1 THEOLOGIE - EINE SOZIALWISSENSCHAFT? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema von Dietrich von Heymann in: Maaß, H. / Müller, P. / Presler. G. (Hrsg.), Leben im Dialog Festschrift für Eugen Engelsberger; (Beiträge pädagogischer Arbeit - Sonderband), Karlsruhe 1996, S.129-132. 2 Wer ist das eigentlich - Gott? Auf diese Frage hat die Theologie zu antworten, schlüssig, plausibel, verständlich - und im Konzert der Wissenschaften auch wissenschaftlich. Persönliche Bekenntnisse sind hier also nicht gefragt, sondern nachvollziehbare Erkenntnisse. Theologie bedeutet nicht Gottesdienst oder Gemeindestunde; dort gelten andere Regeln. Zur theologischen Erkenntnis gehören Voraussetzungen, Methoden und Ziele. Die christliche Theologie geht vom Erfahrungsvorsprung der Bibel aus. Ausgangspunkte zu bezeichnen gehört zum wissenschaftlichen Inventar, ebenso wie die Angabe von Zielen: Der Theologie geht es um „Erkenntnis Gottes und des Menschen" (Luther), dabei ist sie eine „eminent praktische Weisheit" (Hollaz). Im 19. Jahrhundert hieß es: „Christliche Glaubenssätze sind Auffassungen der christlich frommen Gemütszustände in der Rede dargestellt" (Schleiermacher) Theologie kann ihre Aufgabe auch verfehlen, z.B. durch Konservatismus, Modernismus, Irrationalismus, Rationalismus. Zu den Wissenschaftsmerkmalen der Theologie zählen: geregelte Kommunikation, Offenlegung der Theorien und Methoden und nicht zuletzt die Rückführung ihrer Erkenntnisse auf nicht mehr hinterfragbare vorwissenschaftliche Annahmen. Gerade dieses letzte Merkmal verbindet die Theologie mit anderen Wissenschaften1. So sind theologische Sätze „an der erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch zu bewähren; zugleich müssen sie als antizipierende Sinnentwürfe neue Erfahrung zu erschließen geeignet sein" (Pannenberg). Außerdem überprüft die Theologie, ob sich Kirche (und Religionsunterricht!) an die von ihr selbst geltend gemachten Voraussetzungen hält. Damit sind einige Ziele genannt. In der Theologie sollen alte und neue Erfahrungen gedeutet und erschlossen werden, die über Den mathematischen Satz 2 + 2 = 4 kann man nur glauben, nicht beweisen. Die Evangelische Theologie an den Pädagogischen Hochschulen wurde kürzlich auf ihr Selbstverständnis hin befragt. Es ging vordergründig um ihre Zuordnung zu Fächergruppen in den neu zu bildenden Fakultäten. Dahinter schien aber die Frage nach ihrer Legitimation schlechthin auf. 1 3 die üblichen verfügbaren innerweltlichen Ordnungen hinausgehen. Folgende Fragen sind möglich. Ist also Theologie - eine Sprachwissenschaft? In der Theologie wird die Bibel ausgelegt. Insofern sucht Theologie nach dem Erfahrungsüberschuß der biblischen Schriften. Selbstverständnis, Deutung und Bedeutung verbinden sich zur Interpretation. Hinzutritt noch die Geschichte der Auslegung. Damit wird ein Prozeß des Verstehens (Hermeneutik) angestrebt, welcher das Bewußtsein des Hörers/Lesers erhellt. Hier klingt das Programm der Existentialen Interpretation (Bultmann) und der nicht-religiösen Interpretation religiöser Begriffe (Bonhoeffer) an. Dabei bleibt Theologie aber nicht stehen. Sie fragt weiter nach den Auswirkungen in Geschichte und Gegenwart. Beispiel: Den päpstlichen Ruf „Gott will es!" im Ohr, versammelten sich Fürsten, Gaukler und Ganoven 1095 zum ersten Kreuzzug. Auch ernsthafte Gläubige waren dabei. Welch eine Folge trotz (wegen?) der Theologie! Es geht beim Gegenstand der Theologie daher nicht nur um Sprachereignis oder Bewußtsein, sondern um deren Folgen im praktischen Handeln. Einwand: Das bißchen Ethik soll also Theologie sein? Antwort: Erst mal machen, dann kritisieren. Später können wir uns dann immer noch ums Bewußtsein kümmern. Wenn schon nicht nur Sprachwissenschaft, ist dann die Theologie - eine Erziehungswissenschaft? Theologie macht sich immer wieder auf den Weg des Nach-Denkens von der Bibel hin zum heutigen Hörer. Dieser Prozeß verdichtet sich zum Verstehen und Prüfen. Das nennen wir lernen. Theologie könnte sich somit also auch 4 als eine Art Pädagogik verstehen. Neutestamentliche Gleichnisse und Wundergeschichten, Briefe und Weihnachtstexte wollen etwas lehren und Handlungsmuster aufzeigen. Auch das Urbekenntnis Israels wird in eine pädagogische Situation gestellt: „Wenn dich dein Sohn fragen wird...", was hat es denn auf sich mit meinem Leben, was soll gelten? ..., dann sollst du deinem Sohn antworten: „Knechte waren wir in Ägypten beim Pharao, und Gott führte uns heraus mit starker Hand ... und führte uns in ein neues Land" (Dtn 6,20ff). Dort lebt Israel noch heute. Aber aus Erziehung ist stets Handlung geworden: Im damaligen (und heutigen) Israel entstanden Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft usw. Oder: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zielt auch auf Bewährung des Glaubens in der verantworteten Tat. Die Mitwirkung der Theologie in den Erziehungsaufgaben zielt also auf Handlung. Wäre damit nicht auch die Pädagogik eine Spielart der Sozialwissenschaft? Wenn sich Theologie nicht in Sprachforschung und Erziehungsfragen erschöpft, ist dann Theologie - eine Sozialwissenschaft? In der akademischen Praxis trifft man auf zwei unterschiedliche Kulturen: die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche. Sie unterscheiden sich z.B. an unterschiedlichen Denk- und Sprachformen. So ist dem Naturwissenschaftler eher an logisch-kognitiver Eindeutigkeit gelegen, dem Geisteswissenschaftler mehr am Primat der Reflexion. Auch die IngroupMentalität unterscheidet die beiden Kulturen. So kann der Geisteswissenschaftler eher kognitive Widersprüche aushalten und verfügt daher über mehr Konfliktfähigkeit, während der Naturwissenschaftler klarer definieren und formalisieren kann und sich eher auf Experimente einläßt. Die 5 beiden Wissenschaftstypen spiegeln eine kulturelle Alternative wieder. Es gibt eben verschiedene Wege, sich der Welt zu nähern oder sie zu deuten. Diese Unterscheidung wurde bei der kürzlich an der Pädagogischen Hochschule Freiburg vorgenommenen Einschränkung von fünf auf drei Fakultäten übersehen. Die Zusammenführung von unterschiedlichen Wissenschaftsansätzen führt nicht selbstverständlich zu Transferleistungen der Wissenschaftler und zum interdisziplinären Gespräch. Dies gehört zu den politischen Illusionen, und man braucht schon ein gehöriges Maß an Naivität, um den historischen Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften durch organisatorische Maßnahmen zu überspringen, z.B. Chemie und Theologie zu „ähnlichen Fächern" zu erklären, wie die gesetzliche Leitlinie es für die Zusammenfassung von Fächern zu Fakultäten2 vorschreibt. Der Tod als ein Thema der Theologie ist beispielsweise nicht als chemischer, physikalischer oder mathematischer Vorgang zu bedenken, dagegen erschließen sich seine Dimensionen schon eher durch soziologische, geschichtliche oder sogar wirtschaftliche Betrachtungsweisen. Die Reformation muß beispielsweise als theologisches, soziales und geographisches Ereignis eingeordnet werden, nicht jedoch als biologisches, chemisches, mathematisches oder physikalisches Geschehen. Die Beispiele aus den Wissenschaftsgegenständen der Theologie sind Legion, an denen die Unsinnigkeit der gewählten Fakultätengliederung aufleuchtet. Damit ist schon unsere Frage nach der Theologie als Sozialwissenschaft kurz berührt. Wer Gott sei, können die Sozialwissenschaften nicht sagen, denn sie sind systematisierte Empirie. Ihr methodischer Ansatz ist aber von theologischem Belang, so daß sich nun In der Fakultät III an der PH Freiburg sind Mathematik/Informatik, Biologie, Chemie, Physik, Geschichte, Geographie, Soziologie, Politikwissenschaft, Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre, Ev./ Kath. Theologie zu einer neuen, uneinheitlichen Mammutfakultät zusammengepackt worden. 2 6 noch ein theologischer Gedankengang anfügt: In der Regel wird mit dem Begriff 'Gott' nicht sorgfältig (genug) umgegangen. Skepsis ist angebracht! Als ob selbstverständlich und klar sei, was gemeint ist, wenn einer 'Gott' sagt, z.B. „Gott ist die Liebe und die Wahrheit". „Darf man fragen, woher Du das weißt?" Skepsis gilt mehr dem Sagenden als dem Gesagten. In dieser Situation hilft das Neue Testament mit seinem Erfahrungsvorsprung. Im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,21-35) erfährt der große Schuldner, wie der König ihm seine unglaublich hohe Schuldsumme erläßt. Danach geht derselbe Knecht hinaus und läßt einen Mitknecht wegen vergleichsweise '20 DM' ins Gefängnis werfen. Aber er hat Recht, denn er hatte ihm die kleine Summe ja geliehen. Dem Erzähler liegt am Unterschied zwischen der großen und der kleinen Summe. Die Jahrtausende alte Geschichte endet mit dem Wort des Königs: „Hättest du dich nicht auch gegenüber deinem Mitknecht erbarmen können (müssen)?" Ihr Ziel: Die Ordnung des Rechts kann im praktischen Handeln überholt werden von einer neuen Ordnung der Barmherzigkeit. Die Wahrheit der Erzählung liegt weder im Bewußtsein noch im Sprachereignis, sondern ihr 'Glück' erfährt, wer sich handelnd darauf einläßt. Die Gleichnisse insgesamt geben Antwort auf die Frage: Wo läßt sich Gott finden? Darauf deuten die Einleitungsformeln: Mit der 'Herrschaft Gottes' verhält es sich so wie ... z.B. mit einem Verwalter, der dem König eine Riesensumme schuldete. Die Gleichnisse beantworten auch die Frage der Gemeinde: Gott - das ist so abstrakt. Läßt es sich nicht konkret sagen? Wo erfahren wir denn etwas vom gekommenen Reich Gottes? Unsere Ausgangsfrage hat sich unter der Hand also verändert. Sie heißt nicht mehr: „Gott - wer ist das eigentlich?" sondern: „Gott - wo geschieht der eigentlich?" Das Neue Testament weist in vielen Variationen auf Vorgänge hin, in denen sich zwischen Menschen ereignet, „was wir Gott nennen" (K. 7 Rahner). Solchen Vorgängen gegenüber drängt sich die Methodik der Sozialwissenschaften auf. Identität durch Wandlung wird das Konzept von Religionspädagogik an einer Pädagogischen Hochschule heißen: Auf dem Weg vom Mittelalter (Theologie als Philosophie) zur Nachkriegstheologie (Hermeneutik) stehen wir heute an einem neuen Punkt des Selbstverständnisses. Noch stärker wird Theologie ihre ideologiekritische Potenz hervorheben müssen. Also: Wer ist das eigentlich - Gott? Jedenfalls nicht Formel und Begriff. Sondern er begegnet im anderen, der mich braucht. An Früchten und Folgen läßt sich Glaube erkennen. In der Nähe des Gottesgeschehens erfährt sich, wer am Bettler nicht vorbeigeht und sich (dabei) fragt, ob er wohl auch dem entspricht, wozu er bestimmt ist. *