen, im Sinne einer Literaturübersicht des aktuellen, internationalen
Forschungsstandes zusammengefasst. Dabei
wird besonders auf differentialdiagnostische
Überlegungen, komorbide Substanzstörungen und die pharmakologische Behandlung
mit Stimulantien fokussiert. Es werden anschließend der Behandlungsansatz und praktische Erfahrungen in den Polikliniken der
ARUD Zürich beschrieben. Schließlich werden die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Behandlungsdaten der ARUD
Zürich vorgestellt. Untersucht wurden die
zwei Behandlungssettings „niederschwellige,
substitutionsgestützte Behandlung von
Opioidabhängigkeit“ (SGB) und „Behandlung von Substanzstörungen ohne Substitution“ (BOS) hinsichtlich der Häufigkeit der
gestellten ADHS-Diagnosen, der Charakteristika der Patienten mit ADHS und der Einsatz von Methylphenidat bei erwachsenen
Patienten und Patientinnen, die alle primär
wegen einer Substanzstörung in Behandlung
kamen. Wir geben eine vergleichende Beschreibung der ADHS-diagnostizierten Patientinnen und Patienten, die am Stichtag
31.08.2008 in den vier Polikliniken der
ARUD Zürich wegen einer Substanzstörung
(SUD, substance use disorder) in Behandlung waren.
Zusammenfassung
ADHS ist eine häufige Erkrankung, deren
Prävalenz im Kindesalter ca. 8–12% beträgt
und sich bei 50% der Betroffenen von der
Kindheit über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter manifestiert. ADHS kann
zu beträchtlichen sozialen und beruflichen
Beeinträchtigungen führen und ist in ausgeprägtem Maß mit komorbiden Störungen
assoziiert. Die wichtigsten komorbiden
Störungen sind dabei Substanzstörungen,
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Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
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Persönlichkeitsstörungen und Angst- und
Affektstörungen. Die Diagnose einer ADHS
beruht auf klinischen Überlegungen und
Abwägungen. Ein eigentliches Testverfahren
zur Diagnose von ADHS ist nicht verfügbar,
im Rahmen entsprechender Abklärungen
hat sich der Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen und Fremdrating-Instrumenten zur
Unterstützung jedoch bewährt. Die internationalen Diagnostik-Manuale ICD-10 und
DSM-IV präsentieren diagnostische Kriterien, die für Kinder erarbeitet und validiert
worden sind und die Symptomatik im Erwachsenenalter nur ungenügend abbilden.
Auch das in beiden Systemen enthaltene
Kriterium des Beginns der Störung im frühkindlichen Alter stößt auf Kritik. DSM-IV
erlaubt mit einer Konzeption von drei
ADHS-Typen und der Möglichkeit der Diagnose einer teilremittierten ADHS eine differenziertere diagnostische Beurteilung als
ICD-10. Die Ätiologie der ADHS ist multifaktoriell mit starker genetischer Komponente. Pathophysiologisch wird von einer
neurobiologischen Funktionsstörung mit
Beeinträchtigung der dopaminergen Transmission ausgegangen. Liegen mit der ADHS
einhergehende psychosoziale Beeinträchtigungen vor, ist eine Behandlung angezeigt.
Dabei empfiehlt sich eine psychopharmakologische Behandlung kombiniert mit störungsspezifischen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen. Medikation der
ersten Wahl ist Methylphenidat. Methylphenidat erweist sich in den vorliegenden
Behandlungsstudien und follow-up-Untersuchungen als sichere und hocheffiziente
Medikation, es ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine medikationsbedingte erhöhte Prävalenz von komorbiden psychischen Störungen, insbesondere auch von
Substanzstörungen. Bei Patienten mit Substanzstörungen stellt eine umfassende, möglichst routinemäßige Abklärung und die
optimale Behandlung einer diagnostizierten
ADHS (und damit auch der Einsatz von
Methylphenidat) häufig die Voraussetzung
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für eine längerfristig erfolgreiche Behandlung dar.
In unserer retrospektiven Studie zur Prävalenz und Behandlung von Patienten mit
ADHS untersuchten wir die zwei in unseren
Polikliniken angebotenen Behandlungssettings „niederschwellige, substitutionsgestützte Behandlung von Opioidabhängigkeit“ (SGB) und „Behandlung von Substanzstörungen ohne Substitution“ (BOS).
Es zeigte sich, dass insgesamt in 8% der Fälle
die klinische Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
gestellt wurde. In BOS war eine ADHSDiagnose häufiger (12%) als in SGB (7%).
Am häufigsten wurde ADHS diagnostiziert
bei Personen mit einer Substanzstörung
durch Kokain oder Stimulantien, nicht
kombiniert mit einer Störung durch Opioide
(16%).
ADHS diagnostizierte Personen zeigten im
Vergleich mit den übrigen SUD-Patientinnen
und -Patienten tendenziell mehr komorbide
Substanz- und psychische Störungen, eine
schlechtere berufliche Integration und mehr
aktuellen Substanzkonsum.
Die präferierten Substanzen unterschieden
sich je nach Behandlungssetting: In SGB konsumierten die ADHS diagnostizierten Personen signifikant mehr Kokain und Benzodiazepine, in BOS hingegen mehr Cannabis.
Eine Behandlung des ADHS mit Methylphenidat erfolgte, abhängig vom Behandlungssetting, in der Hälfte bis drei Viertel
der Fälle. Die Dosierung von Methylphenidat zeigte eine große interindividuelle Variabilität.
Unsere Befunde zur Patientencharakteristik
von Personen mit ADHS stimmen weitgehend mit der Literatur überein.
Die in der ARUD Zürich gefundene Prävalenz lag erheblich über der Häufigkeit von
ADHS in der Allgemeinbevölkerung. Unter
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Substanzstörungen und ADHS
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Personen mit Substanzstörungen wurde in
internationalen epidemiologischen Untersuchungen mit systematischem Einsatz standardisierter Diagnostik jedoch ein noch
deutlich häufigeres Vorkommen festgestellt.
Dies lässt vermuten, dass ADHS unter den
klinischen Alltagsbedingungen in den Polikliniken der ARUD Zürich tendenziell unterdiagnostiziert wurde.
ADHS ist eine bei Personen mit Substanzstörungen überproportional häufig auftretende Erkrankung, für deren Behandlung
effiziente pharmakologische und psychotherapeutische Mittel zur Verfügung stehen. In
suchtmedizinischen Einrichtungen, insbesondere im Setting von SGB mit oft niederfrequentem Therapeuten-Kontakt, stellt die
Durchführung der für eine entsprechende
Diagnostik notwendigen Abklärungen eine
nicht zu unterschätzende Herausforderung
dar. Es ist angezeigt, im Rahmen der Behandlung von Substanzstörungen routinemäßig und systematisch nach ADHS zu
suchen. Eine entsprechende Schulung und
Weiterbildung der Therapeutinnen und Therapeuten, mit dem Ziel, diese stärker für die
Möglichkeit einer ADHS bei Personen mit
Substanzstörungen zu sensibilisieren, ihr
Fachwissen zu dieser Störung und ihrer
Behandlung zu erhöhen und sie zu einer
stringenten und konsequenten Diagnostik
von adultem ADHS bei Personen mit Substanzstörungen zu befähigen, erscheint empfehlenswert.
Stand der internationalen
Forschung zur
Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitäts-Störung
Dieser Abschnitt gibt einen Überblick des
internationalen Forschungsstandes zur Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitäts-Störung bei
Erwachsenen sowie eine Beschreibung des
Behandlungsansatzes und praktischer Er-
fahrungen in den Polikliniken der ARUD
Zürich.
Epidemiologie
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindesalter hat
weltweit eine Prävalenz von 8–12% (FARAONE et al. 2003). Die transnationale
Prävalenz von ADHS im Erwachsenenalter
beträgt 3,7% und variiert zwischen Werten
von 1,2–7,3% (FAYYAD et al. 2007). Im
Kindesalter wird ADHS häufiger bei Knaben diagnostiziert (GAUB und CARLSON
1997), bei Erwachsenen ist das Geschlechterverhältnis bei Personen mit ADHS ausgeglichen (BIEDERMAN et al. 2004, KESSLER et
al. 2006). Dies könnte einerseits durch eine
höhere Persistenz der Störung beim weiblichen Geschlecht erklärt werden, andererseits durch eine überproportionale Diagnostik von ADHS bei Knaben, die wegen des
gegenüber Mädchen deutlich vermehrten
Auftretens von Störungen des Sozialverhaltens häufiger auffällig werden und auch
dementsprechend häufiger einer Abklärung
zugeführt werden.
Komorbidität von ADHS und
weiteren Störungen
ADHS ist häufig mit weiteren psychischen
und somatischen Störungen assoziiert: In
verschiedenen Studien wurden Lebenszeitprävalenzen komorbider Achse-I-Störungen
zwischen 65% und 86% festgestellt (JACOB
et al. 2007, SOBANSKI et al. 2007). Unter den
psychischen Achse-I-Störungen sind Angst(bis 25a), Affekt- (bis 35%) und Substanzstörungen (bis 50%) am häufigsten mit
ADHS assoziiert. Auch Persönlichkeitsstörungen (bis 60%) sind vermehrt festzustellen, vor allem vom dissozialen, vom borderline und vom zwanghaften Typ (Biederman
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et al. 1993, MANNUZZA et al. 1993, Pliszka
1998). Das Vorhandensein einer Störung
des Sozialverhaltens im Kindesalter, die vor
allem beim I-Typ des ADHS auftritt, ist ein
starker Prädiktor für die Entwicklung komorbider psychischer Störungen und für
einen schwereren Verlauf des ADHS (Fischer et al. 2002, Barkley et al. 2004). Trotz
der teilweise beträchtlichen Symptom-Überlappung konnte Milberger (Milberger et al.
1995) die Validität kombinierter Diagnosen
aufzeigen. Für depressive und bipolare Störungen werden mit ADHS gemeinsame genetische Entstehungsmechanismen angenommen, bezüglich Angststörungen wurde
ein von ADHS unabhängiges familiäres
Auftreten festgestellt (Biederman et al.
1991a, Biederman et al. 1991b).
Komorbidität von ADHS und
Substanzstörungen
Eine hohe Komorbidität von Substanzstörungen und ADHS wurde in verschiedenen
Studien festgestellt und zuverlässig bestätigt. Einschränkend muss erwähnt werden,
dass es sich dabei zum größten Teil um
retrospektive Untersuchungen von Personen
in Behandlung, und nicht um allgemeine
Bevölkerungs-Erhebungen mit longitudinal/
prospektivem Charakter handelt. Bei einem
großen Anteil von Adoleszenten und Erwachsenen mit ADHS sind Substanzstörungen zu finden, und bei vielen Personen mit
Substanzstörung kann ein ADHS festgestellt
werden (Sullivan und Rudnik-Levin 2001).
• Bei Erwachsenen mit ADHS wurde bei
17–45% ein problematischer Alkoholkonsum und bei 9 – 30% ein problematischer Konsum illegaler Substanzen festgestellt (Mannuzza et al. 1998, Wilens
2006). Bei Adoleszenten mit ADHS werden teilweise noch höhere Prävalenzraten
von Substanzstörungen bis 63% beschrieben (Shrier et al. 2003). Bei Perso4
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nen mit ADHS wurde eine Störung des
Sozialverhaltens im Kindesalter als maßgeblicher Risikofaktor für die Entwicklung einer Substanzstörung identifiziert
(Wilens und Biederman 1993, Lynskey
und Fergusson 1995).
• In Untersuchungen von adoleszenten und
erwachsenen Personen mit Substanzstörungen zeigen sich Prävalenzraten von
ADHS von 22–34% (Eyre et al. 1982,
Rounsaville et al. 1991, Gordon et al.
2004).
Psychopathologie und Diagnostik
ADHS ist eine klinische Diagnose, die entsprechend diagnostischen Kriterien nach
DSM-IV oder ICD-10 gestellt wird. Es gibt
gegenwärtig keinen standardisierten, diagnostischen ADHS-Test! Die Benutzung von
Rating-Skalen als Hilfsmittel zur Diagnostik
und zur Verlaufskontrolle ist jedoch sinnvoll. Das Bestehen von relevanten Beeinträchtigungen und Defizite in verschiedenen
Bereichen der Lebensführung im Längs- und
Querschnitt ist bei Erwachsenen für die
Diagnose eines ADHS unbedingt zu bestätigen. Die Manifestation der Psychopathologie von ADHS kann grob in die Bereiche
Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität, affektive Dysregulation und Desorganisation eingeteilt werden. In ICD-10 und
DSM-IV werden zur Diagnostik in weitgehender Übereinstimmung 18 Kriterien angeführt, die bezüglich Reliabilität und Validität in Feldstudien bei Kindern gesichert
wurden. Bei Erwachsenen sind dementsprechende Studien bisher nicht durchgeführt
worden. DSM-IV unterteilt ADHS in drei
Subtypen, den hyperaktiven-impulsiven
(HI), den unaufmerksamen (I) und den
kombinierten Typ, wobei für die Diagnose
von HI und I jeweils mindestens sechs von
neun, beim kombinierten zwölf der vorgegebenen Symptome vorhanden sein müssen.
Zusätzlich bietet DSM-IV die Möglichkeit,
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die ADHS-Diagnose „teilweise remittiert“
zu stellen, wenn bei einem Patienten mit
anamnestisch bekanntem Vollbild einer
ADHS eine Teilremission eingetreten ist und
die diagnostischen Kriterien nicht mehr
vollständig erfüllt sind. ICD-10 kennt keine
derartige Unterscheidung, die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nach
ICD-10 entspricht dabei weitgehend dem
kombinierten ADHS-Typ nach DSM-IV.
Vorausgesetzt wird weiterhin, dass die festgestellten Symptome aktuell in mindestens
zwei Lebensbereichen (z.B. Arbeitsplatz, Familie) zu Funktionsbeeinträchtigungen führen und nicht plausibler durch eine andere
psychische Störung, einen medizinischen
Krankheitsfaktor oder durch die Einnahme
psychotroper Substanzen erklärt werden
können. Beiden Klassifikationssystemen gemeinsam ist die Forderung, dass die Symptomatik zumindest teilweise bereits im frühen Kindesalter (DSM-IV: vor dem 7. Lebensjahr) bestanden hat. Dieses Kriterium
wird in Fachkreisen kritisch diskutiert mit
der Forderung nach einer Lockerung mit
möglicher Erstmanifestation bis in die Adoleszenz (Applegate et al. 1997, Barkley und
Biederman 1997). Ein weiterer Kritikpunkt
am aktuellen Beurteilungssystem nach
DSM-IV und ICD-10 ist eine fehlende Berücksichtigung des sich im Erwachsenenalter verändernden klinischen Bildes von
ADHS. Die ausgedehnte, sowohl in DSMIV und ICD-10 vorgegebene Symptomliste,
wird von diesen Kritikern für die Diagnostik
im Erwachsenenalter als wenig sinnvoll beurteilt, indem der vor allem im Kindesalter
ausgeprägte hyperkinetische Anteil und eine
verhaltensorientierte Symptomatik überbetont und die Erfassung der neuropsychologischen Defizite im Bereich der Exekutivfunktionen vernachlässigt werde (Mcgough
und Barkley 2004). Die Kritik einer Überbetonung hyperkinetischer Anteile wird auch
für die für die Symptomatik des Erwachsenenalters von Wender erarbeiteten UtahKriterien für die Diagnostik des adulten
ADHS (WENDER 1995) ins Feld geführt.
Zur Unterstützung im diagnostischen Abklärungsprozess und zur Verlaufsbeurteilung empfiehlt sich die Anwendung standardisierter Instrumente, die in Form von Skalen, Fremd- und Selbstbeurteilungsbögen
und Interviews zur Verfügung stehen. In
deutscher Sprache und im deutschen
Sprachraum validiert stehen zur Erhebung
der psychopathologischen Kriterien zum
Beispiel die ADHS Selbstbeurteilungsskala
(ADHS-SB) und als Fremdbeurteilung die
ADHS Diagnostische Checkliste (ADHSDC) (Rosler et al. 2004) zur Verfügung. Zur
retrospektiven Erhebung kindlicher ADHSSymptomatik durch die Betroffenen dient
die Wender-Utah Rating Scale, deutsche
Kurzform (WURS-K) (Retz-Junginger et al.
2002, Retz-Junginger et al. 2003). Die Wender-Reinherr-Adult-Attention-Deficit-Disorder-Scale in deutscher Fassung (WRI)
(Rosler et al. 2008) dient als diagnostisches
Interview nach DSM-IV und berücksichtigt
neben den für Kinder entwickelten Kriterien
spezielle Erlebnisphänomene von Erwachsenen. Das ebenfalls in Deutscher Übersetzung und Validierung erhältliche Barkley
und Murphy-Adult-Interview (AI) (Barkley
und Murphy 1998) ermöglicht neben der
Erfassung diagnostischer Kriterien auch die
Beurteilung von Beeinträchtigungen im Alltag, wie auch die beiden im deutschen
Sprachraum nicht validierten und im amerikanischen Raum angewandten standardisierten Interviews, das Connors-AdultADHD-Diagnostic-Interview
(CAADID)
(Epstein et al. 2001) und die Brown ADD
Rating Scale (BADDS) (Brown 1996).
Differentielle Diagnostik
Zur Abgrenzung komorbider psychischer
Störungen von ADHS ist zunächst die Manifestation der Symptomatik im Verlauf zu
beachten. Während ADHS spätestens in der
Adoleszenz auftritt und im weiteren Verlauf
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eine typischerweise kontinuierliche und anhaltende Symptommanifestation aufweist,
zeigen andere Achse-I-Störungen meist einen episodischen Verlauf mit späterer Erstmanifestation. Probleme bei der Differentialdiagnose verursachen die oft überlappende Symptomatik mit schweren depressiven Störungen (psychomotorische Auffälligkeit, Störung des Konzentrationsvermögens), bipolaren Störungen (psychomotorische Erregung, Logorrhoe, Ablenkbarkeit)
und generalisierten Angststörungen (Unruhe, Konzentrationsstörungen).
Barkley hat ausgehend von seiner Theorie
der beeinträchtigten Exekutivfunktionen
zur Erklärung von ADHS 6 Leitsymptome
identifiziert, die mit 85%iger Sicherheit die
differentielle Diagnose ADHS bei komorbiden Erwachsenen ermöglichen (Barkley
1997, Barkley et al. 2007). Dabei handelt es
sich um:
1. impulsive Entscheidungsfindung,
2. Schwierigkeit, Aktivitäten oder Verhalten
zu beenden wenn erforderlich,
3. Einstieg in Projekte oder Aufgaben ohne
sorgfältiges Beachten schriftlicher oder
mündlicher Anweisungen,
4. unvollständige Ausführung von Vorhaben,
5. Schwierigkeiten, Aufgaben in der vorgesehenen Reihenfolge auszuführen,
6. Autofahren mit überhöhter Geschwindigkeit.
Verlauf und Auswirkungen der
ADHS
In Fachkreisen ist mittlerweile unbestritten,
dass die Störung nicht, wie bis vor 30 Jahren
grundsätzlich angenommen, im Verlauf der
Kindheit remittiert. In longitudinalen Studien konnte gezeigt werden, dass es sich bei
ADHS um eine chronische Störung handelt,
die bei einem beträchtlichen Anteil der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter persi6
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stiert (Biederman et al. 2000, Barkley et al.
2002, Barbaresi et al. 2004). Der Anteil der
Störungen mit voller, die diagnostischen
Kriterien erfüllender Ausbildung geht im
Längsschnitt zwar zurück (abnehmende
syndromale Persistenz), bis zu 70% der
Erwachsenen zeigen aber weiterhin mindestens 1/3 der für die Diagnose erforderlichen
Symptome und sind in ihrer Lebensführung
dadurch maßgeblich beeinträchtigt (anhaltende symptomatische Persistenz) (Biederman et al. 2006a). Erwachsenen mit
ADHS-Diagnose zeigen im Vergleich mit
gesunden Kontrollen eine Beeinträchtigung
der schulischen/beruflichen Entwicklung,
eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit, erhöhtes Risiko für Unfälle und Missachtung von Regeln des Straßenverkehrs,
sexuelles Risikoverhalten, Probleme bei der
sozialen Beziehungsgestaltung und ein deutlich erhöhtes Auftreten von Substanzstörungen (Morrison 1980, Biederman et al. 1998,
Heiligenstein et al. 1999, Barkley et al.
2006).
Funktionale und strukturelle
Veränderungen, Ätiopathologie
Auf Grund neurobiologischer Untersuchungen lassen sich funktionale und strukturelle
Veränderungen im Bereich des präfrontalen
Cortex und projezierender subcortikaler
Strukturen wie dem Striatum, dem anterioren Cingulum, dem Corpus callosus und
dem Cerebellum feststellen (Seidman et al.
2005, Schneider et al. 2006). ADHS ist eine
Erkrankung mit starker genetischer Verankerung, wie mit Familien-, Zwillings- und
Adoptionsstudien gezeigt wurde. Multiple
genetische Faktoren und Polymorphismen
tragen mit 80% zur Ausbildung von ADHS
bei. Eltern und Kinder von ADHS-Betroffenen weisen ein 2- bis 8-faches Risiko auf,
ebenfalls an ADHS zu erkranken (Biederman et al. 1990, Smalley 1997, Faraone und
Biederman 1998). Auf molekulargeneti-
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scher Ebene konnten Assoziationen mit Veränderungen des D4 und des D5-Rezeptorgens, des Dopamin-Transportergens und
des Serotonin1B-Rezeptorgens festgestellt
werden (Khan und Faraone 2006). Damit
wird, unterstützt von den Erkenntnissen aus
Untersuchungen mit funktionellen bildgebenden Verfahren, bei ADHS von einer
Dysfunktion neuronaler Netzwerke und einer Synapsenpathologie auf der Basis von
Dopamin-, Norepinephrin- und Serotoninsystemen ausgegangen (Bush et al. 2005).
Die damit verbundenen neuropsychologischen Defizite liegen im Bereich der Exekutiv-Funktionen, der motorischen Kontrolle
und der kortikalen Inhibition. Neben genetischen Faktoren tragen prä-, peri- und postnatale Umwelt-Faktoren und kindliche Risiko-Konstellationen zusätzlich zur Entwicklung von ADHS bei. Relativ gesichert
ist der Einfluss von prä- und postnatalem
Jodmangel und weiter Störungen der Schilddrüsenfunktion, pränataler Bleiexposition,
mütterlichem Konsum von Tabak, Alkohol
oder Kokain in der Schwangerschaft, extremer Frühgeburt und niedrigem Geburtsgewicht, perinataler anoxischer oder ischämischer Hirnschädigung, viralen Infekten und
Enzephalitiden/Meningitiden (Hauser et al.
1993, Weiss et al. 1993, Suresh et al. 1999,
Obel et al. 2008, Linnet et al. 2003, Knopik
et al. 2006, Braun et al. 2006, Mick et al.
1996, Mick et al. 2002, St Sauver et al.
2004). Weniger klar ist die Datenlage bezüglich des möglichen Einflusses von Eisen- und
Zinkmangel auf den Verlauf von ADHS.
Auch Hinweise auf den Nutzen einer diätetischen Supplementation von Omega-3Fettsäuren bedürfen der Überprüfung durch
weitere kontrollierte Studien (Konofal et al.
2004, Arnold und Disilvestro 2005, Arnold
et al. 2005, Richardson und Montgomery
2005).
Behandlung von ADHS
Bei Erwachsenen, die unter relevanten
ADHS-bedingten Beeinträchtigungen leiden, ist eine Behandlung angezeigt. Trotz
der verhältnismäßig hohen Prävalenz ist der
größte Teil der Erwachsenen mit ADHS
jedoch nicht in Behandlung. Gemäß einer
amerikanischen Bevölkerungsbefragung beläuft sich der Anteil der Behandelten unter
ADHS-Betroffenen auf nur 11% (Kessler et
al. 2006).
Zur Behandlung wird die Kombination
pharmakotherapeutischer mit psychotherapeutischen bzw. psychosozialen Interventionen empfohlen. Im Gegensatz zu Kindern
mit ADHS hat sich dabei bei Erwachsenen
die Anwendung von kognitiv-behavioralen
Therapieansätze zur Verbesserung bestehender Defizite und Beeinträchtigungen als
wirksam erwiesen. Pharmakotherapeutisch
sind sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen Stimulantien, vor allem in retardierter Form, Mittel der ersten Wahl
(Spencer et al. 1996, Wender 1998, Pliszka
2007). Hier wird in der Schweiz und in
Deutschland als Medikation der ersten
Wahl Methylphenidat verwendet, bei Erwachsenen immer noch im off-label-use, bis
auf das retardierte Präparat Concerta® in
der Schweiz. Ca 75% der mit Stimulantien
behandelten Erwachsenen sprechen auf die
Behandlung an, wobei die Wirkung dosisabhängig ist, so wie auch unerwünschte Wirkungen (Appetitlosigkeit, Schlafstörungen,
Kopfschmerzen, Tachykardie, Hypertonie)
bei höheren Dosierungen zunehmen. Bei
einem Teil der Patienten präsentieren sich
zum Teil massive Schlafstörungen als vorbestehende ADHS-Symptomatik und normalisieren sich erst unter Behandlung mit Methylphenidat, wobei in diesen Fällen oft ein
Teil der Dosis auf die Nacht eingenommen
wird. Bei Methylphenidat wird von einer
mittleren Dosis von 1 mg/kg KG ausgegangen. Die Dosiseinstellung erfolgt schritt-
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Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
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weise mit nicht retardiertem Methylphenidat mit einer Initialdosis von 5 mg und
Dosissteigerungen von 5–10 mg in etwa 2–3
täglichen Abständen gemäß klinischem Effekt und Verträglichkeit. EKG, Blutdruck,
Puls und Körpergewicht sollten vor Behandlungsbeginn bestimmt und im Behandlungsverlauf regelmäßig kontrolliert werden. Vor
allem in der Behandlung von Patienten mit
Abhängigkeitsstörungen hat sich wegen des
im Vergleich zu nicht-retardiertem Methylphenidat noch geringeren Suchtpotentials
und der eingeschränkten Möglichkeit einer
missbräuchlichen nasalen oder intravenösen
Einnahme die Anwendung retardierter
Formulierungen in Tablettenform bewährt.
Als Alternative zu Methylphenidat stehen
Atomoxetin, Bupropion oder weitere
noradrenerg wirksame Antidepressiva zur
Verfügung. Sowohl Stimulantien wie auch
Atomoxetin erwiesen sich in größeren Studien als wirksam zur Behandlung der drei
ADHS-Kernsymptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, wobei
Stimulantien größere Effekte zeigten (Faraone et al. 2004, Spencer et al. 2006).
Komorbide psychische Störungen müssen
parallel zur ADHS behandelt werden. Entgegen der weit verbreiteten Meinung erhöht
eine Stimulantienbehandlung das Risiko für
die Entwicklung einer Substanzstörung
nicht, es konnte im Gegenteil im Rahmen
einer longitudinalen Studie unter Stimulantienbehandlung eine 85%-Reduktion des
Risikos festgestellt werden, eine Substanzstörung zu entwickeln (Biederman et al.
1999). Dieser protektive Effekt scheint aber
zumindest für die Entwicklung von Substanzstörungen nach der Adoleszenz abzuklingen, wie in einer 10-Jahres-follow-upStudie von betroffenen Kindern bis in das
Erwachsenenalter festgestellt wurde. Das
Risiko für die Entwicklung komorbider
Achse-I Störungen unter Stimulantienbehandlung wurde in dieser Studie für Affektund Angststörungen als vermindert, für
Substanzstörungen als insgesamt nicht er-
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höht beurteilt (Biederman et al. 2008, Biederman et al. 2009).
ADHS und Substanzstörungen
Es wird von einer gemeinsamen genetischen
Prädisposition für ADHS und Substanzstörungen ausgegangen (Mcgue et al. 2000,
Faraone 2004). Psychische Komorbidität
stellt einen unabhängigen zusätzlichen Risikofaktor für die Entwicklung einer Substanzstörung bei Personen mit ADHS dar
(Wilens 2006), so wie auch früher Tabakkonsum als Risikofaktor für die Entwicklung weiterer Substanzstörungen gilt (Biederman et al. 2006c). ADHS ist ein signifikanter Prädiktor für einen frühen Einstieg in
Tabakkonsum mit einer schlechteren Ausstiegsrate und einer größeren Wahrscheinlichkeit, den Konsum bis in das Erwachsenenalter weiterzuführen (Kollins et al. 2005,
Fuemmeler et al. 2007, Mcclernon et al.
2008). Auch andere psychotrope Substanzen werden von Personen mit ADHS früher,
exzessiver und langfristig problematischer
konsumiert (Wilens et al. 1998, Ercan et al.
2003). Ob bezüglich der Wahl der Substanzklasse eine Präferenz für Stimulantien (Kokain, Amphetamin, Nikotin) besteht, wird
kontrovers diskutiert und ist aufgrund der
ungenügenden Datenlage nicht abschließend zu beantworten (Lynskey und Hall
2001, Carroll und Rounsaville 1993, Biederman et al. 1995). Ebenfalls kontrovers
diskutiert wird der Einsatz von Stimulantien
zur Behandlung von Personen mit ADHS
und Substanzstörungen, da von Gegnern
eine Triggerung einer Substanzstörung befürchtet wird (Goldman et al. 1998). In
vielen Leitlinien und Konsensuspapieren
wird vom Einsatz von Stimulantien bei Personen mit ADHS und Substanzstörungen
generell abgeraten, oder erst nach einer
gewissen Karenzfrist nach erfolgtem Entzug
empfohlen. Die Datenlage unterstützt diese
Befürchtungen und entsprechende Empfeh-
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lungen jedoch nicht: In einer Placebo-kontrollierten Behandlungsstudie von Adoleszenten mit ADHS und Substanzstörung
konnte mit dem Einsatz der Stimulans Pemolin eine signifikante Verbesserung der
ADHS-Symptomatik festgestellt werden.
Die Studienteilnehmer erhielten im Rahmen
dieser Studie keine spezifische Behandlung
der Substanzstörung. Der Konsum von psychotropen Substanzen blieb im Rahmen
dieser 12-wöchigen Studie unverändert
(Riggs et al. 2004). In einer Pilotstudie
konnte bei zwölf kokainabhängigen Personen mit ADHS unter Behandlung mit Methylphenidat und wöchentlichem RückfallPräventionsprogramm (Levin et al. 1998)
eine signifikante Verbesserung der ADHSSymptomatik und ein Rückgang des Kokainkonsums erreicht werden. Ein Triggeroder Gateway-Effekt scheint auch unter
Berücksichtigung des in longitudinalen Studien festgestellten präventiven Effekts der
Stimulantienbehandlung nicht zu bestehen
(Biederman et al. 1999). Die StimulantienBehandlung von Personen mit ADHS und
Substanzstörung scheint also in einem Setting, in dem beide Störungen adäquat behandelt werden können, sinnvoll und vertretbar. Bei der Anwendung von Stimulantien zur Behandlung von ADHS bei Personen mit Substanzstörung wird, zur Reduzierung des Missbrauchspotentials, der Einsatz
retardierter Präparate empfohlen.
Erfahrungen in den Polikliniken
der ARUD Zürich
Die Patienten der ARUD Zürich melden sich
in allen vier Polikliniken in der Regel selbst,
auf freiwilliger Basis, zur Behandlung
(Selbstzuweisung). Die Zuweisung erfolgt
meist wegen eines problematischen Substanzkonsums und den direkt damit verbundenen Beschwerden und Beeinträchtigun-
gen. Das Vorliegen einer ADHS ist bei
Behandlungsbeginn oft nicht bekannt und
wird erst in der Folge der Behandlung durch
den Therapeuten festgestellt. Dazu muss der
initiale Behandlungsauftrag revidiert und
eine zusätzliche Abklärung durchgeführt
werden. Vor allem im Bereich der Substitutionsgestützten Behandlungen (SGB) stellt
die Realisierung einer adäquaten ADHSAbklärung eine Herausforderung dar, da
Patienten bei Eintritt erst für zusätzliche,
über das zur Führung der SGB im engeren
Sinne notwendige Minimum hinausgehende
Gespräche motiviert werden müssen. Das
Erarbeiten eines entsprechenden Abklärungs- und gegebenenfalls Behandlungsauftrags ist oft erst im weiteren Verlauf der
Behandlung möglich. Patienten werden im
Sinne eines Screenings bei Eintritt und im
Verlauf immer wieder auf ADHS-Symptome
im Quer- und im Längsschnitt angesprochen
und differentialdiagnostisch beurteilt. Als
besondere Hinweise zur Abklärung werden
impulsives Verhalten, exzessiver und anhaltender (Bei)konsum und mangelhafte Adherence gewertet. Bei Vorliegen eines ADHS
ist Methylphenidat die Medikation erster
Wahl, wobei wegen der unkomplizierten
Einnahme und dem eingeschränkten Missbrauchspotential (nasale oder intravenöse
Einnahme) wenn möglich die Retard-Tabletten-Form (Concerta®) gewählt wird. Besonders bei instabilen und beeinträchtigten
Patienten mit dekompensiertem Substanzkonsum schafft in vielen Fällen erst der
rasche Beginn einer Methylphenidatbehandlung die notwendigen Vorraussetzungen für
die Durchführung einer kontinuierlichen,
umfassenden Therapie des ADHS, der Substanzstörung(en) und eventueller weiterer
komorbider psychischer Störungen. Sowohl
im Setting der substitutionsgestützten Behandlungen wie auch in der Behandlung
nicht opioidabhängiger Patienten hat sich
dieser Ansatz bewährt.
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
9
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 10 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Empirischer Teil
Nachdem im ersten Teil einen Überblick des
aktuellen Forschungsstands gegeben wurde,
folgt nun eine empirische Untersuchung der
ADHS-diagnostizierten Patienten und Patientinnen anhand von Behandlungsdaten der
ARUD Zürich. Die Auswertung bezieht sich
auf erwachsene Patientinnen und Patienten,
die alle primär wegen einer Substanzstörung
(SUD, substance use disorder) in Behandlung sind. Dabei gingen wir folgenden Fragen nach:
Fragestellungen
1. Wie hoch ist die Prävalenz diagnostizierter adulter ADHS in der ARUD Zürich?
2. Wie unterscheidet sich die ADHS-Prävalenz nach Behandlungssettings?
3. Wie unterscheidet sich die ADHS-Prävalenz bei unterschiedlichen Substanzstörungen?
4. Wie unterscheiden sich ADHS diagnostizierte Personen von den übrigen Patienten und Patientinnen mit Substanzstörungen?
5. Wie unterscheiden sich ADHS diagnostizierte SUD-Patienten zwischen den Behandlungssettings (substitutionsgestützt
vs. ohne Substitution)?
6. Wie hoch ist der Anteil mit Methylphenidat behandelter ADHS diagnostizierter
SUD-Patienten in den beiden Behandlungssettings?
7. Wie hoch ist die Dosierung des Methylphenidats in den beiden Behandlungssettings?
Material und Methode
Die Abklärung und Diagnose von ADHS
erfolgt in den Polikliniken der ARUD Zürich unter Berücksichtigung der im Klinikalltag gegebenen Verhältnisse und Möglich10
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
keiten. Auch angesichts der diskutierten
Einschränkungen der bestehenden Instrumente bezüglich der ADHS-Diagnostik im
Erwachsenenalter wird die Diagnostik nicht
standardisiert durchgeführt, sondern auf
Basis der beschriebenen, praxisorientierten
und pragmatischen Kriterien, mit denen auf
eine fundierte Erfassung der klinisch relevanten Störungen und Beeinträchtigungen
fokussiert wird.
Studiendesign und Datenbasis
Eingeschlossen wurden die laufenden Behandlungen aller Polikliniken der ARUD
Zürich per 31.08.2008 (n = 867). Es wurde
unterschieden nach den beiden Behandlungssettings „Substitutionsbehandlung bei
Opioidabhängigkeit“ (SGB; n = 652, 75%)
und „Behandlung ohne Substitution für andere Substanzstörungen (BOS; n = 215,
25%).
In der SGB-Gruppe wurden 64% mit Methadon, 25% mit Heroin, 7% mit Buprenorphin und 4% mit Morphin behandelt.
In der BOS-Gruppe kam, wie auch für
Patienten in SGB, ein breites Spektrum von
substanzspezifischen und weiteren, zur Behandlung sonstiger komorbider psychischer
Störungen angewandter psychotherapeutischer und psychopharmakologischer Interventionen zum Einsatz.
Von den 867 Patienten und Patientinnen
hatten 40% eine Störung durch Opioide
aber nicht durch Kokain/Stimulantien. Umgekehrt hatten 11% eine Störung durch
Kokain/Stimulantien nicht aber durch
Opioide. 36% hatten gleichzeitig Störungen
durch Opioide und Kokain/Stimulantien.
Für weitere 11% stand(en) die Störung(en)
mit keiner dieser Substanzen im Zusammenhang. Diese Personen hatten insbesondere
einen problematischen Konsum von Cannabis oder Alkohol.
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 11 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Tabelle 1: Behandlungssetting und diagnostische Gruppen mit/ohne Störung durch Opioide und/oder
Kokain bzw. Stimulantien
Diagnosen
Setting
Opioide
(F11)
Kokain/Stimulantien
(F14/F15)
Anz./%
BOS
Nein
Nein
n = 96/11 %
Nein
Ja
n = 116/13 %
Ja
Nein
n = 346/40 %
Ja
Ja
n = 309/36 %
SGB
Datenquellen und -erhebung
Die Erhebung der Merkmale zur Beschreibung der sozialen Integration und die Konsumanamnese erfolgte im Rahmen der
ARUD Zürich Basisevaluation. Die verwendeten Instrumente werden seit Anfang 2005
bei Eintritt und im Verlauf der Behandlung
in halbjährlichen Followups in allen Polikliniken eingesetzt.
Es wurden die Angaben aus der ersten
verfügbaren Datenerhebung der Behandlungen verwendet, 72% stammen aus der Eintrittsbefragung, 27% ersatzweise aus einer
Verlaufsbefragung. Für die Gruppe mit zusätzlicher Opioidabhängigkeit musste häufiger auf eine Verlaufsbefragung abgestützt
werden (35%) als in der Kontrollgruppe
(16%). Der Anteil verwendeter Eintrittsund Verlaufsbögen in den beiden untersuchten Gruppen unterschied sich jedoch nicht
signifikant. Für zehn Behandlungen lagen
keine Angaben zur sozialen Integration und
Konsumanamnese vor.
Die Angaben zu Alter und Geschlecht sowie
die Diagnose-Codes nach ICD-10 entstammen der elektronischen Krankengeschichte.
Für die Poliklinik Zokl1 waren Angaben zur
Dosierung des Methylphenidats durch die
computergestützte Abgabe registriert und
wurden aus diesem System übernommen.
Für diese Behandlungen wurde der DosisMittelwert der gesamten Medikationsdauer
verwendet. Für die übrigen Polikliniken
wurde die Angabe zur Dosis am Stichtag
31.08.2008 benützt.
Die Dosierung wurde in Methylphenidatäquivalente umgerechnet, wobei für nicht
retardiertes Methylphenidat (Ritalin®) der
Faktor 1 und für die häufig verwendete
retardierte Wirkform Concerta® gemäß Angaben des Herstellers der Faktor 0,83 verwendet wurde (Jannsen-Cilag 2006).
Ergebnisse
ADHS-Prävalenz in der ARUD Zürich
Die diagnostizierte Prävalenz von (adulter)
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betrug unter den in der
ARUD Zürich behandelten Personen insgesamt 8%. Die Angaben schwankten je nach
Poliklinik zwischen 4,1 und 11,5%, wobei
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
11
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 12 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Tabelle 2:
Prävalenz von ADHS-Diagnosen nach Poliklinik
Zokl1
(n = 34/449)
Zokl2
(n = 6/143)
DBB
(n = 5/58)
GAIN
n = 22/191)
ARUD Total
(n = 67/841)
7,6 %
4,2 %
8,6 %
11,5 %
8%
Nach Absprache Krüger/Linnemann am 26.10.2009. -> Alle Bilder wurden
erst einmal grob aus WORD übernommen, mit der Bitte um Entscheidung,
ob Neuzeichnung notwendig ist. Wird dann in AK-Phase erledigt.
Abb. 1:
Prävalenz ADHS-Diagnose nach Geschlecht
sie im spezialisierten Angebot für Probleme
mit Cannabis, Kokain und Partydrogen
(GAIN) am höchsten waren. Die Unterschiede zwischen den vier Polikliniken waren jedoch nicht signifikant.
Die Prävalenzen unterschieden sich deutlich
zwischen den beiden Behandlungssettings:
In der BOS-Gruppe war bei 12% ADHS
diagnostiziert, gegenüber 7% in der SGBGruppe (p =. 004). In beiden Gruppen
wurde kein Geschlechterunterschied gefunden (Abb. 1).
Der Vergleich nach Diagnose-Gruppen
(Abb. 2) zeigte wiederum einen deutlichen
12
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
Unterschied zwischen den beiden Behandlungssettings (p = .001). Wir fanden eine
deutlich höhere Prävalenz der ADHS-Diagnosen für Personen ohne Substanzstörung
durch Opioide (BOS), wobei dort Patienten
mit einer Störung durch Kokain und/oder
Stimulantien den höchsten Anteil ADHSDiagnosen (16,4 vs. 10%) aufwiesen. Auch
in den substitutionsgestützten Behandlungen war die ADHS-Prävalenz bei zusätzlichem Vorhandensein einer F14/F15-Diagnose (Kokain, Stimulantien) höher (7,8 vs.
4,9%). Diese Unterschiede innerhalb der
Behandlungssettings waren jedoch statistisch nicht signifikant.
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 13 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Abb. 2:
Diagnosegruppen
ADHS-diagnostizierte Personen im
Vergleich zu SUD-PatientInnen
ohne ADHS
Gruppe (36,6 J.) über demjenigen der Personen ohne ADHS (33,1 J.).
Soziale Integration
In den folgenden Analysen wurden die
Merkmale von Personen mit und ohne
ADHS-Diagnose getrennt nach Behandlungssetting verglichen.
Demographie
Insgesamt bestand kein Unterschied zwischen den Geschlechtern (Frauenanteil
28%) und im Durchschnittsalter (ADHS:
35,7 J.; andere 37,7 J.). Innerhalb der substitutionsgestützten Behandlungen waren
die Personen mit ADHS-Diagnose im
Durchschnitt signifikant jünger (35,1 J.) als
diejenigen ohne ADHS (39,1 J.). Bei den
Behandlungen ohne Substitution hingegen
lag das Durchschnittsalter in der ADHS-
In beiden Gruppen hatten ca. die Hälfte der
Patienten/-innen eine(n) Partner/-in (mit
ADHS: 53,2%; ohne ADHS: 47,1%). Kontakt zur Herkunftsfamilie (Eltern, Geschwister) wurde von 57% in der Kontrollgruppe
und 53% der Personen mit ADHS angegeben, wobei in der ADHS-Gruppe die Beziehungsqualität tendenziell schlechter beurteilt wurde. 36% der Personen mit ADHS
bezeichneten den Kontakt zur Herkunftsfamilie als schlecht, gegenüber 25% in der
Vergleichsgruppe ohne ADHS.
Bezüglich der Arbeitsintegration und Finanzierung des Lebensunterhalts fanden sich,
auf unterschiedlichem Niveau, in beiden
Behandlungssettings ähnliche Unterschiede
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
13
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 14 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Abb. 3:
Erwerbsstatus
Abb. 4:
Finanzierung Lebensunterhalt
14
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
Med. Therapiemöglichkeiten
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 15 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Abb. 5:
Kokainkonsumenten im Freundes-/Bekantenkreis
zwischen Personen ohne/mit ADHS-Diagnose.
Insgesamt hatten Personen mit ADHS-Diagnose tendenziell eher eine Gelegenheitsarbeit, waren in einem Arbeitsprogramm oder
auf Stellensuche (ADHS: 31,5%; andere
18,3%, p=.062). Die ADHS-Gruppe hatte
auch schlechtere Werte hinsichtlich der
hauptsächlichen Finanzierungsquelle des
Lebensunterhalts.
ADHS-PatientInnen berichteten über etwas
mehr Kokainkonsumierende im Bekanntenkreis als die Vergleichsgruppe der SUDPatienten ohne ADHS, die Unterschiede
zwischen den Angaben waren jedoch gering.
In der Mehrzahl der Fälle wurden keine bis
wenige Kokainkonsumierende im Freundes/Bekanntenkreis angaben.
Andere diagnostizierte Störungen
(Komorbidität)
Substanzstörungen
Sowohl in substitutionsgestützten Behandlungen wie auch in Behandlungen ohne
Substitution waren bei Personen mit ADHSDiagnose Substanzstörungen durch Kokain
oder Cannabinoide etwas häufiger. Bei Alkohol, Sedativa und Stimulantien fanden
wir je nach Behandlungssetting gegenläufige
Unterschiede, z.B. in SGB mehr Störungen
durch Alkohol/Sedativa bei ADHS vs. weniger Störungen durch Alkohol/Sedativa bei
ADHS in BOS.
Andere psychische Störungen
Wir fanden insgesamt keine signifikanten
Unterschiede bei weiteren diagnostizierten
psychiatrischen Störungen zwischen ADHSGruppe und SUD-Patienten ohne ADHS.
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15
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Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Abb. 6:
Störungen durch psychotrope Substanzen
Abb. 7:
Psychiatrische Komorbiditäten zur primären Substanzstörung
16
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 17 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Neben grundsätzlichen Niveau-Unterschieden zwischen den Behandlungssettings waren in den Gruppenvergleichen ohne/mit
ADHS wiederum sowohl gleichgerichtete als
auch gegenläufige Unterschiede festzustellen:
In beiden Settings, jedoch insbesondere in
BOS, hatte die ADHS-Gruppe eine höhere
Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen. Andererseits war die Prävalenz affektiver Diagnosen nur unter ADHS-Patienten in SGB
erhöht, während sie in BOS tiefer lag.
Abb. 8:
Konsum psychotroper Substanzen
Beim Substanzkonsum während der 30 Tage
vor dem Erhebungszeitpunkt des verwendeten Fragebogens zeigte die ADHS-Gruppe in
substitutionsgestützter Behandlung signifikant mehr Konsumtage von Kokain
(p = .031) und Benzodiazepinen (p = .045).
Ebenfalls erhöht waren bei der ADHSGruppe in diesem Behandlungssetting die
Konsumtage von Crack, Cocktail und Opiaten.
An mehr als 5 Tagen/Monat konsumierte Substanzen
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
17
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Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Abb. 9:
Jemals eine illegale Substanz injiziert
In den Behandlungen ohne Substitution hingegen wurden signifikant mehr Konsumtage
mit Cannabis berichtet (p = .029). Erhöht
waren auch die Konsumtage mit Tabak. Bei
den übrigen Substanzen bestanden kaum
Unterschiede.
Es bestand insgesamt kein signifikanter Unterschied in der Lebenszeitprävalenz des i.v.Konsums (ADHS: 38%; Vergleichsgruppe:
33%). Deutlicher zeigte sich der Unterschied im SGB-Setting, wo die Prävalenz des
i.v.-Konsums in der ADHS-Gruppe 10%
über derjenigen in der Gruppe ohne ADHSDiagnose lag.
Behandlung mit Methylphenidat
Von allen 68 Patientinnen und Patienten mit
einer ADHS-Diagnose wurden insgesamt 33
(49%) mit Methylphenidat behandelt. In
BOS war der Anteil signifikant höher als in
den SGB (72 vs. 47%, p = .041). Die mittlere Dosierung des Methylphenidats lag ins18
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
gesamt bei 56,6 mg/Tg. In den BOS waren
es durchschnittlich 38 mg/Tg., in den SGB
69 mg/Tg. In drei Fällen (10%) wurde eine
„Hochdosis-Behandlung“ > 120 mg/Tg.
durchgeführt. Die maximale verschriebene
mittlere Tagesdosis betrug 215 mg/Tg.
Diskussion
Die Polikliniken der ARUD Zürich werden
von erwachsenen Personen primär wegen
einer Substanzstörung aufgesucht. Handelt
es sich dabei um abhängigen/problematischen Konsum von Opioiden wird zunächst
eine substitutionsgestützte Behandlung angeboten, anderenfalls eine andere substanzspezifische psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung ohne Substitution. Die vier
Polikliniken sind in unterschiedlichem
Masse auf die verschiedenen Behandlungssettings Substitution mit Diacetylmorphin
(Heroin), Substitution mit anderen Opioiden (Methadon, Buprenorphin, Morphin)
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 19 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
Abb. 10:
MPH mg/d
und Behandlung ohne Substitution spezialisiert.
Wie für Personen mit Substanzstörungen in
der Literatur oft berichtet (Regier et al.
1990), haben auch die Patienten und Patientinnen in allen Polikliniken der ARUD Zürich häufig weitere psychische Störungen
(Komorbidität). In allen Polikliniken werden die Patienten bei Eintritt und im Verlauf
wenn möglich wiederholt psychiatrisch abgeklärt und den gestellten Diagnose(n) entsprechend behandelt.
In dieser Analyse haben wir den Fokus auf
die gestellten ADHS-Diagnosen gelegt.
Die Prävalenz einer diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung in der gesamten untersuchten Popula-
tion der ARUD Zürich betrug insgesamt
8%. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Polikliniken waren nicht signifikant.
Dieser Wert ist ca. doppelt so hoch wie die
für adulte ADHS in der Allgemeinbevölkerung gefundene Prävalenz von 3–5% (Barkley et al. 2007). In internationalen epidemiologischen Untersuchungen mit systematisch angewendeter standardisierter Diagnostik wurden unter SUD-Patienten
ADHS-Prävalenzraten zwischen ca. 25–35%
gefunden (Lynskey und Fergusson 1995,
Shrier et al. 2003, Wilens et al. 2008). Die
von uns ermittelte Prävalenz bzw. Komorbiditätsrate von adulter ADHS unter Personen
mit einer Substanzstörung liegt deutlich unter diesem Bereich. Dies lässt vermuten, dass
ADHS in der ARUD Zürich unterdiagnostiziert wurde.
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
19
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 20 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Verschiedene Faktoren dürften dazu beitragen, dass Patienten mit Substanzstörungen
mit komorbider ADHS im Rahmen einer
niederschwelligen ambulanten Behandlung
von Substanzstörungen tendenziell unterdiagnostiziert werden. An erster Stelle
dürfte es der Auftrag des Patienten sein, für
welchen die Behandlung seiner Substanzstörung im Zentrum steht. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass eine ADHSAbklärung, insbesondere, wenn es sich um
eine leicht- bis mittelgradige Ausprägung
der Störung mit diskreten Beeinträchtigungen handelt, vom Patienten selbst nicht
direkt erwartet bzw. eingefordert wird, und
somit die notwendige Bereitschaft zur
Kooperation für eine entsprechende Diagnostik nicht immer gegeben ist.
Zweitens erschwert der niederfrequente
Kontakt zum Therapeuten insbesondere in
SGB (minimale Anforderung sind lediglich
vierteljährliche Indikationsgespräche) die
Erhebung der für die Diagnose einer ADHS
notwendigen Informationen.
Drittens kann das aktuelle Bild einer komorbiden ADHS gerade bei Subtanzstörungen
überdeckt sein, sei es durch den Konsum
illegaler Substanzen, verschriebene (Substitutions-)Medikation oder weitere komorbide Störungen. Dieses Problem ist auch aus
der Literatur bekannt (Barkley und Brown
2008).
Sowohl in SGB wie auch in BOS war bei
Vorliegen einer Substanzstörung durch Kokain oder Stimulantien eine erhöhte ADHSPrävalenz festzustellen, was einer in der
Literatur verschiedentlich und teilweise
kontrovers diskutierten spezifischen Assoziation dieser Störungen entspricht (Szobot
et al. 2007, Ros et al. 2004, Clure et al.
1999).
Wir fanden in unseren Daten keinen Unterschied in der Prävalenz von adulter ADHS
zwischen Frauen und Männern. Dies entspricht den Befunden der epidemiologischen
20
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung (Barkley et al. 2007). Andererseits
wird für das Kollektiv von Personen mit
Substanzstörungen ein Geschlechterunterschied berichtet, so zum Beispiel in einer
größeren amerikanischen Querschnittsuntersuchung, wo unter SUD-Patienten eine
ADHS-Komorbiditätsrate von 28% bei
Männern und 19% bei Frauen (Schubiner et
al. 2000) gefunden wurde.
Für die gefundenen Unterschiede in der
Häufigkeit des klinisch diagnostizierten
ADHS- zwischen den opioidgestützten/nicht
opioidgestützten Behandlungen der ARUD
Zürich gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten: Ein tatsächlicher Unterschied der
Prävalenz in den beiden Patientenkollektiven kommt ebenso in Frage wie eine mögliche medikamentöse Dämpfung der ADHSSymptomatik durch die Substitutionsbehandlung. Ein weiterer Erklärungsansatz
könnten die durch die verschiedenen Settings und Patientencharakteristikas in BOS
und SGB gegebenen Unterschiede in den
diagnostischen Möglichkeiten sein (unterschiedliche Häufigkeit der Konsultationen,
unterschiedliche subjektive Gewichtung von
Substanzstörung und weiteren psychischen
Störungen in den beiden Gruppen).
Bezüglich der diagnostizierten komorbiden
Substanzstörungen bei Personen mit ADHS
fanden sich in beiden Behandlungssettings
häufiger Störungen durch Kokain oder Cannabinoide. In Substitutionsbehandlungen
galt dies auch für Sedativa oder Alkohol, in
Behandlungen ohne Substitution hingegen
insbesondere für Störungen durch Stimulantien. Für den aktuellen Konsum fanden sich
keine eindeutigen Präferenzen für bestimmte Substanzen: So fanden wir bei
ADHS-diagnostizierten Personen in SGB einen signifikant häufigeren Konsum von Kokain und Benzodiazepinen, wohingegen dies
in BOS für Cannabis galt. Diese Ergebnisse
entsprechen der in der Literatur häufig diskutierten Korrelation von ADHS und Sub-
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 21 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Med. Therapiemöglichkeiten
Substanzstörungen und ADHS
IX – 5
stanzstörungen und deuten darauf hin, dass
es sich dabei eher um einen unspezifischen
Zusammenhang handelt (Szobot et al.
2007, Ros et al. 2004, Clure et al. 1999).
Es wird berichtet, dass Personen mit ADHS
im Vergleich zur Normalbevölkerung eher
Probleme mit ihrer affektiven Selbstregulation und ein vermindertes Bewusstsein für
die zukünftigen Auswirkungen des eigenen
Handels haben und dadurch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen ungesunden
bzw. riskanten Lebensstil betreiben (Barkley
et al. 2007). Vor diesem Hintergrund war zu
vermuten, dass SUD-Patienten mit ADHS
möglicherweise häufiger intravenösen Substanzkonsum betreiben als solche ohne
ADHS. Ein entsprechender Unterschied in
der Lebenszeitprävalenz des i.v.-Konsums
war in unseren Daten nicht signifikant, fand
sich jedoch tendenziell insbesondere in SGB,
obwohl zu vermuten ist, dass die oben
genannte Neigung zu einem „riskanten Lebensstil“ auch für Personen mit Substanzstörungen aber ohne ADHS gelten könnten.
Hinsichtlich anderer psychiatrischer Diagnosen fiel insbesondere in BOS der erhöhte
Anteil von Persönlichkeitsstörungen in der
ADHS-Gruppe auf. Eine Komorbidität von
ADHS und Persönlichkeitsstörungen ist aus
der Literatur bekannt (Jacob et al. 2007,
Biederman et al. 2006b). Es erstaunt jedoch
etwas, dass in unserer Untersuchung kein
erhöhtes Auftreten von Achse-I Störungen,
insbesondere affektiver Störungen, festzustellen war. Eine Erklärung dafür könnte
wiederum sein, dass wir nur Personen verglichen haben, die alle von einer Substanzstörung betroffen sind.
Erwartungsgemäß ist die relativ ausgeprägte
soziale Desintegration von Personen mit
ADHS, hinsichtlich Arbeitsintegration und
Lebensunterhalt. Dies zeigte sich in beiden
Settings, jedoch auf einem unterschiedlichen
Niveau der Marginalisierung. Eine solche
betraf opioidabhängige Personen in noch
stärkerem Masse als Menschen mit anderen
Substanzstörungen. Dies entspricht den Befunden, dass Personen mit Substanzstörungen und gleichzeitiger ADHS einen schwierigen Krankheitsverlauf haben (Wilens
2007), der sich auch in einer verstärkten
sozialen Desintegration bemerkbar macht.
Übereinstimmend mit der Literatur (Barkley
et al. 2007) hatte dies in unseren Daten
hinsichtlich des Vorhandenseins einer Partnerschaft an und für sich keine Auswirkung,
jedoch lässt sich vermuten, dass die Qualität
des Kontaktes zum sozialen Umfeld bei
Personen mit ADHS schlechter ist. In diese
Richtung deuten die gefundenen Unterschiede in der Qualität des Kontaktes zur
Herkunftsfamilie.
Verschiedene Studien zeigen, dass ADHS bei
Erwachsenen gut auf medikamentöse Behandlung mit dopaminergen und noradrenergen Substanzen anspricht. Unter den zur
Verfügung stehenden Psychopharmaka
stellt Methylphenidat in ausreichender Dosierung mit einer Effektstärke von 0,9–1,3
und einer Responderrate von 75% die Therapie der ersten Wahl dar (Schubiner et al.
2002, Faraone et al. 2004, Sobanski et al.
2007). Eine Behandlung von ADHS mit
Methylphenidat bei Personen mit Substanzstörungen erfolgt in den Polikliniken der
ARUD Zürich, abhängig vom Behandlungssetting, in der Hälfte bis drei Viertel der
Fälle. Dabei muss berücksichtigt werden,
dass eine diagnostizierte ADHS im Erwachsenenalter nicht in jedem Fall einer Behandlung bedarf, sondern nur, wenn die Patienten dadurch subjektiv maßgeblich unter Beeinträchtigungen leiden. Auch kann es
durchaus vorkommen, dass sich ein Patient
zwar beeinträchtigt fühlt, eine solche Behandlung aber dennoch ablehnt, obwohl sie
aus ärztlicher Sicht angezeigt wäre.
In der Literatur wird für die Dosierung von
Methylphenidat von 1 mg/kg Körpergewicht ausgegangen (Spencer et al. 2005).
Die in dieser naturalistischen Untersuchung
empirisch beobachteten Dosierungen zeig-
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21
000_Suchttherapie_15EL.book Seite 22 Dienstag, 27. Oktober 2009 8:55 08
Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
ten eine große interindividuelle Bandbreite.
Mögliche Gründe für das unterschiedliche
Ansprechen auf Methylphenidat, seien dies
physiologische (z.B. Bioverfügbarkeit, Metabolismus etc.) oder psychische Prädispositionen (Erwartungshaltung/Set), müssten
weiter untersucht werden.
dass ADHS eine bei Personen mit Substanzstörungen überproportional häufig auftretende Erkrankung ist, die jedoch – insbesondere unter den Voraussetzungen einer
opioidgestützten Behandlung mit niederfrequentem therapeutischen Kontakt – relativ
schwierig zu diagnostizieren ist.
Die vorliegende Untersuchung hat verschiedene methodische Limitationen. Zum einen
handelt es sich um Einschränkungen, die
naturalistischen Beobachtungsstudien im
Allgemeinen anhaften: So lässt sich etwa
keine Kausalitätsrichtung festlegen (z.B.
Antwort auf die Frage: Erhöht eine ADHSDiagnose die Wahrscheinlichkeit des Kokainkonsums oder umgekehrt ein Kokainkonsum die Wahrscheinlichkeit einer
ADHS-Diagnose?). Auch die Vergleichbarkeit der untersuchten Gruppen ist mangels
einer zufälligen Zuteilung (Randomisierung) nicht gesichert. In unserer Untersuchung gibt es zusätzliche Schwierigkeiten:
Insbesondere wurden die Diagnosen nicht
systematisch mittels eines standardisierten
Verfahrens ermittelt. Es muss daher angenommen werden, dass tatsächlich vorhandene Störungen zum Teil nicht erfasst wurden. Dies würde bedeuten, dass in der
Analyse ein Teil der Fälle mit vorhandenem
ADHS fälschlich der Gruppe ohne ADHS
zugeteilt sind, was Vergleiche der beiden
Gruppen verzerren würde. Auch haben die
statistischen Signifikanztests der gefundenen
Unterschiede aufgrund der unterschiedlichen und teilweise relativ kleinen Gruppengrößen nur eine beschränkte Aussagekraft.
Aus diesen Gründen wurden auch nennenswerte gefundene Unterschiede ohne statistische Signifikanz im Lichte der Literatur
betrachtet und auf ihre Konsistenz mit bestehenden Forschungsergebnissen geprüft,
wobei eine gute Übereinstimmung festzustellen war.
Es erscheint angezeigt, bei der Behandlung
von Personen mit Substanzstörungen im
Rahmen der in der klinischen Praxis gegebenen Möglichkeiten routinemäßig und systematisch das Vorliegen eines ADHS zu überprüfen. Eine entsprechende Schulung und
Weiterbildung mit dem Ziel, die Therapeutinnen und Therapeuten stärker für Möglichkeit eines ADHS bei Personen mit Substanzstörungen zu sensibilisieren, ihr Fachwissen zu dieser Störung und seiner Behandlung zu erhöhen und sie zu einer möglichst
konsequenten und stringenten Diagnostik
von adultem ADHS bei Personen mit Substanzstörungen zu befähigen, ist angebracht.
Unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen lässt sich als Schlussfolgerung
aus der vorliegende Untersuchung sagen,
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Substanzstörungen und ADHS
Med. Therapiemöglichkeiten
IX – 5
Stichwortverzeichnis
ADHS
– Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .IX – 5(7)
– Differentielle Diagnostik . . . . . . . .IX – 5(5)
– Funktionale und strukturelle
Veränderungen, Ätiopathologie . . .IX – 5(6)
– Psychopathologie und Diagnostik .IX – 5(4)
– Substanzstörungen. . . . . . . . . . . . .IX – 5(8)
– Verlauf und Auswirkungen . . . . . .IX – 5(6)
ADHS und Substanzstörungen
– Komorbidität. . . . . . . . . . . . . . . . .IX – 5(4)
ADHS und weiteren Störungen
– Komorbidität. . . . . . . . . . . . . . . . .IX – 5(3)
ARUD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .IX – 5(1)
ARUD Zürich
– Erfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .IX – 5(9)
ARUD Zürich (Arbeitsgemeinschaft für
risikoarmen Umgang mit Drogen) . . . .IX – 5(1)
28
Backmund – Suchttherapie – 15. Erg.Lfg. 12/09
Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsStörung (ADHS)
– Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(3)
– Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(3)
– Stand der internationalen
Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(3)
Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) . . . . . IX – 5(2)
Behandlung von Substanzstörungen
ohne Substitution (BOS) . . . . . . . . . IX – 5(1, 2)
Methylphenidat . . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(18)
niederschwellige, substitutionsgestützte
Behandlung von Opioidabhängigkeit
(SGB). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(1, 2)
Substanzstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(1)
– ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(8)
substitutionsgestützte Behandlung
(SGB). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX – 5(1)
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