Wenn Essen F OTO M O N TAG E : P E T E R WA N N E R M Zwanghaf te Heisshungerattacken oder extreme Diäten: Essstörungen wie Adipositas, Bulimie und «Binge Eating» werden seit Jahren häuf iger. Viele der Betrof fenen versuchen ihre Krankheit zu verbergen. von Jürg Odermatt editerran und frühsommerlich: Eine grosszügige Tafel unter freiem Himmel, eine Familie sitzt daran, isst Fisch und Gemüse, die Grossen prosten sich lachend zu mit einem Glas Wein, in dem Sonnensprenksel funkeln, der Salat ist gartenfrisch, angeregtes Durcheinanderreden – über Gott, die Welt und den ganzen Rest. Die lieben Kleinen tollen bereits in der Wiese nebenan, Opa und Oma geniessen ein Stückchen reifen Käse zum Dessert, dazu ein paar Apfelschnitze, und die fröhliche Runde beschliesst das Mahl mit einem Espresso, wozu ein kleiner Grappa nicht fehlen darf … So oder ähnlich stellt die Werbung als Herstellerin von Lifestyle-Entwürfen die ideale Situation der Nahrungsaufnahme dar und kitzelt dabei unsere Sehnsüchte. Die Realität – wir wissen es – sieht nur zu oft anders aus: Convenience Food* boomt, viele Menschen haben keine Zeit oder keine Lust, nach der Arbeit noch «richtig» zu kochen, moderne Familien ernähren sich individuell und oft einfach aus dem Kühlschrank, und über Mittag verpflegt man sich am Take-Away der Wahl. Paradox: superschlank mit Fastfood Essen ist für uns nur auf den ersten Blick die natürlichste Sache der Welt. Dieses menschliche Grundbedürfnis wird – zumindest in unseren Breiten*Convenience Food: vorgefertigte Lebensmittel, die bereits verzehrfertig sind oder nur noch geringfügig aufbereitet werden müssen. Hierzu gehören z.B. Tiefkühlkost, Konserven, Instantprodukte, Fertigmischungen. SPRECHSTUNDE 22 S S S T Ö R U N G E N PSYCHOLOGIE E das Leben schwer macht graden – je länger, je weniger durch individuelle, körpervermittelte Reize wie «Hunger» oder «Sättigung» gesteuert. Essgewohnheiten und -trends, das soziale Umfeld, die von der Werbung lancierten Images von Lebensmitteln, Diäten, Schönheitsideale, der Traum vom perfekt formbaren Körper, medizinische Empfehlungen zur gesunden Ernährung und weitere Einflüsse von aussen bestimmen massgeblich, was und wie wir essen. Längst passen all diese widersprüchlichen Informationen nicht mehr unter einen Hut: Fastfood-Anbieter werben mit üppigen Menüs, die zu essen «megacool» ist, MTV-Clips zeigen superschlanke tanzende und singende Menschen, die auch «megacool» sind. Was nun? Wie isst man Fastfood und wird schlank dabei? Solche paradoxen Informationen verunsichern viele und können bei entsprechend veranlagten Menschen zu einem der Auslöser für die seit Jahren zunehmenden Essstörungen mit Suchtcharakter werden – Anorexie, Bulimie und Binge Eating sind die häufigsten. Anorexie Die Anorexie (Anorexia nervosa) oder Magersucht äussert sich in einem auffälligen Gewichtsverlust, hervorgerufen durch extreme Diät bis hin zur Nahrungsverweigerung. Sie betrifft vor allem Mädchen und junge Frauen (man rechnet mit lediglich 5–8% Jungen und Männern) und beginnt häufig kurz nach dem Einsetzen der ersten Regelblutung. Im deutschsprachigen Raum sind etwa 1 Prozent der Frauen 23 SPRECHSTUNDE zwischen 15 und 25 Jahren magersüchtig. AnorektikerInnen sind nicht einfach dünn, sondern wiegen mindestens 15 Prozent weniger; als sie sollten (BMI 17,5 und weniger, siehe Kasten). Magersüchtige leiden unter einer gestörten Körperwahrnehmung: Sie halten sich selbst für zu dick, unabhängig giden Selbstkontrolle – bis auf 30 Kilogramm ab. In Extremfällen hungern sich Betroffene buchstäblich zu Tode, viele Patientinnen leiden an Herzrhythmusstörungen, dem Aussetzen der Periode, Wasserablagerungen im Gewebe, niedrigem Blutdruck oder Veränderungen im Hormonhaushalt. Body-Mass-Index (BMI) Eine Möglichkeit zu bestimmen, ob jemand unter-, über- oder normalgewichtig ist, bietet der so genannte Body-Mass-Index (BMI). Er berechnet sich nach folgender Formel: BMI = Gewicht in Kilogramm : (Körpergrösse in Metern)2 Beispiel: Die Barbie-Puppe wäre, auf eine reale Person umgerechnet, 1,68 Meter gross, bei einem Gewicht von 50 Kilogramm. BMI = 50 : (1,68)2 = 17,7. Barbies BMI beträgt also 17,7 – damit ist sie stark untergewichtig und nahe an der Anorexie. Untergewicht Normalbereich Übergewicht (erhöhte Sterblichkeit) Adipositas (markant erhöhte Sterblichkeit) 18–34 Jahre 35 Jahre und älter BMI unter 19 BMI 19–24 BMI 25–30 BMI unter 19 BMI 19–26 BMI 27–30 BMI über 30 BMI über 30 Bei Männern liegt der Normal-BMI zwischen 20 und 25, bei Frauen zwischen 19 und 24. Zu beachten gilt: Für Kinder und Teenager, die noch stark am Wachsen sind (unter 18-jährig), sind die obigen Werte nur beschränkt aussagekräftig. von ihrem tatsächlichen (Unter-)Gewicht, und versuchen stets, weitere Kilos zu verlieren, durch exzessive sportliche Aktivitäten, Abführmittel oder etwa, indem sie winters bei offenem Fenster unter einer dünnen Decke schlafen, um auch nachts noch ein paar Kalorien zu verbrennen. Viele Patientinnen magern – als Folge dieser ri- Bulimie Zentrales Merkmal der Bulimie (Bulimia nervosa) oder Ess-Brech-Sucht sind Heisshungerattacken: Bis zu 20mal pro Tag verschlingen BulimikerInnen (unter 10% sind Jungen und Männer) anfallsartig grosse Mengen an kalorienreicher Nahrung. Schuldgefühle nach den Essattacken und DENKPAUSE Arabesken Der Schatten einer Libelle hat meine Schulter gestreift Wenn Die Flügel einer Fliege tuschten Arabesken in meine Hand Ameisenspuren malten uralte Träume auf meinen Fuss Und eine winzige Mücke tanzte vor meinem Gesicht Maria Lutz-Gantenbein. Aus: «Die schönsten Schweizer Liebesgedichte». Herausgegeben von Katrin Eckert und Marianne Schiess. Pendo-Verlag. 2004. Fr. 19.90. ISBN: 3-85842574-5. Als die Liebe einmal noch einfiel in mein Herz ANZEIGE Besser heilen mit HARTMANN DermaPlast active «Feuchte Wundheilung» lautet das Stichwort, auf dessen Basis zwei neue Produkte der IVF HARTMANN AG wirken: Das transparente DermaPlast active Brandwundenpflaster und das DermaPlast active Schürfwundenpflaster. Beide Produkte sind hydroaktiv, halten die Wunde also feucht – denn feuchte Wunden heilen schneller. Feuchte Wundheilung bedeutet, dass heilungsfördernde Inhaltsstoffe der Wundflüssigkeit wie Enzyme, Hormone oder Wachstumsfaktoren in einem feuchten Wundmilieu erhalten bleiben. So können neu gebildete Zellen optimal wachsen, die Wunde kann schneller heilen. Beide Pflaster polstern die Wunde gegen Druckschmerzen ab, halten Schmutz und Bakterien fern. Sie lösen sich auch bei Wasserspritzern nicht und können mehrere Tage auf der Wunde belassen werden. Im Detail: Das DermaPlast active Brandwundenpflaster, ein Gel-Pflaster, saugt die überschüssige Wundflüssigkeit auf, schliesst sie ein und gibt im Gegenzug die für die Heilung nötige Feuchtigkeit in die Wunde ab. Dadurch kann die Wunde gar nicht erst austrocknen und wird sofort bei Auflegen des Pflasters angenehm gekühlt – umgehende Schmerzlinderung inklusive. Das DermaPlast active Schürfwundenpflaster, ein Hydrokolloid-Pflaster, nimmt die entstandene Wundflüssigkeit auf und verwandelt sie in ein Gel. Das wiederum hält die Wunde feucht – womit der Prozess der feuchten Wundheilung auch in der Schürfwunde beginnen kann. Die beiden neuen Pflaster ergänzen das umfassende DermaPlast Erste Hilfe-Sortiment, das körperliche Aktivitäten trotz kleinerer Verletzungen möglich macht. DermaPlast Erste Hilfe steht für eine zuverlässige Qualität bei der Selbstversorgung kleinerer Wunden. In Apotheken und Drogerien erhältlich. Medieninformation: IVF HARTMANN AG 8212 Neuhausen panische Angst vor einer Gewichtszunahme führen dazu, dass die Betroffenen die Kalorienaufnahme (bis zu 15 000 kcal pro Anfall) rückgängig zu machen versuchen: durch selbst ausgelöstes Erbrechen, durch harntreibende, abführende oder appetitzügelnde Medikamente und strenge Diäten. Anders als Magersüchtige können BulimikerInnen ihre Krankheit meist gut verbergen – ihr Gewicht ist im Normalbereich –, und sie führen teilweise über Jahre ein Doppelleben: Die Essanfälle finden in aller Heimlichkeit statt, sodass manchmal nicht einmal Lebenspartner von der Sucht wissen. Viele PatientInnen geraten dadurch in eine soziale Isolation und entwickeln weitere Symptome wie Selbstverletzungen oder Depressionen. Zu den möglichen körperlichen Folgen der Ess-Brech-Sucht gehören Herzrhythmusstörungen (mit der Gefahr des Herzstillstands), chronisches Nierenversagen, Zahn- und Zahnfleischprobleme, Verletzungen der Speiseröhre und Menstruationsstörungen. Im deutschsprachigen Raum sind 2 bis 4 Prozent der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren betroffen. Die Dunkelziffer ist allerdings gross: Gegen 20 Prozent aller jungen Frauen gaben in Untersuchungen an, schon bulimische Symptome gehabt zu haben. Binge Eating Disorder Die Binge Eating Disorder (BED) ist ein relativ neuer Krankheitsbegriff, der in den USA geprägt wurde. «Binge» bedeutet auf Englisch etwa «Besäufnis» – Binge Eaters essen, wie gewisse AlkoholikerInnen trinken: Sie konsumieren innerhalb von kurzer Zeit grosse Mengen an Nahrungsmitteln und können dabei nicht kontrollieren, wie viel sie essen oder wann sie aufhören müssen. Menschen mit einer BED essen häufig besonders schnell, ohne hungrig zu sein, und bis ein unangenehmes Völlegefühl einsetzt. Ähnlich wie Buli- SPRECHSTUNDE 24 S S S T Ö R U N G E N Essen das Leben schwer macht Beziehungsstörung mit Eigendynamik Was die Ursachen von Essstörungen angeht, ist man auf Seiten der Medizin vorsichtig geworden. Es gibt keine einfachen Erklärungen: «Essstörungen sind Krankheiten, die durch das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren ausgelöst werden und die man in ihrer Komplexität noch nicht völlig versteht», sagt dazu der Ernährungspsy- 25 SPRECHSTUNDE Praktische Tipps vom Fachmann Auch wer nicht von einer Essstörung betroffen ist, weiss, dass es gar nicht so einfach ist, sich gut, gesund und «vernünftig» zu ernähren. Robert Sempach hat praktische Tipps: «Ein mehr oder weniger stabiler Mahlzeitenrhythmus ist zentraler Bestandteil jeder guten Ernährung.» Mindestens eine Mahlzeit pro Tag sollte man ferner gemeinsam mit anderen Menschen einnehmen – im Familienverband, mit FreundInnen oder im Rahmen von Tischgemeinschaften. Essen hat eine starke Beziehungskomponente, und in angeregter Runde zu speisen, tut nicht nur dem Magen gut, weil man langsamer isst, sondern auch der Psyche. «Wer sich zudem abwechslungsreich und einmal pro Tag mit einer warmen Mahlzeit ernährt, stets frische Früchte und Gemüse, Kohlenhydrate und viel Wasser auf seinem Speisezettel stehen hat, sitzt an einem guten Esstisch», so der Ernährungspsychologe. PP chologe Robert Sempach, der am Zürcher Stadtspital Triemli seit Jahren Teenager und junge Erwachsene therapiert. «Sicher scheint zweierlei: Eine Essstörung ist immer Ausdruck einer Beziehungsstörung, und sie entwickelt eine Eigendynamik. Ich benutze dafür das Bild des Flusses, in den man langsam steigt, anfangs mit sicherem Stand in Ufernähe – geht man tiefer ins Wasser, verliert man plötzlich den Boden unter den Füssen und wird mitgerissen.» Im «Triemli-Modell» werden Essstörungen interdisziplinär angegangen. Zum Behandlungs-Team gehören VertreterInnen der Fachgebiete Medizin, Psychologie, Psychotherapie, Ernährungsberatung, Physio- und Maltherapie sowie spezialisierte Pflege. Essstörungen sind hartnäckig: Die PatientInnen in der stationären Abteilung werden sechs bis acht Monate lang intensiv betreut, dennoch haben viele auch bei ihrem Austritt noch kein völlig normales Essverhalten – die Nachbetreuung dauert noch einmal ein bis zwei Jahre. «Sowohl Patienten wie Betreuer und Therapeuten brauchen eine grosse Portion Geduld und Beharrlichkeit.» Mit AnorektikerInnen etwa schliesst das Team einen Vertrag ab: Unterschreiten sie ein bestimmtes Gewicht, werden sie über eine Sonde künstlich ernährt. Denn bei der Magersucht ist mit einer Sterblichkeitsrate von knapp 10 Prozent zu rechnen. Sempach betont aber auch die guten Resultate der fächerübergreifenden Behandlung: «Die meisten Anorexiepatientinnen sind zehn bis zwölf Kilos schwerer als beim Eintritt, wenn sie uns verlassen. Allgemein gehen wir, was den Erfolg der Therapie von Essstörungen angeht, von der Drittel-Regel aus: ein Drittel der PatientInnen wird geheilt, ein Drittel hat weiterhin ein leicht gestörtes Essverhalten, das aber zu handhaben ist, und bei einem Drittel wird die Krankheit chronisch.» TI mikerInnen essen Binge Eaters meist allein, und nach den Essattacken tauchen auch bei ihnen Gefühle von Ekel, Schuld oder Depression auf. Binge Eaters wenden allerdings keine der Methoden an, mit denen Ess-Brech-Süchtige versuchen, ihr Gewicht wieder zu regulieren. Andererseits kommen die für Binge Eaters typischen Heisshungerattacken mit dem völligen Verlust von Selbstkontrolle beim «normalen» Übergewichtigen nicht vor. Erwähnenswert: Adipositas (Fettleibigkeit, BMI > 30) gilt nicht als Essstörung, sondern hängt mit einer erhöhten Speicherung von Fett zusammen, etwa aufgrund einer genetischen Veranlagung. BED kann eine Folge von Adipositas sein, ist aber nicht deren Ursache. Man schätzt, dass im deutschsprachigen Raum rund 2 Prozent der Bevölkerung an BED leiden, unter den Adipösen sind es zwischen 20 und 40 Prozent. Anders als bei der Magersucht und der Bulimie sind von der BED auch viele Männer (ca. 40%) betroffen. Die meisten Binge Eaters sind übergewichtig, aber nicht alle. Da während der Fressattacken häufig Nahrungsmittel mit wenig Vitaminen und Mineralstoffen verschlungen werden, können langfristig Mangelerscheinungen auftreten. Ferner stehen Menschen mit BED unter einem erhöhten Risiko, an Diabetes, Gallenblasen- und Herzleiden, zu hohem Blutdruck und Cholesterin sowie gewissen Krebsarten zu erkranken. I N F OInternet: • www.netzwerk-essstoerungen.ch • www.iness.ch • www.overeatersanonymous.de • www.kosch.ch (Selbsthilfegruppen) Buch: «Wenn Essen zum Zwang wird. Ratgeber für Betroffene von Magersucht und Bulimie». Isabelle Meier. Beobachter Buchverlag. 2003. Fr. 32.80. ISBN: 3-85569-276-9. PSYCHOLOGIE E