a) Definition: - Impulskontrolle (Impulsivität) b) Diagnose - poekl-net

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IV. VERHALTENS- UND EMOTIONALE STÖRUNGEN MIT BEGINN IN DER KINDHEIT UND
JUGEND (F9)
1) Hyperkinetische Störung (F90)
a) Definition:
•
Kennzeichen = Beeinträchtigung der
- Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung)
- Impulskontrolle (Impulsivität)
- Aktivität (Hyperaktivität)
•
Merkmale meist vor dem 6. Lebensjahr deutlich erkennbar
•
Merkmale treten in mehreren Situationen und Lebensbereichen auf
•
mindestens 6 Monate, und zwar in einem Ausmaß, dass es zu
Fehlanpassung kommt, die nicht dem normalen Entwicklungsstand des
Kindes entspricht
•
außerdem: aggressives Verhalten, emotionale Auffälligkeiten, Entwicklungsund Schulleistungsstörungen, Störungen der Familieninteraktion, Störungen der
Familienbeziehungen
b) Diagnose:
•
muss sehr genau gestellt werden -> Therapie (vor allem durch Ritalin!) hat
viele Nebenwirkungen und Spätfolgen
•
in den letzten Jahren zu Modediagnose geworden; ABER: Eltern sind oft bloß
zu faul, um sich mit Kind auseinanderzusetzen -> lassen es ruhigstellen...
•
Hyperaktivität kann auch aus großer Langeweile resultieren (z.B. bei
Hochbegabten!)
•
Erziehungsmethoden der Eltern erfragen (wie streng? wie gehen sie mit
Wutausbrüchen des Kindes um? usw.)
•
darf nicht verwechselt werden mit:
¾ Anstrengungsvermeidung
¾ Aufmerksamkeitsstörung
111
c) Symptomkriterien nach ICD-10:
•
Unaufmerksamkeit:
mindestens 6 Monate mindestens 6 der folgenden Symptome:
¾ Unaufmerksamkeit gegenüber Details, Sorgfaltsfehler bei Schularbeiten u.a.
Arbeiten
¾ keine Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen
¾ Kind hört scheinbar nicht, was ihm gesagt wird
¾ Kind kann Erklärungen nicht folgen, seine Aufgaben nicht machen, seine
Pflichten nicht ausführen (NICHT aus Opposition oder wegen
Unverständlichkeit der Erklärung!)
¾ Beeinträchtigung beim Organisieren von Aufgaben und Aktivitäten
¾ ungeliebte Aufgaben bzw. Aufgaben, die geistiges Durchhaltevermögen
erfordern (z.B. Hausübungen), werden vermieden
¾ häufiges Verlieren von Gegenständen, die z.B. für Aufgaben wichtig sind
(Bleistifte, Bücher, Hefte,...)
¾ häufige Ablenkung durch externe Stimuli
¾ Vergesslichkeit bei alltäglichen Aktivitäten
•
Überaktivität:
mindestens 6 Monate mindestens 3 der folgenden Symptome:
¾ Fuchteln mit Händen und Füßen, sich auf dem Sitz Winden
¾ Platz in der Klasse verlassen; in Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet
wird, aufstehen
¾ Herumlaufen, exzessives Herumklettern in unpassenden Situationen (bei
Jugendlichen und Erwachsenen hier Unruhegefühl)
¾ unnötiges Lautsein beim Spielen; Probleme mit Stillbeschäftigungen
¾ exzessive motorische Aktivität, die durch sozialen Kontext und Verbote nicht
beeinflussbar ist
•
Impulsivität:
mindestens 6 Monate mindestens 1 der folgenden Symptome:
¾ Herausplatzen der Antwort, bevor Frage zu Ende gestellt wurde
¾ nicht warten können, bis man an der Reihe ist
¾ häufiges Unterbrechen und Stören von anderen (z.B. Einmischen in Spiel oder
Gespräch)
¾ exzessives Reden, keine Reaktion auf soziale Beschränkungen
•
Beginn der Störung vor dem 7. Lebensjahr
•
Symptome müssen in mehr als einer Situation zu beobachten sein (z.B. in
der Schule + zu Hause, in der Schule + im Spital,...) -> Informationen aus mehr
als einer Quelle einholen (z.B. Eltern, Lehrer,...)
•
deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder
beruflichen Funktionsfähigkeit
112
•
Kriterien für tiefgreifende Entwicklungsstörung, manische Episode, depressive
Episode oder Angststörung werden nicht erfüllt
c) Therapie:
•
isolierte Behandlungsansätze haben meist keinen Erfolg, daher am besten
multimodale Therapieform (Psychotherapie + psychosoziale Intervention +
Pharmakotherapie)
•
Therapie muss dort ansetzen, wo Störung am ausgeprägtesten ist (z.B. in
der Schule) -> Generalisierung von Therapieeffekten auf anderen Bereich ist oft
schwierig bzw. gelingt nicht, daher: Konzentration auf situative
Problemkonstellation!
•
mehrdimensionale Therapie bei HKS:
¾ Pharmakotherapie mit Stimulantien:
-
kurzfristige Verbesserung der Symptome, damit mit anderer Therapieform
begonnen werden kann. Hyperaktivität wird reduziert,
Aufmerksamkeit gesteigert -> Verbesserung in sozialen Bereichen,
Stabilisierung der Persönlichkeit, Steigerung des Selbstwertgefühls.
-
Am häufigsten eingesetztes Medikament = Ritalin; ABER: gute Wirkung
nur bei 1/3 der Kinder (= „high responders“); mögliche Nebenwirkungen
= Ticstörungen, Wachstumsstörungen, dauernhafte Schäden des
Bewegungssystems... Darf nie VOR der Schulzeit gegeben werden;
Aussetzen während der Ferien; am besten = darauf verzichten!
¾ Verhaltentherapeutische Methoden:
-
Kontingenzprogramme:
Basieren auf dem Modell des operanten Konditionierens, d.h. mit gezielten
Verstärkern Versuch einer Verhaltensänderung; ABER: Generalisierung ist
kaum möglich -> sehr aufwändige und zeitraubende Therapie!
-
Selbstkontrollprogramme:
Basieren auf Selbstinsturktion -> Kind soll so Impulskontrolle lernen; Kind
lernt mit Therapeuten Modelle zu Problemlösestrategien -> werden
allmählich verinnerlicht. Kind merkt, dass sein Verhalten von Gleichaltrigen
nicht akzeptiert wird; kann in Therapie lernen, seine Anfälle unter Kontrolle
zu bekommen
¾ funktionelle Therapien:
HKS hängt oft mit Entwicklungsrückständen und
Hirnfunktionsstörungen zusammen -> motorische Übungsprogramme
und senso-integrative Therapiestrategien
113
¾ Elternberatung:
-
Aufklärung der Eltern über die Krankheit, Erläuterung der Strategien für die
Behandlung zu Hause -> Eltern müssen lernen, mit Anfällen des
Kindes umzugehen (z.B. Tobsuchtsanfälle akzeptieren)
-
in Selbsthilfegruppen von Eltern kommt es leider oft zu
Stigmatisierung der Kinder -> Eltern fühlen sich in Gruppe geborgen
und kümmern sich mehr um sich selbst als um Kind...
-
Kind hat vor allem Probleme in strukturierten Situationen, daher: Wahl
einer weniger strukturierten Schule!
-
gelegentlich = Umzug notwendig (Probleme mit Nachbarn, da Kind sehr
viel Lärm macht...)
-
Lehrer über Zustand des Kindes informieren (z.B. Kind muss sich
nach Konzentrationsphase aktiv bewegen können, daher: nach Schreiben
etc. Tafel löschen, etwas aus dem Sekretariat holen,... auch Mitschüler
müssen darüber informiert werden!)
¾ sonderpädagogische Behandlung
¾ Psychotherapie:
-
vor allem Verhaltenstherapie;
-
bei Kind funktioniert Hemmungssystem zu wenig -> man muss ihm
mehr Energie zuführen, damit es sein Hemmungssystem in Gang setzen
kann -> Kind wird ermutigt, Bewegungsdrang durch kleine
Zwischentätigkeiten abzuführen und sich dann aktiv seiner Aufgabe
zuzuwenden;
-
Therapie läuft nur in kleinen Schritten ab -> am Anfang sehr kurze
Konzentrationsphasen; wichtig = viel Lob!
-
Einzeltherapie (Gruppentherapie = sinnlos!)
-
Kind muss in Therapie lernen, Kontrolle über Bewegungsüberschuss
zu gewinnen (z.B. Entspannungsübungen, gezielte Bewegungen
[Sportprogramme], Reittherapie)
114
2) Störungen des Sozialverhaltens (F91)
•
Wichtig: Diagnose erst ab 4 Jahren stellen! Grund: mit 2. Lebensjahr lernt
Kind, seine Bedürfnisse besser umzusetzen -> reagiert auch mit Wut und Ärger,
d.h. Trotzanfälle sind in diesem Alter normal!
•
dazu gehören:
a)
b)
c)
d)
e)
f)
•
•
diagnostische Leitlinien:
-
Entwicklungsniveau des Kindes muss berücksichtigt werden
(Wutausbrüche sind bei 3-Jährigem normal! Verletzungen der persönlichen
Rechte der Menschen wie bei Gewaltverbrechen liegen nicht im
Möglichkeitsbereich eines 7-Jährigen)
-
typische Verhaltensweisen
¾ extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren
¾ Grausamkeiten gegenüber Mensch und Tier
¾ erhebliche Destruktivtät gegen Eigentum (z.B. Feuer legen, Stehlen,
häufiges Lügen, Schuleschwänzen, Weglaufen von zu Hause,
ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche, Ungehorsam
Î JEDES davon = ausreichend für Diagnose, wenn es erheblich
ausgeprägt ist, ABER: isolierte dissoziale Handlung ist für
Diagnose zu wenig!
-
ausgeschlossen werden müssen: Schizophrenie, Manie, tiefgreifende
Entwicklungsstörung, hyperkinetische Störung, Depression
-
Dauer mindestens 6 Monate oder länger
kritische Merkmale für Delinquenz (Glück&Glück):
-
•
auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens
Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten
sonstige Störung des Sozialverhaltens
nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens
Schuleschwänzen schon bei Schulanfang
Eltern vernachlässigen Aufsichtspflicht, Ausrede: Kind ist schon sooooo
selbstständig
Eltern verwenden Geld eher für sich als für Familie; Folge: Verwahrlosung!
häufige Ursachen:
-
hohe Emotionalität des Kindes
inkonsequentes Erziehungsverhalten
negative Einstellung des Kindes gegenüber anderen
115
a) auf familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0)
•
•
diagnostische Leitlinien:
-
KEINE bedeutsame Störung des VH außerhalb der Familie; soziale
Beziehungen des Kindes entwickeln sich außerhalb der Familie normal
-
entsteht meist aus Beziehungsstörung des Kindes zu einem oder
mehreren Familienmitgliedern (z.B. zu neu dazugekommenem Elternteil)
-
Störung ist in hohem Maß situationsspezifisch, daher bessere Prognose
als bei umfassender Störung des Sozialverhaltens
Therapie:
-
Arbeit mit Kind UND Eltern
Ursachen herausfinden!
b) Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
•
Allgemeines:
-
•
betrifft vor allem ungewollte Kinder oder Heimkinder
sehr schwere Störung, weil Kind nie Möglichkeit zum Eingehen sozialer
Bindungen hatte
Kind meist in sehr feindseliger oder gewalttätiger Umgebung
aufgewachsen; Folge: sozialer Rückzug
Kind fühlt sich als Opfer und Verfolgter, großes Misstrauen
in Therapie zuerst Aufbau einer Bindung zum Therapeuten (oft sehr
schwierig!)
diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal = Fehlen einer wirksamen Einbindung in eine PeerGroup
-
Gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen zeigt sich in: Isolation,
Zurückweisung, Unbeliebtheit bei anderen Kindern, Fehlen von Freunden
-
Beziehungen zu Erwachsenen sind gekennzeichnet durch
Unstimmigkeit, Feindseligkeit, Verärgerung
-
Sind gute Beziehungen zu Erwachsenen vorhanden, so haben sie meist
keine engere, vertrauensvolle Qualität
-
oft begleitende emotionale Störung
-
aggressive Übergriffe werden meist allein begangen
116
-
typische Verhaltensweisen: Tyrannisieren, exzessives Streiten, bei älteren
Kindern Erpressung oder Gewalttätigkeit, extremer Ungehorsam, Grobheit,
keine Kooperationsbereitschaft, Widerstand gegen Autorität, ausgeprägte
Wut- und unkontrollierte Zornesausbrüche, Zerstörung von Eigentum,
Feuerlegen, Grausamkeiten gegenüber Tieren und anderen Kindern
-
Störung tritt situationsübergreifend auf, ist aber in der Schule am
offensichtlichsten
c) Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
(F91.2)
•
•
Allgemeines:
-
Kind hat das Gefühl, nicht geliebt zu werden, obwohl es Sozialkontakte
und echte Freunde (= jemand, den man ca. 2x pro Woche trifft, wichtiger
Teil des sozialen Netzwerks) hat.
-
Kind hat Hoffnung noch nicht aufgegeben -> Therapie einfacher dadurch
-
Kind schließt sich meist delinquenten Gruppen an, die aber nur
oberflächlich „Freunde“ sind.
diagnostische Leitlinien:
-
angemessene andauernde Freundschaften mit Gleichaltrigen sind
vorhanden, ABER: diese Gruppe besteht oft aus delinquenten oder
dissozialen Kindern und Jugendlichen
-
besteht dissoziales Verhalten auch aus Tyrannisieren -> gestörte Beziehungen
zu Opfern oder anderen Kindern
-
Beziehungen zu Autoritätspersonen meist schlecht, zu einigen
Erwachsenen kann aber gleichzeitig gutes Verhältnis bestehen
-
emotionale Störungen meist sehr gering ausgeprägt
-
Störung kann auch die Familie betreffen, darf aber NICHT auf sie
begrenzt sein!
-
oft ist Störung am besten außerhalb der Familie sichtbar, z.B. in der
Schule
117
d) Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem
Verhalten (F91.3):
•
•
Allgemeines:
-
meist bei Kindern zwischen 9 – 10 Jahren
-
charakterisiert durch deutlich aufsässiges, ungehorsames, trotziges
Verhalten, ABER: keine schwer dissozialen oder aggressiven
Handlungen
-
es kann sein, dass Eltern so ein Verhalten fördern -> in der Diagnose
erfragen! Am besten wichtigste Bezugsperson MIT Kind einladen und spielen
lassen
-
wichtiges Phänomen = Negativismus (Negativist macht immer Gegenteil
von dem, was verlangt wird, fühlt sich dadurch überlegen und großartig)
diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal: durchgehend negativistisches, feindseliges,
aufsässiges, provokatives und trotziges Verhalten, das deutlich
außerhalb des Normalverhalten eines Gleichaltrigen desselben Kulturkreises
liegt.
-
KEINE ernsthafteren Verletzungen der Rechte anderer (d.h. kein
dissoziales und aggressives Verhalten)
-
Kind missachtet häufig Regeln und Forderungen der Erwachsenen und
ist bestrebt, andere zu ärgern
-
Kind ist oft zornig, nimmt alles übel, ist verärgert über andere Menschen und
schreibt ihnen die Verantwortung für seine eigenen Fehler und
Schwierigkeiten zu
-
geringe Frustrationstoleranz; Kind wird schnell wütend
-
Kind trotzt deutlich provokativ -> ruft damit ständige Konfrontationen
hervor
-
exzessives Maß an Grobheit, Unkooperativität und Widerstand gegen
Autorität
-
Verhalten tritt meist deutlicher auf bei Interaktionen mit Leuten, die
das Kind gut kennt (d.h. während Untersuchung kann man eventuell gar
nichts davon sehen...)
-
KEINE Verletzungen von Grundrechten (= Diebstahl, Grausamkeit,
Quälen, Vergewaltigung, Destruktivität)
118
Merke:
Î
Der Aggression liegen angeborene Faktoren (z.B. erhöhter
Testosteronspiegel) und angelernte Faktoren (z.B. Modelllernen;
vgl. Aggression in den Medien!) zugrunde
Î
Milieutherapie ist notwendig (Veränderung des Familienumfeldes!)
Î
sehr bewährt hat sich kognitive Verhaltenstherapie (z.B.
Trainingsprogramm von Petermann & Petermann für aggressive Kinder
Î
betroffene Kinder haben verzerrtes Weltbild, nehmen oft
Harmlosigkeiten aus der Umgebung als Aggression wahr, daher: Man
muss ihnen den Unterschied beibringen!
e) Allgemeines zu den Störungen des Sozialverhaltens:
•
Werden solche Störungen nicht behandelt -> schwere
Persönlichkeitsstörungen! Sehr problematisch, wenn Kinder dann selbst
Eltern werden. Personen mit Persönlichkeitsstörungen können oft sehr gut mit
anderen umgehen, verstecken ihre negativen Eigenschaften und zeigen sie
erst dann, wenn sie genügend Macht erreicht haben -> Sadisten!
•
Schuldbewusstsein setzt Fehlereinsicht voraus. Menschen ohne Beziehungen,
kennen die Normsysteme nicht, die aufgestellt wurden, damit man sozial
akzeptiert wird -> daher haben sie kein Schuldgefühl!
•
Kinder haben anderes Moralsystem als Erwachsene (z.B. Kind, das der
Mutter Geld stiehlt, verteidigt sich lieber und streitet alles ab, als zu
überlegen, ob sein Verhalten richtig war)
•
Therapie:
¾ über Verantwortungsgefühlschiene erreicht man NICHTS!
¾ zuerst solide Beziehung zum Kind aufbauen (Eltern konnten das
offensichtlich nicht); dann dem Kind beibringen, was es heißt, Regeln und
Normen einzuhalten, dass es Schuldgefühle hat und was man tut, wenn
man einen Fehler gemacht hat
¾ Kinder versuchen oft, den Therapeuten als Komplizen zu sehen
(weihen ihn in ihre Pläne ein, usw.) -> sehr geschicktes Intervenieren
ist notwendig, sonst Vertrauensbruch und alle Arbeit war umsonst!
¾ Oft treten bei Kind Frustrationen auf -> mit besonderen Tätigkeiten
reduzieren (z.B. mit Kind ins Café Sacher gehen, damit Kind erlebt, dass
Ober auch zu ihm besonders freundlich ist)
¾ Therapie dauert oft mehrere Jahre
119
3) Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotion (F92)
Î Schweregrad soll Kriterien für Störungen des Sozialverhaltens im
Kindesalter UND für altersspezifische emotionale Störung erfüllen
(oder für erwachsenentypische neurotische Störung oder affektive Störung)
Î es ist noch nicht sicher, ob man diese Störungen wirklich von den
Störungen des Sozialverhaltens abgrenzen kann
a) Störungen des Sozialverhaltens mit depressiven Störungen (F92.0)
•
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
Kombination einer Störung des Sozialverhaltens + anhaltende,
eindeutige depressive Symptome (z.B. ausgeprägte Traurigkeit,
Interessensverlust, Freudlosigkeit bei üblichen Aktivitäten, Schuldgefühle,
Hoffnungslosigkeit
-
Schlafstörungen und Appetitverlust kann vorkommen
Allgemeines:
-
Depressionen UND Aggressionen treten meistens gemeinsam auf
Kindern wird von Umgebung nicht geholfen, sondern sie werden bloß
bestraft
Depression als Auslöser der Verhaltensstörung
sehr hohes Suizidrisiko!
in Therapie muss Kind sehr sanft behandelt werden!
b) sonstige kombinierte Störungen des Sozialverhaltens (F92.8)
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
Kombination von Störung des Sozialverhaltens + anhaltende,
eindeutige Symptome wie Angst, Furcht, Zwangsgedanken,
Zwangshandlungen, Derealisierungs- und
Depersonalisierungsphänomene, Phobien, Hypochondrie
-
Zorn und Verärgerung können vorkommen, ABER: sie sind eher
Merkmale für Störungen des Sozialverhaltens!
120
4) Emotionale Störungen des Kindesalters (F93)
Ö Dazu gehören:
a)
b)
c)
d)
e)
f)
emotionale Störung mit Trennungsangst
phobische emotionale Störung
Störung mit sozialer Ängstlichkeit
emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
sonstige emotionale Störung
nicht näher bezeichnete emotionale Störung
Ö Klinisch-diagnostische Leitlinien:
Unterscheidung zwischen emotionalen Störungen (typisch für
Kindesalter und Adoleszenz) und neurotischen Störungen (typisch für
Erwachsene), weil:
•
Mehrheit der Kinder mit emotionalen Störungen als Erwachsene
unauffällig; viele neurotische Störungen Erwachsener haben keine
psychopathologischen Vorläufer in der Kindheit; d.h. es gibt erhebliche
Diskontinuität der emotionalen Störungen in diesen beiden Lebensaltern
•
emotionale Störungen im Kindesalter sind eher Verstärkungen
normaler Entwicklungstrends als eigenständige, qualitative
Phänomene
•
psychische Mechanismen bei Kindern mit emotionalen Störungen sind
nicht dieselben wie bei Erwachsenen mit Neurosen
•
emotionale Störungen des Kindesalters lassen sich weniger eindeutig
einteilen als z.B. Zwänge oder Phobien
a) emotionale Störung mit Trennungsangst (F93.0):
•
Allgemeines:
8 Monate bis 2,5 Jahre: Kind entwickelt normalerweise Angst vor
Fremden; geht Mutter einmal weg -> trauriges Gefühl und Angst sind normal
•
diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal = fokussierte, übermäßig ausgeprägte Angst vor
Trennung von Bezugspersonen (meist Eltern)
-
Angst kann sich zeigen als:
¾ unrealistische Besorgnis über mögliches Unheil, das
Bezugspersonen zustoßen könnte; Angst, dass sie weggehen und nicht
wiederkommen
121
¾ unrealistische Besorgnis über ein Ereignis, das Kind von Bezugsperson
trennen könnte (z.B. Kind geht verloren, wird gekidnappt, muss ins
Krankenhaus, wird umgebracht,...)
¾ aus Angst vor Trennung Weigerung und andauernde Abneigung, z.B.
in die Schule zu gehen
¾ Weigerung, ohne die Bezugsperson schlafen zu gehen
¾ anhaltende Furcht vor dem Alleinsein; nicht allein zu Hause bleiben
wollen
¾ wiederholte Alpträume über Trennung von Bezugsperson
¾ wiederholte somatische Symptome bei Trennung von der
Bezugsperson (z.B. wenn Kind in die Schule gehen soll): Übelkeit,
Bauchschmerzen, Kopfweh, Erbrechen,...
¾ extremes Unglücklichsein vor, während oder nach der Trennung
von Bezugsperson (z.B. Angst, Schreien, Wutausbruch, Apathie, sozialer
Rückzug,...)
-
wichtig:
Trennung von der Bezugsperson ist gemeinsames
Element aller angstauslösenden Situationen
-
Störung wird am deutlichsten bei der Schulverweigerung bzw.
Schulphobie (diese beruht oft auf Trennungsangst, ABER: NICHT in der
Adoleszenz! Nur, wenn sie schon im Vorschulalter bestanden hat!)
b) Phobische emotionale Störungen des Kindesalters (F93.1)
•
•
•
•
treten ähnlich in Erscheinung wie bei Erwachsenen
Beginn in der entwicklungsangemessenen Altersstufe
Ausmaß der Angst ist klinisch auffällig
Angst ist NICHT Teil einer generalisierten Störung
c) Störungen mit sozialer Ängstlichkeit (F93.2):
•
Allgemeines:
-
ist meist ein Großstadtphänomen
gewisse Ängstlichkeit vor Fremden ist GUT!
Ängstlichkeit stammt meist von den Eltern (sind selber übervorsichtig) ->
daher: Eltern mittherapieren!
in den letzten 20 Jahren Zunahme dieser Störung (heute relativ wenig
Kontakte zu Nachbarn...)
In Therapie werden Ängste am besten in Spielsituationen abgebaut
122
•
diagnostische Leitlinien:
-
durchgängige oder wiederkehrende Furcht vor Fremden; Fremde werden
vermieden
-
Furcht vor allem vor Erwachsenen, aber auch vor Gleichaltrigen (oder
beiden)
-
selektive Bindung an Eltern oder andere vertraute Personen
-
Vermeidung und Furcht vor sozialen Begegnungen geht über altersspezifisches
Maß hinaus -> bedeutsame soziale Beeinträchtigung!
d) emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3)
•
•
Allgemeines:
-
beruht IMMER auf Erziehungsfehler (Eltern ist es nicht gelungen, dem
Kind zu vermitteln, dass es trotz des neuen Geschwisterchens noch geliebt
wird)
-
darf nicht zu leicht genommen werden -> aggressive Handlungen
gegenüber dem Säugling!
-
kann auch bei Einzelkind auftreten (wenn es erwachsen wird, muss es
plötzlich mehr Verantwortung und Pflichten übernehmen)
diagnostische Leitlinien:
-
Kombination von Geschwisterrivalität und Eifersucht
-
Beginn nach der Geburt eines (meist unmittelbar nachfolgenden)
jüngeren Geschwisterchens
-
psychosoziale Beeinträchtigung
-
Verhalten:
¾ Konkurrieren mit Geschwistern um Aufmerksamkeit und Zuneigung
der Eltern
¾ negative Gefühle gegenüber den Geschwistern
Î offene Feindseligkeit, körperliches Verletzen, Böswilligkeit,
Hintergehen (schwere Fälle)
Î Weigerung zu teilen, Mangel an positiver Beachtung, keine
Interaktion (leichtere Fälle)
¾ oft Regression und Verlust bereits erworbener Fertigkeiten (z.B.
Darm- und Blasenkontrolle), babyhaftes Verhalten (Kind ahmt Verhalten
des Säuglings nach, um Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten, will z.B.
gefüttert werden)
123
¾ manchmal Zunahme von konfrontierendem oder oppositionellem
Verhalten gegenüber den Eltern, Wutausbrüche,
Verstimmungszustände (z.B. Angst, Unglücklichsein, sozialer Rückzug)
¾ eventuell gestörter Schlaf
¾ verstärktes Bedürfnis nach elterlicher Zuwendung (z.B. beim
Schlafengehen)
5) Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
(F94)
Ö Man unterscheidet:
a)
b)
c)
d)
e)
elektiver Mutismus
reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
sonstige Störung sozialer Funktionen des Kindesalters
nicht näher bezeichnete Störung sozialer Funktionen des Kindesalters
Ö Klinisch-diagnostische Leitlinien:
•
ist eine heterogene Gruppe von Störungen; Auffälligkeiten in den
sozialen Funktionen; Beginn während des Entwicklungsalters
•
nicht primär konstitutionelle soziale Beeinträchtigung oder
Defizite in allen Bereichen sozialer Funktionen (Unterschied zu den
tiefgreifenden Entwicklungsstörungen!)
•
oft schwerwiegende Beeinträchtigungen des Milieus und
Deprivationen (spielen bedeutende Rolle in der Ätiologie)
•
kein Geschlechtsunterschied
•
Unsicherheit über die optimale Einteilung dieser Störungsgruppe
124
a) elektiver Mutismus (F94.0)
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal = deutliche, emotional bedingte Selektivität des
Sprechens (Kind zeigt Sprachkompetenz in einigen Situationen, in anderen
dagegen nicht)
-
erstes Auftreten meist in der frühen Kindheit; gleich oft bei beiden
Geschlechtern
-
verbunden mit deutlichen Persönlichkeitsbesonderheiten (z.B.
Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit, Widerstand)
-
Kind spricht meist zu Hause oder mit Freunden, nicht jedoch in der
Schule oder bei Fremden (es kann aber auch umgekehrt sein...)
-
Diagnose setzt Folgendes voraus:
¾ (nahezu) normales Niveau des Sprachverständnisses
¾ Kompetenz im sprachlichen Ausdruck, die für soziale
Kommunikation ausreicht
¾ Beleg, dass Kind in einigen Situationen (fast) normal sprechen
kann
•
-
manchmal vorher Sprachentwicklungsverzögerung oder
Artikulationsprobleme
-
Voraussagbarkeit von Situationen in denen gesprochen wird oder
nicht
-
oft auch andere soziale emotionale Störungen, abnorme
Temperamentsmerkmale (z.B. soziale Überempfindlichkeit, soziale
Ängstlichkeit, sozialer Rückzug) und oppositionelles Verhalten dabei
Therapie:
-
dauert lang, ist schwierig
-
zuerst Kontakt zum Kind aufbauen (es reagiert darauf möglicherweise
mit starken Aggressionen...); freundlich sein und sich nicht in Opferrolle
drängen lassen
-
ein paar Zeichen ausmachen, damit man gut mit Kind kommunizieren
kann; eventuell Mutter übersetzen lassen; Kind darf flüstern,... -> Angst vor
Kommunikation nehmen!
-
Belohnung jeder Äußerung, auch wenn sie unartikuliert war
-
dem Kind verständlich machen, dass man sein Verhalten akzeptiert, aber
trotzdem mit ihm kommunizieren will
-
OHNE Therapie NICHT heilbar! (Störung hat auch gewisse Vorteile, z.B.
Kind braucht in der Schule keine mündlichen Prüfungen machen...)
125
b) reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1)
•
diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal = abnormes Beziehungsmuster zu
Betreuungspersonen; Beginn vor dem 5. Lebensjahr; mangelnde
Anpassung; andauernd, ändert sich aber bei ausreichend deutlichem
Wechsel im Betreuungsmuster
-
stark widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen bei
jüngeren Kindern (am besten zu beobachten beim Verabschieden oder
Wiedergegnen):
¾ Kind wendet Blick in andere Richtung, nähert sich einem mit
abgewandtem Gesicht.
¾ reagiert auf Zuspruch der Betreuungsperson mit Mischung aus
Annäherung, Vermeidung und Widerstand
-
emotionale Störung zeigt sich in: Unglücklichsein, Mangel an
emotionaler Ansprechbarkeit, Rückzugsreaktionen (z.B. am Boden
zusammenkauern), aggressive Reaktionen
-
Furchtsamkeit und Übervorsichtigkeit
-
Kind zeigt Interesse an Interaktion mit Gleichaltrigen, ABER: durch
negative emotionale Reaktionen ist soziales Spielen behindert!
-
oft auch dabei = Gedeihstörung oder Wachstumsverzögerung
-
darf nicht verwechselt werden mit dem Phänomen, dass viele normale
Kinder Unsicherheit in selektiver Bindung an EINEN Elternteil zeigen
-
5 Hauptmerkmale, die diese Störung von einer tiefgreifenden
Entwicklungsstörung unterscheiden:
¾ normale Fähigkeit zu sozialer Gegenseitigkeit und Reagibilität
¾ abnormes soziales Reaktionsmuster bildet sich zurück, wenn Kind in
normal fördernde Umgebung mit kontinuierlicher, einfühlender Betreuung
kommt
¾ beeinträchtigte Sprachentwicklung, aber KEINE typischen Merkmale des
Autismus
¾ KEINE anhaltenden und ausgeprägten kognitiven Defizite, die nicht auf
Milieuveränderungen ansprechen
¾ KEINE eingeschränkten, repetitiven und stereotypen Muster von
Verhalten, Interessen und Aktivitäten
-
treten immer auf bei grob unangemessener Kinderbetreuung (z.B.
bei Missbrauch, Vernachlässigung, brutale Bestrafung, keine Reaktion auf
kindliche Annäherungsversuche, Misshandlung, Missachtung der körperlichen
Bedürfnisse des Kindes, unzureichende Nahrungsmittelversorgung,
wiederholte vorsätzliche Verletzung,...)
126
-
OHNE Hinweis auf Misshandlung und Vernachlässigung ist
Diagnose mit Vorsicht zu stellen, Diagnose darf bei Misshandlung und
Vernachlässigung aber auch nicht automatisch gestellt werden (viele Kinder
werden misshandelt und vernachlässigt und bekommen diese Störung
nicht...)
c) Bindungsstörung im Kindesalter mit Enthemmung (F94.2)
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
abnormes Muster sozialer Funktionen; beginnt während der ersten 5
Lebensjahre; Tendenz zum Persistieren trotz Änderungen des
Milieus
-
mit ca. 2 Jahren: Störung manifestiert sich in Anklammerung und
diffusem, nicht-selektivem Bindungsverhalten
-
mit ca. 4 Jahren: diffuses Bindungsverhalten bleibt; Anklammerung
wandelt sich in aufmerksamkeitsuchendes, wahllos freundliches Verhalten
-
späteres Kindesalter: Kind kann selektive Bindungen entwickeln, aber
aufmerksamkeitsuchendes Verhalten bleibt
-
mit Gleichaltrigen nur wenig ausgestaltete Interaktion
(Schwierigkeiten beim Aufbau von engen, vertraulichen Beziehungen zu
Gleichaltrigen)
-
begleitende emotionale oder Verhaltensstörungen sind möglich
-
oft bei Kindern, die in Institutionen aufgezogen wurden (in
Vorgeschichte während der ersten 5 Jahre oft Unterbringung in
verschiedenen Pflegefamilien)
-
wahrscheinlich bedingt durch andauernden Mangel an Gelegenheit,
selektive Bindungen zu entwickeln (Folge von extrem häufigen Wechsel
der Bezugspersonen)
-
charakteristisch = früher Beginn der diffusen Bindungen, anhaltende
dürftige soziale Interaktion, fehlende Situationsspezifität
127
6) Ticstörungen (F95)
•
Definition:
Tics sind:
¾ unwillkürliche, rasche, wiederholte, nicht-rhythmische motorische
Bewegungen, die bestimmte Muskelgruppen betreffen = motorische Tics
(z.B. Augenblinzeln, Kopfwerfen, Schulterzucken, Grimassieren,...)
¾ vokale Produktionen, die plötzlich einsetzen und keinem offensichtlichen
Zweck dienen = vokale Tics (z.B. Räuspern, Bellen, Grunzen, Schnüffeln,
Zischen, Wiederholung von bestimmten Wörtern [oft unanständige Wörter =
Koprolalie], Wiederholung von Lauten oder eigenen Wörtern [= Palilalie])
¾ sie können in Art, Intensität und Komplexität interindividuell und
individuell stark variieren
¾ sind wahrscheinlich unterschiedliche Ausprägungen auf einem Kontinuum
und nicht voneinander abgrenzbare Störungen
•
Man unterscheidet:
¾ vorübergehende Tics:
-
am häufigsten
treten meist auf im Alter von 4 – 6 Jahren
dazu gehören Blinzeln, Grimassieren, Kopfschütteln
Dauer: 1 Woche bis wenige Monate, NIE länger als 1 Jahr
können bei Stress wiederkehren
¾ chronische Tics:
•
Dauer über 1 Jahr
im Jugendalter oft Spontanremission
sind oft multipel, d.h. motorische + vokale Tics
Unterscheidung im ICD-10:
a) vorübergehende Ticstörung
b) chronische motorische oder vokale Ticstörung
c) kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom)
d) sonstige Ticstörungen
e) nicht näher bezeichnete Ticstörung
128
•
Allgemeines:
-
•
•
vor den Tics oft hyperkinetische Störung
Tics können unter gewissen Umständen für kurzen Zeitraum willentlich
unterdrückt werden
bei Stress starke Zunahme
Patient verspürt vor Tic starke innere Unruhe, versucht den Impuls zu
unterdrücken, ist aber letztlich machtlos dagegen
Tics können auf andere Körperregionen verschoben werden:
Diagnose meist NICHT sehr schwierig; ABER: Überschneidungen mit
anderen psychischen Störungen sind möglich!
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmale: plötzliche, rasche, vorübergehende, bestimmte Art von
Bewegungen (aber KEINE neurologische Störung!); Wiederholungstendenz;
treten nicht während des Schlafs auf; können leicht unterdrückt oder
produzier werden (das alles = Unterschied zu anderen motorischen
Störungen!)
-
keine Rhythmizität (= Unterschied zu stereotypen repetitiven Bewegungen
bei Autismus und Intelligenzminderung)
-
sehen oft aus wie Zwangshandlungen; ABER: Ausgestaltung wird bei
Zwängen eher durch den Zweck (d.h. ein Objekt muss bestimmt oft berührt
werden) als durch die betroffene Muskelgruppe definiert; Unterscheidung =
oft schwierig!
-
Tics treten oft isoliert auf, können aber auch von diversen emotionalen
Störungen begleitet sein (vor allem Zwänge und hypochondrische Symptome)
-
neben dem Tic kann auch eine spezifische Entwicklungsstörung
vorliegen
Therapie:
-
meist genügt Beratung der Bezugspersonen, wenn es sich um isolierte
Tics handelt -> Spannungen und Ängste herausfinden!
-
Psychotherapie: wenn Tic durch schwere emotionale Störung ausgelöst
wird
-
symptomorientierte Verhaltenstherapie:
¾ Modell der massierten Übung (Patient muss während gesamter
Therapiestunde Tics produzieren; Erfolge sind nicht belegt)
¾ Selbstbeobachtung und Entspannungstechniken
¾ Aufmerksamkeitsentzug und Selbstkontrolltecniken
¾ am besten geeignet = komplexe, verhaltenstherapeutische Ansätze
129
ad c) kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom)
(F95.2)
-
Form der Ticstörung mit gegenwärtigen oder in der Vergangenheit
vorhandenen multiplen motorischen Tics UND einen oder mehreren
vokalen Tics (nicht unbedingt gleichzeitig!)
-
meist motorische Tics früher als vokale Tics
-
Beginn IMMER in Kindheit oder Adoleszenz [vor dem 18.
Lebensjahr!] (hier meist Verschlechterung und Persistenz ins
Erwachsenenalter)
-
vokale Tics: oft multipel mit explosiven repetitiven Voaklisationen, Räuspern,
Grunzen, Gebrauch von obszönen Wörtern; manchmal begleitende gestische
Echopraxie obszöner Natur (= Kopropraxie)
-
vokale und motorische Tics können für kurze Zeit willkürlich
unterdrückt werden; werden durch Stress verstärkt; verschwinden
während des Schlafs.
-
Tics treten viele Male am Tag auf; täglich, länger als ein Jahr; keine
länger als 2 Monate dauernde Remission
7) Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der
Kindheit und Jugend (F98)
•
ICD-10 unterscheidet:
a) Enuresis
- nur in der Nacht
- nur am Tag
- in der Nacht UND am Tag
b) Enkopresis
- mangelhafte Entwicklung der Sphinkterkontrolle
- Absetzen normaler Faeces an unpassenden Stellen bei adäquater
Sphinkterkontrolle
- Einkoten bei sehr flüssigen Faces
c) Fütterstörung im frühen Kindesalter
d) Pica im Kindesalter
e) stereotype Bewegungsstörungen
- mit Selbstverletzung
- ohne Selbstverletzung
f) Stottern (Stammeln)
g) Poltern
h) sonstige näher bezeichnete Verhaltens- oder emotionale Störungen mit Beginn
in der Kindheit und Jugend
i) nicht näher bezeichnete Verhaltens- oder emotionale Störung mit Beginn in der
Kindheit und Jugend
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ad a) Enuresis (F98.0):
•
diagnostische Leitlinien:
-
keine scharfe Grenze zwischen Enuresis und Normalverhalten im
Alter, in dem Blasenkontrolle erworben wird -> wird bei Kind unter 5
Jahren (oder bei Kind mit geistigem Intelligenzalter von unter 4
Jahren) NICHT diagnostiziert!
-
Enuresis ist nur dann Hauptdiagnose, wenn:
¾ unwillkürlicher Urinabgang mindestens mehrmals pro Woche
¾ wenn Symptome anderer Störungen zeitliche Kovarianz mit der
Enuresis aufweisen
¾ tritt Enuresis gemeinsam mit Enkopresis auf -> Enkopresis
diagnostizieren!
-
bei Kindern tritt manchmal vorübergehende Enuresis auf als Folge
einer Zystitis oder Polyurie (z.B. bei Diabetes); hört nach Heilung der
Infektion oder sobald Polyurie unter Kontrolle gebracht wurde, auf. Zystitis
kann oft auch sekundär durch Infektion in den ableitenden Harnwegen
entstehen (vor allem bei Mädchen) -> Grund: anhaltende Nässe!
ad b) Enkopresis (F98.1):
•
diagnostische Leitlinien:
-
Hauptmerkmal = unangemessene Platzierung der Fäkalien
-
kann sein:
¾ Folge unzureichenden Toilettentraining; Versagen beim Erlernen der
Darmkontrolle
¾ Widerspiegelung einer psychologisch begründeten Störung (dabei
NORMALE physiologische Kontrolle über die Defäkation) -> Ausdruck von
Ablehnung, Widerstand, Unvermögen sozialen Normen zu entsprechen
¾ Folge einer physiologischen Retention (Zurückhalten und sekundäres
Überlaufen) -> Ausdruck von Auseinandersetzungen zwischen Eltern und
Kind beim Darmtraining; Schmerzen bei Defäkation (z.B. wegen
Analfissur);...
-
manchmal Verschmieren von Kot über den ganzen Körper oder die
Umgebung
-
gelegentlich anale Manipulationen oder Masturbation
-
meist gewisses Ausmaß an emotionaler Störung, Verhaltensstörung
oder psychiatrischer Erkrankung dabei
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Enkopresis darf NICHT diagnostitziert werden, wenn sie nur 1x pro
Monat auftritt
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oft gemeinsames Auftreten mit Enuresis (in diesem Fall = Enkopresis
Hauptdiagnose)
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Enkopresis folgt manchmal einer organischen Erkrankung (z.B.
Analfissur, gastointestinaler Infekt,...)
ad f) Stottern (Stammeln) (F98.5):
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
-
Stottern = Sprechen, das gekennzeichnet ist durch häufige Wiederholung
oder Dehnung von Lauten, Silben oder Wörtern; häufiges Innehalten
und Zögern, das rhythmischen Sprechfluss unterbricht
-
in Durchgangsphase in früher Kindheit oder im späten Kindes- bzw. im
Erwachsenenalter oft geringfügige Dysrhythmien -> sind nur dann eine
Störung, wenn Sprechflüssigkeit deutlich behindert wird dadurch
-
Begleitende Bewegungen des Gesichts und anderer Körperteile können
vorkommen (fallen zeitlich mit Wiederholungen, Dehnungen, Pausen im
Sprechfluss zusammen)
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Stottern muss unterschieden werden von den Tics und vom Poltern
-
manchmal begleitet von Entwicklungsstörung der Sprache oder des
Sprechens
ad g) Poltern (F98.6):
•
klinisch-diagnostische Leitlinien:
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Merkmal: hohe Sprechgeschwindigkeit mit falscher Sprechflüssigkeit,
aber OHNE Wiederholungen oder Zögern -> beeinträchtigte
Sprechverständlichkeit
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unregelmäßiges, unrhythmisches Sprechen; schnelle, ruckartige
Anläufe, die zu falschen Satzmustern führen (z.B. durch Pausen oder
Sprechausbrüche entstehen Wortgruppen, die nicht der grammatikalischen
Satzstruktur entsprechen)
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