Salutogenese und Gewalt - Evangelische Akademie Tutzing

Werbung
Salutogenese und Gewalt
Evangelische Akademie Tutzing
06. / 07.04.2005
Dr. Herbert Steinböck
Forensik München-Haar
Wozu könnte das Salutogenese-Konzept
im forensischen Kontext nützen?
„
Harte Strafen reduzieren Kriminalität nicht
„
„
Kriminalität hat etwas mit der jeweiligen Gesellschaft zu tun:
„
„
„
„
„
Todesstrafe (10-fach höhere Mordquote USA vs. BRD)
Kriminalität = Kehrseite jeder sozialen Regelung und daher
Bestandteil jeder Gesellschaft (Durkheim1895);
Kriminalitäts-Anstieg unter Anomie-Bedingungen (a.a.O.):
Auseinanderklaffen von den als legitim anerkannten gesellschaftlichen
Zielen und den Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser
Ziele erlaubten Mittel (Merton1974)
„gerechte“ (von den meisten Gesellschaftsmitgliedern als gerecht
eingeschätzte) Lebensbedingungen reduzieren Kriminalität;
soziale und therapeutische Unterstützung verbessert die
Legalprognose
Kriminalität und psychosoziale „Gesundheit“ gehen zwar nicht
ineinander auf, hängen aber „irgendwie“ miteinander zusammen –
wie?
Kohärenzgefühl
(Antonovsky 1997)
„
„
„
Verstehbarkeit (Ausmaß, in welchem man interne u. externe
Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt)
Handhabbarkeit (Ausmaß, in dem man wahrnimmt, daß man
geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den
Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen
man konfrontiert wird, ausgehen (= Gegenbild des Pechvogels).
Bedeutsamkeit (motivationales Element; Ausmaß, in dem man
das Leben als sinnvoll empfindet; Anforderungen =
Herausforderungen, die Anstrengung und Engagement lohnen)
Schützt ein Kohärenzgefühl
vor psychischer Störung?
Ja und nein!
Ja: weil psychische Störungen oft aufgrund mangelhaften
Kohärenzgefühls überhaupt erst "subjektv notwendig"
werden;
nein: weil die psychische Störung (das psychosomatische
Symptom, der Wahn) an die Stelle eines Kohärenzgefühls
treten können ("Chronifizierung")
Schützt ein Kohärenzgefühl
davor, ein Delikt zu begehen?
Ja und nein!
Ja, weil kriminelles Verhalten häufg ein individuelles
Ausweichen vor Schwierigkeiten des Lebenswegs ist
("Weg des geringsten Widerstands);
nein, weil die kriminelle Identität ein Kohärenzgefühl
geben bzw. ersetzen kann (Fixierung des kriminellen
Lebensstils).
Konsequenzen
„
Die Kategorie des Kohärenzgefühls könnte auch im
forensisch-psychiatrischen Kontext eine wichtige Rolle spielen,
und zwar
„
„
„
Primärprävention:
Gewaltverhütung = (gesellschafts-) politische Aufgabe;
wie hätte eine Gesellschaft auszusehen, die für ihre Mitglieder
„
„
„
„
für Primär- und
für Sekundärprävention.
verstehbar,
handhabbar und
bedeutsam wäre?
Sekundärprävention:
Rolle von Therapie / Resozialisierung bei Klienten / Patienten
in unterschiedlichen
„
„
„
Biographien (verstehbar),
Lebenslagen (handhabbar),
motivationalen Konstellationen (bedeutsam)?
5 idealtypische Motivationsprofile inhaftierter Straftäter
(modifiziert nach Dahle 1995; JVA Moabit, n = 120 unselektierte U-Häftlinge)
Cluster
psychische Stö
Störungen
broken home
Problemausmaß
Problemausmaß
Deliktform
Wahrnehmung der Situation
Therapiebereitschaft
%
1
hoch
nein
hoch
Gewaltdelikte
als belastend wahrgenommen;
extremes Miß
Mißtrauen gegen
Vollzug
passiv
10
2
gering u. umgrenzt
nein
relativ gering
Tötungsdelikte
selbsteffizient,
handlungskompetent, fü
fühlt sich
für Probleme selbst
verantwortlich
kein lä
längerfristigerer
PsychotherapiePsychotherapiebedarf
33
3
bei Problemen
Rückzugsverhalten,
Alkohol, Medikamente
Desolat
(Heimkarriere)
extrem hoch
Kleinkriminalitä
Kleinkriminalität
(geringe
Schwere, aber
hohe Frequenz)
als belastend wahrgenommen;
miß
mißtrauisch; sieht kaum
Eigenverantwortlichkeit; Mangel
an Selbstvertrauen;
Abhä
Abhängigkeitserleben (von
Mächtigeren, vom Schicksal)
Skepsis; kein aktives
Bemü
Bemühen um
Therapie; aber passive
Annahme; multipler
Unterstü
Unterstützungsbedarf
11
4
AnpassungsAnpassungsschwierigkeiten
in Alltag und Haft
nein
sehr gering
spä
später
DelinquenzDelinquenzbeginn
externale Problemattribution;
erlebt sich als
handlungskompetent u.
selbsteffizient
geringste
BehandlungsBehandlungsbereitschaft; nur selten
psychotherapiepsychotherapiebedü
bedürftig
22
5
nein
Ja
(Heimkarriere)
hoch
spä
später
DelinquenzDelinquenzbeginn,
Raubdelikte
geringes Selbstvertrauen in die
eigene Handlungskompetenz;
auf Probleme Reaktion mit
Fluchtverhalten u.
hilfesuchenden Strategien
gewisses Vertrauen in
Angebote des
Strafvollzugs; motiviert
für psychother.
Behandlung, aber in
Überforderungsberforderungssituationen Probleme
im Therapieverlauf;
anfä
anfällig fü
für
subkulturelle Einflü
Einflüsse
25
Hilfebedarf bei Straftätern
„
> 50 % (Cluster 2 u. 4)
kein spezifischer Therapiebedarf: Kohärenzgefühl vorhanden
„
„
„
Cluster 2: selbsteffizient, handlungskompetent, fühlt sich für Probleme
selbst verantwortlich
Cluster 4: externale Problemattribution; erlebt sich als
handlungskompetent u. selbsteffizient
ca. 44 % (Cluster 1, 3, 5)
spezifischer Therapiebedarf: Kohärenzgefühl mangelhaft
„
„
„
Cluster 1: Situation als belastend wahrgenommen; extremes Mißtrauen
gegen Vollzug
Cluster 3: als belastend wahrgenommen; mißtrauisch; sieht kaum
Eigenverantwortlichkeit; Mangel an Selbstvertrauen;
Abhängigkeitserleben (von Mächtigeren, vom Schicksal)
Cluster 5: geringes Selbstvertrauen in die eigene Handlungskompetenz;
auf Probleme Reaktion mit Fluchtverhalten u. hilfesuchenden Strategien
Therapieaussicht im
Straf (- und Maßregel-) Vollzug
„
„
Therapie scheint bei hohem Therapiebedarf
nur geringe Erfolgsaussichten zu haben;
Wer gute Erfolgsaussichten zu haben scheint,
hat kaum Therapiebedarf.
Kriterien der Legalprognose
„
„
„
historisch (aktuarisch)
klinisch (aktuell)
Risiko (künftig)
HCR-20 (C.
( D. Webster, K. S. Douglas, D. Eaves, S. D. Hart,
Dimension H: statische Variablen
(Vergangenheit) – max. 20 Punkte
Dimension C: klinische Variablen
(Gegenwart) – max. 10 Punkte
H1 Frühere Gewaltanwendung
C1 Mangel an Einsicht
H2 geringes Alter bei 1. Gewalttat
C2 negative (antisoziale) Einstellungen
H3 instabile Beziehungen zu Partnern
C3 aktive (produkt.-psychot.) Sympt.
H4 Probleme im Arbeitsbereich
C4 Impulsivität
H5 Substanzmißbrauch
C5 fehlender Behandlungserfolg
H6 (gravierende) seelische Störungen
Dimension R: Risikovariablen
(Zukunft) – max. 10 Punkte
H7 psychopathy (PCL-Score)
H8 frühe Fehlanpassung
(incl. Mißbrauch u. Schulversagen)
R1 Fehlen realisierbarer Pläne
H9 Persönlichkeitsstörung
R3 Mangel an Unterstützung
H10 frühere Verstöße gegen Auflagen
R4 fehlende Compliance
R2 destabilisierende Einflüsse
R5 Stressoren
Wodurch wird Kohärenzerleben in
Frage gestellt?
durch biographische Brüche
(= aktuarische Risikofaktoren)
„
„
broken home, Erlebnisse des Verlusts, der
Kränkung, von Mißbrauch und Gewalt;
schwere Delikte (z. B. Tötungsdelikte),
die nicht wirklich „verarbeitbar“ (= in die
bisherige Sinnkontinuität des Lebens
integrierbar) sind.
Fakt
„
„
„
Aktuarisch belastete Patienten
weisen häufig ungünstige Therapieverläufe auf;
es finden sich aber immer wieder Patienten mit
eben solchen Belastungen, die dennoch
erstaunlich positive Entwicklungen zeigen;
gelegentlich findet sich auch das umgekehrte
Phänomen, also ungünstige Verläufe trotz
scheinbar günstiger Ausgangsvoraussetzungen.
Unter welchen Umständen gelingt die
Überwindung aktuarischer Belastung?
„
„
„
„
Wahrscheinlich dann, wenn dem Subjekt eine subjektive
Neubewertung von biographischer, delikthistorischer und
Zukunftsperspektive so gelingt, daß ihm ein kohärenter Lebensweg
erkennbar wird.
Die Kohärenz wird narrativ (in der Therapie) erarbeitet und
dargestellt (als Ordnung, die retrospektiv, aus der jetzt erreichten
Sicht, re-konstruiert wird) (Kraus 1996).
Die resultierende „Erzählung“ ist nicht einfaches, lineares und auch
nicht subjektiv-beliebiges Therapieergebnis, sondern Schnittpunkt
verschiedener sozialer Praxen, in denen das Individuum steht, die
einander widersprüchlich durchdringen, parallel laufen und z. T.
einander behindern oder gar ausschließen; die „Erzählung“ spiegelt
also die Wirklichkeit des Individuums wider, aber spezifisch aus
dessen Blickwinkel.
Deshalb spielt nicht nur eine Rolle, wie „die Therapie“ abläuft,
sondern wie sich diese zu den übrigen sozialen Praxen
(Beziehungen, Arbeit, narzißtische Bedürfnisse) dieses Individuums
aus dessen Perspektive verhält, ob die Therapie ihm hierfür neue
Deutungsmöglichkeiten liefert etc (Dreier 1998; 2002).
Es sind also 2 Arten der Integration als
Anbahnung kohärenter Lebenswege
- Trajektorien zu leisten
(Dreier 2002)
„
„
„nach vorne“: zeitlich-linear, biographisch;
„quer“: räumlich-sozial, als übergreifende Fähigkeit zur
„begründeten“ Partizipation an unterschiedlichen
Kontexten
Therapie ist auch in der
forensischen Psychiatrie
nur ein Angebot an
mit Subjektivität begabte
Menschen.
Unterbringung ist zwar erzwingbar,
Psychotherapie aber
niemals.
Literatur
„
„
„
„
„
„
Antonovsky, A. (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der
Gesundheit. Dtsch. Hrsg. A. Franke. Forum für Verhaltenstherapie und
psychosoziale Praxis, Bd. 36, Dgvt-Verlag, Tübingen
Dahle, K.-P. (1995) Therapiemotivation hinter Gittern.
Zielgruppenorientierte Entwicklung und Erprobung eines
Motivationskonstrukts für die therapeutische Arbeit im Strafvollzug. S.
Roderer Verlag, Regensburg, S. 146 ff
Dreier, O. (1998) Client perspectives and uses of psychotherapy. European
Journal of Psychotherapy, Counseling and health 1, 295 - 310
Dreier, O. (2002) Psychotherapie und die Anbahnung kohärenter
Lebenswege in divergierenden Praxiskontexten – ein neuer Ansatz der
Therapieanalyse. Forum Kritische Psychologie 45, 75 - 96
Durkheim, E. (1895 / 1980) Die Regeln der soziologischen Methode.
Luchterhand, Darmstadt – Neuwied
Merton, R. F. (1974) Sozialstruktur und Anomie; in Sack, F., R. König
(Hrsg.) Kriminalsoziologie. 2. Aufl., Frankfurt a. M., S. 283 - 313
Herunterladen