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Unerschöpflich –
Informationsspeicher Gehirn
Wie aus Wahrnehmung Gedächtnis und Verhalten entstehen, erforscht Prof. Dr. Denise Manahan Vaughan.
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Lernende Hirnzellen:
Motivation nutzen
Neurophysiologen erforschen die zellulären
Grundlagen der Gedächtnisbildung
Denise Manahan-Vaughan
Schülerinnen und Schüler sind heute weniger aufmerksam und lernfähig als noch vor
Jahren, sagen manche Pädagogen. Kein Wunder, bei den vielen Ablenkungen, setzen
andere hinzu. Computerspiele, Internetsurfen oder Chatten stehen hoch im Kurs und
machen der Schule Konkurrenz. Weil Motivation der Schlüssel für effektives Lernen ist,
sind die Ergebnisse einer aktuellen Bochumer Studie von didaktischer Relevanz: Ob bei
aktiver Beteiligung am Schulunterricht oder passivem Lernen am Computer – Neurowissenschaftler stellen unter beiden Lernbedingungen die gleiche positive Wirkung auf die
Gedächtnisbildung fest.
Die Fähigkeit eines gesunden Menschen,
Neues zu lernen und zu behalten, ist im
Verlauf eines Lebens grenzenlos. Wie viel
wir verstehen, wird von unserer Intelligenz, aber auch unserer Bildung bestimmt.
Das Phantastische ist, dass wir so lange wir
möchten, immer wieder Neues lernen können. Wie ist das möglich? Jeder von uns
freut sich über die Anschaffung eines neuen Rechners mit mittlerweile „gigantischer
Speicherkapazität“. Die erste Computergeneration besaß eine Speicherkapazität von
einigen hundert Kilobyte (KB). Die neuesten auf den Markt kommenden Computer
haben mindestens 500 Gigabyte (GB), d.h.
500 000 000 KB. Aber wie groß die Speicherkapazität auch ist, trotzdem wird sie
irgendwann erschöpft sein. Bei uns Menschen ist das nicht der Fall. Das liegt teilweise daran, dass das menschliche Gehirn
bis zu 100 Milliarden Hirnzellen besitzt.
Diese Hirnzellen (Neurone) bilden wiederrum insgesamt über 100 Billionen Kontaktstellen (Synapsen), über die sie miteinander kommunizieren. Die Synapsen bilden
riesige Netzwerke, wodurch Information
gespeichert werden kann. Dieses System
ermöglicht unsere unbegrenzte Lernkapa-
ABC DE
Abb. 1: Die Beleuchtung eines Weihnachtsbaums gibt uns eine Vorstellung, wie ein synaptisches Netzwerk
funktioniert. Die gelben Leuchten (A) zeigen die naiven Synapsen, die noch nichts gelernt haben, die roten
Leuchten (B) die langzeit-potenzierten Synapsen (LTP) und die grünen Leuchten (C) Synapsen mit einer
Langzeit-Depression (LTD). Bei B und C ist die synaptische Übertragung anders, aber relativ eintönig. Doch
wenn sich wie bei D und E ein Netzwerk aus der Kombination aller drei Möglichkeiten (Farben) bildet, dann
ergeben sich aus nur drei verschiedenen „Leuchten“ und relativ wenigen Synapsen enorm viele Möglichkeiten (Farbkombinationen).
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zität. Ein Computer stellt im Vergleich einfach keine Konkurrenz dar.
Einfacher vorstellbar ist das bei einem
Netzwerk aus nur 100 Synapsen. Wenn alle
Synapsen „naiv“ sind, d.h. noch nichts gelernt haben, bleibt die Kommunikation
beim Alten und es wird keine Information gespeichert. Aber Synapsen besitzen die
Fähigkeit ihre Kommunikation miteinander zu verbessern bzw. zu vermindern: Die
langfristige Verbesserung der synaptischen
Kommunikation wird als Langzeit-Potenzierung (engl. long-term potentiation, LTP)
bezeichnet, die langfristige Verminderung
als Langzeit-Depression (engl. long-term
depression, LTD). Wenn sich einige Synapsen im naiven Zustand und andere im potenzierten (LTP) bzw. deprimierten (LTD)
befinden, kann auf einmal ein einmaliges
Netzwerk entstehen. Da jede Synapse unverändert, potenziert bzw. deprimiert sein
kann, ist die Kapazität dieses Netzwerkes,
neue Information zu speichern, atemberaubend. Denken wir an eine Weihnachtsbaumbeleuchtung: Mit nur drei Beleuchtungsfarben und 100 Leuchten, die bei Bedarf jede der drei Farben zeigen können
– wie viele Farbmuster könnten da entste-
Abb. 2: Wer sich langweilt oder müde ist, kann kaum
Information behalten oder lernen.
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Exploration (% total)
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A1
A2
B1
A2
0
alt und stationär
alt und an einer neuen Stelle
neu und stationär
neu und an einer neuen Stelle
Episode A
A 2
Episode B
A
A
B2
Test-Episode
B
5 min
B1
Objekt
A
A
A1
Pause
50 min
B2
B
B
B
Pause
50 min
A2
5 min
A1
B1
Abb. 3a: Das „Was-Wo-Wann-Gedächtnis“ von Nagern im Test: In „Episode A“ lernen die Nager vier neue Objekte kennen, die an ganz bestimmten Stellen innerhalb eines Raums platziert waren. Nach einer fünfminütigen Erkundungszeit und einer Pause von etwa einer Stunde entdeckten die Nager vier weitere Objekte an
anderen Stellen innerhalb des Raums. Nach einer weiteren Pause lernten sie zwei bekannte und zwei neue
Objekte kennen. Das bekannte Objekt A1 blieb an seinem Platz, während das bekannte Objekt A2 an eine
neue Stelle kam. Ähnlich wurden die beiden „B“-Objekte (B1, B2) platziert. Die Tiere zeigten das größte Interesse an A2 – dem Objekt, das sie in der fernsten Vergangenheit gesehen hatten, das sich jetzt aber an einem
anderen Ort befand.
hen! Und jede „Farbkombination“ kann
als ein einmaliges Gedächtnisengramm
gespeichert werden (s. Abb. 1).
Unsere Erinnerungen an Fakten und Ereignisse (deklarative Gedächtnisbildung,
s. Info 1) werden durch Änderungen bei
der synaptischen Übertragung im Gehirn
ermöglicht. Dieses Phänomen der „synaptischen Plastizität“ (s. Info 2) gewährleistet,
dass unsere Hirnzellen sich an wechselnde
Bedingungen bzw. Erlebnisse adaptieren,
aber auch erinnern können. Wenn wir uns
etwas langfristig merken möchten, ändert
sich die synaptische Übertragung dauerhaft. Aber mittlerweile liegen viele Beweise vor, dass jede abgerufene autobiografische deklarative Erinnerung danach wieder „frisch“ gespeichert wird. Nichts wird
Abb. 3b: Verhaltensversuch mit Nagern in einem so
genannten enriched environment.
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festgeschrieben wie auf einer Computerfestplatte. Das heißt letzten Endes, dass
eine „feste“ Erinnerung, zum Beispiel an
Ereignisse unserer 21. Geburtstagsfeier,
schon deshalb fehlerhaft sein kann, weil
wir bei jedem Abruf das Geschehen ein
bisschen modifizieren. Nur deklarative Erinnerungen, die verglichen und überprüft
werden können (z.B.: Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland), bleiben nach dem
Abruf unverändert. Und es gilt der Spruch
„use it or lose it“: Erinnerungen und Gelerntes, das wir nicht regelmäßig abrufen,
werden zunehmend lückenhaft und werden uns irgendwann verloren gehen.
Der Schlüssel zum effektiven Lernen
ist Motivation. Wenn wir uns langweilen,
müde, gestresst oder gar apathisch sind, ist
es viel schwieriger, Information zu behalten und zu lernen, als wenn wir wach, entspannt, interessiert und hochmotiviert sind
(Abb. 2). Neuromodulatorische Botenstoffe
wie z.B. Noradrenalin, Dopamin, Nikotin
und Stresshormone nehmen starken Einfluss auf unsere Lernfähigkeiten.
In einer Studie zur Auswirkung von
Noradrenalin und Dopamin auf die synaptische Plastizität und auf die Kognition bei Nagern hat Neal Lemon während
seiner Doktorarbeit in der Abteilung für
Neurophysiologie der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität gezeigt, dass
eine Hemmung der Rezeptoren für diese Botenstoffe sowohl die synaptische
Plastizität als auch das deklarative Lernen
hemmt. Im Gegensatz dazu stärkt eine Aktivierung des noradrenergen bzw. des dopaminergen Systems die synaptische Plastizität und damit das Lernen. Nager besitzen die Fähigkeit, Gedächtnisse von episodischer Qualität zu bilden: Sie erinnern,
was sie bereits erlebt haben, wo sie etwas
erlebt haben und wann sie es erlebt haben. Dieses „Was-Wo-Wann-Gedächtnis“
überprüfte Neal Lemon im Verhaltensversuch mit Nagern (Abb. 3a u. b): Sie
lernten im Rhythmus von einer fünfminütigen Erkundungszeit und einer sich anschließenden Pause von etwa einer Stunde immer wieder neue Objekte kennen,
die jeweils an ganz bestimmten Stellen
innerhalb eines Raums platziert waren.
Die Tiere zeigten das größte Interesse
an einem der zuerst gesehenen Objekte,
wenn sich dieses gegen Ende der Testreihe
an einer anderen Stelle befand. Sie hatten
sich gemerkt, was sie wann und wo gesehen hatten. Eine Stärkung des noradrenergen bzw. des dopaminergen Systems verbesserte diese Fähigkeit noch.
info 1
Gedächtnisformen: Bewusstes oder unbewusstes abrufen
Das Gedächtnis als Phänomen stellt keine Einheit dar, es bildet zwei Formen aus: deklaratives und nicht-deklaratives Gedächtnis. Das deklarative (explizite) Gedächtnis
umfasst alle Erinnerungen, die wir bewusst abrufen. Man unterscheidet grundsätzlich zwei Kategorien, die semantischen und die episodischen Erinnerungen. Semantische Erinnerungen beschäftigen sich mit Fakten und Tatsachen, während episodische
Erinnerungen auf die Autobiografie unseres Lebens gerichtet sind. Nicht-deklarative
(implizite) Gedächtnisinhalte werden nicht bewusst abgerufen, nachdem wir sie gelernt haben. Dazu gehören Fähigkeiten wie Fahrradfahren, Klavierspielen oder ganz
einfache Reflexe.
info 2
Synaptische Plastizität
Der Hippocampus ist für die Bildung deklarativer Gedächtnisinhalte zuständig. Damit
die Information in den Hippocampus gelangen und dort gespeichert werden kann, ändert sich die Fähigkeit von Synapsen, neuronale Informationen weiterzuleiten (synaptische Plastizität). Synapsen sind die Kommunikationsstellen zwischen den Hirnzellen (Neurone). An der Synapse berühren sich die Neurone nicht. Ein Signal wird durch
Botenstoffe von einem Neuron zum anderen weitergeleitet. Botenstoffe binden an
Rezeptoren und ermöglichen so die Weiterleitung des Signals. Die synaptische Übertragung kann sich dauerhaft verbessern (Langzeitpotenzierung, LTP) oder dauerhaft
vermindern (Langzeitdepression, LTD) – ein Phänomen, das „synaptische Plastizität“
genannt wird. LTP und LTD stellen die zellulären Grundlagen der Gedächtnisbildung
dar. Um Information zu speichern, bilden sich synaptische Populationen in Netzwerken.
Abb.: Synapse
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Abb. 4: Computerspiele, Internetsurfen und Chatten würden möglicherweise weniger mit dem in der Schule
Gelernten konkurrieren, wenn digitale Medien stärker in den Unterricht einbezogen würden.
Manche Erinnerungen möchten wir
gar nicht behalten: Traumatische Erinnerungen von Unfällen, Katastrophen bzw.
Kriegserlebnissen führen zu Stresssyndromen, die die Lebensqualität beinträchtigen. Eine gezielte Manipulation der noradrenergen Rezeptoren lässt sich daher
als Behandlungsstrategie des Posttraumatischen Stressyndroms nutzen. Neal Lemons Daten zeigen, wie vielversprechend
diese Therapien sind.
Wenn wir lernen, benutzen wir unsere
Sinnessysteme und unsere Vorerfahrung,
um Gedächtnisse zu bilden. Wenn wir unsere Augen schließen und zurückdenken
an den Heiligabend im vergangenen Jahr,
dann sehen wir vielleicht den geschmückten Weihnachtsbaum, riechen den Geruch
des Festessens oder können sogar die Melodie der Weihnachtsmusik abrufen oder
das Gefühl, auf der harten Kirchenbank zu
sitzen. Was wir gesehen, gerochen, gehört
und gespürt haben, trägt zu dieser Erinnerung bei. Diese Sinnesinformation wurde
zur Hauptgedächtnisstruktur des Gehirns,
dem Hippocampus (s. Info 3), transportiert. Durch synaptische Plastizität wurde
ein Gedächtnisengramm gebildet, dessen
Inhalt nicht nur unsere Sinneserlebnisse
prägt, sondern auch unsere Gefühle und
Erwartungen.
Bei den traditionellen Unterrichtsstrukturen sitzen Schüler und Schülerinnen
gemeinsam in einem Klassenraum und
schauen der Lehrerin oder dem Lehrer zu,
wenn diese etwas erzählen. Man schaut
und hört zu, oft schreibt (und redet) man
mit. Nach der Schule gibt es noch Hausaufgaben. Erfahrene Lehrer und Lehrerinnen
berichten heute oft, dass nach ihrem Empfinden sowohl die Aufmerksamkeitsspanne als auch das Lernvermögen der Schüler
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nachgelassen hat im Vergleich zu früheren
Generationen. Der Nobelpreisträger Eric
Kandel hat bei Nagern und anderen Spezies gezeigt, dass eine regelmäßige Wiederholung frisch (und vorher) gelernter Informationen zu einer bleibenden Erinnerung
führt. Also, was läuft heutzutage schief?
Obwohl es Fernsehen auch „früher“ schon
gab, leben die heutigen Generationen doch
zunehmend in einer digitalen Welt. Direkt
nach der Schule wird nicht nur ferngesehen – Computerspiele, Internetsurfen oder
Chatten kommen noch hinzu (Abb. 4).
Möglicherweise konkurrieren diese Erfahrungen mit dem, was am Morgen in
der Schule gelernt und dargeboten wurde.
Schließlich werden hierfür dieselben Sinnesbahnen benutzt. Pädagogen werden argumentieren, dass eine aktive Beteiligung
am Schulunterricht effektiver sein sollte
als das passive Lernen vor einem Computer. Um das zu überprüfen, haben wir
kürzlich eine Studie durchgeführt: Dabei
wurden das Lernvermögen und die synaptische Plastizität bei Nagern verglichen unter Bedingungen des aktiven Lernens in
anregenden Umgebungen (enriched environments) und des passiven Lernens vor
einem Computerbildschirm. Die Doktorandin Anne Kemp beobachtete eine langanhaltende Änderung der synaptischen
Plastizität unter beiden Lernbedingungen
(Abb. 5a). Die Nager konnten genauso gut
lernen und erinnern, wenn sie die Erinnerungen durch aktives bzw. passives Lernen
gebildet hatten. Anne Kemp fand im Hippocampus eine Veränderung (LTD) in der
Kommunikation der Nervenzellen, wenn
sie Ratten neue Umgebungen auf dem Monitor präsentierte und konnte damit zum
ersten Mal nachweisen, dass eine aktive Erkundung der Umgebung für diesen Effekt
nicht erforderlich ist (Abb. 5b).
Dieser Befund regt zumindest zu Überlegungen an, die digitalen Medien stärker
in den Schulunterricht einzubeziehen;
entsprechende didaktische Materialien
zu entwickeln. In den meisten Schulen
Deutschlands hat sich Projektarbeit mit
Hilfe von digitalen Informationsquellen
wie z.B. Wikipedia etabliert. Andere Länder sind bereits ein Stück weiter. Sie nutzen elektronische Schultafeln (über die
sich Hausaufgaben täglich direkt an die
Eltern schicken lassen) und statten ihre
Schüler mit iPads aus. Die Devise lautet:
„If you can’t beat them, join them“. Langzeitstudien sollen nun belegen, wie effektiv diese Strategien sind.
Trotz alldem bleibt regelmäßige Bewegung ein wesentlicher Faktor, um das Gehirn gesund zu halten. Wenn wir uns aktiv
bewegen, können sich sogar neue Neurone
bilden, die unsere Gehirne belastungsfähiger machen können. Aber Sport allein
reicht offenbar als Maßnahme nicht aus,
um die Gehirnzellproduktion anzuregen.
Hirnforscher am Salk Institut in den USA
haben gezeigt, dass „neugeborene“ Hirnzellen länger bestehen bleiben, wenn Lernen stattgefunden hat. Daher ist es beson-
info 3
Der Hippocampus
War ich schon hier? Befinde ich mich in einer bekannten Umgebung oder ist alles neu
für mich und muss erforscht werden? In Bruchteilen von Sekunden „weiß“ unser Gehirn, ob zum Beispiel ein Ort bekannt ist oder nicht. Ist er es nicht, prägen wir uns bewusst eine räumliche Konstellation ein, etwa anhand markanter Punkte wie Restaurants, Einkaufsläden oder einem Park. Für diese Informationen entsteht quasi ein neues
Gedächtnis im Gehirn – auch episodisches oder autobiographisches Gedächtnis genannt. Zuständig für die Einprägung dieses „bewussten“ (sog. deklarativen) Gedächtnisses ist die als Hippocampus bekannte Region des Gehirns, die ein Teil des sog. Medialtemporallappens ist. Patienten, denen diese Hirnlappen operativ entfernt wurden,
können sich zum Beispiel überhaupt keine neuen Fakten oder Erfahrungen merken.
Der Hippocampus ist unser wichtigstes Lernorgan. Ohne ihn können wir keine langanhaltenden deklarativen Erinnerungen bilden. Er ist auch die Struktur, die am schwersten betroffen ist bei gedächtnisschädigenden neurodegenerativen Erkrankungen wie
z.B. bei der Alzheimerschen Krankheit und bei Demenz. Seinen Namen hat er wegen
seiner einem Seepferdchen (lateinisch Hippocampus) ähnlichen Form erhalten.
info 4
Alzheimersche Krankheit
Die Alzheimersche Krankheit ist eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die
vor allem den Hippocampus betrifft. Zwei Hauptveränderungen des Gehirns werden
heute als Ursachen der Krankheit diskutiert: fibrilläre Ablagerungen (neurofibrillary
tangles) eines Proteins (Tau), die sich außerhalb der Hirnzellen anlagern, und die Ansammlung des Peptides -Amyloid als Plaquebildung innerhalb der Hirnzellen. Beide
Veränderungen sind Merkmale der Krankheit, die typischerweise mit ausgeprägten
Demenzsymptomen verbunden ist. Hier entstehen nicht nur große Gedächtnislücken,
sondern neue Erinnerungen können nicht langfristig behalten werden. Interessanterweise haben sowohl die Doktorandin Honghong Yang der Abteilung Neurophysiologie der Ruhr-Universität als auch andere internationale Forscher nachgewiesen, dass
-Amyloid zu einer starken Beeinträchtigung der synaptischen Plastizität im Hippocampus führt.
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Prozent
Änderung der synaptischen Übertragung im
Vergleich zum Status am Versuchsbeginn
100
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A B CD
Versuchskonstellationen
Abb. 5a: Das Betrachten zweidimensionaler Raumbilder am Computer, zum Beispiel bei Computerspielen,
beeinflusst die Verbindungsstärken von Nervenzellen im Gehirn nachhaltig. Wenn die räumliche Konstellation der Bilder bekannt war (A), änderte sich die synaptische Übertragung nicht. Bei einer neuen räumlichen
Konstellation entstand eine langfristig geänderte synaptische Kommunikation (B). Auch in dem „aktiven“
Versuch (D) kam es zu einer Langzeit-Potenzierung (LTP) der synaptischen Übertragung, wenn die Ratten
unbekannte Objektkonstellationen im Raum erkundeten. Wenn die Objektkonstellationen bekannt waren
(C), kam es zu keiner synaptischen Plastizität.
ders problematisch, wenn Kleinkinder und
ältere Menschen unter relativ reizarmen
Bedingungen leben. Betroffen sind jene
Kleinkinder, die häufig nur den Fernseher als Unterhaltungs- und Bildungsquelle haben, und manche ältere Menschen in
Pflegeheimen. Tanja Novkovic und Arne
Buschler haben in ihren Doktorarbeiten
am Beispiel von Nagern untersucht, welche Auswirkung ein „bereichertes Leben“
haben kann (s. S. 52). Sie konnten zeigen,
dass sowohl die synaptische Plastizität als
auch das Lernen besser werden, wenn die
Nager täglich eine neue Umgebung erforschen konnten oder wenn ihnen Spielzeug
zur Verfügung stand. Die Auswirkungen
info 5
Wie aus Wahrnehmung Gedächtnis wird
Wie aus Wahrnehmung Gedächtnis und Verhalten entstehen, erforscht der SFB 874 „Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse“ (Sprecherin: Prof. Dr. Denise Manahan-Vaughan). Sechs allgemeine Systeme spielen bei Wirbeltieren eine Rolle: Gehör,
Gleichgewicht, Geruch, Geschmack, Körperwahrnehmung und Schmerz sowie Sehen.
Im letzten Jahrhundert sind die Grundlagen von Sinneswahrnehmungen erkannt worden, unklar ist aber, wie die sensorischen Signale im Gehirn integriert und repräsentiert
werden. Der neue SFB will über eine systemorientierte neurowissenschaftliche Strategie wesentliche Aspekte der sensorischen Verarbeitung erforschen. Am Beispiel von
Geruch, Somatosensorik und Sehen wollen die Wissenschaftler die Verarbeitung der
Signale von der Ebene der kortikalen Integration bis hin zum endgültigen Erwerb eines
auf Sinneswahrnehmung basierenden Gedächtnis-„Eintrags“ (Engramm) aufklären.
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Abb. 5b: Es macht keinen Unterschied – Ratten
lernen aktiv, indem sie ihre Umgebung ergründen,
und passiv, wenn man ihnen eine neue Umgebung
auf dem Monitor präsentiert.
waren noch stärker, wenn die Tiere in Gesellschaft lebten, d.h. spielen und erkunden „unter Freunden“ ist effektiver.
Diese und andere Befunde tragen zur kognitiven Pufferhypothese (bzw. kognitiven
Reservehypothese) bei. Nachweislich sind
Menschen, die sich ein Leben lang intellektuell bzw. geistig fit halten, zu einer höheren kognitiven und kortikalen Plastizität
fähig. Geistig inaktive Menschen zeigten
die verheerenden kognitiven Verluste, die
die Alzheimersche Krankheit charakterisieren, mehrere Jahre früher als geistig aktive Personen (Info 4). Sich geistig fit halten, kann vermutlich nicht verhindern, an
Demenz zu erkranken, wenn dies unser
Schicksal ist. Durch eine erworbene höhere
Flexibilität des Gehirns wird es aber mehr
aushalten können, bevor sich die Krankheitssymptome manifestieren. Konkret bedeutet dies, Jahre an „aktiver“ Lebenszeit
zu gewinnen. „Use it or lose it.“ – Dies ist
letztlich die Entscheidung.
Prof. Dr. phil. habil. Denise Manahan-Vaughan, Abteilung für Neurophysiologie, Medizinische Fakultät
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14.09.2011
16:42 Uhr
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