4.2. Von der D-Mark zum Euro • Leitfragen – Weshalb und wie schuf sich Europa eine Einheitswährung? – Was war die Rolle und Haltung Deutschlands? – Welches sind die Kosten und Vorteile der Einführung einer Einheitswährung? – Warum kam es zur Eurokrise? – Wie wird versucht, die Eurokrise zu überwinden? 152 4.2.1. Einige Grundlagen (I) • Wesen einer Währungsunion – Geographisch abgegrenztes Gebiet, in dem mehrere nationale Volkswirtschaften eine einzige Währung als Tauschmittel haben und eine gemeinsame Währungspolitik betreiben. – Ökonomisch (!) entsteht sie durch die unwiderrufliche Fixierung der Wechselkurse der nationalen Währungen der Mitgliedsstaaten gegeneinander. – Anschließende werden die nationalen Währungen durch eine einheitliche Währung ersetzt. Ökonomisch ist dies aber nicht zwingend notwendig. – Übertragung der Geldpolitik auf eine Zentralbank 153 Der Wechselkurs € $ = Wieviel € muß man für 1 Dollar bezahlen? € z.B. 0,7034 $ : Für 1 $ muß man 0,7034 € bezahlen ⇒Preisnotierung Alternativ: Um 1 € zu erwerben muß man 1/0,70345= 1,4217 Dollar aufbringen ⇒ Mengennotierung 154 Der Devisenmarkt € $ = Wieviel € muß man für 1 Dollar bezahlen? € 0,95 : Für 1 $ muß man 0,95 $ € bezahlen ⇒Preisnotierung Alternativ: Um 1 € zu erwerben muß man 1/0,95= 1,052 Dollar aufbringen ⇒ Mengennotierung Der Devisenmarkt bringt die Nachfrage nach einer Währung von Ausländern, die inländische Waren, Dienstleistungen und Vermögensgegenstände kaufen wollen, in Übereinstimmung mit dem Angebot einer Währung von Inländern, die ausländische Waren, Dienstleistungen und Vermögensgegenstände kaufen möchten. Abgebildet ist der Dollarmarkt mit einem Gleichgewichtspunkt E, der einem Wechselkurs von 0,95 Euro je Dollar entspricht. 155 Aufwertung des Dollars Ein Anstieg der Nachfrage nach Dollars ergibt sich vielleicht aus den Vorlieben europäischer Investoren für die USA (tauschen deshalb Euros in Dollars um) oder weil die Europäer mehr US-Produkte importieren (US-Produkte sind in Dollars zu zahlen). Die Nachfragekurve nach Dollars verschiebt sich von D1 nach D2. Die gleichgewichtige Anzahl von Euros pro Dollars steigt – der Dollar wird aufgewertet; der Euro wird abgewertet. 156 Der reale Wechselkurs (I) • Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Handel – wie viel exportiert und importiert wird – ist der reale Wechselkurs. • Der reale Wechselkurs (WK) berücksichtigt Unterschiede in den Preisniveaus zweier Länder. • Realer Wechselkurs (WK) bei Preisnotierung: – $ = € $ ( ) ∙ – z.B. nominaler WK = 0,7€/$, Preisindex US = 110, Preisindex EU=100 € !!" → $ = 0,70 ∙ = 0,78 ⇒reale Aufwertung des $ US$ !"" Produkte werden teurer. • Realer Wechselkurs (WK) bei Mengennotierung: – $ = $ € ( ) ∙ $ – z.B. nominaler WK = 1,4 $/€, Preisindex US = 110, Preisindex EU=100 $ !"" → $ = 1,40 € ∙ !!" = 1,27 ⇒reale Aufwertung des $ USProdukte werden teurer 157 Der reale Wechselkurs (II) • Ist das inländische Preisniveau > ausländische Preisniveau und bleibt der nominale Wechselkurs unverändert dann wertet die heimische Währung real auf (hier im Beispiel der Dollar) und die heimischen Produkte verlieren an Wettbewerbsfähigkeit (weil sie für die Ausländer teurer werden). • Beachte !!!! − Auch in einer Währungsunion, in der die nominalen Wechselkurse absolut fixiert sind, können sich die realen Austauschverhältnisse verschieben, wenn die Inflation in einem Land höher ist als in einem anderen. − Wenn z.B. die Inflation in Italien größer ist als in Deutschland, dann wertet der „italienische Euro“ gegenüber dem „deutschen Euro“ real auf. Damit wird es für Italiener günstiger deutsche Waren zu kaufen. 158 Geldpolitik und Wechselkurs Hier wird gezeigt, was bei einer Senkung des Zinsniveaus in Genovia auf dem Devisenmarkt geschieht. Einwohner von Genovia haben weniger Anreize, ihr Erspartes im eigenen Land anzulegen und verlagern ihr Kapital ins Ausland. Damit verschiebt sich die Angebotskurve an Genos von S1 zu S2 nach rechts. Zur selben Zeit haben auch Ausländer geringere Anreize, Kapital nach Genovia zu leiten. So verschiebt sich die Nachfragekurve nach Genos von D1 zu D2 nach links. Der Geno wird abgewertet: Der gleichgewichtige Wechselkurs sinkt von XR1 auf XR2. 159 159 Feste Wechselkurse € $ $ 160 Devisenmarktinterventionen bei festen Wechselkursen Fällt der Kurs des französischen Franc gegenüber der DM aufgrund eines höheren Angebots an FF (Verschiebung der Angebotskurve von A nach A’), dann hätte sich das Marktgleichgewicht von Punkt Q auf Punkt V verschoben. Der Wechselkurs wäre von q auf v gesunken. Die Bundesbank und die Banque de France waren jedoch verpflichtet, französische Franc solange aufzukaufen (Rechtsverschiebung der Nachfragekurve von N zu N’), bis der zum Mindestpreis geltende Franc-Angebotsüberschuss abgebaut war und der Kursverfall des Franc auf eine zulässige Abweichung innerhalb der Bandbreite begrenzt (z.B. Punkt W) wurde. 161 4.2.2. Die Anfänge der europäischen Währungsintegration (I) 162 4.2.2. Die Anfänge der europäischen Währungsintegration (II) • 1969 : Die Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten beschließen in Den Haag, stufenweise eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu schaffen. • 1971 : Der Werner-Plan wird verabschiedet. Unter Leitung des luxemburgischen Ministerpräsident und Finanzminister Pierre Werner wurde ein Plan zur Realisierung der WWU erarbeitet. • 1972 : Gründung des Europäischen Währungsverbundes. Die Wechselkurse der Währungen der EWG-Staaten dürfen nur um höchstens 2,25 Prozent nach oben oder unten von den vereinbarten Leitkursen abweichen ("Währungsschlange"). • 1979 : Ablösung der "Währungsschlange" durch das Europäische Währungssystem (EWS) und Einführung des ECU als Rechnungsund Währungseinheit. • 1989 : Verabschiedung des Delors-Plans zur Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion in drei Schritten. 163 4.2.2. Die Anfänge der europäischen Währungsintegration (I) • 1992 : Vertrag von Maastricht: Realisierung der WWU bis 1999 • 1994 : In Frankfurt am Main wird das Europäische Währungsinstitut (EWI) als Vorläufer der Europäischen Zentralbank errichtet. • 1996 : Der Europäische Rat in Dublin billigt am 13./14. Dezember einen "Pakt für Stabilität und Wachstum" : Präzisierung und Verschärfung der Verpflichtung der Euro- Teilnehmerstaaten zu dauerhafter Stabilität, die bereits im Maastrichter Vertrag geregelt ist. • 1998 : Festlegung der teilnehmenden Länder an der gemeinsamen Währung: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Portugal und Spanien. • 1999 : Einführung des Euro im bargeldlosen Zahlungsverkehr. • 2001 : Griechenland wird Mitglied der WWU • 2002 : Einführung des Euro als gesetzliches Zahlungsmittel und des Euro-Bargeldes 164 Der Europäische Wechselkursverbund (1972-1976) (I) • = „Währungsschlange“ oder „Schlange im Tunnel“ • Ziel: Verringerung der Schwankungsbreiten zwischen den 6 Währungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf ±2,25 %, bei gleichzeitiger Begrenzung der Schwankungsbreite gegenüber dem US-Dollar auf ebenfalls ±2,25 % („Währungstunnel“) • Hintergrund: • Krise im Bretton-Woods System 1971: USA setzt Konvertibilität des US-$ gegenüber Gold aus. • Bretton-Woods-System (1944-1973): Fixierung der Wechselkurse zum US-Dollar auf eine Schwankungsbreite von ± 1 % und Fixierung des US-$ gegenüber Gold auf 35 $ je Unze 165 Der Europäische Wechselkursverbund (1972-1976) (II) • Nicht besonders erfolgreich! – Wiederholte Änderung der Wechselkursrelationen (Realignment) aufgrund von unterschiedlichen Entwicklungen bei Preisen, Kosten und Zahlungsbilanzen der einzelnen Mitglieder. – Italien, Großbritannien und Irland, später auch Frankreich traten angesichts nachhaltiger monetärer Spannungen aus dem Verbund aus und gaben den Wechselkurs ihrer Währung auch gegenüber den Schlangen-Währungen frei. – Übrig blieb ein Hartwährungsclub: Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Dänemark. 166 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (I) • initiiert von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing • Mitgliedsstaaten: − Zunächst: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg und die Niederlande. − 1990 Beitritt von Großbritannien und Spanien, 1992 von Portugal − 1995 Beitritt von Österreich und 1996 von Finnland − Aber: 1992 Austritt von Großbritannien und Italien aus dem EWS und Freigabe ihrer Wechselkurse. Italien trat 1997 dem WKM wieder bei, Griechenland Anfang 1999. 1 167 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (II) • Ziele: − Währungsstabilität zwischen den teilnehmenden Ländern zur Förderung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den EG-Ländern. − Förderung der inneren (politischen) Stabilität der entsprechenden Länder (insbes. Italiens) − Die stabile Währungszone in Europa sollte sich darüber das internationale Währungssystem stabilisieren. 1 168 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (III) • Funktionsweise − Statt einer Leitwährung, Einführung eines Währungskorbes mit allen Währungen der teilnehmenden Länder − Europäische Währungseinheit (ECU) als Bezugsgröße. Quelle: Schnabel (2009): Lehrbrief Wechselkurse und Währungssysteme 1 169 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (IV) • Funktionsweise (Fortsetz.) − Die bilateralen Wechselkurse aller Mitgliedsländer wurden auf Grundlage eines Paritätengitters festgelegt mit dem ECU als Bezugsgröße. − Die zulässige Schwankungsbreite zwischen zwei ESWWährungen betrug bis 1993 +/- 2.25 %, für Italien, GB, Spanien und Portugal +/- 6 %. − Überschritt der Wechselkurs diese Bandbreite, so mußten beide betroffenen Zentralbanken auf dem Devisenmarkt so lange intervenieren, bis der Kurs wieder innerhalb des Bandes lag. − War der Kurs durch Interventionen nicht mehr in der Bandbreite zu halten, so konnte man in einem Realignment neue Leitkurse fixieren, wovon man zwischen 1979 und 1993 17 Mal Gebrauch machte. − Kreditmechanismus zur Finanzierung der Interventionsverpflichtungen. 1 170 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (V) • Wirkungen: − 1979-Anfang 1983: Unruhige frühe Phase • 7 Wechselkursanpassungen, z.B. Juni 1982: Aufwertung der DM gegenüber dem frz. Franc um 11 % • Fortsetzung des Musters der Währungsschlange: Die Währungen Belgiens/Luxemburgs, Dänemarks, Frankreichs, Italiens und Irlands standen unter ständigem Abwertungsdruck gegenüber der DM • Keine Absenkung der Inflation noch Inflationskonvergenz − 1983-Anfang 1987: Konsolidierungsphase • Nur 2 Kursanpassungen: Abwertung gegenüber DM und Gulden • Senkung der durchschnittlichen Inflationsraten von 10 auf 2 % bei gleichzeitiger Inflationskonvergenz • EWS-Partnerländer importierten Preisstabilität aus Deutschland, wo die Bundesbank eine strikte monetaristische Geldmengenpolitik betrieb. 1 171 Inflationskonvergenz im EWS 1 172 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (VI) – 1987-1992: Stabilitätsphase • Keine Anpassungen der Leitkurse – 1992-1993: Turbulenzen und Quasi-Zerfall • September 1992 Massive Interventionen zur Stützung der Lira, später auch des britischen Pfundes gefolgt von der Aussetzung beider Währungen am EWS • Juli 1993: Abwertung des französischen und belgischen Francs sowie der dänischen Krone bis unter den unteren Interventionspunkt • 1. August 1992: Erweiterung der zulässigen Bandbreite auf +/15 %. 173 Das Europäische Währungssystem (EWS) (1979-1998) (VII) – Ursachen für die Krise nach 1992: • Unzureichende Konvergenz bei der Inflationsbekämpfung, insbes. in Italien und Spanien reale Aufwertungen • Unzureichende Koordination der Geld- und Wirtschaftspolitiken – Wegen inflationärem Druck im Zuge der Wiedervereinigung Hochzinspolitik in Deutschland – Rest Europas war in Rezession und folgte nicht der deutschen Zinspolitik→ starkes Zinsgefälle →Aufwertungsdruck für DM – Spekulative Kapitalströme erhöhten Druck auf einige Währungen, ausgelöst von Zweifeln an der weiteren monetären Integration wegen Problemen bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages (z.B. Ablehnung im Referendum in Dänemark) 174 Flexible versus feste Wechselkurse Argumente für flexible Wechselkurse Argumente für feste Wechselkurse Sie verhindern tendenziell die Festlegung eines „falschen“ (politischen) Wechselkurses. Sie stabilisieren Erwartungen im internationalen Handel. Sie führen automatisch zum Ausgleich der Zahlungsbilanz. Sie reduzieren Wechselkosten und damit Transaktionskosten. Sie sind ein preispolitischer Puffer (über Abwertung). Sie verlangen geringe institutionelle Anforderungen. Flexible Wechselkurse können durch entsprechende Kurssicherungsgeschäfte vergleichsweise kostengünstig abgesichert werden. 175 Andere aktuelle multinationale Währungsunionen • Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion: CFA-Franc BCEAO • Zentralafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion: CFA-Franc BEAC • Ostkaribische Währungsunion: Ostkaribischer Dollar • Schweiz und Fürstentum Liechtenstein: Schweizer Franken 176 Frühere Währungsunionen • Skandinavische Münzunion zwischen Schweden, Dänemark und Norwegen (1873 bis 1914) • Lateinische Münzunion zwischen Frankreich, Belgien, Italien, der Schweiz und Griechenland (1865 bis 1927) • Union nach dem Wiener Münzvertrag von 1857 zwischen den Staaten des Deutschen Zollvereins, dem Kaiserreich Österreich und Liechtenstein. • Die UEBL (Union Économique Belgo-Luxembourgoise) zwischen Luxemburg und Belgien (1922 bis 2002) • Währungsunion nach der deutschen Reichsgründung 1871: Guldenwährung der süddeutschen Staaten und die Talerwährung im Norddeutschen Bund durch die neu geschaffene Mark im Kaiserreich ersetzt. • Währungsunion der Bundesrepublik mit der DDR 1990. 177 Wer gehört zur Eurozone? 178 4.2.3. Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nach dem Vertrag von Maastricht 1992 • Motive: – Europäische Kommission sah in der Wirtschafts- und Währungsunion einen logische und notwendigen Schritt zur Vollendung des Binnenmarktes. • Umfassendere Integration der europäischen Märkte • Völlige Freiheit für Kapitalbewegungen – Frankreich, aber auch Italien forderten ein neues monetäres Arrangement, bei dem sie bei geldpolitischen Entscheidungen mitsprechen konnten. • Bei der entstandenen Asymmetrie im EWS (deutsche Dominanz) waren sie gezwungen, der deutschen Bundesbank zu folgen, deren Geldpolitik ausschließlich auf Preisstabilität ausgerichteten war. • Forderung Frankreichs als Bedingung für die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung • Aber: Grundsteine für die Währungsunion wurden schon 1988/ 1989 mit dem Drei-Stufen-Plan von Delors gelegt. 179 Drei Stufen des Delors-Berichts von 1988/89 180 Die Rolle der Deutschen Wiedervereinigung (I) • Einführung der ersten Stufe der EWWU (völlige Freiheit des Kapitalverkehrs) war relativ unproblematisch. • Für die Umsetzung der weiteren Stufen, insbes. einer Europäischen Zentralbank einschließlich der Festlegung ihrer Aufgaben sowie der Kriterien und des Zeitablaufs von der zweiten zur dritten Stufe war eine Reform des EGVertrags notwendig. • Die Bereitschaft Deutschlands für diese Vertragsreform kam mit der deutschen Wiedervereinigung 1990. – Im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrags machte vor allem Frankreich die Zustimmung zur Wiedervereinigung davon abhängig, daß Deutschland der WWU zustimmt und die DM aufgibt. – Entgegen französischen Plänen gelang es jedoch die Preisstabilität zur höchsten Priorität der Europäischen Zentralbank zu erklären und zudem deren vollständige politische Unabhängigkeit festzuschreiben. 181 Die Rolle der Deutschen Wiedervereinigung (II) • Der Euro ist nichts anderes als der Preis für die Wiedervereinigung (Richard v. Weizsäcker, Die Woche, 19.09.1997). • Die Einführung des Euro ist die Einlösung der Versprechen, die während des Einigungsprozesses gemacht wurden (H-D. Genscher, zitiert in: Henkel, 2010, Rettet unser Geld, S. 59). • Die deutsche Bundesregierung war jetzt in einer Position, in der sie praktisch jede französische Europainitiative akzeptieren mußte (Horst Teltschik, außenpol. Berater von Helmuth Kohl, 3 Wochen nach dem Fall der Mauer, zitiert in: Vaubel, The Euro and the German Veto, S. 83). 184 Die Rolle der Deutschen Wiedervereinigung (III) • Dank der Zurückhaltung Frankreichs im Hinblick auf eine bedingungslose Wiedervereinigung [Deutschlands] haben wir eine gemeinsame Währung…Ohne die Zurückhaltung von Francois Mitterand wäre eine gemeinsame Währung nicht ins Leben gerufen worden (Jacques Attali, Berater Mitterands, 1995, zitiert in Bagus, 2011, S. 70). • Der Präsident wusste 1989 die Gelegenheit am Schopfe zu packen, um von [dem deutschen Bundeskanzler Helmut] Kohl eine Zusage zu erhalten…Sechs Monate später wäre es zu spät gewesen: Kein französischer Präsident wäre noch in der Lage gewesen, vom deutschen Bundeskanzler eine Zusage zur Einführung einer gemeinsamen Währung zu erhalten (Hubert Védrine, zitiert in Bagus, 2011, S. 70). 185 Krugman, Obstfeld, Melitz: Internationale Wirtschaft © Pearson 2011 Die Maastrichter Konvergenzkriterien (I) • Preisstabilität: – Die Inflationsrate darf die durchschnittliche Inflationsrate der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten um nicht mehr als 1,5% übersteigen. • Zinsniveau: – Die langfristigen Nominalzinssätze dürfen von den durchschnittlichen Zinssätzen der drei Mitgliedstaaten mit den niedrigsten Zinssätzen um nicht mehr als 2% abweichen. • Haushaltsdefizit: – Die Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten dürfen 3 % des BIP nicht übersteigen. Eine geringfügig höheres Defizit ist zulässig, • Wenn es erheblich und laufend zurückgegangen ist, oder • Der Referenzwert von 3 % nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird. 187 Die Maastrichter Konvergenzkriterien (II) • Staatsverschuldung: – Der staatliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60% des BIP ausmachen. • Wechselkursstabilität: – Die Wechselkurse dürfen in den zwei Vorjahren die zulässige Wechselkursbandbreite nicht überschritten haben. • Institutionelle Kriterien: – Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) und der nationale Zentralbanken – Verbot der monetären Finanzierung von Staatsschulden durch die EZB oder die nationalen Notenbanken 188 Warum gibt es diese Kriterien? (I) • Wechselkurskriterium – Wechselkurse müssen sich annähern, da eine Währungsunion auf der unwiderruflichen Fixierung der Wechselkurse. – Damit steht die Währungspolitik nicht mehr als Instrument zur Verfügung, um durch Abwertungen einen Schock abzufedern und die Wettbewerbsposition zu verbessern. • Inflationskriterium – Unterschiedliche Auffassungen in den Mitgliedsländern über die Bedeutung der Preisniveaustabilität, insbes. zwischen Deutschland (stabilitätsorientiert) sowie Frankreich und Italien (Preisniveaustabilität gilt als nachranging gegenüber kurzfristiger Verringerung der Arbeitslosigkeit). – Unterschiedliche Preisniveaus würden die Stabilität der Wechselkurse gefährden. 189 Warum gibt es diese Kriterien? (I) • Zinskriterium – Ergibt sich fast automatisch bei Inflations- und Wechselkurskonvergenz, weil die Ursachen für unterschiedliche langfristige Zinsen erwartete Wechselkursänderungen, unterschiedliche Inflationsraten und unterschiedliche Bonität von Schuldnern sind. • Schuldenstand- und Defizitkriterium – Fiskalpolitik ist nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedsländer → gravierender ordnungspolitischer Konstruktionsfehler der Währungsunion! – Die Interessenlage der stabilitätsorientierten Ländern machte eine fiskalpolitische Mindeststabilität wünschenswert, weil: • Je höher der Schuldenstand eines Landes ist, umso größer ist der Anreiz durch Inflation den realen Wert der Staatsschulden zu senken. • Übermäßiges Schuldenmachen eines Mitgliedslandes erhöht die Kosten und Risiken in allen anderen Mitgliedsländern (Spillover- oder externe Effekte). 190 Nichtbeistands-Klausel (No-bail-out-Klausel) • Aufnahme in den Vertrag von Maastricht am 7. Februar 1992 als Art. 104b und Übernahmen als Art. 125 in den AEU-Vertrag (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) • Inhalt: Ausschluß der Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten! • Ausnahmen (nach Art. 122 AEU-Vertrag): – Notsituationen (Versorgungsengpässe) – Naturkatastrophen und – andere „außergewöhnliche Ereignisse, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaates entziehen 191 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) von 1997 • Er verpflichtet die Euro-Länder auf Dauer zur Haushaltsstabilität: – In wirtschaftlich normalen Zeiten soll ein annähernd ausgeglichener Staatshaushalt angestrebt werden (Begrenzung der Höhe ihres jährlichen Haushaltsdefizits auf 3 % ihres BIP) – Begrenzung der öffentlichen Verschuldung auf 60 % des BIPs • Sanktionen bei Überschreitung des Haushaltsdefizit 3 % des BIP – „Frühwarnung“ („Blauer Brief“) bei drohender Überschreitung der Marke von 3 % des BIPs. – Bei Überschreitung Aufforderung an das betroffene Land zur Vorlage eines Plans zum Abbau des Defizit – Bei Nicht-Einhaltung des Planes Geldstrafen von 0,2 bis zu 0,5 % des BIP. – Wichtig: Über die Sanktionen entscheidet der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, wobei das betroffene Land kein Stimmrecht hat. 192 Warum Nichtbeistandsklausel und SWP? Das Trittbrettfahrerproblem (I) • Angenommen, ein Land erfährt einen Abschwung in seiner Wirtschaft. • Die Regierung plant zur Ankurbelung der Wirtschaft zusätzliche Staatsausgaben (keynesianische Politik des deficit spending) und verschuldet sich. • Wenn die Staatsschulden zu hoch werden, besteht die Gefahr, dass die Schulden nicht mehr zurückgezahlt werden. • Dann verlangen die Finanzmärkte einen Zinsaufschlag. • In einer Währungsunion führt eine starke Verschuldung eines Landes zum Anstieg der (langfristigen) Zinsen (für staatliche Schuldverschreibungen) in der gesamten Währungsunion. 193 193 Warum Nichtbeistandsklausel und SWP? Das Trittbrettfahrerproblem (II) • Was passiert in einer Währungsunion, wenn alle anderen Länder dem hoch verschuldeten Land beistehen (= Bail Out)? – Der Zinsaufschlag für dieses Land entfällt (oder ist geringer als sonst), während die Zinsen für alle anderen Länder ansteigen. – Das hoch verschuldete Land nutzt also die Vorteile der Verschuldung und bürdet allen anderen Ländern die Kosten dafür auf. • Die Mitgliedsländer der EWU haben sich verpflichtet, hoch verschuldeten Ländern nicht zu helfen, um den Anreiz zur übermäßigen Verschuldung zu reduzieren (No Bail-Out Klausel). • Da das Abkommen aber nicht glaubwürdig ist, wurde der SWP vereinbart, der Regeln für die Fiskalpolitik aller Mitglieder der Währungsunion festschreibt. . 194 Erfüllung der Konvergenzkriterien in der Realität (I) 195 Erfüllung der Konvergenzkriterien in der Realität (II) • Mehrere Länder verletzten die Obergrenze für ihr Budgetdefizit, darunter Frankreich und Deutschland 2002 und 2003. • Diese Länder überredeten die anderen Länder im Ministerrat, keine Bußgelder zu verhängen. • 2004 hat die Europäische Kommission unter Einwirkung von Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland die Regeln des Pakts abgeschwächt. • Damit ist das Glaubwürdigkeitsproblem sowie das Trittbrettfahrer- und Moral Hazard-Problem der Währungsunion verstärkt worden. 196 Die Beziehung der Nicht-Mitglieder zur Eurozone • Grundlage ist der Wechselkursmechanismus II (WKM II) • Mit den EU-Länder, die noch nicht Mitglieder der WWU sind wird eine Wechselkurs gegenüber dem Euro mit einer bilateralen Schwankungsbreite von ±15% vor. • Der WKM II wurde aus folgenden Gründen für notwendig erachtet: − Er soll einem Abwertungswettlauf der außen stehenden EUMitglieder gegenüber dem Euro vorbeugen. − Er soll Anwärtern auf die WWU-Mitgliedschaft eine Möglichkeit geben, das im Maastricht-Vertrag festgelegte Kriterium der Wechselkursstabilität zu erfüllen. 1 197 Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) EZB + Zentralbanken der EULänder, die den Euro eingeführt haben ESZB umfaßt die Zentralbanken aller EUMitgliedstaaten und die EZB 198 199 200 201 202 203 204 Unabhängigkeit der EZB • funktionelle Unabhängigkeit: – EZB hat alleinige Kompetenz für die Geldpolitik, vornehmlich zur Sicherung der Preisstabilität (eindeutige Aufgabenbeschreibung) • personelle Unabhängigkeit: – Nicht völlig erreichbar, da die Ernennung der ESZB-Mitglieder auf politischen Grundlagen erfolgt. – Aber vor weiterem politischen Einfluß sollen die längeren Amtszeiten des Direktoriums (acht Jahre) und die fünfjährige Amtszeit des EZB Präsidenten bei möglicher Wiederwahl schützen. • instrumentelle Unabhängigkeit: – EZB ist frei bei der Wahl der Instrumente um das Ziel der Sicherung der Preisniveaustabilität durchzusetzen. – Probleme: • Wie soll eine gemeinsame Geldpolitik für 25 Länder mit teilweise sehr unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen aussehen • Politik kann in der Öffentlichkeit dennoch Druck gegen die EZB erzeugen 205 4.2.4. Ist die Einführung des Euro ökonomisch vorteilhaft? (II) • Theorie des optimalen Währungsraumes – Sucht nach Kriterien, die zeigen, wann es optimal ist, eine gemeinsame Währung einzuführen. – „Optimal“ bezieht sich auf die Fähigkeit der einzelnen Länder, die Kosten der Währungsunion zu begrenzen und die Vorteile für sich zu nutzen. (Robert A. Mundell, *1932) − Zwar profitieren die Wirtschaftssubjekte der beteiligten Staaten in der Regel von rückläufigen Transaktionskosten (weil die Umtauschkosten entfallen) und von erhöhter Planungssicherheit bei Investitionen, weil Wechselkurse nicht mehr schwanken. − Andererseits wird mit dem Verzicht auf eine eigenständige nationale Geldpolitik die Möglichkeit aufgegeben, gesamtwirtschaftliche Anpassungen an sogenannte asymmetrische wirtschaftliche Schwierigkeiten über Zins- und Wechselkursveränderungen durchzuführen. 206 4.2.4. Ist die Einführung des Euro ökonomisch vorteilhaft? (II) − Verbleibende Anpassungsmechanismen: • Faktorpreisflexibilität, insbes. Lohnflexibilität (Lohnsenkungen in Deutschland würden dort die Arbeitslosigkeit reduzieren) • Faktormobilität: • Mobilität der Arbeitskräfte (in Deutschland entlassene Arbeiter wandern nach Frankreich) • Kapitalmobilität (insbesondere des Finanzkapitals) (Einwohner des Rezessionslandes könnten auf dem Kapitalmarkt bei Einwohnern des Aufschwunglandes Kredite aufnehmen). • Finanztransfers, von prosperierenden zu Krisenländern. Schlußfolgerung: Währungsunionen eignen sich am besten für solche Wirtschaftsräume, • die ein hohes Maß an Faktorpreisflexibilität und Faktormobilität aufweisen oder ausreichend Finanztransfers leisten können, weil dies die Kosten der Währungsunion senkt, sowie • einen hohen Grad an Handelsintegration (Offenheitsgrad) haben, weil sich dadurch die Vorteile der Währungsunion vergrößern. 2 207 Ist Europa ein optimaler Währungsraum? (I) • Handelsintegration − Krugmann et al. (2011): Nicht tief genug - die meisten EULänder exportieren nur 10% bis 20% ihrer Produktion in andere EU-Länder. − Mankiw & Taylor (2011): Der Grad der Handelsintegration ist unterschiedlich, im Durchschnitt allerdings beachtlich hoch und hat im Zeitablauf tendenziell zugenommen. • Finanztransfers − Gab es bis zur Eurokrise nur in Form des Kohäsionsfonds; EUHaushalt war ansonsten zu gering dafür. − Problem: Transfers können den Druck zu Reformen und Schuldenabbau in Krisenländern langfristig mindern. 208 Handelsintegration der EU 2 209 Ist Europa ein optimaler Währungsraum? (II) • Flexibilität der Reallöhne – Sehr gering. Europäische Arbeitsmärkte gehören zu den rigidesten der Welt, u.a. wegen großer Bedeutung der Gewerkschaften und Tarifverhandlungen. – Sehr restriktives Arbeitsrecht, sodass die Kosten für Entlassungen und Neueinstellungen hoch sind. • Mobilität der Arbeitskräfte – Sehr gering, nicht zuletzt wegen der Sprachbarrieren 210 Ist Europa ein optimaler Währungsraum? (III) • Mobilität des Kapitals – Nach der Euro-Einführung ist der Integrationsgrad der großen Finanzmärkte (auf dem große Finanzintermediäre – Großbanken und Investmentfonds – und Großunternehmen) stark angestiegen. • • – Es entstand ein liquider Euro-Geldmarkt mit einheitlichen Zinssätzen. Auch im Markt für staatliche Schuldverschrei-bungen ist der Integrationsgrad hoch. Der Integrationsgrad der kleinen Finanzmärkte (Geschäftsbanken und Sparkassen) ist dagegen weit geringer. → Nationale Bankensektoren sind noch stark voneinander getrennt. Europa ist eher kein optimaler Währungsraum! 211 Die Euro-Klage in Deutschland 1998 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7809467.html 12.01.1998 212 Die Argumente der Euro-Kläger 1998 (I) • Hauptargument: Die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedsländer sind noch zu unterschiedlich. Damit ist die Stabilität der neuen Währung nicht gesichert. – Die Produktivitätsniveaus der Volkswirtschaften in Europa sind noch immer sehr unterschiedlich, aber auch die Arbeitsmärkte, Steuer- und Sozialsysteme unterscheiden sich stark. – Mit dem Wegfall des Wechselkursmechanismus als Pufferinstrument werden diese Unterschiede im Konkurrenzkampf um Investitionen an Bedeutung gewinnen. – Unter Berufung auf das Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Union, werden die wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten Transferleistungen einfordern. Weil diese nicht leistbar sein werden, sind Haß und Mißgunst desintegrierend in den Beziehungen der Völker zu befürchten. 213 Die Argumente der Euro-Kläger 1998 (II) – Es bestehen Zweifel an der vollständigen Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, weil der Einfluß der Länder, die der Geldwertstabilität keine vorrangige Bedeutung beimessen, groß ist. Grund: Im EZB-Rat hat jedes Mitgliedsland nur einer Stimme. – Nicht zuletzt aufgrund des Trittbrettfahrerproblems bestehen Zweifel an der fiskalpolitischen Disziplin aller Mitgliedsländer. – Hohe Haushaltsdefizite und Verschuldung einiger Mitgliedsländern sowie der steigende Bedarf nach Finanzhilfen ärmerer Länder führten dann zu einem Druck auf die Zentralbank, diesen Finanzbedarf zu decken. – Damit kommt es zwangsläufig zu einer Geldmengenaus-weitung und einem schwachen Euro 214 Die Argumente der Euro-Kläger 1998 (III) • Die Kläger befürworten die sogenannte Krönungstheorie, nach der eine Währungsunion nur dann sinnvoll ist, wenn die Stabilitätsbedingungen im Inneren dauerhaft und glaubwürdig abgesichert sind. Dazu müssen zunächst die Wirtschafts- und Finanzpolitik in den EUStaaten vereinheitlicht werden. Erst dann kann quasi als „Krönung“ eine gemeinsame Währung eingeführt werden. • Demgegenüber argumentieren Anhänger der Grundsteintheorie (oder auch Lokomotivtheorie), daß die Einführung einer Gemeinschaftswährung möglichst früh im Integrationsprozeß erfolgen sollte, weil dies die weiteren Integrations- und Konvergenzbemühungen der Mitgliedsstaaten beflügeln würde. 215 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (I) Hans Magnus Enzensberger in „Tatort Euro“ • Worum handelt es sich, wenn eine intelligente Frau in hoher Position behauptet: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa«? 1. Um eine Drohung? 2. Um eine Schutzbehauptung? 3. Oder um eine Dummheit? 4. Haben Sie den Eindruck, dass unser Kontinent nach wie vor existiert, obwohl im Lauf der letzten 2000 Jahre schon viele Währungen, so das Talent, der Denar, der Gulden, die Lira, das Lepton und die Reichsmark untergegangen sind? 5. Wissen Sie, wer das Stummelwort Euro erfunden hat, das vor dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts niemand in den Mund nahm? 216 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (II) 6. Ist Ihnen in den letzten Jahren mitgeteilt worden, dass die Entscheidungen dieser Institutionen »alternativlos« sind? 7. Sind Obdachlose, Fixer, Lohnempfänger oder Rentner nicht ebenso berechtigt, Finanzbedarf »anzumelden«, wie etwa Mitglieder der Eurogruppe, Bankvorstände und Fernsehintendanten? 8. Kennen Sie die Namen und die genaue Adresse der »Märkte«, die den Eurorettern vorschreiben, was sie zu tun haben? 9. Muss die Küstenwacht prüfen, ob Passagiere in Seenot »systemrelevant« sind, bevor sie gerettet werden dürfen? 217 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (III) 10. Sind Sie in der Lage, Akronyme wie EZB, EFSF, ESM, EBA und IMF zu entziffern? 11. Vermuten Sie, dass die meisten europäischen Länder seit geraumer Zeit nicht mehr von demokratisch legitimierten Instanzen, sondern von diesen Abkürzungen regiert werden? 12. Haben Sie diese Einrichtungen gewählt? 12. Ist Ihnen in der letzten Zeit der Fachausdruck «finanzielle Repression» begegnet? Falls ja, sind damit gemeint: 13. 14. 15. 16. 17. 18. Rentenkürzungen? Steuererhöhungen? Schuldenschnitte? Zwangsabgaben? Inflation? Währungsreformen? 218 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (IV) • Was bedeutet der Ausdruck «quantitative Lockerung»? 19. Eine Yoga-Übung? 20. Die Beschleunigung der Notenpresse? 21. Können Sie sich mit der blühenden Metaphorik der EuroRetter anfreunden, oder kommt sie Ihnen martialisch, konfus oder gar lächerlich vor? Sind Sie in der Lage, zwischen Schirmen, Hebeln, Bazookas, Dicken Berthas, Brandmauern und Hilfspaketen punktgenau zu unterscheiden? 219 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (V) • Stimmen Sie den folgenden Ansichten zu: 22. »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.« (Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Eurogruppe, 1999) 23. »Politiker sind wie schlechte Reiter, die so stark damit beschäftigt sind, sich im Sattel zu halten, daß sie sich nicht mehr darum kümmern können, in welche Richtung sie reiten.« (Joseph A. Schumpeter, 1944) 220 Vierzig unvorgreifliche Erkundigungen - Auszüge (VI) 23. Hat der Verfassungsrechtler Gusy aus Bielefeld recht, wenn er sagt: „Wo ein Trog ist, sammeln sich Schweine“? 24. Wenn sich herausstellt, dass die Einführung einer neuen Papierwährung statt zur Integration Europas zu seiner Spaltung, und wenn sie statt zur Verständigung zu Hass und gegenseitigem Ressentiment geführt hat, wäre es da angezeigt, diese Position zu räumen, statt nach dem Motto «Augen zu und durch» zu verfahren? 25. Oder ist das undenkbar, weil es eine narzisstische Kränkung der verantwortlichen Politiker bedeuten würde? 26. Verstehen Sie, warum die Europa-Politiker mit den Römischen Verträgen und dem Traktat von Maastricht so umgehen, als hätten sie diese Papiere nie unterschrieben? 221 4.2.5. Eurokrise • Wesen der Eurokrise – Sie ist im Kern eine Staatsschulden- bzw. -finanzierungskrise. – Allerdings gibt es Verbindungen zu zwei weiteren Krisen: • US-Bankenkrise/Transatlantische Bankenkrise 2008/09: Staat rettete Banken → Erhöhung der Schuldenquote (Staatsschuld/Bruttoinlandsprodukt) • Rezession in UK und Eurozone (nur gering in Deutschland) im Gefolge der globalen Finanzkrise. – Man spricht deshalb auch einer dreifachen Krise (Welfens 2012). – Allerdings dürften die eigentlichen Ursache der Eurokrise in den Konstruktionsfehlern der Währungsunion liegen: • Zu große Unterschiedliche in der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedsländer. • Trittbrettfahrerproblem bei dezentralisierter, nationaler Finanzpolitiken wegen fehlender Glaubwürdigkeit der No-Bail-Out-Klausel und fehlender Sanktionierung der Verletzung der Konvergenzkriterien. 222 Die dreifache Krise Schaubild 20 Teufelskreis der Banken-, Staatsschulden- und makroökonomischen Krise1) Wirtschaftlicher Abschwung führt zu Kreditausfällen Makroökonomische Krise Wegbrechende Kreditvergabe an Unternehmen vermindert Investitionen Bankenkrise Bankenrettung durch den Staat verschlechtert die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte Wegbrechende Steuereinnahmen und steigende Transfers belasten die öffentliche Haushalte Unvermeidliche staatliche Konsolidierung schwächt die Binnennachfrage Kursverluste bei Staatsanleihen verschlechtern die Bilanz- und Kapitalposition der Banken Staatsschuldenkrise 1) Darstellung in Anlehnung an Shambaugh (2012). © Sachverständigenrat 223 Der Weg in die Krise (I) • Mit der Währungsunion erhöht sich die Möglichkeiten zur Verschuldung und macht diese billiger, weil: – das Wechselkursrisiko entfällt; – aufgrund des Ansehens der nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank gestalteten EZB die Inflationserwartungen und damit die Zinsen sanken („Eurodividende“), – die Risikoprämie für den Zahlungsausfall entfällt, da die Kapitalmärkte nicht davon ausgehen, daß die Union ein Mitgliedstaat pleite gehen lassen wird. • Tatsächlich sanken die Realzinsen, insbesondere in den Ländern der Peripherie der Währungsunion, die bislang keine besonders soliden Finanzen hatten und/oder eine geringere wirtschaftliche Entwicklung aufwiesen rekordverdächtig auf deutsches Niveau → Die Möglichkeiten, sich zu verschulden, steigen dramatisch. 224 Realzinsen in der Eurozone 225 225 Schaubild 22 Renditen 10-jähriger Staatsanleihen sowie geschätzter marginaler Einfluss auf den Schuldenstand Renditen 10-jähriger Staatsanleihen für ausgewählte Länder des Euro-Raums1) Frankreich Deutschland Irland Italien Portugal Griechenland3) Spanien Geschätzter marginaler Effekt des Schuldenstands auf den Risikoaufschlag gegenüber Deutschland2) 95%-Konfidenzbereich % p.a. 60 18 16 50 14 40 12 10 30 8 20 6 10 4 0 2 0 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 1) Quelle: Thomson Financial Datastream.– 2) Schätzergebnisse für den Euro-Raum (ohne Luxemburg) entsprechend der Methodik von Bernoth und Erdogan (2012). Ein Anstieg der Schuldenstandsquote um einen Prozentpunkt führt zu einer Erhöhung der Risikoprämie um x Basispunkte. Die Schätzung enthält als weitere erklärende Variablen die Differenz des für das Folgejahr erwarteten Haushaltsdefizits zu Deutschland (OECD Economic Outlook) und ein Maß für die allgemeine Risikoaversion (Renditedifferenz US-amerikanischer Unternehmensanleihen mit Baa-Rating zu US-amerikanischen Staatsanleihen).– 3) Vom 05.09.2011 bis 12.10.2012 dauerhaft über 18 % p.a.; zur besseren Lesbarkeit werden die Werte für diesen Zeitraum nicht dargestellt. © Sachverständigenrat -10 Quelle:http://www.crp-infotec.de/02euro/finanzen/grafs/schulden_full_eurozone.gif 227 Quelle:http://www.crp-infotec.de/02euro/finanzen/grafs/schulden_entw_eurozone.gif 228 Quelle: http://www.crp-infotec.de/02euro/finanzen/grafs/schulden_vgl_euro_eu27.gif 229 Der Weg in die Krise (II) • Infolge der sinkenden Realzinsen war Kredit so billig wie nie. Die Folgen waren: – – – – Bau- und Immobilienboom, vor allem in Spanien und Irland inländischer Konsum steigt; Inflation steigt steigende Löhne Importe steigen, auch wegen der stabileren Währung, aber Exporte werden zu teuer; Handelsbilanzdefizit als Folge – steigende Staatsverschuldung (vor allem in Griechenland); vor allem gegenüber dem Ausland (Euro-Banken); – Verwendung der Schulden für Konsum; nicht für Investitionen • Im Zuge der globalen Finanzkrise verschuldeten sich die Länder zur Rettung ihrer Banken und der Konjunktur noch mehr. 230 Der Weg in die Krise (III) • Ende 2009 kündigte die griechische Regierung an, daß ihr Haushaltsdefizit statt der ursprünglich gemeldeten 3,7 % 12,7 % des BIP beträgt. • Reaktion der Kapitalmärkte: – Herabstufung des Rating griechischer Staatsanleihen – Zinsanstieg Zinsen wurden wieder differenziert nach Ausfallrisiko • Höhere Zinsen für Auslandschulden verschärften die Schuldenkrise der Griechen, weil sie immer mehr Einnahmen zur Zinszahlung aufbringen mußten. 231 Rettungsmaßnahmen • Bail-out – Rettungsschirme: EFSM, ESFS, ESM – Monetäres Bail-out: quantitative Easing • Fiskal- und Transferunion: – Europäisches Semester (= feste zeitliche Abfolge von 6 Monaten zur frühzeitigen Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe zwecks Sicherung der nationalen Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft) – Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts – Koordination der Wirtschaftspolitik – Euro-Bonds 232 Übersicht über die aktuellen Rettungsmaßnahmen 233 Liqiuditätshilfen des EFSF und ESM im Vergleich 234 Euro-Klagen 2012 (I) Alle Klagen richten sich gegen • Fiskalpakt und • Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) Kläger Argumente Fraktion „Die Linke“ • Sozial- und Demokratieabbau • Milliardenrisiken des ESM und Sparvorgaben des Fiskalpaktes berauben den Bundestag seiner Haushaltsrechte Verein „Mehr Demokratie“ Herta Däubler-Gmelin (SPD) • weitreichende Eingriffsrechte der EU-Institutionen gegenüber Mitgliedsstaaten ohne demokratische Legitimation . • massiver Eingriff in das Budgetrecht des Bundestags. 237 Euro-Klagen 2012 (II) Kläger Argumente Peter Gauweiler (CSU) • Klage nur gegen den ESM • Aufhebung des „Bail-out-Verbot“ • Eine demokratisch nicht legitimierte Organisation bestimme über die Verwendung deutsche Steuergelder Freie Wähler & die Gruppe um Karl Albrecht Schachtschneider (EuroKläger von 1998) • Das Prinzip der Haftung für die eigenen Schulden werde außer Kraft gesetzt. Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Joachim Starbatty Bürgerklagen Einzelheiten nicht bekannt 238 Euro-Klagen 2012 (III) • 18.03.2014 Bundesverfassungsgericht weist alle Verfassungsbeschwerden gegen den ESM endgültig ab. • Bereits im Herbst 2012 hatte das Verfassungsgericht schon in einer Eilentscheidung grundsätzliches den ESM als nicht verfassungswidrig bezeichnet, dabei allerdings Auflagen gestellt. – Erhöhung der deutschen Haftungsobergrenze von 190 Mrd. €o nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundestags – umfassende Unterrichtung der Abgeordneten über alle Maßnahmen im Zusammenhang des ESM. 239 Euro-Klagen 2012 (III) • Offen sind noch Beschwerden über die EuroRettungspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). – unbegrenzte Kauf von Staatsanleihen durch die EZB sei nicht mit EU-Recht vereinbar – Das Verfassungsgericht hat diese Fragestellung mittlerweile dem Europäischen Gerichtshof zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. – Urteil wahrscheinlich 2015 240