aus : Gesundheit – Das Magazin für Lebensqualität, # 6/05, Juni 2005 Food Trends Was essen Sie in Zukunft? „Was werden wir essen, was werden wir trinken?“ Diese bange Frage stellte bereits der Evangelist Matthäus. Während er die Lösung des Problems in himmlische Hände legte, informierte sich Gesundheit bei Trend-Scouts, Ernährungswissenschaftern und Küchen-Profis über die Zukunft unseres Essverhaltens. Deren überaus irdische Antwort: „Der Lifestyle bestimmt, was auf den Teller kommt.“ TEXT: URSULA INÉZ KREBS Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie viele verschiedene Nahrungsmittel Sie in Ihrern Leben bereits gegessen haben oder zumindest verkostet? Weit über 100 werden es sicher gewesen sein, wenn man Kräuter und Gewürze dazuzählt. Doch selbst wenn es 300 oder 500 waren, ist das nur ein Bruchteil des Möglichen. Denn wer im Umkreis einer Großstadt lebt, hat zumindest theoretisch die Wahl zwischen 120.000 unterschiedlichen Lebensmitteln – vom Bio Apfel aus ökologischer Landwirtschaft bis zum Designer-Snack aus dern Extruder. Diese enorme Vielfalt hat ihren Ursprung nicht nur im Streben der Nahrungsmittelkonzerne nach steigenden Umsätzen. Sie liegt vor allern in der Tatsache begründet, dass sich die äußeren Rahmenbedingungen nachhaltig verändern: Arbeitswelt und gesellschaftliche Strukturen ebenso wie Familienverhältnisse und Alltagsgestaltung, kollektive Wertvorstellungen und persönliche Lebensziele. Prägende Megatrends Der Familientisch hat als Zentrum des sozialen Lebens ausgedient. Und mit ihm die gutbürgerliche Hausmannskost, fixe Essenszeiten und unflexible Ernährungsvorschriften. In Zukunft wird erlaubt sein, was gefällt. Denn Essen, so die Ernährungswissenschafterin, Gesundheitspsychologin und kulinarische Trend- Forscherin Mag. Hanni Rützer, „wird zunehmend eine Frage der individuellen Lebensgeschichte und der bewussten Lebensgestaltung. Und da wird es keine Einheitsküche mehr geben, sondern verschiedene Esskonzepte für entsprechende Anforderungsprofile.“ Im Auftrag des Zukunftsinstituts von Trend-Guru Matthias Horx hat Mag. Rützler eine umfangreiche Studie über „Future Food“ verfasst. Sie liegt mittlerweile in einer eben so spannenden wie für Laien verständlichen Fassung als Buch vor und lässt den Leser einen Blick in die Zukunft unserer Esskultur werfen. Was es dort zu sehen gibt, gleicht einem Schlaraffenland – selbst wenn die Vögel auch in Zukunft nicht gebraten vom Himmel fallen werden. Doch vorgegart gibt es sie auf jeden Fall. Denn das so genannte „Convenience Cooking“, die Zusammenstellung einer Mahlzeit aus fertigen und halbfertigen Elementen, wird die zeitaufwändige Zubereitung von Rohprodukten nach und nach ablösen. Womit einer der 13 wichtigsten Küchen-Trends für die kommenden Jahre bereits genannt wäre. Doch was sind die Grundlagen für solche Prognosen? „Unsere täglichen Ess- Entscheidungen fallen nicht nur aufgrund der jeweiligen ökonomischen Möglichkeiten, persönlichen Neigungen oder wechselnden Zufällen“, stellt Expertin Rützler klar: „Sie sind auch von gesellschaftlichen Megatrends beeinflusst, die unseren Wandel mindestens ein halbes Jahrhundert lang prägen und Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens haben – Technologie, Kultur, zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeitswelt, Konsum – und Essverhalten“. Fünf dieser Megatrends sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachweisbar: Individualisierung. Jeder bestimmt für sich selbst, was ihm gut tut, was er essen und mit wem er essen will. Stichwort: „Personalized food“, also individuell zusammengestellte und auf die speziellen Bedürfnisse jedes einzelnen auch innerhalb einer Familie – abgestimmte Nahrungsmittel bzw. Menüs. Feminisierung. Die „Herrenspeise Fleisch“ verliert an Bedeutung, die weiblichen Geschmacksvorlieben – leichte Küche, viel Obst und Gemüse, mehr Getreideprodukte und Fisch – werden aufgewertet. Stichwort: „Unisex food“ – unter Jugendlichen gibt es kaum mehr geschlechtsspezifische Ernährungsvorlieben. Multitasking. Essen wird zur „Nebenbeschäftigung“, man frühstückt im Auto am Weg zur Arbeit, isst mittags, während man seine Mails beantwortet, oder verbindet Stehbuffet mit Sozialkontakten. Stichwort: „Grazing“ – statt drei Hauptmahlzeiten nimmt man den ganzen Tag über (zunehmend gesunde) Kleinigkeiten zu sich. Lebensphasen. Die Ernährungsweise wird den jeweiligen Lebensumständen angepasst und ändert sich mit Jobwechsel, Partnerwechsel, Alter der Kinder, Studien- und Lernphasen, etc. Stichwort: „Lebensabschnittspartner“ geht Hand in Hand mit „Lebensabschnittsernährung“. Singelisierung. Der Einpersonenhaushalt ist auf dem Vormarsch, der Esstisch bleibt öfter kalt und es wird häufiger außer Haus gegessen. Stichwort: „Pret-à-manger“- Speisen, die fix und fertig zubereitet wurden und höchstens noch erwärmt werden müssen, ersetzen zunehmend Selbstgekochtes. Genussfähigkeit & Koch-Analphabetismus Stellt sich die Frage, wie schnell Herr und Frau Österreicher von diesen Megatrends geprägt werden. Zukunftsforscher Matthias Horx konstatiert ein „nachläufiges“ Essverhalten: „Wir werden als Kinder ess-sozialisiert und schleppen das bis in unser Erwachsenenalter mit. Da viele in der Nachkriegszeit noch durch ,deftige Fette“ konditioniert wurden, essen wir als Denk- und Kopfarbeiter sehr ungesund. Ähnliches gilt für die veränderten Familienstrukturen: Wir essen nun erratisch, aber immer noch kalorien- und kohlehydratorientiert wie bei ,Mutter daheim’. Das Problem ist, dass wir die individuellen Verschiedenheiten heute noch nicht wirklich verstehen, so dass wir keine ,Soziotechniken des Unterschieds’ haben. Das müssen wir erst lernen.“ Christa Hanten, Mediengestalterin mit (wein-)kulinarischem Schwerpunkt und Leiterin des Slow Food Conviviums Wien, sieht zwei gegenläufige Entwicklungen: „Einerseits ist Essen und alles, was damit zu tun hat, ein großes Thema. Andererseits nimmt das Wissen über ganz banale, aber auch elementare Dinge in diesem Bereich ab. Gleichzeitig wird Genuss immer mehr zur Pflicht, statt – gemäß der Slow Food-Philosophie – ein Recht zu sein.“ Damit scheint sie Mag. Rützlers Eindruck zu bestätigen, die von einer Wiederentdeckung der Genussfähigkeit ebenso spricht wie von zunehmendem Koch-Analphabetismus. Primär positiv beurteilt dagegen Andrea Schneider das kulinarische Entwicklungspotential. Die PR-Fachfrau und Besitzerin einer kleinen, aber feinen Vinothek freut sich über die neue Lust der Männer am Kochen und darüber, dass zunehmend Kinder und Jugendliche Kochkurse besuchen: „Die Leute entdecken, dass Kochen eine kreative, lustbringende Arbeit ist und ,gut essen’ ein Lebensstil.“ Immer vorausgesetzt, sie nehmen sich genug Zeit zum Genießen, denn „essen ohne Genuss“, so Schneider, „ist wie Sex ohne Orgasmus.“ Was alle drei Fachleute bestätigen, ist jedenfalls das Ende eindeutiger Klassifizierungen. Die Dreiteilung der Menschheit in Körndlfreaks, schlingende Hektiker und Genussmenschen existiert so nicht mehr – wenn es sie denn jemals gegeben hat. Wir befriedigen jetzt schon zu unterschiedlichen Gelegenheiten unterschiedliche Bedürfnisse – mal üppig tafeln, dann wieder schnell genießen, zwischendurch Basics beim Diskonter einkaufen und kurz darauf im Delikatessenladen prassen. Hybride Konsumenten Kurz: Wir sind „hybride Konsumenten“, die sich in Fast-Food-Lokalen ebenso wohl fühlen wie in Slow Food-Tempeln – und unsere zunehmende Preissensibilität mit unserern steigenden Ernährungsbewusstsein mühelos in Einklang bringen. Womit wir wieder bei den Food-Trends gelandet wären – und bei der Frage, was morgen auf unsere Teller kommen wird. Ganz grob lassen sich die 13 Trends fünf Adjektiven zuordnen: lustvoll, bequem, gesund, funktional – und billig. Was nicht heißen soll, dass das eine das andere ausschließt, denn die Übergänge sind ebenso flexibel wie die Anforderungen der Konsumenten. 1. Lustvoll schlemmen. In diese Kategorie fallen jene Trends, bei denen Genuss und Geschmackserlebnisse im Vordergrund stehen. „Die Menschen wollen wieder auf allen Sinneskanälen gleichzeitig erreicht werden“, weiß der Catering Spezialist und Neo-Restaurantbesitzer Tommi Hirsch: „Essen soll nicht nur schmecken, sondern auch riechen und sich gut anfühlen, gesund sein und eine Botschaft transportieren.“ „Sensual Food“ erfüllt diese Anforderung ebenso wie „Slow Food“ und „DOC-Produkte“, also Lebensmittel mit authentischem Charakter und immer öfter auch mit Herkunftsgarantie (kontrollierte Ursprungsbezeichnung), die eine Geschichte zu erzählen haben. Der Salzburger Spitzengastronom Josef Gassner liegt mit seinen 10-gängigen „Arnuse-Gueulle-Menüs“ genau im Trend: „Die Gäste essen bewusster, genießen bewusster und erwarten neben Top-Qualität auch eine TopInszenierung, was Optik und Service betrifft.“ 2. Bequern essen. Früher waren Güter knapp, heute ist es die Zeit: Die Zubereitungsdauer einer warmen Mahlzeit sank in 30 Jahren von rund 60 Minuten auf etwa 10 Minuten. Der Anteil an Tiefkühl-, Halbfertig- und Fertigprodukten steigt rasant und der urbane Connaisseur, so Mag. Hanni Rützler, zeichnet sich vor allern durch großes Know-how beim Kauf seines „Convenience-Food“ aus: „Die Zubereitung von Speisen unter Verwendung von ConvenienceProdukten wird in Zukunft zunehmend als selbst gemacht bzw. selbst gekocht gelten.“ Bequem sind freilich auch die „Häppchen für Eilige“, also jede Art von „Fingerfood“, und „Fast Casual“, die Weiterentwicklung des klassischen „Fast Food“ zum zeitgeistigen „Fast Good“, wie Trendforscher Matthias Horx das ebenso schnelle wie gesunde Essen nennt. Auffallend ist der Multikulti-Aspekt beim Street Food: Das Spektrum reicht vom Hotdog über Tapas und Pizza bis zu indischen Samosas, indonesischen Satay-Spießchen und levantinischen Falafel. 3. Gesund genießen. Einerseits geht es darum, dem Körper wertvolle Nährstoffe zuzuführen. „Unser Körper hat einen Porsche-Motor. Wenn man Normalbenzin tankt, wird er stottern. Tankt man jedoch Super (= biologisch), dann ist man auf der Überholspur“, meint Gisela Bliem, die unter dern Label „Bliem’s Genuss . Reich“ eine Kochschule leitet, die den Trend zur Wellness am Teller gezielt umsetzt. Andererseits geht es vielen Konsumenten auch darum, mit gutem Gewissen zu essen, d.h. Aspekte wie Umweltschutz, Erhaltung der Artenvielfalt, Tierschutz und „fairen Handel“ im Auge zu behalten. Last but not least wird so genanntes „Clean Food“ eine immer wichtigere Rolle spielen – allergenfreie Lebensmittel mit wenig bis gar keinen künstlichen Zusatzstoffen. Der Handel spielt mit: „Die Ausweitung unseres Dampfgarerprograrnms war eine prompte Reaktion auf das steigende Bedürfnis nach echtem Geschmack und gesunder Ernährung“, erklärt Jürgen Plüss, der bei Miele den Geschäftsbereich Küchengeräte Intemational leitet. 4. Funktional ernähren. Beim ersten Anlauf war das so genannte „Functional Food“ nicht wirklich der große Renner – von probiotischem Jogurt einmal abgesehen. Doch die Zukunft gehört dem „Essen mit Mehrwert“, also Lebensmitteln mit funktionellen Inhaltsstoffen, die helfen, den Gesundheitszustand zu erhalten, bestimmte Funktionen zu verbessern oder das Risiko bestimmter ernährungsbedingter Krankheiten zu reduzieren. Eine spezielle Kategorie ist „Mood Food“, also Essen mit stimmungsaufhellender und aktivierender Wirkung. Worauf noch alle sehnsüchtig warten: „Anti-Fat-Food“. Doch das wird es laut Rützler auch in Zukunft nicht geben, wohl aber durch „flavor modification“ optimierte Lebensmittel, die gesund und kalorienarm sind, obwohl sie „sündig süß und üppig“ schmecken. 5. Billig einkaufen. Luxus und Discount sind kein Widerspruch mehr: Der Marktanteil an Billigprodukten hat sich – ebenso wie jener der Spitzenprodukte – in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt, während das mittlere Segment kaum mehr eine Rolle spielt. Der Werbeslogan „Geiz ist geil“ gilt mittlerweile für alle Gesellschaftsschichten: Auch gut und sehr gut Verdienende entdecken in den „Cheap Basics“ vom Discounter mehr und mehr ihre Sparoasen. Wer es sich leisten kann, kompensiert die Schnäppchen anschließend mit teuren Genuss- und Impulskäufen. Denn gutsortierte Supermärkte, so Matthias Horx, sind immer noch ein Genuss, weil sie dem alten evolutionären Bedürfnis nach „nahrungsgefüllter Höhle“ entsprechen. Design für den Magen Das Essen der Zukunft scheint also eine recht bunte Sache zu werden – und das in jedem Sinn des Wortes. Denn neben Ernährungswissenschaftern, Biologen und Chemikern spielen Food Designer eine immer wichtigere Rolle bei der Entwicklung neuer Produkte. Schon mal darüber nachgedacht, warum Fischstäbchen so aussehen, wie sie aussehen? Warurn Toastschinken eckig ist statt rund und weshalb es keine violetten Gummibären gibt? Weil Food Designer wissen, dass viele Menschen tote Tiere am liebsten in unkenntlicher Form konsumieren, dunkle Farben Unbekömmlichkeit signalisieren und es schlicht bequem ist, eckigen Schinken auf eckige Brote zu legen. Vor allem wissen sie aber, dass Essen eine sinnliche Sache ist – und Kochen die älteste Magie der Welt, mit der sich Körper, Geist und Seele gleichermaßen betören lassen. Oder, um es mit den Worten von Mag. Hanni Rützler zu sagen: „Lange Zeit haben wir uns von weltweit gleich schmeckenden Standardprodukten einlullen lassen – bis wir unsere fünf Sinne nicht mehr beisammen hatten. Doch auf die kommt es an, wenn wir das bleiben wollen, was wir von Geburt an sind: Genießer. Zu Feinschmeckern müssen wir freilich erst werden.“