Pfl anzen Ein Gras auf dem Weg nach oben Bedroht die Fiederzwenke die Artenvielfalt? E r de Wasse r Luft Fl o r a Fa u n a Mensch Zwischen 1900 und 2006 ist die mittlere Jahrestemperatur in der Schweiz um 1,47 °C angestiegen (Seite 214). Viele Pflanzen können heute 200 bis 300 Höhenmeter weiter oben wachsen und Samen bilden als vor 100 Jahren (Seite 222). Das gilt auch für die Fiederzwenke Brachypodium pinnatum. Ist das ein Problem? Kann eine einzelne Grasart einen signifikanten Einfluss auf die Artenvielfalt haben? Im SNP wird die Ausbreitung der Art seit den 1940er-Jahren untersucht. Sie breitet sich aus und wird in höheren Lagen keimfähig. Pflanzen können sich nur über Samen wirklich schnell und effizient verbreiten. Im SNP wurde der bislang höchstgelegene Fiederzwenken-Fruchtstand mit keimfähigen Samen bei Il Fuorn auf 1800 m ü.M. gefunden (Abb. 73). Mit der fortschreitenden Erwärmung dürfte sich dies in Zukunft allerdings ändern. Dann könnte die Fiederzwenke auch in höheren Lagen reife Samen bilden – zum Beispiel auf der auf 1950 m ü.M. liegenden ehemaligen Alp Stabelchod (Karte 96). Damit würde aus einem relativ harmlosen, sich nur sehr langsam über Ausläufer vermehrenden Mitspieler ein sich über Samen schnell und weiträumig vermehrender Konkurrent für die anderen Arten. Stabelchod könnte bald so aussehen wie die Weidefläche unterhalb von Ova Spin, unmittelbar ausserhalb der Parkgrenze (Abb. 74). Damit verbunden wäre eine – zumindest lokale – Abnahme des Futterangebots für Rothirsch und Gämse sowie eine floristische und faunistische Verarmung der subalpinen Weiden. Im Zentrum von älteren Fiederzwenken-Kolonien findet man pro Quadratmeter weniger als halb so viele Pflanzenarten wie ausserhalb der Kolonien. Auf Stabelchod werden die Kolonien der Fiederzwenke seit 1939 regelmässig untersucht und vermessen. Die von Balthasar Stüssi (1908–1992) begonnenen Messungen zeigen, dass die Kolonien jedes Jahr etwa um 5 cm nach aussen wachsen Abb. 74. Diese knapp ausserhalb der Grenzen des Parks liegende Weide bei Ova Spin wurde von der Fiederzwenke bereits zu einem grossen Teil überwuchert. (Karte 96). In zehn Jahren wird so aus einer einzelnen Fiederzwenken-Pflanze eine kreisförmige Kolonie mit einem Durchmesser von 1 m und in 100 Jahren eine mit einem Durchmesser von 10 m. Die zwölf Fiederzwenken-Kolonien auf Stabelchod haben Durchmesser von 2 bis 16 m und waren 2012 zwischen 20 und 215 Jahren alt. Wirksam bekämpfen lässt sich die Fiederzwenke nur durch jährliche Mahd im Sommer oder Herbst. Auf subalpinen Weiden und in alpinen Rasen ist eine jährliche Mahd aber höchstens auf kleinen Flächen praktikabel. Im SNP steht dies nicht zur Diskussion. Aber auch die Fiederzwenke hat ihre Gegenspieler, zumindest in der subalpinen Stufe: Gegen Bäume ist sie machtlos. Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass jede Kolonie ein Individuum ist: Das unscheinbare Gras kann also so alt werden wie ein Baum. Da alle Kolonien auf Stabelchod genetisch voneinander verschieden sind, dürfte jede aus einem Samen entstanden sein, der von Menschen oder Tieren aus tieferen Lagen eingeschleppt worden ist. Bertil o. Krüsi Auf der Strecke vom Hotel Il Fuorn zur Abzweigung des Wanderwegs nach Alp la Schera hatte es 2011 zwischen Ofenpassstrasse und der Ova dal Fuorn 21 Fiederzwenken-Kolonien. Die erste hat sich um 1951 etabliert, und danach hat sich ihre Zahl exponentiell vergrössert (Abb. 75). Dies könnte mit dem globalen Klimawandel oder mit dem Eintrag von Rhizomteilen bzw. Samen im Rahmen von Strassenunterhaltsarbeiten zusammenhängen. Für den Klimawandel spricht, dass bei einigen der auf Stabelchod untersuchten Kolonien der jährliche Durchmesser-Zuwachs ab 1999 deutlich grösser war als zwischen 1940 und 1999 (Abb. 76). Gemäss den Klimamodellen wird sich die Klimaerwärmung in den kommenden Jahrzehnten noch beschleunigen. Dies öffnet der Fiederzwenke den Weg nach oben. Der höchste bekannte Fiederzwenken-Fundort im Engadin liegt oberhalb von Ardez am Muot Aut auf 2360 m ü.M., der höchste Fundort eines keimfähigen Samens auf der Südseite des Albulapasses auf 1960 m ü.M. 25 Anzahl Fiederzwenken-Kolonien Abb. 73. Die Fiederzwenke ist an ihrem Blütenstand leicht zu erkennen. Im Gegensatz zu den Blättern werden die Blüten- und Fruchtstände der Fiederzwenke vom Rothirsch gelegentlich gefressen. So gelangen ihre Samen auch in Höhenlagen, wo die Fiederzwenke wegen der kurzen Vegetationszeit bisher noch keine reifen Samen bilden konnte. ungestört entwickeln. Sie eignen sich daher ideal für die Untersuchung verschiedenster Fragen. Wie schnell wachsen sie? Wie alt werden die Kolonien? Woher kommen sie? Profitieren sie vom globalen Klimawandel? Bedrohen sie die Artenvielfalt auf den subalpinen Weiden? 20 15 10 5 0 1940 1960 1980 2000 2020 Geburtsjahr Abb. 75. Entwicklung der Anzahl FiederzwenkenKolonien zwischen dem Hotel Il Fuorn und dem Beginn des Wanderwegs nach Alp la Schera zwischen 1950 und 2010 10 Mittlerer Durchmesser (m) Bereits um 1940 weckten die auffälligen hellgrünen, mehr oder weniger runden und aussen meist scharf begrenzten Kolonien der Fiederzwenke die Neugier der Forscher (Abb. 77 und Abb. 78). 2012 waren im SNP über 200 Fiederzwenken-Kolonien bekannt, rund 180 davon am Ofenpass, insbesondere entlang der Strasse und an den alten Viehtriebwegen (Champlönch; Karte 95). Die bisher am höchsten gelegene Kolonie wurde auf Grimmels auf 2050 m ü.M. gefunden. Im SNP befindet sich die Art an ihrer oberen Verbreitungsgrenze. Ihre Kolonien sind daher bisher verhältnismässig selten, voneinander meist klar getrennt und relativ gross. Da sie weder von Haus- noch von Wildtieren gefressen werden, können sie sich praktisch fieder z wenke 8 6 4 2 0 1940 1960 1980 2000 2020 Jahr Abb. 76. Entwicklung des Durchmessers von Kolonie 3 auf Stabelchod von 1943 bis 2012. Balthasar Stüssi hat die Kolonie von 1943 bis 1986 beobachtet und vermessen. Seit 1999 scheint die Kolonie schneller zu wachsen (13,2 vs. 10,3 cm pro Jahr). 94 atlas_kap4_B.indd 94 01.11.2013 13:45:17 Karte 95 Piz dal Fuorn Ova Spin Ch am pl ön ch Piz Nair 1172000 Il Fuorn Grimmels Stabelchod Abb. 77. Kolonie 4, die 2012 einen mittleren Durchmesser von 5,5 m hatte. Ova da 1170000 l Fuorn Munt la Schera Buffalora Munt Chavagl Alp la Schera Pass dal Fuorn 2 km 2810000 2812000 Karte 95. 2012 bekannte Fiederzwenken-Kolonien zwischen Ova Spin und Pass dal Fuorn Karte 96 Alter 50 Jahre oder jünger 50–100 Jahre Älter als 100 Jahre 1171900 2808000 2814000 2816000 2818000 2820000 Kolonie 5: 1976 Kolonie 4 Karte 96. Fiederzwenken-Kolonien auf Stabelchod. Die Jahreszahlen geben an, wann die Kolonien vermutlich entstanden sind. Max. 16 m Kolonie 1: 1895 Kolonie 2 Min. 2 m 8 Kolonie 10: 1796 Entwicklung des Durchmessers der jeweiligen Kolonie 1171600 4 0 1940 1960 1980 2000 2020 Jahr Kolonie 3: 1917 Kolonie 2: 1873 16 1171700 Durchmesser (m) 20 12 Kolonie 5 Kolonie 4: 1976 1171800 Durchmesser 2012 Abb. 78. Kolonie 6, die 2012 einen mittleren Durchmesser von 12 m hatte. 2822000 Kolonie 3 Kolonie 9: 1957 Kolonie 6: 1867 Kolonie 6 Kolonie 7 Kolonie 8: 1976 1171500 Kolonie 7: 1859 Kolonie 11: 1972 Kolonie 12: 1992 2814000 2814100 2814200 2814300 100 m 2814400 2814500 2814600 2814700 95 atlas_kap4_B.indd 95 01.11.2013 13:45:24