ADHS – von der Diagnostik bis zu den Entstehungsbedingungen Syke, 05.04.11 Michael Schulte-Markwort Kurz-Definition AD(H)S Ein dem Entwicklungsstand unangemessenes Maß an Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität bereits vor dem siebten Lebensjahr. Hyperkinetisches Syndrom Minimale cerebrale Dysfunktion – – Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom – Attention Deficit Hyperactivity Disorder – HKS MCD ADS ADHS ADD/ADHD Definition AD(H)S II • Symptomatik muss stärker sein als bei anderen Kindern • des gleichen Alters • des gleichen Entwicklungsstandes • Die Problematik muss in mehreren Lebensbereichen auftreten (Schule, Familie, Freizeit) • Es entstehen dadurch ernste Probleme im Alltagsleben Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Dimensionaler Ansatz der Diagnose AD(H)D …. • … ist nicht wie Tuberkulose, Epilepsie oder Malaria (ja/nein-Diagnose mit eindeutigen Symptomen) • … ähnelt diesbezüglich eher Übergewicht oder hohem Blutdruck (dimensional mit einem Spektrum an Symptomen) Symptome sind in leichter oder zeitlich begrenzter Ausprägung bei vielen Kindern beobachtbar! Symptome: Unaufmerksamkeit • • • • • • • • Flüchtigkeitsfehler mangelnde Ausdauer scheint nicht zu zuhören kann sich nicht organisieren vermeidet längere (kognitive) Anstrengung verliert häufig viel vergesslich leicht ablenkbar Symptome: Hyperaktivität • • • • • • zappelt mit Händen und Füßen steht oft auf/läuft herum kann nicht ruhig spielen/lernen/arbeiten wirkt (ist) getrieben exzessive motorische Aktivität Jugendliche/Erwachsene: Unruhegefühl Symptome: Impulsivität • • • • • platzt häufig mit Antworten heraus kann nicht warten unterbricht andere redet häufig übermäßig viel kann Handlungen nicht unterbrechen Symptome: hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens = ADS + ... • • • • • • • • häufige Wutausbrüche häufiges Streiten Verweigerung (von Regeln) bewusstes Ärgern, Quälen anderer hohe Empfindlichkeit/Rachsucht häufiges Lügen/Stehlen/Schlagen Tierquälerei/Grausamkeit Zerstören/Feuerlegen Aber… • • • Lebendigkeit bedeutet nicht Hyperaktivität ! Hyperaktivität bedeutet nicht ADS/ADHS ! Leitsymptom: Konzentrationsstörung !! ADS ist keine Blickdiagnose ! Häufigkeit • 3 – 10% der 4- bis 10jährigen (im Elternurteil) • KIGGS: 2,2% • Nach DSM-IV Kriterien: 2-5% • Jungen : Mädchen • 3 : 1 bis 9 : 1 • 2 : 1 bis 5 : 1 (D) • Prävalenz abhängig vom Untersuchungsdesign • Studienpopulation • Experten, Selbst- oder Elternurteil • Angewandte Untersuchungsmethoden AD(H)S-Prävalenz weltweit (%) Holland USA Schweiz Deutschland Irland England Puerto Rico Neuseeland 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Entstehung/Ursachen I D4-Rezeptor, D2 Transporter Polymorphismen u.a. • Molekular- und Verhaltensgenetik • eineiige Zwillinge: 81% > kortiko-striatale Dysfunktion • zweieiige Zwillinge: 29% • prä- und perinatale Schädigung des ZNS • Sauerstoffmangel, Geburtsgewicht, saisonal, Nikotinexposition… • psychosoziale Faktoren als Modulatoren Schutzfaktoren Risikofaktoren neuroanatomische Veränderungen / Verminderung hemmender Neurone / Verhaltensänderung Risikofaktoren: • niedrige sozioökonomischerStatus • niedrige Intelligenz • früh einsetzende schwere oppositionelle und aggressive Verhaltensstörung • strafender, inkonsistenter Erziehungsstil • negative Eltern-Kind-Interaktion • Partnerschaftskonflikte, Broken-Home • psychische Belastung/Störung von Eltern(teilen) Schutzfaktoren: • • • • • hohe Intelligenz zufrieden stellender familiärer Zusammenhalt intakte Eltern-Kind-Beziehung soziale Eingebundenheit in Schule und peer-group früh einsetzende professionelle Unterstützung bei Fehlentwicklungen Entstehung / Ursachen II Genetische Disposition ?? Neurobiologische Veränderungen Hirnschädigung ? Unzureichende Steuerung durch Umgebung Störungen in der kognitiven Entwicklung und Steuerung Umwelt-Anforderungen (Z.B. an Ausdauer, Aufmerksamkeit und Konzentration) AD(H)S + Andere psychische Störungen Entstehung III Auf der Grundlage des individuellen Ausmaßes einer genetisch bedingten Vulnerabilität bildet sich in Abhängigkeit von protektiven bzw. schädigenden psycho-sozialen Bedingungen ein ADS/ADHS aus. Komorbide Störungen • • • • • Störung des Sozialverhaltens depressive Erkrankungen Angsterkrankungen Lernstörungen/TLS Tics, Tourette-Syndrom 30% - 50% 10% - 40% 20% - 25% 10% - 25% - 30% • Bis zu 2/3 der AD(H)S-Kinder haben mindestens eine komorbide Störung! • Zunahme der Komorbidität mit dem Alter! Komorbide Störungen Tic-Störung AD(H)S allein Oppositionelles Trotzverhalten 31% 11% 40% Störung des Sozialverhaltens 14% 34% Affektive- und Angststörungen n= 579 MTA Coop. Group 1999 Differentialdiagnosen, z.B. • • • • • • • • • • emotionale Störung Anpassungsstörung Störung des Sozialverhaltens Seh- und/oder Hörstörungen Epilepsie Schilddrüsenüberfunktion Medikamentennebenwirkungen Z. n. Schädel-Hirn-Verletzungen schulische Unterforderung (Hochbegabung) schulische Überforderung • Teilleistungsstörung • Lernbehinderung (IQ < 85) • geistige Behinderung (IQ < 70) Störungsverlauf und psychosoziale Beeinträchtigung •AD(H)S- SymptomKomplex • Unaufmerksamkeit • Hyperaktivität • Impulsivität + Psychiatrische Komorbidität • Störung des Sozialverhaltens • Affektive- und Angststörungen Führen zu Funktionelle Beeinträchtigung Selbst • Niedriges Selbstbewußtsein • Unfälle/Verletzungen • Nikotin/Alkohol-Abusus • Rechtsbrüchen Schule/Arbeit • Leistungsprobleme • Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt Zuhause • familiäre Belastung • gestörte Eltern-Kind- Interaktion Soziales Umfeld • Probleme mit Peers • Soziale Inkompetenz • Partnerschaftskonflikte Körperliche/Medizinische Risiken • • • • • Potentielle Wachstumsverzögerung Schlafstörungen (39%-56%) Entwicklungsdyspraxie Verminderte körperliche Fitness Erhöhte Unfallneigung Entwicklungsrisiken • Sprachstörungen – expressive Sprachstörungen – beeinträchtigter Sprachfluss – verzögerter Spracherwerb • Auditive Wahrnehmungsstörungen • Verminderte Intelligenz Schulerfolg • Schlechter Schulerfolg • Schlechtere akademische Performance • Lernstörungen – Lesen (8%-39%) – Schreiben (12%-30%) – Rechnen (12%-27%) – Handschrift (60%) Soziale Beeinträchtigung • Erhöhter Eltern-Kind-Stress – Erhöhter autoritativer Stil – Erhöhte Feindseligkeit – Versagensgefühle – Mehr mütterliche Depression • Erhöhter Peer-Distress – Mehr Konflikte – Ausgrenzung Erkrankungsdauer • Kindheit – Adoleszenz: 70%-80% • Junges Erwachsenenalter: – 3%-8% (Selbstangabe) – 46% (Elternangabe) – Abhängig von Kriterien und Perzentilen • Erwachsenenalter: ?? Bildungserfolg • • • • • • Schlechter Schulabschluss Mehr „Sonder“schulen (25%-50%) Mehr Schulausschlüsse (40%-60%) Höhere Abgangsrate Weniger Abitur Weniger Hochschulstudium Berufserfolg • Mehr und längere Arbeitslosigkeit – mit 21: 22% vs 7% – mit 27: 25% vs 9% • Häufiger Berufswechsel • Weniger Berufserfolg • Niedriger Sozialstatus Risiken im Straßenverkehr • • • • Schlechte Reaktionszeiten Riskante Fahrweise Mehr Fahren ohne Führerschein Häufiger Unfälle: – bis 2 Unfälle: 40% vs 6% – mehr als 3 Unfälle: 26% vs 9% • Mehr Unfälle mit Alkohol Sexuelle Risiken • • • • • Früher sexuell aktiv Häufiger Partnerwechsel Kurze Beziehungszeiten Mehr Promiskuität Weniger Kontrazeption – mit 27: 51% vs 13% • Keine erhöhten Sexualerkrankungen Psychiatrische Erkrankungen I • Störung des Sozialverhaltens – ODD: 12% – Conduct: 26% • Depression – mit 27: 9% vs 3% – 18% depressive Persönlichkeitsstörung • Suizidalität – High school: 16% vs 3% – Postgraduate: 6% vs 3% Psychiatrische Erkrankungen II • Angststörungen: 11% vs 8% • Substanzmissbrauch – 16% ADS vs 24% ADHS vs 7% – Alkohol: 11% vs 4% • Persönlichkeitsstörungen – Antisozial: 15% vs 28% vs 3% – Vermeident: 5% vs 18% vs 3% – Borderline: 13% vs 30% vs 0% – Paranoid: 11% vs 28% vs 1% Lebensqualität • • • • • • • Weniger enge Freunde Mehr soziale Beeinträchtigungen Mehr Fernsehen, PC, Videospiele Weniger Bücher und Weiterbildung Mehr medizinische Probleme Mehr Geldverwaltungsprobleme Höhere kardiovaskuläre Risiken Behandlung I Impulsivität Kind/Jugendlicher Unaufmerksamkeit Hyperaktivität Komorbide psychische Störungen Familie Erziehung, Kontrolle, Beziehungsprobleme Persönliche Belastungen, p+s Erkrankungen Schule Lernschwierigkeiten und Schulversagen Negative Lehrer-Schüler-Beziehung Freunde Mangel an tragfähigen Freundschaften Behandlung II Patient • Psychoedukation • Psychopharmakotherapie • Psychotherapie Familie • Psychoedukation • Identifikation negativer Interaktionsmuster • Elterntraining Schule • Psychoedukation • Verhaltensmodifikationen Pharmakotherapie • Stimulanzien • • • • • • • Methylphenidat (Ritalin®, Medikinet®, Concerta®, Equasym®) D-Amphetamin Pemolin (Tradon®) Fenetyllin (Captagon®) Atomoxetin (Strattera®) Antidepressiva Clonidin (z.B. Catapressan®) Methylphenidat • • • • • erhöht Dopamin im Nervenspalt erhöht selektiv die Konzentrationsfähigkeit muss nur in eindeutigen Fällen eingesetzt werden wirkt nicht ursächlich erzeugt keine Drogenabhängigkeit (eher protektiv!) Atomoxetin • • • • • wirkt noradrenerg/serotonerg erhöht die Konzentrationsfähigkeit ist eine Alternative zum Methylphenidat muss länger aufdosiert werden wirkt nicht ursächlich Prognose • • • • • • • • frühe effektive Behandlung Einbeziehung der Familie Einbeziehung der Schule soziale Unterstützung Medikation Aggressivität/Dissozialität niedriger IQ gescheiterte (Nicht-)Behandlung Werbeblock! Werbeblock! Werbeblock! Deshalb…. • Möglichst frühzeitige Identifikation und • Diagnostik und Behandlung durch Kinder- und Jugendpsychiater/-psychotherapeuten oder auf diese Problematik spezialisierte Kinder- und Jugendmediziner • Einbezug von Eltern und Schule • Kontinuierliche Unterstützung für Betroffene und Eltern, z.B. durch Selbsthilfegruppen Manchmal… Vielen Dank! …working on healthy children.