PERSPEKTIVE A D H S Ausga b e 6 1 1/ 2 012 Am Runden Tisch Wie können schwerwiegende Folgen der ADHS frühzeitig erkannt und verhindert werden? Erfahrungsaustausch in München Aktueller Tipp Oft übersehen: ADHS und komorbide Ausscheidungsstörungen Das Thema Dem Leben eine Perspektive geben Über Risiken und Chancen bei ADHS Titelbild gemalt von Joanne, 10 Jahre, Rostock I N H A L T E D I T O R I A L Editorial...................................................................................... 3 Liebe Leserinnen und Leser, Aktuelles aus der internationalen ADHS-Welt...........................4 DSM-5: Wohin geht die Reise? Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Mannheim und Prof. Dr. Manfred Döpfner, Köln ADHS ist nicht per se ein Hemmnis für eine gute Lebensperspektive. Sicher kennen Sie aus der eigenen Praxis Fälle, in denen die Familie die Beeinträchtigungen mit entsprechender therapeutischer Unterstützung kompensieren und so den Weg für eine gute Zukunft der Kinder offenhalten kann. Auch unter den älteren Betroffenen gibt es Beispiele, in denen die Patienten gut zurechtkommen. Doch bei vielen Betroffenen kann die Erkrankung lebenslang zu Problemen führen. Aktuelles aus der Neurowissenschaft......................................... 6 Motivation, Substanzmissbrauch in der Pubertät und Hirnentwicklung Prof. Dr. Dieter Braus, Wiesbaden Wissenswert und kommentiert.................................................. 7 „Reset” der zirkadianen Uhr mit Atomoxetin? vorgestellt von Prof. Dr. Dr. Johannes Thome, Rostock Die aktuelle ADHS-Studie vorgestellt von Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Mannheim und Prof. Dr. Jan Buitelaar, Nijmegen (Niederlande) Dem Leben eine Perspektive geben Über Risiken und Chancen bei ADHS 10 Service...................................................................................... 23 2 Leserservice/Medizinische Information Lilly-Service-Center Telefon: (061 72) 273-22 22 Telefax: (0800) 545 59 96 E-Mail: [email protected] Redaktion Fuhrmann & Schütz Healthcare Public Relations GmbH & Co. KG 65189 Wiesbaden 16 Wie können schwerwiegende Folgen der ADHS frühzeitig erkannt und verhindert werden? Erfahrungsaustausch in München Veranstaltungen im Rückblick..................................................20 Verbesserung der Lebensaussichten bei ADHS: Was gilt es für Diagnostik und Therapie zu beachten? 9. ADHS-Gespräche in Frankfurt am Main „ADHS ist nicht gleich ADHS” Interview mit Russell A. Barkley, Ph.D. In eigener Sache....................................................................... 23 Lilly Letter ADHS: Praxiswissen – aktuell und kompakt V.i.S.d.P. Katja Preugschat, Lilly Deutschland GmbH Layout Mattner Concept & Design 60489 Frankfurt/Main In der Diskussion.......................................................................14 ADHS und Sucht – die Prävention sollte möglichst früh beginnen Veranstaltungskalender............................................................ 22 Die nächsten Termine … Ausblick … Herausgeber Lilly Deutschland GmbH Werner-Reimers-Straße 2-4 61352 Bad Homburg, www.lilly-pharma.de Druck PPPP Norbert Wege e.K. 35075 Gladenbach Das Thema............................................................................... 10 Dem Leben eine Perspektive geben Über Risiken und Chancen bei ADHS Stimmen aus der Region...........................................................16 Am Runden Tisch Wie können schwerwiegende Folgen der ADHS frühzeitig erkannt und verhindert werden? Erfahrungsaustausch in München Der individuelle Fall Schlaf, Lernen und ADHS Aktueller Tipp Oft übersehen: ADHS und komorbide Ausscheidungsstörungen Impressum 20 Verbesserung der Lebensaussichten bei ADHS: Was gilt es für Diagnostik und Therapie zu beachten? 9. ADHS-Gespräche in Frankfurt am Main Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Dr. Banaschewski (Mannheim) Prof. Dr. Dieter Braus (Wiesbaden) Prof. Dr. Jan Buitelaar (Nijmegen, Niederlande) Prof. Dr. Manfred Döpfner (Köln) Mitwirkende Experten dieser Ausgabe Russell A. Barkley, Ph.D. (Charleston SC, USA), Prof. Dr. Andrea Caby (Emden/Leer), Dr. Filip Caby (Papenburg-Aschendorf), Prof. Dr. Franz Joseph Freisleder (München), Prof. Dr. Alexander von Gontard (Homburg/Saar), Prof. Dr. Michael Huss (Mainz), Dr. Johanna Krause (Ottobrunn), Dr. Herbert Lenhart (Kirchheimbolanden), Dr. Dipl. Psych. Anton Lindermüller (München), Prof. Dr. Andrea Ludolph (Ulm), Dr. Adelina Mannhart (München), Prof. Dr. Martin Ohlmeier (Kassel), Prof. Dr. Aribert Rothenberger (Göttingen), Dr. Dieter Schlamp (München), Prof. Dr. Dr. Johannes Thome (Rostock), Dipl.-Med. Natascha Unfried (Chemnitz) Fotos (Seiten 12/13, v. l. n. r.) ©ispstock/Fotolia.com, ©WavebreakmediaMicro/Fotolia.com, ©Yuri Arcurs/Fotolia.com (2x), ©contrastwerkstatt/Fotolia.com Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Lilly Ihre Daten ausschließlich in dem Um­fang erhebt, verarbeitet und nutzt, wie es zur Erfüllung der Geschäftsbeziehung mit Ihnen erforderlich ist. Dabei beachtet Lilly stets die gesetzlichen Vorschriften zu Datenschutz und Vertraulichkeit. Für den Fall, dass Sie weitere Informationen zum Umgang von Lilly mit Ihren Daten erfahren und/oder zukünftig keine Werbung mehr erhalten möchten, bitten wir Sie, sich gerne an unsere Abteilung Ethik & Compliance zu wenden. Im Fokus der vorliegenden Ausgabe der „Perspektive ADHS” stehen daher die schwerwiegenden Risiken, die mit ADHS verbunden sein können. Anhand von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen aus der Praxis beleuchten wir die Hintergründe und Zusammenhänge und präsentieren Lösungsansätze, die dazu beitragen können, die Lebensaussichten der Betroffenen zu verbessern. Über die komplexen Wechselbeziehungen zwischen ADHS und Sucht diskutierten wir in Bad Homburg mit Dr. Herbert Lenhart, Ärztlicher Leiter der Fachklinik Michaelshof für suchtkranke junge Männer in Kirchheimbolanden, und Prof. Dr. Martin Ohlmeier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Kassel (auf den Seiten 14 und 15). Wie können schwerwiegende Folgen der ADHS frühzeitig erkannt und verhindert werden? Dieser Frage haben sich unter der Leitung von Prof. Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des Heckscher-Klinikums München, Experten aus dem kinder- und jugendpsychiatrischen sowie aus dem erwachsenenpsychiatrischen Bereich gemeinsam „Am Runden Tisch” in München gewidmet (auf den Seiten 16 und 17). Lesen Sie auf den Seiten 21 und 22 im Interview mit Russell A. Barkley, Ph.D., wie sich die Beeinträchtigungen durch ADHS im Laufe des Lebens verändern. Hinweisen möchten wir Sie zudem auf die aktuelle Ausschreibung für den Hermann-Emminghaus-Preis 2013 (auf der Seite 23). Wir hoffen, wir haben Sie neugierig gemacht und laden Sie nun zu einer spannenden und informativen Lektüre der sechsten Ausgabe der „Perspektive ADHS” ein. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen. Ihr Lilly-Redaktionsteam 3 A K T U E L L E S A U S D E R I N T E R N A T I O N A L E N A D H S - W E L T A K T U E L L E S A U S D E R I N T E R N A T I O N A L E N A D H S - W E L T DSM-5: Wohin geht die Reise? D SM-5 steht vor der Tür. Ende dieses Jahres werden die Arbeiten daran weitgehend abgeschlossen sein und im Frühjahr 2013 wird DSM-5 in den USA publiziert werden. Die deutsche Übersetzung wird vermutlich nicht allzu lange auf sich warten lassen. Der aktuelle Stand der Entwicklung kann im Internet unter www.dsm5.org eingesehen werden. Dort sind die Überarbeitungsvorschläge veröffentlicht. Gegenwärtig werden Feldstudien durchgeführt, bei denen die vorgeschlagenen Modifikationen in verschiedenen klinischen Stichproben überprüft werden. Es ist zu vermuten, dass in den nächsten Monaten nur noch minimale Veränderungen vorgenommen werden. Kriterien für die Symptomatik Die beiden klassischen Komponenten der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach DSM-IV – Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität – bleiben die zentralen Komponenten des klinischen Bildes und die Einzelkriterien werden im Wesentlichen beibehalten, allerdings sprachlich präzisiert und so überarbeitet, dass sie nun auch für die Beurteilung von Erwachsenen geeignet erscheinen. Klassifikation Da sich die bisherigen drei ADHSSubtypen (überwiegend unaufmerksamer, überwiegend hyperaktiv-impulsiver und kombinierter Subtyp) in Studien als sehr instabil erwiesen, wurde die Bezeichnung „Typus” aufgegeben und stattdessen auf das im aktuellen Querschnitt erkennbare Erscheinungsbild („presentation”) abgehoben. Damit soll einem möglichen entwicklungspsychopathologischen Wandel in den verschiedenen Lebensabschnitten besser Rechnung getragen werden. Die drei Präsentationen bleiben bestehen, wobei bei der Präsentation mit überwiegender Unaufmerksamkeit zusätzlich verlangt wird, dass auch mehr als drei Symptome von Hyperaktivität/Impulsivität vorliegen, jedoch nicht die Kriterien für Hyperaktivität/Impulsivität (d. h. mind. sechs Symptome) voll erfüllt werden müssen. Zusätzlich wird noch eine Präsentation mit nahezu ausschließlich Symptomen von Unaufmerksamkeit (sog. restriktive Form) definiert, bei der nicht mehr als zwei zusätzliche Symptome aus dem Bereich Hyperaktivität und Impulsivität vorhanden sein dürfen. Damit sollen ADHS-Verlaufsformen, die mit einer weitgehend isolierten Störung der Aufmerksamkeit einhergehen, besser von den anderen Formen abgegrenzt werden. Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim 4 Besondere Bedeutung für die ADHS-Diagnostik wird eine Veränderung der diagnostischen Schwellen erlangen, die allerdings noch nicht endgültig geklärt ist. Es ist weiterhin in der Diskussion, die Schwelle für Erwachsene, vielleicht auch für ältere Jugendliche, zu senken, d. h., dass weniger Kriterien erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu stellen. Es ist zu erwarten, dass die Schwelle für die Annahme einer Störung bezüglich dieser Symptomatik sinkt und einen Anstieg der Prävalenz zur Folge haben wird. Diese Entwicklung wird in noch verstärktem Maße für Personen erwartet, die älter als 16 Jahre sind. Nach dem aktuellen Vorschlag müssen für den Nachweis der Aufmerksamkeitsstörung bzw. für Hyperaktivität/Impulsivität bei Jugendlichen, die älter sind als 16 Jahre, und bei Erwachsenen vier von neun Kriterien vorhanden sein, was einer deutlichen Absenkung der diagnostischen Schwelle gleichkommt. Es muss erwartet werden, dass diese Veränderung die Prävalenzwerte für die ADHS im höheren Jugend- und im Erwachsenenalter nachhaltig erheblich beeinflussen wird. Beginn der Symptomatik Im Vordergrund der Veränderungen steht hier die Erhöhung des Kriteriums für den Beginn der Symptomatik von sieben auf zwölf Jahre. Damit ist wahrscheinlich eine Vereinfachung der Diagnostik im Jugend- und vor allem Erwachsenenalter verbunden, weil bei retrospektiver Analyse einer früheren ADHS-Psychopathologie nur ein begrenzter Personenkreis über ausreichende Erinnerungen an das siebte Lebensjahr verfügt. Hingegen sind Erinnerungen an die Situation mit zwölf Jahren bei der weit überwiegenden Zahl der Betroffenen vorhanden. Außerdem erhöht sich damit vermutlich die Prävalenz der ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter. Problematisch könnte sein, dass mit diesem Kriterium beispielsweise ein 13-Jähriger, der bis zum Alter von elf Jahren keine ADHS-Symptomatik gezeigt hat und ab dem Alter von zwölf Jahren ADHS-Symptome entwickelt, die Diagnose einer ADHS erhalten kann. Damit verabschiedet sich DSM-5 zumindest in Teilen von der Auffassung, dass es sich bei ADHS um eine „neurodevelopmental disorder” handelt, bei der Symptome bereits im Kindergartenalter auftreten. Zugegeben gibt es „Verdünnungsformen” von ADHS, die in der frühen Kindheit nicht so sehr auffallen und erst später mit steigenden Anforderungen an Aufmerksamkeit und Ausdauer deutlich werden. Diese würden dann mit den veränderten Kriterien erfasst werden. Komorbide Störungen Nach den DSM-IV-Regeln konnte bei Kindern mit einer autistischen Störung keine zusätzliche ADHS diagnostiziert werden. Diese Einschränkung soll in Zukunft wegfallen. Diese Veränderung ist zu begrüßen, weil damit Patienten mit einer autistischen Störung, die zusätzlich ADHS-Symptome aufweisen, differenziert werden können von Patienten ohne eine entsprechende ADHS-Symptomatik. Pervasivität Zusätzlich ist das Pervasivitätskriterium prägnanter gefasst worden, womit sichergestellt werden soll, dass die ADHS-Psychopathologie in mindestens zwei typischen Lebenssituationen nachgewiesen sein muss. Es wird zusätzlich gefordert, dass Informationen von Eltern und Lehrern erhoben bzw. bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen Beobachtungen von Angehörigen/Bezugspersonen einbezogen werden sollen, wenn immer möglich. Damit wird die Bedeutung mehrerer Informanten bei der Diagnose noch einmal deutlich betont. Fazit Einige Veränderungen, wie die Erweiterung der Symptomatik im Bereich Impulsivität, die Umformulierung der diagnostischen Kriterien für den Gebrauch bei Erwachsenen oder die Zulassung von Störungen aus dem autistischen Spektrum als komorbide Störung, gehen in die richtige Richtung und sind zu begrüßen. Gespannt wird man sein müssen, wie sich die Veränderungen im diagnostischen Algorithmus auswirken werden. Es steht zu erwarten, dass besonders bei Erwachsenen eine erhebliche Zunahme der Prävalenz eintreten wird. Sollte dies der Fall sein, muss mit einer kontroversen Diskussion gerechnet werden. Die Prüfung, ob die Absenkung der Symptomgrenzen mit dem Kriterium der Einschränkung von Alltagsfunktionen übereinstimmt, bleibt künftigen Analysen überlassen. Generell ist zu bemängeln, dass die Veränderungen weniger auf dem Boden systematischer empirischer Untersuchungen als auf der Grundlage von Expertenmeinungen generiert worden sind. Für Smartphone-Benutzer: Direktlink zu www.dsm5.org Prof. Dr. Manfred Döpfner, Leitender Diplompsychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln 5 A K T U E L L E S A U S D E R N E U R O W I S S E N S C H A F T W I S S E N S W E R T Motivation, Substanzmissbrauch in der Pubertät und Hirnentwicklung M enschliche Motivation steht mit drei wichtigen emotionalen Systemen in Verbindung, dem Angst- und Aggressionssystem, dem Belohnungssystem, das mit Lernen und zielgerichtetem Verhalten assoziiert ist, und dem Beziehungssystem, das mit dem Gefühl von Entspannung oder Verliebtheit zu tun hat. Auf der molekularen Ebene spielen dabei Dopamin und Oxytocin mit ihren mehr als 450 Millionen Jahre alten Rezeptorsystemen eine zentrale Rolle.1 Nur die dopaminerge Stimulation im Belohnungssystem dient als Mediator für appetitive Motivation; erhöhte Dopaminfreisetzung in der Insula – dem Interface zwischen Sensorik, Emotion und subjektivem Wohlbefinden – hingegen fördert eher Trägheit und steht mit Suchtverhalten in Verbindung.2 Schon diskrete Störungen in diesem alten System und in dessen genetischer Regulation haben erhebliche Auswirkungen auf unser subjektives Erleben wie auch unser Verhalten und tragen zur Pathophysiologie von Suchterkrankungen bei.3 Neurobiologisch spielen auf der Systemebene bei der Sucht das Belohnungssystem (mit ventralem tegmentalem Areal (VTA) und Nucleus accumbens) und seine frontostriatale Kontrolle4 die zentrale Rolle. Der präfrontale Kortex reguliert dabei die limbischen Strukturen und ist besonders verantwortlich für die exekutiven Prof. Dr. Dieter Braus, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Dr. Horst Schmidt Klinik (HSK) Wiesbaden 6 Funktionen wie Selbst-Kontrolle und bewusste Handlungsauswahl. Frühes Konsumverhalten – also bei unter 16-Jährigen – wird weniger stark von genetischen als von Umgebungsfaktoren beeinflusst.5 Dieser Befund enthält eine wichtige gesellschaftspolitische Botschaft: Die familiären, schulischen und sonstigen sozialen Umge- Wer viel mit Kindern lebt, wird finden, dass keine äußere Einwirkung auf sie ohne Gegenwirkung bleibt. Johann Wolfgang von Goethe bungsfaktoren von 9- bis 16-Jährigen sind durch die Umwelt in bestimmtem Rahmen auch positiv veränderbar. Die Pathophysiologie der Suchterkrankungen steht auch in enger Beziehung zur postnatalen Hirnentwicklung. Am vulnerabelsten in dieser Hinsicht ist wiederum das Gehirn im Alter zwischen neun und 16 Jahren, weil der dopaminerge Systemteil im präfrontalen Kortex mit seinen Verbindungen in diesem Zeitraum final neuronal optimiert wird und gleichzeitig pubertätsbedingt ohnehin stresssensibel ist.6 Im Gegensatz zu allen anderen NeurotransmitterSystemen (z. B. Serotonin oder Norepinephrin), die in diesem Alter schon auf neuronaler Ebene robust entwickelt sind, reift beim Menschen und bei Primaten der präfrontale dopaminerge Teil erst in der Pubertät endgültig. Diese Reifung ermöglicht auf der einen Seite die Optimierung des kognitiven Kontroll-Apparates. Andererseits gilt zweifellos: Je früher in dieser empfindlichen Entwicklungsphase „Kampftrinken” oder sonstiger Suchtmittelkonsum mit Manipulation des dopaminergen Systems stattfindet, desto fataler können die Folgen sein: z. B. alle Arten von Suchterkrankungen, ein amotivationales Syndrom sowie langfristig erhebliche kognitive Leistungseinbußen. Tierexperimentell sind diese dopaminergen Veränderungen am besten am Kokainmodell untersucht. Bei Affen beispielsweise, die sich aus einer Pumpe selbst mit Kokain versorgen konnten, zeigten PET-Untersuchungen eine schnelle und anhaltende Veränderung der Dopamin-(D2)-Rezeptoren unter Kokain.7 Die Selbstanwendung von Kokain führte schon innerhalb einer Woche nach weniger als zehn Applikationen zu einer adaptiven Verminderung der D2-Rezeptor-Verfügbarkeit um bis zu 20 Prozent. Bei kontinuierlicher Zufuhr des Suchtstoffes findet also im Dopaminsystem eine rasche und anhaltende Gegenregulation und Desensitivierung statt. Weiter zeigte sich8, dass Kokain auch einen starken Effekt auf die synaptische Plastizität hat. Wiederum genügt schon eine geringe Applikation in einer kritischen Phase der U N D K O M M E N T I E R T „Reset” der zirkadianen Uhr mit Atomoxetin? postnatalen Entwicklung, um eine grundlegende Veränderung der Neurotransmission an der Synapse und ihrem Rezeptorprofil zu induzieren. Synaptische Plastizität ist die Grundlage für Anpassung an die Umwelt und Lernvorgänge, gleichzeitig spielt synaptisches Pruning („Frühjahrsputz”) in der Pubertät eine zentrale Rolle bei der Optimierung der kortikalen Konnektivität und damit finalen Leistungsfähigkeit des Gehirns. Berücksichtigt man diese biologischen Befunde, so wird deutlich, dass wir als Gesellschaft in besonderer Weise herausgefordert sind, wenn es um die Begleitung unserer Kinder, insbesondere in der frühen und mittleren Pubertät geht, und dass eine unsachgemäße Manipulation im dopaminergen System – nicht nur durch Drogen, auch z. B. durch exzessiven Medienkonsum – langfristige, möglicherweise sogar irreversible Folgen auf neuronaler Ebene nach sich ziehen kann. Quellen: 1 O‘Connell LA, Hofmann HA. Evolution of a vertebrate social decisionmaking network. Science 2012; 336(6085):1154-1157. 2 Treadway MT et al. Dopaminergic mechanisms of individual differences in human effort-based decision-making. J Neurosci 2012; 32(18):6170-6176. 3 Robison AJ, Nestler EJ. Transcriptional and epigenetic mechanisms of addiction. Nat Rev Neurosci 2011; 12(11):623-637. 4 Ersche KD et al. Abnormal brain structure implicated in stimulant drug addiction. Science 2012; 335(6068):601-604. 5 Kendler KS et al. Genetic and environmental influences on alcohol, caffeine, cannabis, and nicotine use from early adolescence to middle adulthood. Arch Gen Psychiatry 2008; 65(6):674682. 6 Goldstein RZ, Volkow ND. Dysfunction of the prefrontal cortex in addiction: neuroimaging findings and clinical implications. Nat Rev Neurosci 2011; 12(11):652-669. 7 Nader MA et al. PET imaging of dopamine D2 receptors during chronic cocaine self-administration in monkeys. Nat Neurosci 2006; 9(8):1050-1056. 8 Bellone C, Lüscher C. Drug-evoked plasticity: do addictive drugs reopen a critical period of postnatal synaptic development? Front Mol Neurosci 2012; 5:75. T he noradrenaline reuptake inhibitor atomoxetine phase-shifts the circadian clock in mice O’Keeffe SM, Thome J, Coogan AN. Neuroscience 2012; 201:219-230. Abstract: Circadian rhythms are recurring cycles in physiology and behaviour that repeat with periods of near 24 h and are driven by an endogenous circadian timekeeping system with a master circadian pacemaker located in the suprachiasmatic nucleus (SCN). Atomoxetine is a specific noradrenaline reuptake inhibitor that is used in the clinical management of attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). In the current study we examined the effects of atomoxetine on circadian rhythms in mice. Atomoxetine (i.p.; 3 mg/kg) treatment of mice free-running in constant light (LL) at circadian time (CT) 6 induced large phase delays that were significantly different to saline controls. Treatment of animals with atomoxetine at CT13 or CT18 did not elicit any significant phase shifts. We also examined the effects of atomoxetine treatment of animals free-running in constant darkness (DD). Atomoxetine treatment at CT6 in these animals leads to more modest, but significant, phase advances, whereas treatment at CT18 did not elicit significant phase shifts. The effects of atomoxetine in LL were attenuated by pretreatment with the α-1 adrenoreceptor antagonist prazosin and were mimicked by another noradrenaline reuptake inhibitor, reboxetine. Further, atomoxetine treatment at CT6 induced a downregulation of c-Fos and CLOCK in the SCN, but did not alter the expression of PER2 and BMAL1. Atomoxetine during the night phase did not alter any of these factors. Atomoxetine treatment preceding a light pulse at CT15 enhanced the magnitude of the photic-phase shift, whereas it altered photic induction of the immediate early gene products c-Fos and ARC in the SCN. These data indicate that atomoxetine can reset the circadian clock and indicate that part of the therapeutic profile of atomoxetine may be through circadian rhythm modulation. Kommentar: Atomoxetin stellt neben der Therapie mit Stimulanzien eine psychopharmakologische Option in der ADHS-Behandlung dar. Es wirkt in erster Linie als Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Seit längerer Zeit ist jedoch bekannt, dass die therapeutischen Effekte (und auch unerwünschten Wirkungen) von Psychopharmaka insbesondere auf Verhaltensebene nicht alleine durch ihre Interaktion mit bestimmten Neurotransmittersystemen erklärt werden können. Darüber hinaus berichten ADHS-Patienten klinisch häufig von Schlafstörungen und einem gestörten Tagesrhythmus. In dieser Studie untersuchten wir deshalb tierexperimentell die Wirkung von Atomoxetin auf die zirkadiane Rhythmik (Aktivitätsmuster im Laufrad über 24 Stunden) und auf die Expression von sog. CLOCK-Genen im ZNS. Die CLOCK-Gene stellen sozusagen das „innere molekulare Uhrwerk” lebender Organismen einschließlich des Menschen dar und sind für die Aufrechterhaltung der zirkadianen Rhythmik verantwortlich. Um den Einfluss des wichtigsten äußeren Zeitgebers (Licht) zu eliminieren, wurden die Experimente unter dauerhafter Lichtexposition bzw. in Dunkelheit durchgeführt. Interessanterweise führte die Verabreichung von Atomoxetin zum zirkadianen Zeitpunkt CT6 zu einer signifikanten Phasenverschiebung im Sinne einer Verzögerung hinsichtlich des Aktivitätsmusters. Eine Behandlung zu den Zeitpunkten CT13 bzw. 7 W I S S E N S W E R T U N D K O M M E N T I E R T W I S S E N S W E R T U N D K O M M E N T I E R T Die aktuelle ADHS- Studie CT18 hatte hingegen keinen Effekt auf das zirkadiane Aktivitätsverhalten der Tiere. Bei den Dunkelexperimenten war der Effekt weniger stark und äußerte sich in einer leichten Phasenvorverschiebung. In Kontrollexperimenten wurde der Adrenalin-Rezeptorblocker Prazosin verabreicht, wodurch tatsächlich die Effekte des Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers aufgehoben werden konnten, da ja das durch diese Behandlung vermehrt im synaptischen Spalt befindliche Noradrenalin nicht mehr an seine durch Prazosin blockierten Rezeptoren binden konnte. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass die CT6-Atomoxetin-Behandlung die Expression von CLOCK und c-Fos, einem sog. immediate early gene (IEG), das eine rasche zelluläre Response auf äußere Stimuli ermöglicht, im Nucleus suprachiasmaticus (SCN), also dem „Zeitzentrum” des Gehirns, vermindert. Diese Veränderungen auf zellulärer und molekularbiologischer Ebene könnten den beobachteten Veränderungen auf Verhaltensebene zugrundeliegen. Die Expression anderer CLOCK-Gene blieb jedoch unbeeinflusst. Weiterhin konnten wir zeigen, dass die Verabreichung von Atomoxetin zum Zeitpunkt CT15 eine Licht-induzierte Phasenverschiebung des Aktivitätsverhaltens verstärkte und gleichzeitig auf molekularer Ebene die Expression der IEGs c-Fos und ARC erhöhte. Ähnliche Effekte konnten wir für den zweiten Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Reboxetin nachweisen, der in der Therapie von Depressionen eingesetzt wird. Mit dieser Untersuchung wird erstmalig die Möglichkeit beschrieben, dass durch noradrenerge Psychopharmaka zumindest tierexperimentell eine „Neueinstellung” zirkadianer Phasen im Sinne einer „Reset-Funktion” erreicht werden kann, allerdings nur dann, wenn das Präparat zu einem bestimmten Zeitpunkt verabreicht wird. Damit zeichnen sich sowohl neue Erklärungsmodelle für neuropsychiatrische Erkrankungen wie ADHS und Depression bzw. für bestimmte Teilsymptome dieser Störungen ab als auch potentielle neue Therapiestrategien. In einer klinischen Studie konnte unsere Arbeitsgruppe kürzlich nachweisen, dass bei ADHS-Patienten die zirkadiane Rhythmik sowohl auf Verhaltensebene (Aktimetrie) als auch endokrinologisch sowie auf der Ebene der Expression von CLOCK-Genen im Vergleich zu Kontrollpersonen ohne neuropsychiatrische Erkrankungen signifikant verändert ist.1 Interessanterweise verändern auch andere Psychopharmaka die CLOCK-Gen-Expression, wobei berücksichtigt werden muss, dass die molekularen Prozesse im SCN, dem „Master Pacemaker”, altersabhängig zu sein scheinen. Im Bezug auf die psychiatrisch-klinische Praxis muss aufgrund der hier vorgestellten Studie auch überlegt werden, ob dem genauen Zeitpunkt der Medikamentengabe nicht noch größere Bedeutung beigemessen werden sollte. Auch wenn diese interessanten Versuche und wichtigen Beobachtungen nicht zu einer kritiklosen und voreiligen Übertragung experimenteller Befunde auf die klinische Situation führen dürfen, ist die Vorstellung faszinierend, dass in Zukunft die Palette der klassischen Psychopharmaka um die Gruppe der „Chronotherapeutika” bereichert werden könnte. Quelle: 1 Baird AL et al. Adult attention-deficit hyperactivity disorder is associated with alterations in circadian rhythms at the behavioural, endocrine and molecular levels. Mol Psychiatry 2012; 17(10):988-995. N europsychological correlates of emotional lability in children with ADHD Tobias Banaschewski · Christine JennenSteinmetz · Daniel Brandeis · Jan K. Buitelaar · Jonna Kuntsi · Luise Poustka · Joseph A. Sergeant · Edmund J. SonugaBarke · Alexis C. Frazier-Wood · Björn Albrecht · Wai Chen · Henrik Uebel · Wolff Schlotz · Jaap J. van der Meere · Michael Gill · Iris Manor · Ana Miranda · Fernando Mulas · Robert D. Oades · Herbert Roeyers · Aribert Rothenberger · Hans-Christoph Steinhausen · Stephen V. Faraone · Philip Asherson · J Child Psychol Psychiatry 2012; doi:10.1111/ j.1469-7610.2012.02596.x [Epub ahead of print] Abstract: Background: Emotional lability (EL) is commonly seen in patients with attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). The reasons for this association remain currently unknown. To address this question, we examined the relationship between ADHD and EL symptoms, and performance on a range of neuropsychological tasks to clarify whether EL symptoms are predicted by particular cognitive and/or motivational dysfunctions and whether these associations are mediated by the presence of ADHD symptoms. Methods: A large multi-site sample of 424 carefully diagnosed ADHD cases and 564 unaffected siblings and controls aged 6–18 years per- Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim formed a broad neuropsychological test battery, including a Go/No-Go Task, a warned four-choice Reaction Time task, the Maudsley Index of Childhood Delay Aversion and Digit span backwards. Neuropsychological variables were aggregated as indices of processing speed, response variability, executive functions, choice impulsivity and the influence of energetic and/or motivational factors. EL and ADHD symptoms were regressed on each neuropsychological variable in separate analyses controlling for age, gender and IQ, and, in subsequent regression analyses, for ADHD and EL symptoms respectively. Results: Neuropsychological variables significantly predicted ADHD and EL symptoms with moderate-to-low regression coefficients. However, the association between neuropsychological parameters on EL disappeared entirely when the effect of ADHD symptoms was taken into account, revealing that the association between the neuropsychological performance measures and EL is completely mediated statistically by variations in ADHD symptoms. Conversely, neuropsychological effects on ADHD symptoms remained after EL symptom severity was taken into account. Conclusions: The neuropsychological parameters examined, herein, predict ADHD more strongly than EL. They cannot explain EL symptoms beyond what is already accounted for by ADHD symptom severity. The association between EL and ADHD cannot be explained by these cognitive or motivational deficits. Alternative mechanisms, including overlapping genetic influences (pleiotropic effects) and/or alternative neuropsychological processes need to be considered. Kommentar: Sowohl Kinder als auch Erwachsene mit ADHS leiden häufig unter emotionaler Labilität, Impulsivität oder Dysregulation in Form von Stimmungsschwankungen mit emotionaler Irritabilität, Dysphorie und Reizbarkeit.1,2,3 Diese Symptome sind klinisch sehr bedeutsam, da sie nicht nur mit einer stärkeren Ausprägung der ADHS-Kernsymptomatik und komorbider Störungen wie oppositioneller Verhaltensstörungen, depressiver Episoden und Angststörungen einhergehen, sondern auch mit einem stärkeren Ausmaß psychosozialer Beeinträchtigungen und ungünstigeren Langzeitverläufen verbunden sind. Die Ursachen für den Zusammenhang zwischen ADHS und emotionaler Labilität, die allerdings kein bloßes Epiphänomen der Schwere der Kernsymptomatik oder komorbider Störungen darstellt, sind noch nicht bekannt. Die hier vorgestellte Studie untersucht daher an einer großen multizentrischen Stichprobe sorgfältig diagnostizierter Kinder mit ADHS, ihrer Geschwister und gesunder Kon- trollkinder mit einer umfangreichen neuropsychologischen Testbatterie die Frage, ob sich das Auftreten emotionaler Labilität bei Kindern mit ADHS durch die kognitiven oder motivationalen Auffälligkeiten, die häufig mit ADHS assoziiert sind, erklären lässt. Die Ergebnisse zeigen, dass die neuropsychologischen Auffälligkeiten zwar zu einem gewissen Grad das Ausmaß emotionaler Labilität vorhersagen, aber sich dieser Zusammenhang vollständig durch die Schwere der ADHS-Kernsymptomatik erklären lässt. Die Befunde zeigen, dass die untersuchten kognitiven und emotionalen Auffälligkeiten darüber hinaus keinen zusätzlichen Erklärungsbeitrag für das Auftreten emotionaler Labilität bei ADHS geben. Die Resultate stehen in Einklang mit ähnlichen Befunden bei erwachsenen Patienten mit ADHS. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu beachten, dass es sich nicht um eine Längsschnittstudie handelt und daher kausale Schlussfolgerungen über ätiologische Mechanismen nicht direkt abgeleitet werden können. Quellen: 1 Barkley RA, Fischer M. The unique contribution of emotional impulsiveness to impairment in major life activities in hyperactive children as adults. J Am Acad of Child Adolesc Psychiatry 2010; 49(5):503-513. 2 Skirrow C et al. Behavioral, neurocognitive and treatment overlap between attention-deficit/hyperactivity disorder and mood instability. Expert Rev Neurother 2009; 9(4):489-503. 3 Sobanski E et al. Emotional lability in children and adolescents with attention deficit/ hyperactivity disorder (ADHD): clinical correlates and familial prevalence. J Child Psychol Psychiatry 2010; 51(8):915-923. Prof. Dr. Jan Buitelaar, Leiter der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie der Radboud University Nijmegen Medical Center (Niederlande) Prof. Dr. Dr. Johannes Thome, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock 8 9 D A S T H E M A D A S T H E M A Dem Leben eine Perspektive geben Über Risiken und Chancen bei ADHS Tabelle 1: Zufriedenheit mit Schlüsselfaktoren für ein „gutes” Leben bei Erwachsenen mit ADHS „Vollkommen zufrieden” in Pr ozent Familienleben Beziehungen zu Partnern/ nahestehenden Personen Sozialleben Grad der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben Gesundheit und Fitness Arbeitsleben und berufliche Laufbahn Erfolge im Leben Modifiziert nach 2 Befragte mit selbstberichteter ADHS-Diagnose (n = 500) Kontrollgruppe (n = 501) 47 68* 47 58* 38 58* 25 27 23 39* 22 40* 26 39** * p ≤ 0,001 ** p ≤ 0,05 Schlechtere Berufsperspektive und mehr Probleme am Arbeitsplatz ADHS kann sich zum einen negativ auf die berufliche Perspektive auswirken. Probleme in der Schulzeit führen dazu, dass die Chancen, einen Abschluss zu erreichen, bei den Betroffenen um ein Vielfaches vermindert sind.3 Für den elfjährigen Jochen* standen die Aussichten auf die Erfüllung seines Traums – ein Informatikstudium – auch dementsprechend schlecht, als er im Jahr 2001 erstmalig kinder- und jugendpsy10 chiatrisch vorgestellt und die Diagnose ADHS gestellt wurde. „Zu diesem Zeitpunkt besuchte Jochen die fünfte Klasse einer Hauptschule. Er kam dort ganz gut zurecht, aber bei seinem damaligen Leistungsstand hätte er das Abitur und ein späteres Studium nicht geschafft”, berichtet Dr. Filip Caby, Ärztlicher Direktor und Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Marienkrankenhauses PapenburgAschendorf. Auch wenn den ADHS-Betroffenen der Einstieg ins Berufsleben gelingt, sind sie häufiger mit Problemen am Arbeitsplatz konfrontiert. Sie sind deutlich öfter von Kündigungen betroffen, haben häufiger Schwierigkeiten im Umgang mit Kollegen und wechseln häufiger den Arbeitsplatz.4 Insgesamt konnte bei ADHS-Betroffenen eine höhere Arbeitslosigkeit gezeigt werden.5 Unabhängig von Alter, Beruf, Geschlecht und Familienstand zeigten sie zudem mehr krankheitsbedingte Fehltage.6 Dies kann dadurch erklärt werden, dass ADHS mit zunehmendem Alter auch mit einer erhöhten Prävalenz von komorbiden psychiatrischen Störungen, wie insbesondere Depressionen und Angststörungen, assoziiert ist.7 Höhere Risikobereitschaft im Straßenverkehr und in Beziehungen Im Straßenverkehr führen die Hyperaktivität und die Impulsivität zu einem risikoreicheren Fahrverhalten. So konnte gezeigt werden, dass die Betroffenen häufiger in Unfälle verwickelt sind, häufiger Verletzungen erleiden und häufiger Strafzettel erhalten als andere Verkehrsteilnehmer.8,9 Die größere Risikobereitschaft kann sich bei den Betroffenen auch auf den Bereich sexueller Kontakte auswirken. So konnten ein früherer Beginn sexueller Aktivität, kürzere Partnerschaften, eine doppelt so hohe Anzahl von Sexualpartnern und eine höhere Rate früher Schwangerschaften beobachtet werden.3,10 Zudem traten sexuell übertragbare Krankheiten bei ADHS-Betroffenen viermal häufiger auf als in der Kontrollgruppe (17 versus 4 Prozent).10 Erwachsene mit ADHS zeigten darüber hinaus eine höhere Scheidungs- und Trennungsrate.2,4 Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Straftaten bei ADHS-Betroffenen in den meisten Fällen im Zusammenhang mit dem Besitz, Konsum oder Verkauf von illegalen Drogen stehen.14 tuelles Fortbestehen der Erkrankung gefunden wurde. Bemerkenswert war außerdem, dass sich übereinstimmend mit früheren Untersuchungen in beiden Gruppen nachweisen ließ, dass bei einer Komorbidität mit ADHS der Substanzmittelgebrauch deutlich früher begann. Eine Begründung für das erhöhte Vorkommen von Suchterkrankungen bei ADHS könnte in der mit der erhöhten Hyperaktivität und Impulsivität verbundenen erhöhten Experimentier- und Risikofreudigkeit der Betroffenen liegen.16 Bei Patienten mit ADHS besteht eine hohe Komorbidität mit Suchterkrankungen.15 Die Untersuchung bei 152 erwachsenen Patienten in einer Suchtstation16 belegte in der Gruppe der Alkoholabhängigen – ermittelt Mit Blick auf die Art des Substanzmittelabusus zeigte die Untersuchung, dass ADHS-Betroffene deutlich mehr Heroin (84,8 versus 67,9 Prozent) und Cannabis (97,0 versus 85,7 Prozent) konsumierten als Patienten ohne ADHS. Dies könnte im Sinne einer „Selbstmedikation” zu werten sein. So berichten die betroffenen Patienten insbesondere bei Cannabis- und Heroinkonsum häufig von einer Besserung der ADHS-Symptome.16 Abbildung 1: Auswirkungen von ADHS auf die berufliche Perspektive Abbildung 2: Prävalenz von ADHS bei Patienten mit Suchterkrankungen 40 mit Persistenz der ADHS ohne Persistenz der ADHS Kontrollgruppe 35 30 25 20 15 10 5 Patienten mit Alkoholsucht und ADHS (n = 91) Patienten mit Drogensucht und ADHS (n = 61) 60 ** 65,5 * 54,1 40 ** * 20 23,1 33,3 0 0 Schwierigkeiten im Umgang mit Kollegen 80 Anteil derPatienten (in Prozent) E in Beruf, der Spaß macht und ein angemessenes Einkommen sichert, ein fester Lebenspartner, gemeinsame Kinder, intakte Familienverhältnisse, ein stabiler Freundeskreis, Gesundheit – das alles sind Aspekte, die für die Lebensqualität eine zentrale Rolle spielen1 und die ein „gutes” Leben ausmachen. Doch bei Betroffenen mit ADHS können die mit der Erkrankung verbundenen Beeinträchtigungen zu schwerwiegenden Problemen führen und damit die Lebensperspektive maßgeblich verschlechtern. Eine Studie ergab, dass Erwachsene mit ADHS mit ihrem beruflichen und sozialen Leben und ihren familiären Beziehungen signifikant weniger zufrieden waren als Erwachsene ohne ADHS.2 Häufig assoziiert: ADHS, Kriminalität und Sucht Eine weitere schwerwiegende Auswirkung von ADHS ist ein erhöhtes Risiko für Kriminalität. So konnte bei Gefängnisinsassen eine ADHS-Prävalenz von 45 Prozent gezeigt werden.11 Die erhöhte Straffälligkeit kann dabei zum einen auf die mit der ADHS einhergehende Störung der exekutiven Funktionen wie der Selbstkontrolle, der Affektregulation und der Frustrationstoleranz zurückgeführt werden.12 So kann eine erhöhte Aggressivität insbesondere reaktive Gewaltdelikte zur Folge haben.13 Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, in denen das Problem auftrat (in Prozent) ADHS kann schwerwiegende und langfristige Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben. Die Verbesserung der Lebensaussichten stellt deshalb einen zentralen Punkt bei der ADHS-Therapie dar. Wird die Erkrankung frühzeitig diagnostiziert und adäquat behandelt, können Risiken reduziert oder sogar ganz verhindert werden. Die Betroffenen selbst können zur Verbesserung ihrer Lebensperspektive beitragen, indem sie ihre besonderen Ressourcen positiv nutzen und Therapieentscheidungen mittragen. Verhaltensprobleme Kündigung eigene Kündi- eigene Kündidurch Arbeitgung wegen gung wegen geber Feindseligkeiten Langeweile Abmahnung durch Vorgesetzten ADHS in der Kindheit (DSM-IV) ADHS aktuell (CAARS = Conners Adult ADHD Rating Scales) Art des Problems Modifiziert nach 4 Milwaukee-Studie; Alter 27 Jahre anhand der DSM-IV-Diagnosekriterien – bei 23,1 Prozent der Patienten das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit, bei ca. einem Drittel der alkoholabhängigen Patienten (33,3 Prozent) konnte ein Persistieren der Symptome ins Erwachsenenalter mittels Conners Adult ADHD Rating Scales (CAARS, Long Version) festgestellt werden. In der Gruppe der Patienten mit multipler Substanzabhängigkeit sprachen die Ergebnisse der DSM-IV-Checkliste in 54,1 Prozent der Fälle für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit, wobei bei 65,5 Prozent der Patienten nach CAARS ein ak- Modifiziert nach 16 * p < 0,001 ** p < 0,08 Bei Patienten mit bestehender Suchterkrankung kann die medikamentöse Behandlung von ADHS erschwert sein. So bergen Stimulanzien wie Methylphenidat selbst ein Missbrauchspotenzial und können nur unter den Auflagen des Betäubungsmittelgesetzes verschrieben werden. Um das Missbrauchsrisiko zu senken, wird die Anwendung von Nicht-Stimulanzien als eine geeignete Alternative empfohlen.17 Adäquate Therapie kann Lebensperspektive verbessern ADHS kann sich demnach auf alle Lebensbereiche aus11 D A S T H E M A wirken und zu gravierenden Folgen führen – teilweise sogar unabhängig davon, ob die Symptomatik bis ins Erwachsenenalter persistiert. Ein ganz zentraler Punkt in der ADHS-Therapie ist daher, die Lebensaussichten der Betroffenen mit ADHS zu verbessern. Dabei kann eine möglichst frühzeitige Diagnose und Therapie der ADHS entscheidend sein, um die Entwicklung von schwerwiegenden Folgen nach Möglichkeit ganz zu verhindern. So konnte beispielsweise in einer Langzeitstudie gezeigt werden, dass die medikamentöse Behandlung von Kindern mit ADHS mit Methylphenidat die Gefahr der späteren Entwicklung einer Suchterkrankung signifikant reduzierte.18 „Bei Jochen haben wir zunächst erst einmal versucht, seine Beeinträchtigungen psychotherapeutisch aufzufangen. Aufgrund einer sehr schwierigen Familienkon- stellation hielt der Erfolg sich sehr in Grenzen, so dass wir nach einiger Zeit den Eltern bzw. der Mutter vorgeschlagen haben, ihn medikamentös zu unterstützen”, erläutert F. Caby. D A S troffenen werden die Eltern häufig quasi zum Coach der Kinder, was in vielerlei Hinsicht auch eine wichtige Entwicklungsbegleitung darstellt. In der Pubertät kann dies aber gerade mit Hinblick auf die Medikamenteneinnahme einen gegenläufigen Effekt haben: Die Jugendlichen versuchen, auf dieser Ebene Macht auszuüben und ihre eigene Meinung deutlich zu machen, indem sie ‚Nein’ sagen.” So auch im Fall von Jochen: „Der nunmehr 13-Jährige lehnte es zunehmend ab, überhaupt Medikamente zu nehmen, aber weil die Betreuung in einer Tagesklinik für die Familie nicht in Frage kam, hat er sich doch wieder auf eine Behandlung mit Methylphenidat eingelassen. Diese brachte zwar eine Verbesserung in der Schule mit sich, die Gesamtsituation in der Familie verbesserte sich aber nicht, so dass wir verschiedene familientherapeutische Maßnahmen durchführten. Als Jochen 15 war, konnten wir mit Atomoxetin eine neue Therapieoption einsetzen. Mit dieser medikamentösen Unterstützung hat er einen qualifizierten Schulabschluss geschafft. Im Verlauf der Therapie entwiAutonomiestreben als Hindernis für Adhärenz ckelte er aber auch eine neue, umfassendere Sicht auf Entscheidend für den Erfolg einer medikamentösen seine Lebenssituation, was ihn zu der SchlussfolgeTherapie ist nicht zuletzt die regelmäßige Einnahme rung führte, dass nicht die ADHS, sondern sein familider Medikamente. Im Praxisalltag erweist sich jedoch, äres Umfeld Ursache seiner Probleme sei. Er hat desdass Patienten mit ADHS eine relativ schlechte Adhähalb die Behandlung einschließlich der Medikation von renz zeigen. So ergab eine retrospektive Analyse von einem Tag auf den anderen komplett abgebrochen und Verordnungsdaten bei Kindern, Jugendlichen und Erwir haben ihn erstmal nicht mehr in der Klinik gesehen. wachsenen mit ADHS aus den USA, dass die TheraAber nach einiger Zeit ist der nun 17-Jährige von sich pietreue bereits nach 30 Tagen bei der Mehrzahl der aus, losgelöst von den Eltern, wiedergekommen, als er Patienten deutlich abfiel.19 Problematisch ist mit Hinvor dem Abitur stand – er war mittlerweile aufs Fachblick auf die Therapietreue insbesondere der Übergymnasium gewechselt. Er hatte sich daran erinnert, gang vom Kindes- zum Jugendlichenalter. Gerade in dass er in sich besser organisiert war, als er die Medieiner Lebensphase, in der die Weichen für das spätere kation genommen hatte und gehofft, dass er dadurch Leben gestellt werden und in der die Gefahr für „Abdie Aufgaben, die vor ihm lagen, um einen guten Abwege” wie Drogenkonsum oder Delinquenz besonschluss zu bekommen und später zu studieren, besser ders groß ist, setzen viele Patienten die Medikation ab. hinkriegen würde. Der junge Mann hat dann ein EinHäufig geschieht dies aus Protest, aus dem Willen zur ser-Abi geschrieben. Mittlerweile hat er sich vom ElAbgrenzung heraus, erläutert Prof. Dr. Andrea Caby, ternhaus ganz losgelöst und lebt mit seiner Freundin Hochschule Emden/Leer: „In Familien mit ADHS-Bezusammen. Er hat sich zu einer ganz besonderen Per12 T H E M A sönlichkeit entwickelt, mit einem sehr klaren Blick für die Betroffene verfügen sogar über besondere Ressoureigenen Fähigkeiten und einer ganz klaren Vorstellung cen, die mit der ADHS verbunden sind. So ergab eine davon, wie er seine Defizite ausgleichen kann. Er nimmt Untersuchung, dass Erwachsene mit ADHS größeweiterhin Atomoxetin und ruft mich zwischendurch re kreative Leistungen erreichen als Erwachsene ohne manchmal an, um zu sagen, dass es gut läuft”, so F. Caby. ADHS.20 Dieses erhöhte Kreativitätspotential kann beispielsweise in bestimmten beruflichen Bereichen Eigenverantwortlichkeit ist der maßgeblich zum Gelingen von Projekten beitragen.21 entscheidende Faktor „Es gibt Patienten, die im Erwachsenenalter sehr geDas Beispiel macht deutlich, wie wichtig es gerade für schickt mit ihrer ADHS-Problematik umgehen können, die Prognose bei älteren Patienten sein kann, dass sie sehr kreativ und dann ganz erfolgreich sind”, so die eine eigene Motivation zur Behandlung entwickeln und Erfahrung von F. Caby. die Therapie, wenn erforderlich, fortsetzen. „Bei jüngeren Patienten wird sehr viel über ihre Köpfe hin„Leidensdruck entsteht bei Erwachsenen mit ADHS weg erläutert und entschieden. Wenn man sie auf der aber häufig dennoch dadurch, dass das Umfeld mit Ebene der Psychoedukation noch stärker einbindet, den Auswirkungen der Erkrankung nicht zurechtso dass sie auch mehr verstehen, warum ein Medikakommt. Die Betroffenen selbst empfinden es als norment gegebenenfalls sinnvoll ist, können sie auch anmal, alle zwei Jahre den Beruf zu wechseln, aber für ders und selbstverantwortlich damit umgehen. Ziel ist es ja, sie dahingehend zu stärken, dass sie später diese Entscheidungen auch mittragen können. Das wäre das Wunschziel schlechthin bei allen Patienten, dass sie selbst diese Erkenntnis gewinnen. Ich glaube, das Thema Eigenverantwortlichkeit ist der entscheidende Faktor”, ist A. Caby überzeugt. diejenigen, die mit ihnen zusammenleben, ist das nicht so leicht auszuhalten. Die Frage für die Betroffenen lautet dann: Wie bekomme ich mein Leben geregelt, so dass andere auch damit leben können?22 Das ist eine Frage, die über die eigentliche Kernsymptomatik hinausgeht und häufig eine Behandlung erfordert, die den ganzen Tag abdeckt”, erläutert F. Caby. ADHS kein Hemmnis per se für ein „gutes” Leben Trotz der lebenslangen Auswirkungen, die eine ADHS haben kann, muss die Erkrankung per se kein Hemmnis für eine positive Lebensentwicklung sein. Viele Der heute 22-jährige Jochen hat seinem Leben mit der Entscheidung für eine Weiterbehandlung eine echte Perspektive gegeben: Er hat sich seinen Kindheitstraum erfüllt und studiert Informatik. *Name von der Redaktion geändert. Quellen: 1 Ebbinghaus B et al. Report Lebensqualität 2006. Im Auftrag des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller. Mannheim 2007. 2 Biederman J et al. Functional impairments in adults with self-reports of diagnosed ADHD: A controlled study of 1001 adults in the community. J Clin Psychiatry 2006; 67(4):524-540. 3 Barkley RA et al. Major life activity and health outcomes associated with attention-deficit/hyperactivity disorder. J Clin Psychiatry 2002; 63 Suppl. 12:10-15. 4 Barkley RA et al. ADHD in Adults: What the Science Says. New York: Guilford Press 2008. 5 Sobanski E et al. Subtype differences in adults with attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) with regard to ADHDsymptoms, psychiatric comorbidity and psychosocial adjustment. Eur Psychiatry 2008; 23(2):142-149. 6 de Graaf R et al. The prevalence and effects of adult attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) on the performance of workers: results from the WHO World Mental Health Survey Initiative. Occup Environ Med 2008; 65(12):835-842. 7 Kates N. Attention deficit disorder in adults. Management in primary care. Can Fam Physician 2005; 51:53-59. 8 Thompson AL et al. Risky driving in adolescents and young adults with childhood ADHD. 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Young adult follow-up of hyperactive children: antisocial activities and drug use. J Child Psychol Psychiatry 2004; 45(2):195-211. 15 Wilens TE. Attention-deficit/hyperactivity disorder and the substance use disorders: the nature of the relationship, subtypes at risk, and treatment issues. Psychiatr Clin North Am 2004; 27(2):283-301. 16 Ohlmeier MD. Comorbidity of alcohol and substance dependence with attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). Alcohol & Alcoholism 2008;43(3):300-304. 17 Upadhyaya HP. Managing attentiondeficit/hyperactivity disorder in the presence of substance use disorder. J Clin Psychiatry 2007; 68 Suppl 11:23-30. 18 Biederman J et al. Pharmacotherapy of attention-deficit/hyperactivity disorder reduces risk for substance use disorder. Pediatrics 1999; 104:e20. 19 Perwien A et al. Stimulant treatment patterns and compliance in children and adults with newly treated attention-deficit/hyperactivity disorder. J Manag Care Pharm 2004;10(2):122-129. 20 White HA, Shah P. Creative style and achievement in adults with attention-deficit/hyperactivity disorder. Pers Individ Dif 2011; 50:673–677. 21 Ohlmeier MD. Kreativität bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. In: Ohlmeier MD, Roy M (Hg.). ADHS bei Erwachsenen – ein Leben in Extremen. Ein Praxisbuch für Therapeuten und Betroffene. Stuttgart: Kohlhammer 2012:124. 22 Caby F, Caby A. Die kleine Psychotherapeutische Schatzkiste. Tipps und Tricks für kleine und große Probleme vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter. Verlag Modernes Lernen 2009. 13 I N D E R D I S K U S S I O N I N ADHS und Sucht – die Prävention sollte möglichst früh beginnen Dass ADHS ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung ist, konnte in verschiedenen Studien belegt werden. Über die komplexen Zusammenhänge zwischen den beiden Störungen, die Herausforderungen für die Therapie und die Möglichkeiten zur Prävention hat „Perspektive ADHS” mit den Experten Dr. Herbert Lenhart, Ärztlicher Leiter der Fachklinik Michaelshof für suchtkranke junge Männer in Kirchheimbolanden, und Prof. Dr. Martin Ohlmeier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Kassel, gesprochen. Prof. Dr. Martin Ohlmeier (Kassel) ? Wie häufig tritt die Koinzidenz einer Suchterkrankung bei Patienten mit ADHS auf? Lenhart: Unter ADHS-Erkrankten liegt die Koinzidenz Sucht und ADHS, ab dem 14. Lebensjahr, denke ich, bei 30 Prozent. Dr. Herbert Lenhart (Kirchheimbolanden) manden, der in einem hyperaktiven Alltag steckt und einfach abends irgendwie runterkommen will, Alkohol natürlich genauso. Ohlmeier: Viele Patienten berichten ja im Rahmen der ADHS auch über Schlafstörungen, die durch Cannabis gebessert werden, so dass der Cannabiskonsum also gewissermaßen im Sinne einer „Selbsttherapie” zu verstehen ist. Viele ADHS-betroffene Patienten haben auch Erfahrung mit Amphetaminen und Kokain – gerade Kokain wird aber häufig nicht auf Dauer konsumiert, da aufgrund der oft „paradoxen” Wirkung des Kokains, welches die ADHS-Betroffenen eher ruhiger macht, der eigentliche „Kick” fehlt und somit der Anreiz, die Droge weiter zu konsumieren. ? Und wie hoch ist umgekehrt der Anteil der Patienten unter den Suchterkrankten, die zusätzlich eine ADHS haben? Ohlmeier: In der Suchtmedizin besteht ein sehr großer Bedarf, diagnostisch genau hinzuschauen. Wir haben an der Medizinischen Hochschule Hannover eine umfangreiche epidemiologische Studie durchgeführt und festgestellt, dass sehr viele der abhängigkeitserkrankten Patienten eine ADHS aufweisen, ohne dass ? Welche neurobiologischen Ursachen für die Verbinhier allerdings bisher eine entsprechende Diagnose gestellt oder gar eine geeignete Behandlung durchgedung von ADHS und Suchterkrankungen gibt es? führt wurde. Lenhart: Drogen haben die Fähigkeit, das Belohnungssystem zu reizen. Das bindet die Betroffenen sehr lan? Gibt es Suchtmittel, die von Patienten mit ADHS bege an diesen Weg, sich zu helfen. sonders häufig konsumiert werden? Ohlmeier: Und genau das ist ja auch die pathophysioLenhart: Sie konsumieren vor allem Cannabis und Allogische Grundlage der ADHS, deren Symptomkomkohol, um einfach Ruhe in ihren Körper zu bringen. Die plex – zumindest neurobiologisch betrachtet – im meisten meiner Patienten sind ja im Einstieg ins BeGrunde genommen die Folge eines dopaminergen Derufsleben. Cannabis ist hervorragend geeignet für jefizits ist, welches unter anderem auch dazu führt, dass 14 das Belohnungssystem weniger bedient wird. Mit dem Konsum von Drogen kommt es somit zu einem Doppeleffekt: Einerseits wird das postsynaptische dopaminerge Defizit ausgeglichen, welches zur Reduktion der ADHS-spezifischen Symptome führt, und andererseits kommt es zu einer Triggerung des dopaminergen Systems im Nucleus accumbens. D E R D I S K U S S I O N für bereits entgiftete Patienten deutlich steigt, wieder rückfällig zu werden. Lenhart: Es gibt keinen Goldstandard und ich denke, man muss es wirklich sehr individualisiert machen. Bei den Amphetaminabhängigen bin ich mit Methylphenidat sehr vorsichtig, ich würde primär Atomoxetin geben, um sie nicht in Versuchung zu führen. Das Problem bei älteren Patienten ist, dass Sie die Therapie nicht am Schulalltag orientieren können, um zu sagen, ich gebe morgens und mittags ein Medikament und nachmittags um vier. Das muss auch abends um 22.00 Uhr wirken. Gerade bei den Patienten, die einen eher riskanten Lebensstil führen, die dann ihre Unfälle auch in der Nacht haben. Das ist ein Riesenproblem, dem man mit Atomoxetin ganz gut aus dem Weg gehen kann. ? Wie sieht das Therapieschema bei Patienten mit ADHS und komorbider Suchterkrankung aus? Ohlmeier: Das Therapieschema beinhaltet zunächst eine stationäre qualifizierte Entgiftungsbehandlung. Im Rahmen dessen muss dann noch einmal eine sehr genaue differentialdiagnostische Einschätzung vorgenommen werden. Wenn neben der ADHS beispielsweise noch zusätzlich eine komorbide Angststörung, eine Depression oder auch andere psychiatrische Er- ? In welchem Alter erfolgt durchschnittlich der „Einkrankungen vorliegen, hat dies unter Umständen erstieg” in den Substanzmissbrauch? hebliche Auswirkungen auf die weitere TherapieplaOhlmeier: Sehr früh, das konnten wir auch in Studien nung. In der Regel wird dem Patienten nach Abschluss nachweisen. Die Betroffenen fangen nicht selten bereits dieser zweiten Behandlungsphase auch eine anschlieim zwölften oder dreizehnten Lebensjahr an, Drogen ßende Langzeittherapie in einer spezialisierten Klinik zu probieren. Das ist deutlich früher als bei den Nichtempfohlen. ADHS-Betroffenen, weil die Risikobereitschaft und Lenhart: In so einer Langzeiteinrichtung haben wir natür- die Impulsivität bei den Patienten mit ADHS wesentlich ganz gute Karten. Die Patienten sind qualifiziert ent- lich höher ist. Das heißt, wenn ihnen Drogen angeboten giftet und kommen in einer Art Urzustand bei uns an. werden, können sie viel schlechter „Nein” sagen. Ich schaue erst einmal, wie hoch die Motivation ist, eine ? Besteht ein Zusammenhang zwischen dem PersistieLangzeittherapie überhaupt durchzuhalten. Das ist für mich immer das Zauberwort, die Motivation zu überprüren der ADHS-Erkrankung im Erwachsenenalter und fen. Nicht nur in Bezug auf Ausstieg im Suchtbereich, der Entwicklung einer Suchterkrankung? sondern überhaupt auf eine Behandlung der ADHS. Ohlmeier: Es hängt hier sehr davon ab, wie ausgeprägt die Symptomatik ist. Insbesondere Patienten, die sehr ? Kann eine medikamentöse ADHS-Behandlung die hyperaktiv sind, sind besonders gefährdet, SuchtmitEntstehung einer Suchterkrankung verhindern? tel zu konsumieren. Patienten, die im Laufe ihrer EntOhlmeier: Hinsichtlich dieser Frage ist ja die Studie von wicklung eine Symptomreduktion erfahren oder auch Biederman und Kollegen1 von 1999 sehr bekannt gekeine nachweisbaren Symptome mehr haben, sind naworden, in welcher der Suchtmittelkonsum von behantürlich entsprechend weniger gefährdet. delten versus unbehandelten Kindern und Jugendlichen ? Gibt es bestimmte Anzeichen, die bei Patienten mit mit ADHS untersucht wurde. Die Ergebnisse dieser Studie belegen, dass bei einer vorliegenden ADHS-ErADHS auf ein erhöhtes Risiko für eine Suchterkrankrankung, die nicht behandelt wird, ein erhöhtes Risiko kung hinweisen? für die Entstehung einer Suchterkrankung besteht. Lenhart: Wenn ein Elternteil eine Suchterkrankung hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind auch ? Welchen Einfluss hat der Suchtmittelkonsum auf die eine Suchterkrankung entwickelt, um das Dreifache erWahl der ADHS-Medikation? höht. Auch „Broken-Home-Situationen” sind negative Ohlmeier: Bei Patienten, die ADHS und eine komorbiPrädiktoren für eine Suchterkrankung. Ich sehe das rede Suchterkrankung haben, wird auch heute noch sehr trospektiv bei meinen adoleszenten und erwachsenen kontrovers diskutiert, wie man sie behandeln soll. Die Patienten, dass man das ganz oft hätte vorhersehen derzeit eher vorherrschende schulmedizinische Meinung können. Deshalb muss bei der Hilfeplanung für eine ist, dass man abhängigkeitserkrankte Patienten nicht kindliche ADHS vor allen Dingen geschaut werden, mit potentiell süchtig machenden Medikamenten – wie welche familiären Ausgangsbedingungen vorliegen. es z. B. auch das Amphetaminderivat Methylphenidat Quelle: darstellt – behandeln sollte, weil damit das Suchtzen1 Biederman J et al. Pharmacotherapy of attention-deficit/hyperactivity disorder reduces risk for substance use disorder. Pediatrics 1999; 104:e20. trum im Gehirn getriggert wird und somit das Risiko 15 R U N D E N T I S C H Wie können schwerwiegende Folgen der ADHS frühzeitig erkannt und verhindert werden? Erfahrungsaustausch in München „ADHS kann für jeden Betroffenen ein schwerwiegendes Entwicklungsrisiko bedeuten, in diesem Punkt ist sich die Fachwelt einig”, betonte Prof. Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des Heckscher-Klinikums München und Diskussionsleiter des sechsten Runden Tisches der „Perspektive ADHS”. Welche Möglichkeiten es in der Praxis gibt, relevante Risikofaktoren möglichst frühzeitig zu erkennen und die Prognose der Patienten zu verbessern, darüber diskutierten in München Dr. Johanna Krause, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Ottobrunn), Dr. Dipl. Psych. Anton Lindermüller, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (München), Dr. Adelina Mannhart, Fachbereichsleitende Oberärztin (Akut und Sucht) am Heckscher-Klinikum München und Dr. Dieter Schlamp, Stellvertretender Ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt am Heckscher-Klinikum München. Wenn Jugendliche oder junge Erwachsene mit folgenreichen Problemen wie Suchterkrankungen oder Delinquenz in die psychiatrische Versorgung kommen, stellt sich überzufällig häufig heraus, dass ADHS ein Teil der Problematik ist, so die Erfahrung der Diskussionsteilnehmer aus der klinischen Praxis. „Bei der Begutachtung von heranwachsenden StrafProf. Dr. Franz Joseph Freisleder (München) Dr. Adelina Mannhart (München) Dr. Dipl. Psych. Anton Lindermüller tätern ist es fast schon die (München) Regel, dass eine ADHS vorliegt, vor allem, wenn es sich um Gewaltdelikte handelt”, berichtete FreisDrei Faktoren entscheidend für Lebensaussichten leder. Dabei sei die Erkrankung jedoch in den seltensten Fällen „Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die die Prognose bei ADHSzuvor erkannt oder adäquat behandelt worden. Patienten bestimmen”, hielt Schlamp fest. „Das Erste ist der Schweregrad der ADHS-Symptomatik, das Zweite sind die Komorbiditäten Eine vergleichbare Situation beschrieb Krause für den Bereich der und das Dritte sind familiäre und sonstige Umweltbedingungen.” Erwachsenenpsychiatrie: „Die Betroffenen, die zu mir in die Praxis Eine vollständige Diagnostik sollte deshalb Informationen über die kommen, sind eher bisher unbehandelt. Fast allen gemeinsam ist genetische und soziogenetische Vorbelastung einschließen. „Wenn ein mäandernder Lebenslauf mit großen Problemen in Schule und ein Kind mit einer ADHS-Problematik zum Beispiel mit einem Beruf. Aber häufig ist es ein langer Weg, bis die Patienten ver­kriminellen Vater aufwächst, der auch mit ADHS vorbelastet ist und stehen, was eigentlich das Hindernis in ihrem Leben ist. Die Symptozusätzlich vielleicht eine Suchtproblematik hat, sollte das schon sehr matik ist oft so sehr mit ihnen verwachsen, dass sie selbst das früh die Alarmglocken läuten lassen”, verdeutlichte Freisleder. Gefühl haben, dass sie ein Teil ihrer Persönlichkeit ist. Meine Patienten sind häufig durch Medienberichte oder Bezugspersonen auf die Erkrankung aufmerksam gemacht worden, haben sich in der Wie die Diskussionsteilnehmer einhellig bestätigten, sind SozialRegel gut über das Krankheitsbild informiert und vermuten deshalb verhaltensstörungen ein wesentlicher Prädiktor für einen ungünstigen Verlauf. „Psychosoziale Beeinträchtigungen werden oft schon selbst, betroffen zu sein. Aber es gibt mit Sicherheit viele noch im Kindergartenalter deutlich, wenn andere Symptome noch eher unbehandelte Betroffene mit schwerwiegenden Problemen, zum Beispiel Alkoholsucht, bei denen niemand auf die Idee kommt, dass im Hintergrund stehen oder gewissermaßen unter den Tisch gekehrt werden können. Der Kindergarten ist ja nur Spielraum und ADHS eine Ursache sein könnte.” nicht Vorschule. Unser Konzept ist bei Kindern in diesem Alter deshalb auch nicht unbedingt darauf ausgerichtet, schon definitiv Dies deutet im Umkehrschluss darauf hin, wie wichtig eine eine Diagnose zu stellen, sondern eher ein systemisch orientiertes, möglichst frühzeitige Diagnose und Intervention für die Prognose begleitendes Familienmanagement anzubieten”, schilderte der Betroffenen sein kann. Lindermüller. 16 Je individueller die Therapie, desto besser die Prognose Darüber hinaus spielen für die Prognose auch komorbide affektive Störungen wie Depressionen oder Angststörungen eine zentrale Rolle. Dabei sei es wichtig, die jeweiligen Kausalitäten zu analysieren. „Es gibt Fälle, in denen ADHS und depressive Störungen parallel auftreten, aber viele Kinder mit ADHS entwickeln sekundär emotionale Störungen im Sinne einer Anpassungsstörung, weil sie Dr. Johanna Krause (Ottobrunn) Dr. Dieter Schlamp (München) im Alltag schlecht zurechtkommen und dann zunehmend depressiv werden. Diese Zusammenhänge zu erkennen, das ist letztlich die eigentliche Kunst, und davon hängt auch ab, wie man die weitere Behandlung plant. Um sinnvoll therapeutisch ansetzen zu können, ist es wichtig, möglichst individuell auf den Patienten einzugehen. Je spezieller das möglich ist, desto besser wird auch die Prognose sein”, so Schlamp. Unbehandelte ADHS der Eltern als Risikofaktor Mannhart wies darauf hin, wie wichtig die frühzeitige Beratung und Einbindung der Eltern sei: „Jede konsequente Umsetzung von notwendigen Hilfen wird unmöglich, wenn nicht auch die Eltern konsequent hinter diesen Maßnahmen stehen.” Aus erwachsenenpsychiatrischer Sicht gab Krause diesbezüglich zu bedenken, dass Inkonsequenz bei den Eltern häufig darauf zurückzuführen sei, dass sie selbst unbehandelte ADHS-Betroffene sind. „Werden die Eltern behandelt, sieht die Situation ganz anders aus. Es ist bemerkenswert, wieviel Kraft ihnen erzieherisch zuwächst, wenn man rechtzeitig mit der Therapie anfängt.” Problematisch sei vor diesem Hintergrund allerdings, dass dem Thema ADHS von Seiten der Erwachsenenpsychiater noch zu wenig Beachtung und Akzeptanz beigemessen werde. „Hier muss noch unheimlich viel passieren”, so Krause. Versorgungsstrukturen müssen langfristig gesichert werden „Schwierigkeiten tauchen bei Patienten mit ADHS vor allem in Transitionsphasen auf, also beispielsweise beim Wechsel vom Kindergarten zur Schule oder später beim Einstieg ins Berufsleben”, berichtete Lindermüller. Eine besondere therapeutische Herausforderung stellt auch generell der Übergang vom Kindes- zum Jugendalter dar. „Das vermehrte Autonomiebestreben der jugendlichen Patienten geht oft in die Richtung, dass sie gar keine Medikation mehr haben wollen. Das stellt ganz neue Anforderungen an uns: Wie motiviere, wie erreiche ich einen Jugendlichen, damit er für Behandlungsmaßnahmen, die eigentlich notwendig sind, zugänglich wird bzw. bleibt?” so Mannhart. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Therapie ist nach Auffassung der Teilnehmer des Runden Tisches insbesondere die persönliche, verlässliche Beziehung zwischen Arzt und Patient, die möglichst langfristig aufgebaut werden sollte. Mit Hinblick auf eine medikamentöse ADHS-Therapie sei Atomoxetin das Mittel der Wahl bei Betroffenen mit komorbiden Angst- oder Tic-Störungen. „Auch bei Patienten mit emotionalen Begleitstörungen kann Atomoxetin Vorteile haben, während bei „ADHS bedeutet immer eine Langzeitbegleitung, vor allem bei expansiven Verhaltensstörungen eher Methylphenidat im Vorderkomplizierten Fällen, die in den Erwachsenenbereich übergeben grund steht”, erläuterte Schlamp. „Außerdem stellt Atomoxetin werden müssen. Das erfordert einen multidisziplinären, sozialpsyeine geeignete Alternative dar, wenn parallel Substanzmissbrauch chiatrischen Ansatz, bei dem eine berufsgruppenübergreifende besteht, weil es nicht an das Betäubungsmittelgesetz gebunden ist Zusammenarbeit praktiziert wird”, hob Lindermüller hervor. Sein und das Missbrauchspotential geringer ist”, fügte Mannhart hinzu Fazit mit Blick in die Zukunft: „Mein Wunsch ist es, dass wir den und machte die Relevanz einer medikamentösen Behandlung im Mut haben, die notwendigen Strukturen auf allen Ebenen, im Rahmen einer multimodalen Therapie deutlich: „Häufig ist ein niedergelassenen Bereich wie auch in der Klinik und sowohl in der vielfältiges therapeutisches Angebot vorhanden, aber die Patienten Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch in der Erwachsenenpsychisind aufgrund ihrer Symptomatik nur unzureichend in der Lage, atrie langfristig zu sichern.” entsprechende Hilfen anzunehmen. Eine Medikation kann dann sehr hilfreich sein, weil sie die Betroffenen überhaupt erst einmal zugänglich für weitere Maßnahmen machen kann.” R E G I O N A M D E R T I S C H A U S R U N D E N S T I M M E N R E G I O N D E R A U S S T I M M E N A M 17 A K T U E L L E R Oft übersehen: ADHS und komorbide Ausscheidungsstörungen Der Fall A.* aus Chemnitz I Dipl.-Med. Natascha Unfried, Chefärztin Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), Poliklinik GmbH am Klinikum Chemnitz m Alter von acht Jahren wurde A. mit bereits diagnostizierter ADHS in unserem SPZ vorgestellt. Er war zu diesem Zeitpunkt auf MPH eingestellt und erhielt zusätzlich ein verhaltenstherapeutisch orientiertes Selbstinstruktionstraining. Die Eltern waren gut in eine pädagogisch angeleitete Elterngruppe integriert. A. war zum Vorstellungszeitpunkt in der Schule erneut auffällig geworden; er besuchte damals die zweite Klasse der Grundschule. Es bestanden bei ihm weiterhin deutliche motorische Unruhe, Lernprobleme sowie zusätzlich neu aufgetretene emotionale Regulationsschwierigkeiten, die bereits zu einer negativen Interaktion zwischen A. und den Lehrern geführt hatten. Die Eltern hatten durch die spezifische Anleitung gelernt, mit den Problemen ihres Sohnes gut umzugehen und so blieb die Situation im häuslichen Bereich während der schulischen Krise stabil. Die Geschwister kamen mit den heftigen Impulsdurchbrüchen des Bruders nur schwer zurecht und benötigten Hilfe durch die Eltern. Aktualisierte Diagnostik In der erweiterten sozialpädiatrischen Diagnostik konnten wir zusätzlich zur ADHS eine Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten – Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) – feststellen, die sicher einen Teil der Schwierigkeiten im Schulalltag erklärte. Weiterhin war in der biographischen Anamnese aufgefallen, dass bei A. seit dem Kleinkindalter bereits Störungen in der Einschlafphase, dem frühen Schlaf und in der weiteren Nacht bestanden, die sich vor der Vorstellung verstärkt hatten. Seit der frühen Entwicklung waren bei A. neben den Schwierigkeiten in der Schlaf-Wach-Regulation und auch bei anderen zirkadianen Rhythmen, z. B. unregelmäßige Nahrungsaufnahme, kein Wechsel von körperlichen Aktivitäten und Pausen nachweisbar. Individualisierte Therapie Bei A. wurde in Zusammenarbeit mit der Schule der förderpädagogische Bedarf für die LRS festgestellt, er wurde im dritten Schuljahr in einer LRS-Klasse spezialisiert unterrichtet. Wir änderten die Medikation auf Atomoxetin, was zu einer deutlichen Verbesserung des Schlafes, insbesondere in der Phase des Einschlafens führte. Eine Reduktion der Tagesmüdigkeit wurde beobachtet, von den Lehrern war eine Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit und verbesserte Lernbereitschaft gemeldet worden. Wir konnten mit der Stabilisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus und der Umstellung der Medikation bei A. im weiteren Verlauf bessere Lernmöglichkeiten erkennen und die emotionalen Auffälligkeiten nahmen deutlich ab. Mit der Familie besprachen wir ausführlich die beobachteten Probleme. Es gelang, die Spiel- und Medienbenutzung am Abend zu reduzieren und das Bett zum Schlafplatz umzugestalten. Weiterhin konnten klare Strukturen für Essenszeiten etc. und somit regelmäßige und verlässliche Abläufe eingeführt werden. Weiterer Verlauf und Fazit Alle zirkadianen Rhythmen sind, wenn die Kinder auf die Welt kommen, noch nicht festgelegt, sie entwickeln sich insbesondere während der ersten zwei bis drei Lebensjahre. Bei A. waren diese noch sehr instabil. Die Entwicklungsaufgabe war nachträglich zu bewältigen. A. und die Familie profitierten von den Veränderungen in der Nacht. Es konnte das Funktionsniveau von A. in der Schule und zu Hause deutlich erhöht werden. Mit dem verbesserten und ausreichenden Schlaf war A. bereits morgendlich wacher und die kompensatorische Unruhe war reduziert. Eine Pause der Medikation war während der mittleren Schuljahre möglich. A. konnte trotz der zusätzlich vorhandenen LRS die Regelschule mit sehr gutem Ergebnis beenden und eine berufliche Ausbildung starten. Bei der ADHS-Therapie ist die Regulation des Schlafes wichtig, da „Kinder schlafen, um zu lernen” (Dr. Jan Born). Es ist bekannt, dass die Störung bestimmter Schlafphasen und die Reduktion der Gesamtschlafdauer zur Beeinträchtigung der Leistungsmöglichkeiten am nachfolgenden Tag führen. Die Tagesmüdigkeit kompensierte A. durch erhöhte motorische Aktivität. Die Analyse des Schlafes und der Schlafqualität half uns, die Therapiestrategien individuell anzupassen. *Initialen geändert. Die geschilderten Beobachtungen und Empfehlungen geben die Meinung des Autors wieder. A Prof. Dr. Alexander von Gontard, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar usscheidungsstörungen stellen eine wichtige komorbide Störung bei ADHS dar. Dies wird oft übersehen. Bei Kindern, die tagsüber einnässen, ist ADHS häufiger als bei Kindern mit einer Enuresis nocturna. Die Gründe für die häufige Assoziation der beiden Störungen sind letztendlich nicht geklärt. Es kommen verschiedene Ursachen in Frage. Zum einen wissen wir aus der Praxis, dass Kinder mit einer Enuresis bzw. Harninkontinenz und ADHS schlechter mitarbeiten, eine höhere Non-Compliance zeigen, sich weniger an den Therapieprotokollen beteiligen und damit ein schlechteres Outcome haben als Kinder, bei denen eine Ausscheidungsstörung ohne ADHS vorliegt. Möglicherweise spielen aber auch neurobiologische Aspekte eine Rolle. Einen genetischen Zusammenhang zwischen den beiden Störungen scheint es dagegen nicht zu geben. Zur Diagnostik gehört die Aufnahme psychiatrischer Aspekte Für die meisten Kinder ist eine klinisch orientierte Diagnostik ausreichend. In unserer Spezialambulanz erheben wir zunächst über Eltern und Kinder sehr ausführlich die Krankheitsgeschichte. Ergänzt wird die Anamnese durch Miktionsprotokolle und Fragebögen. Des Weiteren führen wir eine Ultraschalluntersuchung und mindestens einen Urinstix durch. Zur vollständigen Diagnostik gehören außerdem eine pädiatrische Untersuchung und die Aufnahme kinderpsychiatrischer Aspekte. Nur wenn der Verdacht auf entsprechende organische Ursachen besteht, sind weitere Schritte wie eine Uroflowmetrie oder auch invasivere, urologische oder radiologische Untersuchungen notwendig. Durch sukzessives Vorgehen können spätere Therapieschritte entfallen Bei der Therapie der Ausscheidungsstörungen hat sich eine Behandlungsreihenfolge bewährt, die sich auch in Studien eindeutig als sinnvoll erwiesen hat: Zuerst wird die Enkopresis behandelt, dann eine Harninkontinenz tags und zuletzt die Enuresis nocturna. Hintergrund für dieses sukzessive Vorgehen ist, dass spätere Therapieschritte möglicherweise ganz entfallen können. So gibt es beispielsweise Kinder, die nicht mehr einnässen, wenn eine Obstipation erfolgreich behandelt wurde. Bei Kindern, die tags und nachts einnässen, bildet sich die Enuresis nocturna in vielen Fällen zurück, wenn das Einnässen tags behandelt wurde. D E R Schlaf, Lernen und ADHS T I P P Parallel zur Therapie der Ausscheidungsstörungen werden auch die komorbiden psychischen Störungen leitliniengerecht behandelt. Für die ADHS-Therapie wird gegebenenfalls eine medikamentöse Therapie kombiniert mit Psychoedukation, Verhaltenstherapie oder weiteren notwendigen Maßnahmen eingesetzt. Therapie der komorbiden ADHS ist entscheidend für Behandlungserfolg Entscheidend für den Therapieerfolg bei der Behandlung von Ausscheidungsstörungen sind insbesondere die Mitarbeit und die Motivation der Patienten. Bleibt eine komorbide ADHS unbehandelt, werden diese Aspekte bei vielen Kindern nicht ausreichend gewährleistet, so dass keine wirksame Therapie der Ausscheidungsstörungen erfolgen kann. Eine große Rolle spielt diesbezüglich auch das familiäre Umfeld: Erhalten die Kinder ausreichend Unterstützung von ihren Eltern? Sind die erforderlichen Voraussetzungen gegeben, um z. B. eine aufwändige verhaltenstherapeutische Behandlung durchzuführen? Mit erfolgreicher Einstellung der ADHS steigt die Motivation, die Mitarbeit verbessert sich und auch die Therapieerfolge für die Enuresis und Harninkontinenz sind deutlich größer. Wichtig ist, dass jede Form der Ausscheidungsstörung separat diagnostiziert wird. Es muss also festgestellt werden, welche Form der Enkopresis, welche Form der Harninkontinenz tags oder welche Form der Enuresis nocturna vorliegt. Darüber hinaus muss untersucht werden, welche zusätzlichen komorbiden Störungen vorhanden sind. Erst wenn diese ausführliche Diagnostik abgeschlossen ist, können wir den Patienten gezielt behandeln. Die geschilderten Beobachtungen und Empfehlungen geben die Meinung des Autors wieder. R E G I O N F A L L A U S I N D I V I D U E L L E S T I M M E N R E G I O N D E R A U S S T I M M E N 18 D E R 19 V E R A N S T A L T U N G E N I M R Ü C K B L I C K V E R A N S T A L T U N G E N Verbesserung der Lebensaussichten bei ADHS: Was gilt es für Diagnostik und Therapie zu beachten? I M R Ü C K B L I C K „ADHS ist nicht gleich ADHS” Interview mit Russell A. Barkley, Ph.D. 9. ADHS-Gespräche in Frankfurt am Main Wie wirken sich die individuellen Beeinträchtigungen eines Patienten mit ADHS auf seine Lebensaussichten aus und was bedeutet dies für die Diagnostik und Therapie? Antworten auf diese Frage standen im Mittelpunkt der 9. ADHS-Gespräche von Lilly Deutschland, die vom 4. bis 6. Mai 2012 in Frankfurt am Main stattfanden. Im Rahmen von Vorträgen, Plenumsdiskussionen und Workshops nutzten Referenten und Teilnehmer die Gelegenheit zum intensiven Austausch über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiserfahrungen. Die Beeinträchtigungen durch ADHS variieren nicht nur von Patient zu Patient, sondern verändern sich auch im Laufe des Lebens. Im Rahmen der 9. ADHS-Gespräche hatte „Perspektive ADHS” die Gelegenheit, mit dem US-amerikanischen ADHS-Experten Russell A. Barkley, Ph.D., darüber zu sprechen, welche Bedeutung diese Veränderungen für die Lebensaussichten der Betroffenen und die ADHS-Behandlung haben. v. l. n. r.: Prof. Dr. Andrea Ludolph (Ulm), Prof. Dr. Manfred Döpfner (Köln), Prof. Dr. Aribert Rothenberger (Göttingen), Prof. Dr. Michael Huss (Mainz) und Dr. Ulrich Kohns (Essen) Russell A. Barkley, Ph.D., Clinical Professor of Psychiatry and Pediatrics, Medical University of South Carolina, Charleston SC (USA) Dass die Auswirkungen von ADHS individuell ganz verschieden sein können und damit auch individualisierte Diagnose- und Behandlungsansätze erfordern, machten Prof. Dr. Michael Huss (Mainz) und Prof. Dr. Manfred Döpfner (Köln) anhand der wechselseitigen Beziehungen zwischen ADHS-Kernsymptomatik, Funktionsniveau und Lebensqualität deutlich. „Während die Symptome sich direkt im Verhalten der Betroffenen widerspiegeln, werden die Funktionseinschränkungen durch die Kompensationsfähigkeit der Umwelt beeinflusst”, erläuterte Döpfner. Bei der Beurteilung der Lebensqualität spielen wiederum die subjektiven Erwartungen des Patienten eine wesentliche Rolle. „Im Vordergrund steht die Frage danach, was es für den Betroffenen selbst bedeutet, wenn er an einem bestimmten Lebensprozess nicht teilhaben kann”, so Huss. Russell A. Barkley, Ph.D. (Charleston SC, USA), präsentierte Ergebnisse der Milwaukee-Studie1 die belegen, dass Funktionsbeeinträchtigungen über das Vorliegen von ADHS-Symptomen hinaus bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben können. „Die Symptomreduktion ist daher ein Mittel, aber nicht das Ziel der ADHS-Therapie an sich”, betonte Barkley. Ein relativ häufiges, aber dennoch oft übersehenes Problemfeld beleuchtete Prof. Dr. Aribert Rothenberger (Göttingen). „Etwa 40 bis 60 Prozent der Kinder mit ADHS haben 20 Schlafstörungen”, so der Experte. Der daraus resultierende Schlafmangel kann auch die ADHS-Diagnose beeinflussen. „Bereits durch eine Stunde weniger Schlaf kann bei Kindern mit ADHS-Symptomatik die Schwelle zur klinischen Diagnose ADHS mit entsprechender funktioneller Beeinträchtigung überschritten werden”, gab Rothenberger zu bedenken. Eine adäquate ADHS-Diagnostik und -Therapie sollte das Schlafverhalten deshalb gezielt untersuchen und insbesondere die Auswirkungen auf die „zirkadianen Randzonen” berücksichtigen. „Für Atomoxetin konnte gezeigt werden, dass es die entscheidenden Eckpunkte des Tages, also das Einschlafen und das Aufstehen, günstig beeinflusst”, so Rothenberger.2 Zukünftig könnte die genetische Disposition bei Patienten mit ADHS eine wesentliche Rolle für die Verbesserung von Therapieerfolgen spielen, wie Prof. Dr. Andrea Ludolph (Ulm) verdeutlichte. „Die Zusammenhänge zwischen genetischer Prädisposition und dem Ansprechen auf eine Therapie sind sehr komplex und noch immer wenig verstanden, aber einige Anhaltspunkte lassen hoffen, dass wir – wann immer in der Zukunft – über ein breiteres Spektrum an medikamentösen Behandlungsansätzen verfügen werden, die besser an die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen angepasst sein werden”, meinte Ludolph. ? Wie verändern sich die Beeinträchtigungen durch ADHS, wenn die Betroffenen älter werden? Barkley: Wenn Kinder mit ADHS älter werden, kommen über die Schule hinaus weitere Lebensbereiche hinzu, an denen sie teilnehmen können. Sie verbringen mehr Zeit außerhalb des Elternhauses, sie können TeilzeitJobs annehmen, sie verfügen über eigenes Geld, das sie verwalten müssen, und sie werden sexuell aktiv. Hinzu kommt auch die Teilnahme am Straßenverkehr oder der Kontakt mit legalen und illegalen Drogen. Wir sehen also bei älteren Patienten mit ADHS im Vergleich zu Kindern mehr, breitere und vielfältigere Beeinträchtigungsfelder. ADHS kann praktisch jeden wichtigen Lebensbereich beeinflussen. Deshalb sage ich auch voller Überzeugung, dass es sich bei ADHS um eine der am stärksten beeinträchtigenden psychiatrischen Störungen handelt. ? In Rahmen der Milwaukee-Studie1 haben Sie die Entwicklung von Kindern mit ADHS über 20 Jahre begleitet. Welche Erkenntnisse hat die Untersuchung darüber gebracht, wie ADHS den Lebensverlauf eines Patienten beeinflussen kann? Barkley: Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Milwaukee-Studie war meiner Ansicht nach, dass die Funktionalität außerhalb der Schule gegenüber den schulischen Erfolgen vergleichbaren, wenn nicht sogar größeren Einfluss auf den späteren Lebensverlauf hat. Als die Kinder begannen, sich sexuell zu entwickeln und erste intime Freundschaften eingingen, zeigten sie sehr riskante Verhaltensweisen. Die Folge waren vermehrte Schwangerschaften und frühe Elternschaft bereits im Teenageralter sowie Geschlechtskrankheiten. Außerdem kam es gehäuft zu Diebstählen und Schlägereien. In einigen Fällen wurde sogar mit Drogen experimentiert. Probleme in diesen Bereichen zu haben, kann das ganze Leben zerstören: Die Betroffenen können zum Beispiel im Krankenhaus oder im Gefängnis oder vor dem Jugendgericht landen. Sie können in die Situation kommen, ein Baby aufziehen zu müssen, wenn sie selbst noch ein Kind sind. Das waren alles äußerst wichtige Erkenntnisse, die wir früher nicht beachtet hatten. Und deshalb wa- Quellen: 1 Barkley RA et al. ADHD in Adults: What the Science Says. New York: Guilford Press 2008. 2 Sangal RB et al. Effects of atomoxetine and methylphenidate on sleep in children with ADHD. J Sleep 2006; 29(12):1573-1585. 21 V E R A N S T A L T U N G S K A L E N D E R ren wir auch gezwungen, unseren Behandlungsansatz zu überdenken: Die ADHS-Therapie muss den ganzen Tag abdecken – im Gegensatz zu einer Behandlung, die nur während der Schulstunden wirkt. ? Gibt es spezielle Beeinträchtigungen, die bei der ADHS-Behandlung berücksichtigt werden müssen? Barkley: Wir haben festgestellt, dass Patienten mit ADHS starke Probleme mit der emotionalen Selbstkontrolle haben. Sie zeigen ihre Emotionen zu schnell und zu stark. Das ist in Ordnung für ein Kind im Alter von drei Jahren, aber wenn der Patient, sieben oder acht oder 15 Jahre alt ist, erweist sich ein solches Verhalten als problematisch, weil er als stur, leicht erregbar, unreif und unkontrolliert wahrgenommen wird. Das kann zur sozialen Ausgrenzung und auch zu Beeinträchtigungen in anderen Bereichen wie der Bildung führen. Wir haben jetzt damit begonnen, die verfügbaren Medikationen dahingehend zu untersuchen, inwieweit sie neben der Wirkung auf schulische Erfolge auch die Steuerung von Emotionen unterstützen. Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass die Nicht-Stimulanzien diesbezüglich möglicherweise eine durchaus gute Wirkung zeigen, weil sie auf gewisse Weise Gehirnfunktionen verstärken, die für die Emotionskontrolle verantwortlich sind.2,3 ? Nach welchen Kriterien sollte die Wahl einer ADHSMedikation erfolgen? Barkley: ADHS ist nicht gleich ADHS. Es gibt große Unterschiede zwischen unseren Patienten: Sie haben unterschiedliche Begleiterkrankungen oder Komorbiditäten, sind in unterschiedlichen Bereichen beeinträchtigt, haben unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale und bringen unterschiedliche familiäre Hintergründe mit. Ärzte sollten diese individuellen Faktoren deshalb sehr genau bei der Medikationsentscheidung berücksichtigen. Mit einer maßgeschneiderten Behandlung können weitaus bessere Therapieerfolge erzielt werden, als wenn jedem Patienten – ungeachtet seiner jeweiligen Bedürfnisse – reflexartig dieselbe Medikation verordnet wird. Das Interview führte Dr. Christoph Bartel (Lilly Deutschland) Für Smartphone-Benutzer: Direktlink zu www.strattera.de mit weiteren ExpertenInterviews. Quellen: 1 Barkley RA et al. ADHD in Adults: What the Science Says. New York: Guilford Press 2008. 2 Svanborg P et al. Atomoxetine improves patient and family coping in attention deficit/hyperactivity disorder: a randomised, doubleblind, placebo-controlled study in Swedish children and adolescents. Eur Child Adolesc Psychiatry 2008; 18:725-735. 3 Arnsten AF. Toward a new understanding of attention-deficit hyperactivity disorder pathophysiology: an important role for prefrontal cortex dysfunction. CNS Drugs 2009; 23 Suppl 1:33-41. 22 Die nächsten Termine … 21.–24. November 2012 · Berlin Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Thema: Zukunft der Psycho-Sozialen Medizin Veranstalter: DGPPN Weitere Informationen: www.dgppn.de 29. November–2. Dezember 2012 · Athen (Griechenland) Gemeinsamer Kongress: • World Psychiatric Association (WPA) Thematic Conference on Intersectional Collaboration Thema: The Multidisciplinary Facets of Psychiatry •4th European Congress of the International Neuropsychiatric Association (INA) Thema: Overlap and Integration in Neuropsychiatry • The First Interdisciplinary Congress Thema: Psychiatry and Related Sciences Veranstalter: WPA, INA und Hellenic Society for the Advancement of Psychiatry and Related Sciences (HSAPRS) Weitere Informationen: www.psych-relatedsciences.org Ausblick … 1.–3. März 2013 · Weimar 19. Kongress für Jugendmedizin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) 6.–9. März 2013 · Rostock XXXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) 6.–9. Juni 2013 · Mailand (Italien) 4th International Congress on ADHD – From Childhood to Adult Disease 7.–9. Juni 2013 · Berlin 43. Kinder- und Jugendärztetag des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) 6.–10. Juli 2013 · Dublin (Irland) 15th International Congress of European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP) 12.–15. September 2013 · Düsseldorf 109. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) 5.–9. September 2013 · Barcelona (Spanien) 26th European College for Neuropsychopharmacology (ECNP) Congress I N E I G E N E R S A C H E S E R V I C E Lilly Letter ADHS: Praxiswissen – aktuell und kompakt Ausschreibung HermannEmminghaus-Preis 2013 Was gibt es Neues im Bereich der ADHS-Forschung und -Therapie? Worüber wird aktuell in der Gesundheitspolitik zum Thema Kinder- und Jugendmedizin diskutiert und welche Auswirkungen hat das möglicherweise auf den Behandlungsalltag? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich der Lilly Letter ADHS, ein elektronischer Newsletter für Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderärzte. Gesucht: Exzellente Arbeiten im Fach „Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie” Der Newsletter erscheint alle zwei Monate und bietet vertiefende wissenschaftliche Informationen und praktische Fallbeispiele rund um das Thema ADHS. Komplettiert wird das Angebot durch Tipps für das Patienten- und Praxismanagement. Sie möchten den Lilly Letter ADHS abonnieren? Unter www.lillyservice.de können Sie sich für die regelmäßige Zusendung des Newsletters anmelden und erhalten die nächste Ausgabe automatisch per E-Mail. Eine Für Smartphone-Benutzer: Direktlink zu www.lillyservice.de Abbestellung ist ebenfalls über die Website möglich. Bereits seit über einem Vierteljahrhundert wird zum Gedenken an Hermann Emminghaus, den Pionier der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung, der Hermann-Emminghaus-Preis verliehen. Wissenschaftler können sich mit ihren Arbeiten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie noch bis zum 6. Dezember 2012 unter www.emminghaus-preis. de für die von Lilly geförderte Auszeichnung bewerben. Der Preisträger wird mit der HermannEmminghaus-Medaille und einem Preisgeld in Höhe von 5.500 Euro gewürdigt. Der Hermann-Emminghaus-Preis ist der älteste kinder- und jugendpsychiatrische Forschungspreis im deutschsprachigen Raum. Er richtet sich an Wissenschaftler, die empirische Forschung auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, insbesondere der biologischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, betreiben und in der Regel nicht länger als zehn Jahre im Fach wissenschaftlich tätig sind. Es können ausschließlich Arbeiten eingereicht werden, die noch nicht anderweitig ausgezeichnet worden sind. Psychodynamisch, genetisch oder zerebralorganisch orientierte Forschung kommt ebenso für eine Bewerbung in Betracht wie epidemiologische, katamnestische oder therapeutische Studien. Die Arbeit ist in deutscher oder englischer Sprache einzureichen. Die Verleihung des Hermann-Emminghaus-Preises 2013 wird während der Eröffnungsveranstaltung des XXXIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) in Rostock stattfinden. Im Rahmen eines Satellitensymposiums von Lilly Deutschland am 7. März 2013 von 16.30 Uhr bis 18.00 Uhr wird der Preisträger einen Smartphone-Benutzer: Vortrag zu seiner Für Direktlink zu www.emminghaus-preis.de Arbeit halten. 23 S E R V I C E Im Februar 1941 wurde der Polizist Albert Alexander aus Oxford wegen einer Blutvergiftung als erster Mensch mit Penicillin behandelt. Doch zu diesem Zeitpunkt fehlten die technischen Voraussetzungen, um den lebensrettenden Wirkstoff in größeren Mengen herzustellen. Weil die Penicillin-Vorräte nicht ausreichten, konnte die Therapie nicht zu Ende geführt werden, der Patient verstarb. Bereits ein Jahr später entwickelte Lilly als eines der ersten Unternehmen ein Verfahren zur Massenproduktion von Penicillin und legte damit einen Grundstein für die erfolgreiche Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Hergestellt wurde das weltweit erste Antibiotikum zunächst in 175.000 liegend gelagerten Milchflaschen. 1944 wurden die Glasflaschen durch Bioreaktoren mit jeweils mehr als 11.000 Liter Fassungsvermögen ersetzt. Im World Wide Web für Sie gefunden Die World Federation of ADHD (WFADHD) stellt auf ihrer Homepage zwei neue Serviceangebote zur Verfügung. Unter www.adhd-federation.org können aktuelle wissenschaftliche Abstracts rund um die Indikation ADHS heruntergeladen werden. Der „Abstract Review” ist unterteilt in die Themenbereiche Behandlung, klinische Studien, Neurobiologie, Epidemiologie, Ätiologie und Phänomenologie. Die Daten werden monatlich aktualisiert. Quartalsweise veröffentlicht die WFADHD außerdem einen „ADHD Hot Topic Review”. Interessierte Nutzer haben die Möglichkeit, im Rahmen eines einstündigen Live-Chats ihre Fragen und Anmerkungen zu dem Beitrag mit einem internationalen ADHS-Experten zu diskutieren. Der Chat findet jeweils am Monatsende nach Veröffentlichung des „Hot Topic Review“ auf der WFADHD-Website statt. Die Serviceangebote sind noch bis Juni 2013 frei zugänglich, anschließend werden sie ausschließlich Mitgliedern der WFADHD zur Verfügung stehen. Für SmartphoneBenutzer: Direktlink zu www.adhd-federation.org Buchtipp Gute Lebensaussichten sind eine wichtige Basis, reichen aber allein nicht aus, um einen Menschen glücklich zu machen. Denn entscheidend für das Lebensglück ist die individuelle Beurteilung der eigenen Situation. „Glück, das sind jene besonderen Momente, in denen wir eins sind mit uns selbst, unseren Erwartungen, unserem Tun und unserer Umwelt”, lautet daher die Definition von Florian Langenscheidt. In seinem neuen Buch konsultiert er die großen Philosophen, enthüllt viel Persönliches aus seinem eigenen Leben und berichtet von Menschen, die trotz schwerer Schicksalsschläge wieder glücklich sein konnten. Darüber hinaus lässt er viele prominente Persönlichkeiten zu Wort kommen, die ihre ganz persönlichen Ansichten zum Glücklichsein beisteuern. Florian Langenscheidt. Langenscheidts Handbuch zum Glück. Heyne Verlag 2012. ISBN 9783-453-18613-2 DESTR00866(1) Wussten Sie schon, … … dass Lilly einer der Wegbereiter der Erfolgsgeschichte des Penicillins ist?