(1) Möglichkeiten, Chancen und Grenzen des Inklusionsprozesses bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Michael Klein, Köln (2) Psychische Auffälligkeiten als Lösungen. Zum familienpsychologischen Hintergrund psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Formen des Umgangs mit Andersartigkeit „Nicht das Kind sollte sich der Umgebung anpassen, sondern wir sollten die Umgebung dem Kind anpassen“. Maria Montessori (1) Exludierung - und im Ergebnis Exklusion - ist ein familialer und gesellschaftlicher Prozess. (2) Deshalb ist Inkludierung und im Ergebnis Inklusion auch als ebensolcher Prozess (familial, gesellschaftlich) zu verstehen, der je nach Ausgangspunkt unterschiedlich lange dauert, aber stets beschritten werden sollte. Kinder von suchtkranken und/oder psychisch kranken Eltern sind oft schon frühzeitig verhaltensauffällig, psychisch anders und dadurch in ihren sozialen Kontexten stigmatisiert. Dies ist als Anpassungs- und Bewältigungsleistung zu verstehen. Ihnen in ihrer Situation mit frühen Hilfen und selektiver Prävention Unterstützung und Förderung zu bieten, ist kein Stigmatisierungsprozess, sondern eine Hilfe zu Überwindung dieses Zustands, zu Emanzipation. Inklusion im Schulbereich und darüber hinaus… Inklusion funktioniert dann, wenn Schule (sich) fragt, was müssen wir tun, damit das Kind/ der Jugendliche bei uns erfolgreich lernen kann. Entscheidend ist das Zusammenwirken von Familie, Eltern, Schule, Kindern, Fachkräften und Gesellschaft. Die gleiche Frage gilt auch für die Gesellschaft, die Genesung und das lebenslange Lernen. Das Inklusionsthema stellt sich für Kinder psychisch kranker Eltern auf mehrfache Weise…. 1. … durch ihren (häufigen) Ausschluss von gelingender Bildung und Sozialisation 2. … durch ihren (regelhaften) Ausschluss von der Behandlung der Eltern In der Summe also: Deutliche Teilhabedefizite. Obendrein fehlen (dringend benötigte) systematische Präventionsstrukturen ( selektive und indizierte Prävention) 3. … die Berücksichtigung der familialen Herkunft und die Verbesserung der Kompetenzen in der Gesamtsituation als inklusive Strategie Inklusion der Systeme Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitshilfen. Fallbeispiel „Katja“ (5 Jahre) Katja versorgte ihre drogenabhängige und depressive Mutter (alleinerziehend) seit vielen Monaten. Die Mutter hatte längere Phasen von Intoxikation und drogeninduzierter Depression, in denen sie mehr als 24 Stunden schlief. Um die Mutter aufzuwecken, griff Katja zum Äußersten, rüttelte, schlug und biss die Mutter. Erst als Katja durch eine Fremdplatzierung, durch das Jugendamt initiiert, in eine Pflegefamilie kam, ergab sich eine veränderte Situation. Anfangs äußerte sie ihre Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Schlagen und Beißen. Die nicht informierten Pflegeeltern reagierten schockiert und überfordert. Eine entsprechende Information und Schulung zum Thema elterliche Drogenabhängigkeit (vor allem am Beispiel Crystal Meth) hilft ihnen nun, die Hintergründe zu verstehen und sensibel auf Katja einzugehen. Psychische Auffälligkeiten als Lösungen. Zum familialen Hintergrund psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Gliederung: 1. Psychische Störungen 2. Epidemiologie psychischer Störungen 3. Risiken und Verläufe 4. Exkurs: Die Risikogruppe bekommt einen Namen 5. Ausgewählte psychische Störungen 6. Familiale und transgenerationale Abläufe sind entscheidend 7. Und wo geht es hin? Perspektiven der Transmissionsprävention I. Psychische Störungen Was sind psychische Störungen? Wie viele Personen sind betroffen? Gut 30% der Erwachsenen und 18% der Kinder und Jugendlichen zeigen die Merkmale einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung (DEGS-Studie, 2012; KIGGS-Studien, 2006, 2014). Wie viele Personen sind schwer betroffen? Etwa ein Drittel… II. Epidemiologie psychischer Störungen Psychische Störungen in der Bevölkerung sind häufig und auch keine Seltenheit bei Eltern, auch wenn hier exakte Daten meist fehlen. Es gibt bislang keine Epidemiologie der psychisch belasteten Elternschaft. Das Thema Elternschaft und Kindeswohl sollte mit der Epidemiologie psychischer Störungen „in Verbindung gebracht“ werden. 21. Juni 2015 Epidemiologie von Suchtstörungen 11 Elternteile mit Alkoholstörungen: Hohe Prävalenzen – wenig Prävention [Frequency of alcohol problems in parents (N = 2.427; Lifetime, %w; source: EDSP-study; Lieb et al., 2006)] Either parent Both parents 22,5 3,1 One parent 19,5 Father only Mother only 0,0 15,0 4,4 10,0 20,0 KIGGS (Folgestudie 1; 2014, 811) KIGGS (Folgestudie 1; 2014, 812) Psychische Störungen treten oft komorbid auf Kinder sind oft mehreren psychischen Störungen auf der Elternebene exponiert (in einem oder zwei Elternteilen). Multiple Formen der Exposition gegenüber psychischen Auffälligkeiten. Und entwickeln selbst mehr als eine psychische Störung Komplexitäten, Komorbiditäten. Kinder aus psychisch dysfunktionalen Familien Psychisch kranke Eltern DrogenAlk.abh. Eltern abhängige Eltern Suchtkranke Eltern , z.B. Verhaltenssüchte Elterliche Verhaltensstressoren für die (psychische) Gesundheit von Kindern in Familien: Risikotrias Psychische Krankheiten Suchtstörungen Gewaltverhalten (vgl. Cleaver et al., 1999) (Pinquart, 2011, 321) 21. Juni 2015 Vorlesung "Klinische Psychologie" Prof. Dr. M. Klein 18 III. Risiken und Verläufe Bildung und Gesundheit gehören eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig ( MARMOTReport 2012; Brähler et al., 2011). Soziale Ungleichheiten und gesundheitliche Ungleichheiten interagieren auf allen Ebenen. Konstellationen in dysfunktionalen Familien Die wichtigsten 9 ACEs („adverse childhood effects“) sind: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) Emotionaler Missbrauch Körperliche Misshandlung Sexueller Missbrauch Emotionale Vernachlässigung Körperlicher Vernachlässigung Geschlagene Mutter Elterliche Komorbidität Elterliche Trennung und Scheidung Elternteil im Strafvollzug Dube et al., 2001 Kategorien widriger Kindheitserfahrungen I (adverse childhood experiences; ACE; Dube et al., 2001) Kategorie widriger Kindheitserfahrungen Emotionaler Missbrauch Körperliche Misshandlung Sexueller Missbrauch Elterlicher Alkoholmissbrauch Kein Elternteil Nur Vater Nur Mutter Beide Elternteile Kein Elternteil Nur Vater Nur Mutter Beide Elternteile Kein Elternteil Nur Vater Nur Mutter Beide Elternteile Töchter Odds Söhne % Ratio % 9.0 20.2 21.9 30.5 20.8 35.3 43.8 49.1 20.2 35.1 35.1 47.5 1.0 2.3 2.4 3.7 1.0 1.9 2.6 3.3 1.0 2.0 1.8 3.1 5.9 14.7 11.4 21.6 24.7 38.6 43.0 52.2 15.8 21.7 29.1 19.8 Odds Ratio 1.0 2.5 1.8 3.9 1.0 1.8 2.1 3.1 1.0 1.5 2.2 1.3 Empirisch gesicherte Kriterien zur Einschätzung des psychosozialen Risikos (n. Essau, 1994, 1998) Risikoverstärker Lange und intensive Exposition des Kindes (Quantität, Qualität) Beide Elternteile betroffen > Mutter > Vater Einzelkind (?) Frühe > mittlere > späte Kindheit Alleinerziehendes Elternteil Hohe Zahl negativer Lebensereignisse im Krankheitsverlauf (Unfälle, Verletzungen, Suizidversuche, Inhaftierungen) Warum sich Schule und Heim auch für biologische Risikofaktoren interessieren sollten… Aufgrund der Interaktion genetischer und sozialer Faktoren bei der Entstehung psychischer Störungen ist es naheliegend, „dass für Menschen mit einer erhöhten Vulnerabilität durch genetische Merkmale der Einfluss von – sowohl funktionalen als auch dysfunktionalen – Umweltfaktoren eine besonders wichtige Rolle spielt (Mattejat & Remschmidt, 2008). Daher sind die Umweltbedingungen … für die Risikogruppe der Kinder psychisch kranker Eltern besonders relevant“ (Plass & Wiegand-Grefe, 2012, 35). Beelmann & Raabe, 2007, 60. IV. Die Risikogruppe bekommt einen Namen Grenzgänger, Systemsprenger, Verweigerer. Sind das geeignete „Kategorien“? Grenzgänger, Systemsprenger, Verweigerer. Wege, schwierigste Kinder und Jugendliche ins Leben zu begleiten Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe Band: 94, Jahr: 2014, Seiten: 212, ISBN: 978-3-88118-550-9 Inhalt: Starke Gefühle sind im Raum, wenn es um Systemsprenger geht Wer sind „die Schwierigsten“? Wo stehen wir in unserer Konzeptdiskussion heute? Welche lösungsorientierten Antworten und Angebote hat die Kinderund Jugendhilfe? http://www.logo-koeln.de/hilfen-zurerziehung/flexible-hilfen/systemsprenger/ Merkmale von Systemsprengern: (1) starker Wille (2) gute Resilienzfaktoren und Überlebensstrategien (3) große Kampf- und Opferbereitschaft im Hinblick auf ihre persönliche Integrität, oft verbunden mit Gewaltbereitschaft gegenüber Erwachsenen, bzw. jüngeren Kindern oder Schwächeren (4) Drogenkonsum, Drogenhandel (5) Entweichungen, besonders in Kombination mit Prostitution Baumann, M., 2013 Baumann, M., 2013 „Systemsprenger“ (M. Baumann, 2012) Die durch sozialpädagogisches „Fallverstehen“ analysierten Fälle und identifizierten Muster kranken daran, dass die analysierten Merkmale einseitig und zu eng gefasst waren (mangelnde Interdisziplinarität), keine transgenerationale Perspektive vorhanden ist und die hermeneutische Methode des Fallverstehens dazu tendiert, mehr über die Forscher als über die beforschte Klientel auszusagen. V. Ausgewählte Psychische Störungen Bindungsmuster bei psychisch kranken Müttern (Cicchetti et al., 1995) Erkrankung der Mut- Anteil unsicherer Binter dung bei Kindern schwere Depression 47% leichte Depression 24% bipolare Depression 79% Schwere Angster- 80% krankungen Alkoholmissbrauch 52% (davon 35% ambivalent) Drogenmissbrauch 85% (davon 75% ambivalent) Beispielsbereich 1: Die besondere Rolle von Persönlichkeitsstörungen „Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen zeigen in einigen Studien übereinstimmend die höchsten Auffälligkeitsraten und den ungünstigsten Entwicklungsverlauf… Mittlerweile kann daher als gesicherter empirischer Befund gelten, dass die Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen am stärksten gefährdet sind“ (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011, 17). Beispielsbereich 1: www.narzissmus.org Verhaltensweisen narzisstischer Mütter (aus Sicht der Kinder) www.narzissmus.org Beispielsbereich 2: PTBS und Dissoziative Störung Eine Lösung des Gehirns nach Extremtraumatisierung ist es, Gedächtnis- und Persönlichkeitsfunktionen zu verändern, zu verschlechtern und sich aufzulösen („dissoziieren“). Relative Erkrankungsrisiken (OR) für Jugendliche in alkoholbelasteten Familien II [Lachner & Wittchen, 1997] Elternteil mit Alkoholdiagnose Diagnose Jugendliche Nur Vater Nur Mutter Beide Posttraumatische Belastungsstörung Depressive Episode Nur Vater Nur Mutter Beide Odds ratio 5.53 5.15 14.77 1.94 2.88 3.20 Beispielbereich 3: Depressive Störungen Wiegand-Grefe, Geers & Petermann, 2010, 152. Beispielsbereich 4: ADHS Die Prävalenz der ADHS im Kindesalter wird mit etwa 5.3% angegeben (Polanczyk et al., 2007). Es besteht ein Geschlechterverhältnis von 2-3 Jungen zu 1 Mädchen. Die Symptome können in bis zu zwei Drittel der Fälle bis ins Erwachsenenalter bestehen (Faraone et al., 2006). Im Erwachsenenalter wird ein Geschlechterverhältnis von 1:1 bei Prävalenzzahlen zwischen 1 und 7% angegeben. Wahrscheinlichkeitsfaktor (OR) für das Auftreten einzelner psychischer Störungen bei Erwachsenen mit ADHS im Vergleich zu Erwachsenen ohne ADHS (Kessler et al., 2006) Depression Generalisierte Angststörung Bipolare Störung Posttraumatische Stressstörung Alkoholabhängigkeit Drogenabhängigkeit 2.7 3.2 7.4 3.9 2.8 7.9 Beim ADHS dominiert die Störung der emotionalen und impulshaften Steuerung. Die Beeinträchtigungen werden in den Bereich der sogenannten Exekutivfunktionen angesiedelt. Darüber hinaus fallen die Betroffenen im sozialen Miteinander durch mangelnde Planung, Organisation, Problemlösung und mangelndes zielorientiertes Verhalten auf. All diese Symptome beeinträchtigen die Funktionen im Alltag und werden deshalb als „dysfunktional“ bezeichnet. Andererseits können auch funktionale Anteile bestehen. Beispielsweise zeigen manche ADHS-Betroffene eine hohe Begeisterung für neue Aufgaben und Ideen sowie durchaus eine hohe Aufmerksamkeits- oder Aktivitätsfokussierung für Dinge, die sie besonders interessieren. Auch Kreativität und Spontaneität sind oft ausserordentlich ausgeprägt, was in der Begleitung, Beratung z.B. hinsichtlich Berufswahl und in der Therapie von ADHS-Betroffenen berücksichtigt werden sollte (Jakob et al., 2006). Symptome der „Aufmerksamkeitsstörung“ bei Kindern Beachtet Einzelheiten nicht, macht Flüchtigkeitsfehler Kann Aufmerksamkeit nicht über länger Zeit aufrecht erhalten Leichte Ablenkbarkeit Scheint nicht zuzuhören Dinge werden nicht beendet Abneigung gegen lang dauernde geistige Tätigkeiten Aufgaben können nur schwer organisiert werden Verliert wichtige Dinge Vergesslichkeit Symptome der „Hyperaktivität/Impulsivität“ bei Kindern Zappelt, springt häufig herum Steht da, wo Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf Läuft häufig herum oder klettert exzessiv Hat Schwierigkeiten, ruhig zu spielen Ist häufig auf Achse und handelt wie „getrieben“ Redet häufig übermäßig viel Impulsivität Platzt häufig mit Antworten heraus, bevor Frage zu Ende gestellt Kann schwer warten, bis an der Reihe Unterbricht oder stört andere Beispielsbereich 5: Störungen des Sozialverhaltens Beelmann & Raabe, 2007, 92. aus: Petermann et al. (1998) Foxcroft et al., 2012 Beispielsbereich 6: Suchtstörungen Frühintervention und selektive Prävention fehlen fast völlig (Masten et al., 2009, 11) Claudia Black, Sharon Wegscheider, Janet Woititz, ab ca. 1969 Typische Lebenserfahrungen von Kindern alkoholkranker Eltern (N= 115) • 1. Nicht zu Freunden gehen, um nicht in die Zwangslage zu geraten, diese zu sich nach Hause einladen zu müssen, wo die Eltern sich beschämend verhalten könnten. • 2. In der Schule mit den Gedanken zu Hause sein, was dort gerade Schlimmes passiert oder bald passieren wird. • 3. Andere Kinder beneiden oder eifersüchtig auf diese sein, wenn sie Spaß und Leichtigkeit mit ihren Eltern erleben. • 4. Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen. • 5. Sich von den Eltern vernachlässigt, bisweilen als ungewolltes Kind fühlen. Cork, M. (1969). The forgotten children. Typische Lebenserfahrungen von Kindern alkoholkranker Eltern (Cork, 1969) • 6. Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, insbesondere wenn die Mutter süchtig trinkt. • 7. Sich um Trennungsabsichten oder vollzogene Trennungen der Eltern unablässig Sorgen machen. • 8. Als Jugendlicher die Eltern nicht im Stich lassen wollen (z. B. nicht von zu Hause ausziehen können). • 9. Die Eltern für ihr Fehlverhalten entschuldigen. Lieber andere Menschen oder sich selbst beschuldigen. • 10. Vielfache Trennungen und Versöhnungen der Eltern erleben und sich nicht auf einen stabilen, dauerhaften Zustand verlassen können. • 11. Wenn der trinkende Elternteil schließlich mit dem Alkoholmissbrauch aufhört, weiterhin selbst Probleme haben oder solche suchen. Nina, 12 Jahre, beide Elternteile alkoholabhängig (Kinderseminare FK Thommener Höhe) Resilienzförderung im Anbetracht von Parentifizierung Hast Du manchmal Angst vor dem Vater? Elternteil mit Alkoholdiagnose ja nein 51 (40.5%) gesamt Vater 75 (59.5%) Stiefvater 8 4 (33.3%) (66.7%) 12 Kontrollgruppe 4 (6.6%) 61 57 (93.4%) N= 251;11- bis 16-Jährige aus nicht klinischer, repräsentativer Schülerstichprobe 126 Fremdplatzierungen Folgende Fremdplatzierungsquoten wurden für Kinder suchtkranker Eltern ermittelt: Kinder heroinabhängiger, nicht substituierter Eltern: 61.9% (Klein, 1999) Kinder drogenabhängiger, substituierter Eltern: 29.0% (Raschke, 2000) Kinder alkoholabhängiger Eltern: 13.3% (Klein, 2003) FAS-Kinder alkoholabhängiger Mütter: 78% (Löser, 1998) Kinder Crystal-Meth abhängiger Mütter: 49% (Klein et al., 2015) VI. Familiale und transgenerationale Abläufe sind entscheidend „Family matters, really …“ Bei Problemeltern, vernachlässigenden und misshandelnden Eltern noch mehr. Kinder und Jugendliche in Pflege, Adoption und Heimerziehung brauchen eine transgenerationale Perspektive. Familienzyklen Wiederholung von Mustern in vertikaler Richtung in Familien Wiederholung von Mustern in horizontaler Richtung in Familien Gültig sowohl für pathologische als auch für resiliente Merkmale Transmissionspfade von psychischen Störungen in Familien Früher Beginn der Störung, unter der auch das Elternteil leidet Andere Erkrankungen als das erkrankte Elternteil („Verlagerungen“, „Verschiebungen“ Psychische Störung eines Elternteils comorbid (gemischt) Entwicklung mehrerer schwerwiegender psychischer Störungen Unzufriedenes, unglückliches Leben unterhalb einer Krankheitsschwelle unverdorbenes, befriedigendes Leben Psycho-Logische Zusammenhänge (1) Kinder reagieren intensiv und nachhaltig auf ihre NahUmwelten ( Risiko und Chance) (2) Die Kraft und Macht des Modelllernens wird unterschätzt (3) Kinder zeigen (oft) das auf, was das familiale Kernproblem ist, dies gilt es zu dechiffrieren ( familiale Reflektoren) (4) Die Interaktion mit (verhaltensauffälligen) Kindern geschieht mit den (unsichtbaren) Interaktionspartnern aus Familie und Biographie (5) Um all dies positiv zu bewältigen, bedarf es Resilienzen, Kompetenzen, Emotionsregulation und Selbstwertstärkung. In einer psychisch belasteten Familie zu leben, bedeutet vor allem psychischen Stress: Alltags- und Dauerstress Formen des Familienstresses und der Stressverarbeitung (Schneewind, 1991, 2006): (1) Duldungsstress („Ich kann dem Druck und Stress nicht ausweichen, halte ihn aber nicht aus“) (2) Katastrophenstress („Ich weiß nie, was passieren wird. Das macht mir so viel Angst, dass ich andauernd daran denken muss“) (3) Bewältigungsstress („Auch wenn es schwer ist, ich werde es schaffen und überleben“) Risikoverstärker Lange und intensive Exposition des Kindes (Quantität, Qualität) Beide Elternteile betroffen > Mutter > Vater Einzelkind (?) Frühe > mittlere > späte Kindheit Alleinerziehendes Elternteil Hohe Zahl negativer Lebensereignisse im Krankheitsverlauf (Unfälle, Verletzungen, Suizidversuche, Inhaftierungen) Was beeinflusst das Transmissionsrisiko (erhöhend, abschwächend)? (1) (2) (3) (4) (5) (6) Dauer und Intensität der Exposition Schwere der elterlichen psychischen Störung und Komorbidität Genetisches Risiko (Vulnerabilität) Alter des Kindes Stressbewältigungskompetenzen/Resilienzen Kranke/gesunde Modellpersonen (vor allem Verwandte) im Umfeld (7) Intermittierende Lebensereignisse (8) Mangel an elterlicher Kompetenz (z.B. Einfühlsamkeit, Wärme, sichere Bindung) Plass & Wiegand-Grefe, 2012, 38 Hauptsymptome alkoholbelasteter Partnerschaften und Familien: Stress und Volatilität Im Einzelnen: • Stabilität der Instabilität • Unberechenbares Verhalten des Suchtkranken wird durch übermäßige Verantwortungsübernahme der Partnerin kompensiert. In der Summe herrscht meist lange Homöostase • Kontrollzwang, Kontrolleskalation, Kontrollverlust • Übermäßige Frequenz emotionaler, physischer und sexueller Gewalt • Chronisch belastete Atmosphäre („schleichendes Gift“) • Verlusterlebnisse, Diskontinuitäten, Brüche Rollenfixierungen in suchtbelasteten Familien Wegscheider (1988) Black (1988) Ackerman (1987) Lambrou (1990) Jakob (1991) Held Verantwortungs bewusstes Kind Macher Macher Elternkind Partnerersatz Vorzeigekind Sündenbock Ausagierendes Kind Sündenbock Sündenbock Schwarzes Schaf Verlorenes Kind Fügsames Kind Schweiger Unsichtbares Kind Clown Friedensstifter Maskottchen Maskottchen Chamäleon Chamäleon Der Übererwachsene/ Distanzierte/ Unverletzte Nesthäkchen Das kranke Kind (Klein, 2003) VII. Und wo geht es hin? Ziele sind: (1) transgenerationale Perspektive und Prävention (2) Transmissionsprävention und Resilienzförderung (3) Bildung und Gesundheit: Eine Synthese (4) Generationengerechtigkeit Transmissionsprävention (1) Resilienzförderung (Individuum und Familie) (2) Frühintervention (in Bezug auf elterliche psychische Störung) (3) Frühintervention (in Bezug auf kindliche Entwicklungsrisiken) (4) Kognitive Modifikation (dysfunktionaler Grundannahmen und Überzeugungen) (5) Genetische Psychoedukation („you have to know your risk“) (6) Risikoreduktion („Don´t drink and educate“; Abbau (para-)suizidaler Äußerungen vor Kindern und Jugendlichen) (7) Mädchen- und jungenspezifische Präventionsmodule (8) Mit den betroffenen Kindern so interagieren, dass die Erfahrungen aus den Herkunftsfamilien „geheilt“ werden können (9) Generationensensibilität, Generationengerechtigkeit Nachhaltigkeit und Gesundheitsversorgung im Bereich Mental Health Psychische Störungen (insbes. Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen) benötigen eine umfassende, koordinierte Prävention und Behandlung zur Verhinderung von Chronifizierung und transgenerationaler Transmission. Es bedarf also einer nachhaltigen Strategie der Behandlung und gleichzeitig generationenübergreifenden Prävention. Die psychotherapeutische Behandlung der Eltern sollte eine Prävention oder Therapie der Kinder beinhalten. (Mental) Health in all Policies Konsequenzen Für psychisch belastete und suchtkranke Familien bieten sich folgende Interventionsmethoden im Sinne eines konzertierten, koordinierten Vorgehens an: (1) früh einsetzen (Frühintervention) (2) das vorhandene Risiko adäquat wahrnehmen und bearbeiten (selektive Prävention) (3) umfassend und dauerhaft sind (Case Management) (4) die ganze Familie einschließen (Familienberatung und/oder –therapie) (5) die Motivation zu guter Elternschaft und Suchtbewältigung verknüpfen (Motivational Interviewing) (6) die Resilienzen fördern bzw. entwickeln (Ressourcenorientierung) Das Inklusionsthema stellt sich für Kinder psychisch kranker Eltern auf mehrfache Weise…. 1. … durch ihren (häufigen) Ausschluss von gelingender Bildung und Sozialisation 2. … durch ihren (regelhaften) Ausschluss von der Behandlung der Eltern In der Summe also: Deutliche Teilhabedefizite. Obendrein fehlen (dringend benötigte) systematische Präventionsstrukturen ( selektive und indizierte Prävention) 3. … die Berücksichtigung und Verbesserung der familialen Herkunft in die Gesamtsituation als inklusive Strategie Trampolin: Modulinhalte 9. Positives Abschiednehmen 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 1) 8. Hilfe und Unterstützung einholen 7. Verhaltensstrategien in der Familie erlernen 6. Probleme lösen und Selbstwirksamkeit erhöhen 5. Mit schwierigen Emotionen umgehen 4. Wissen über Sucht und Süchtige vergrößern 3. Über Sucht in der Familie reden 2. Selbstwert/positives Selbstkonzept stärken 1. Vertrauensvolle Gruppenatmosphäre schaffen 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 2) Was es heißt, Familien psychisch gesund werden zu lassen … (1) Psychische Störungen in Familien weisen meist einen mehrgenerationalen Verlauf (Zyklus) auf. (2) Heranwachsende Kinder können Symptomträger der familialen Konflikte und Störungen werden. Dies ist Hinweis und Handlungsanlass zugleich. (3) Eine Genesung wird meist im Zeitraum einer Generation nicht (vollständig) erreicht. Daher bedarf es einer mehrgenerationalen Perspektive. „Lesen wird überschätzt“: Für die Praxis hilfreiche Bücher und Schriften Klein, M. (2005). Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien. Stand der Forschung, Situations- und Merkmalsanalyse, Konsequenzen. Regensburg: Roderer. Klein, M. Roderer. (Hrsg.) (2006). Kinder drogenabhängiger Mütter. Risiken, Fakten, Hilfen. Regensburg: Klein, M. (Hrsg.) (2008). Handbuch Kinder und Suchtgefahren. Stuttgart: Schattauer. Klein, M., Moesgen, D., Bröning, S. & Thomasius, R. (2013). TRAMPOLIN. Kinder aus suchtbelasteten Familien entdecken ihre Stärken. Ein Präventionsmanual. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2005). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe Lenz, A. (2007). Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern: Grundlagen, Diagnostik und therapeutische Maßnahmen. Göttingen: Hogrefe. Mattejat, F. & Lisofsky, B. (Hrsg.) (2008). Nicht von schlechten Eltern. Köln: Balance. Wiegand-Grefe, S., Mattejat, F. & Lenz, A. (Hrsg.) (2011). Kinder mit psychisch kranken Eltern. Klinik und Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zobel, M. (2006; 2. Aufl.) (Hrsg.). Wenn Eltern zu viel trinken. Risiken und Chancen für die Kinder. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Yves Hänggi / Kirsten Schweinberger / Meinrad Perrez Feinfühligkeitstraining für Eltern Kursmanual zum Freiburger Trainingsprogramm «Wie sagt mein Kind, was es braucht?» 2011. 151 S., 4 Abb., 4 Tab., Kt, mit DVD ISBN: 978-3-456-84924-9 EURO 29.95 / CHF 44.80 erschienen 22.02.2011 Grundlage zur Durchführung des Trainings für Eltern mit Kindern im ersten Lebensjahr Für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist die elterliche Sensitivität von zentraler Bedeutung. Das Freiburger Feinfühligkeitstraining stärkt die Kompetenz von Eltern, ihre Kinder feinfühlig zu betreuen. Das modular aufgebaute Training vermittelt den Eltern Wissen zur nonverbalen Sprache von Babys und zur kindlichen Entwicklung. Das Trainingsmanual beinhaltet die theoretischen Grundlagen und enthält Übungen für Eltern sowie Leitfäden zur konkreten Kursdurchführung. Insbesondere wird die Technik des Video-Feedbacks und der angeleiteten Zusammenarbeit vorgestellt. Relevante Internetadressen www.disup.de www.addiction.de www.kidkit.de www.nacoa.de www.encare.info bzw. www.encare.de bzw. www.encare.at www.nacoa.de/index.php/infos-fuer-profis/infos-fuer-lehrerinnen?start=3 Referent: Prof. Dr. Michael Klein Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) Wörthstraße 10 D-50668 Köln Email: [email protected]