Angewandte Ethik in Verkehrs- und Raumplanung Ein Beitrag zur Praxis der Planungsethik in Planungs- und Projektierungsprozessen Vorstudie – Schlussbericht 30. März 2005 Jürg Dietiker, Prof. dipl. Ing., MAE Martin Rotach, Prof. em. ETH Reiner Anselm, Prof. theol 1 IMPRESSUM Titel PLANET – Ein Beitrag zur Praxis der Planungsethik in Planungs- und Projektierungsprozessen CH-5200 Brugg, März 2005 Verfasser Jürg Dietiker, Prof. dipl. Ing., MAE, Brugg Martin Rotach, Prof. em. ETH, Erlenbach Reiner Anselm, Prof. theol., Göttingen Begleitgruppe Fritz Kobi, Kreisoberingenieur, Tiefbauamt Kanton Bern René Suter, Kantonsingenieur Solothurn Kurt Erni, Amt für Verkehr und Tiefbau Kanton Solothurn Paul Pfister, Kantonsplaner, Raumentwicklung Kanton Aargau Konrad Meyer, Kantonsingenieur i. R. Schaffhausen Adresse Planungsbüro Jürg Dietiker, Verkehrs- und Raumplanung Spitalrain 3, CH-5200 Brugg [email protected] 2 INHALT 1. ETHIK IN VERKEHRS- UND RAUMPLANUNG 1 2. HYPOTHESEN 3 3. THEORETISCHES FUNDAMENT UND LEITSÄTZE 4 4. ABSTIMMUNG AUF DIE ÜBERGEORDNETEN GRUNDLAGEN 13 5. FOLGERUNGEN FÜR DIE INGENIEURPRAXIS 15 6. PLANET - METHODE UND INSTRUMENTE 24 7. ERKENNTNISSE UND EMPFEHLUNGEN 32 1 1. ETHIK IN VERKEHRS- UND RAUMPLANUNG? Verkehrs- und Raumplanung werden an ihren Beiträgen zur nachhaltigen Entwicklung gemessen. Dabei kommt ethischen Fragen eine wichtige Bedeutung zu. Ingenieure und Planer müssen in der Lage sein, auf diese Herausforderung kompetent zu antworten. Mit einer interdisziplinär angelegten Vorstudie sollen die Möglichkeiten der Transformation ethischer Grundlagen in den Planungsbereich untersucht werden. Die Tätigkeit von Verkehrs- und Raumplanern soll zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Dies ist im Grundsatz allgemein akzeptiert. Weniger klar ist die Konkretisierung dieser Zielsetzung in der Praxis, wo Planende mit Fragen konfrontiert werden wie ... Gerechte Lärmverteilung: Konzentration in Bereichen, wo die wenigsten Menschen betroffen sind (utilitaristisches Prinzip) oder gleichmässige Verteilung in der Fläche (Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit)? Neue Parkplätze oder Erschliessung mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Nachfrageorientierte Verkehrsplanung (Trendextrapolation) oder angebotsorientierte Planung (Steuerung auf eine angestrebte Entwicklung hin)? Entwicklungsprojekte versus Quartierschutz: Gewichtung der Interessen von Anwohnern nach Wohnqualität gegenüber den Bedürfnissen der Wirtschaft nach zusätzlichen Strassenverkehrskapazitäten? Variantenwahl einer Umfahrung: Beurteilung der Vor- und Nachteile in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt gegeneinander und faire Diskussion im partizipativen Prozess? Verantwortung für zukünftige Generationen: Anwendung des starken (die Umwelt in ihrem Bestand erhalten) oder schwachen Vorsorgeprinzip (Umweltgüter können in andern Bereichen kompensiert werden)? Dies sind aktuelle Fragen, mit denen sich Planende heute unvermeidlich konfrontiert sehen und mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Sie zeigen, wie sich Aufgaben und Umfeld von Raumplanung und Verkehrsplanung gewandelt haben. Stand früher die Erfüllung prognostizierter Nachfragen im Vordergrund, stellt sich heute die Aufgabe, mit knappen Mitteln Projekte zu gestalten, die eine nachhaltige Entwicklung unterstützen und deren Nutzen und Lasten gerecht verteilt werden. Planende sind damit in der Praxis mit ethischen Fragen konfrontiert, zu deren Beantwortung ihnen sowohl Wissen wie praktische Grundlagen meist fehlen. Mit der Transformation ethischer Prinzipien in die Praxis beschäftigt sich die angewandte Ethik. Sie fragt nach dem Sinnzusammenhang unseres Handelns und zeigt Lösungswege auf. Im Rahmen einer interdisziplinären Vorstudie - ermöglicht durch die Tiefbau- und Raumplanungsämter der vier Kantone Bern, Solothurn, Aargau und Schaffhausen - wurden von Planern gemeinsam mit Ethikexperten eine Standortbestimmung vorgenommen und Grundlagen zu den folgenden Fragen erarbeitet: Welche ethischen Fragen stellen sich in der Verkehrs- und Raumplanung? Welchen Beitrag kann die angewandte Ethik in Planungsprozessen leisten? Mit welchen Instrumenten und Methoden kann dieser Beitrag geleistet werden? 2 Ziel der Vorstudie ist abzuklären, wie die Transformation von Wissen der angewandten Ethik in den Planungsbereich erfolgen kann, damit Ingenieure und Planer besser in die Lage versetzt werden, die ethischen Implikationen bei ihrer Tätigkeit zu erkennen, zu reflektieren und in ihren Projekten argumentativ zu vertreten. Ein Ergebnis der gemeinsamen Arbeiten ist PLANET, eine in die Projektstufen der bestehenden Richtlinien (VSS etc.) und Gesetze integrierte planungsethische Methode für Verkehrs- und Raumplanung. Sie verbindet die technische Sachdiskussion mit dem Wertediskurs in einem geordneten, auf die bestehenden Instrumente abgestimmten Verfahren. Sie holt das, was unterschwellig immer mitläuft, aber in Planungsprozessen selten offen thematisiert und diskutiert wird – die Orientierungen und Werte , welche die Standpunkte der Beteiligten prägen - auf den Tisch. Die frühzeitige Konflikterkennung, die ganzheitliche Betrachtung und der nach vereinbarten Regeln ablaufende planungsethische Diskurs ermöglichen die Projektoptimierung und fördern die nachhaltige Projektqualität. 3 2. HYPOTHESEN Motivation für den Start der Vorstudie waren die Erfahrungen der beteiligten Ingenieure, die in ihrer Tätigkeit ständig mit emotionalen Wertediskussionen konfrontiert sind, sich darin behaupten und Entscheidungen treffen müssen. Die folgenden Einstiegshypothesen zum Nutzen einer Verbindung von Planungspraxis und angewandter Ethik drücken die Erwartungen an die Arbeit aus. Hypothese 1 – Relevanz der Ethik in Verkehrsplanung und Strassenbau In Verkehrsplanung und Strassenbau stellen sich auf allen Projektstufen ethische Fragen, die in den traditionellen technischen Beurteilungs- und Vergleichsinstrumenten nicht berücksichtigt sind. Hypothese 2 – Ethik als Praxisinstrument Die angewandte Ethik kann praktische Instrumente und Methoden für die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse zur Verfügung stellen. Hypothese 3 – Verfahrenshierarchie Die ethischen Beurteilungen müssen mit den technischen Beurteilungsinstrumenten verzahnt werden. Sie sind diesen vorgelagert oder laufen begleitend mit und liefern Impulse in diese. Hypothese 4 – Entscheidungshierarchie Die ethischen Beurteilungsinstrumente müssen entsprechend den Entscheidungshierarchien auf allen Projektstufen angewandt und auf die Charakteristiken dieser Stufen abgestimmt werden. Hypothese 5 – Verantwortung Die Wahrnehmung der Verantwortung durch Berücksichtigung ethischer Aspekte beschränkt sich nicht auf die vorgesetzten Entscheidungsinstanzen. Für die Bearbeiter auf allen Projektstufen besteht die moralische Pflicht, die Verantwortung für ethisches Handeln wahrzunehmen. 4 3. THEORETISCHES FUNDAMENT UND LEITSÄTZE Im folgenden Beitrag werden die ethischen Fragestellungen, die sich in Verkehrs- und Raumplanung stellen, fachlich beleuchtet. Basierend auf einer Gliederung von Immanuel Kant – was kann ich wissen, was kann ich tun, was kann ich hoffen – wird mit neun Leitsätzen für die Praxis die Verbindung zur Planungstätigkeit hergestellt. 3.1 WAS KANN ICH WISSEN? ZUR GRUNDLAGE DER ETHIK 3.1.1 Ethik ist die Theorie der menschlichen Lebensführung. Als Theorie gibt sie keine unmittelbaren Anweisungen für das eigene Handeln. Sie hilft jedoch dabei, das eigene Handeln zu reflektieren (was ist für mich wichtig?) und dadurch im Austausch mit anderen kommunizierbar zu machen. Sie hilft aber auch, für sich selbst die leitenden Motive, Gründe und Intuitionen einer eigenen Entscheidung zu prüfen. Dies kann sowohl vor, während, als auch nach einer Handlungsentscheidung stattfinden. Foren für die ethische Reflexion sind damit sowohl die Öffentlichkeit und der Kreis der unmittelbar oder potenziell Betroffenen, als auch das eigene Ge-wissen. 3.1.2 Moral umfasst summarisch alle von einem Menschen oder einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten Formen des richtigen „Sichverhaltens“ - auch im technischen Bereich. Dazu gehören sowohl Normen (Verfahrensregeln) als auch Werte (allgemein anerkannte Ziele des Handelns). Moralische Normen und Werte sind jedoch nicht erratisch, sie ändern sich. Wurden zum Beispiel noch Ende der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts gegen Ingenieure, die zur Verkehrsberuhigung Schwellen in Wohnstrassen bauten, Verfahren wegen Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz eingeleitet, haben diese Massnahmen heute Eingang in alle Richtlinien gefunden. Der entsprechende Artikel im Strassenverkehrsgesetz ist dabei nicht neu formuliert, sondern im Verlaufe der Zeit neu interpretiert worden. Solche Veränderungen sind oft unabdingbar, um die Handlungsorientierung an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit anzupassen. Gleichzeitig erzeugen sie Verunsicherung, weil sie etablierte Verhaltensmuster in Frage stellen. Denn in unserer Lebensführung sind wir auf Stetigkeit bedacht und versuchen darum, unser Handeln möglichst evolutionär weiterzuentwickeln: Neues muss sich als integrierbar in bisherige Entscheidungen erweisen können und gleichzeitig darf die eigene Vergangenheit sich nicht als Hemmschuh für die Weiterentwicklung des eigenen Lebensentwurfs gerieren. Wer das Überkommene bewahren möchte, muss sich ständig verändern. Solche Veränderungen dürfen sich aber – vergleichbar der akzeptierten Veränderungsgeschwindigkeit in der Stadtentwicklung – nur in einem bestimmten Rahmen vollziehen, soll es nicht zu einer moralischen Heimat- und damit Orientierungslosigkeit kommen. Die Moral bedarf deshalb einer Reflexion durch die Ethik, mit dem Ziel, sie auf ihre Verallgemeinerbarkeit und Vereinbarkeit mit unseren übrigen Überzeugungen zu prüfen. Bildlich gesprochen ist das Spannungsverhältnis von Beharren und Verändern in der Moral mit einer Sicherheitsbindung zu vergleichen: Weder eine starre Verbindung zwischen dem eigenen Verhalten und den überkommenen Werten und Normen, noch eine zu lockere Anbindung ist erstrebenswert. Die Aufgabe der Ethik ist es hier, den richtigen „Einstellwert“ der Bindung zu ermitteln und stets zu kontrollieren. 5 3.1.3 Für was tragen wir Verantwortung? Vor wem müssen wir uns rechtfertigen? Lebensführung vollzieht sich immer im sozialen Raum. Das eigene Leben entwickelt sich inmitten von Abhängigkeitsverhältnissen, zunächst elementar im Blick auf die eigenen Eltern und die eigene Herkunftsfamilie, dann auch, weiter ausgreifend, in Inanspruchnahme und Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, ihren Einrichtungen, Strukturen und Orientierungsmassstäben. Umgriffen werden diese Verhältnisse von unserer Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen. Erst die vielfältigen Institutionen der Gesellschaft eröffnen dem Einzelnen den Raum für ein selbstbestimmtes, freies Leben, in dem sie ihn von einer Vielzahl von Verpflichtungen, Notwendigkeiten und Entscheidungen entlasten. Die Verkehrsinfrastruktur ist ein gutes Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Einrichtungen freiheitssteigernde Mobilität erst möglich machen. Dies begründet zugleich die Verpflichtung, an der Aufrechterhaltung derjenigen Strukturen mitzuarbeiten, denen wir unsere Selbstständigkeit verdanken. Konkret bedeutet das, dass jeder Einzelne in seinen Tätigkeiten auch immer Verantwortung für das öffentliche Wohl übernehmen muss, eine Verantwortung, welche die Bereitschaft zur stellvertretenden Verantwortungsübernahme einschließt. Der Ort einer solchen anwaltschaftlich-stellvertretenden Verantwortungsübernahme ist das jeweilige Berufsethos, insofern der Beruf des Einzelnen gerade seine Form der Mitarbeit an einer gemeinsamen Kultur darstellt. Die Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch das Eingebundensein in die Generationenfolge bedingt es dabei, auch die Interessen der noch nicht entscheidungsfähigen Generation sowie die der leidensfähigen Natur stellvertretend wahrzunehmen. 3.1.4 Das Kriterium einer ethischen Prüfung des Handelns ist das richtige und gute Leben. Richtiges und gutes Leben verweisen dabei auf zwei verschiedene Dimensionen der Ethik. Während sich die Frage nach dem Richtigen auf die Kompatibilität einer Entscheidung mit bestimmten, vorausliegenden Normen konzentriert, nimmt eine ethische Reflexion, die nach dem guten Leben fragt, die in Frage stehenden Güter und Ziele in den Blick. Wer etwa danach fragt, ob ein Verhalten dem Gebot der Verallgemeinerbarkeit von Handlungen entspricht, fragt nach dem richtigen Leben. Wenn man jedoch prüft, ob eine Handlungsoption mit dem Wert unversehrter Natur vereinbar ist, orientiert man sich am guten Leben. Für diese beiden Fragerichtungen hat sich auch die Unterscheidung von Normen und Werten eingebürgert. Beide verfolgen unterschiedliche Begründungsstrategien. Normen greifen auf gemeinsam geteilte Verfahren zurück. Ihre Grundfigur ist das Universalisierungsprinzip. Eine Handlung gilt dann als ethisch legitimiert oder geboten, wenn in anderen Fällen so verfahren wurde und – im Idealfall – stets so verfahren werden kann. Dagegen versucht der Rekurs auf Werte eine Antwort auf die Frage zu geben, warum wir uns überhaupt Normen unterwerfen sollen und welche Güter erstrebt bzw. gemieden werden sollen. In der ethischen Praxis treten beide Orientierungsmuster häufig gemeinsam auf, dennoch ist es wichtig, beide Dimensionen voneinander zu unterscheiden. Denn weder muss das Richtige immer auch das Gute sein, noch das Gute zwangsläufig auch das Richtige. Deutlich wird dies in den Situationen, in denen etwa mit Verweis auf das Verallgemeinerungskriterium die aktive Sterbehilfe befürwortet wird, deren Etablierung aber mit Blick auf die Konsequenzen für das Gut der Verlässlichkeit medizinischer Versorgung und ärztlichem Hilfehandeln abgelehnt wird. Umgekehrt gibt es aber auch Fälle, gerade im Bereich der Umweltethik, in denen mit dem Hinweis auf das rechtfertigende hohe Gut der unversehrten Natur, gegen den Grundsatz des one man – one vote verstoßen wird. Schwierigkeiten tauchen oft auch im Umfeld utilitaristischer Positionen auf, wenn es gilt, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl gegen die individuellen Rechte eines Einzelnen abzuwägen. Aktuell zum Beispiel ist hier die Frage der Fluglärmverteilung: Ist es ethisch legitim, den Lärm so zu konzentrieren, dass nur eine Minderheit betroffen ist (das utilitaristische Prinzip des grössten Glücks der grössten Zahl produziert immer auch Verlierer) oder ist eine gleichmässige Verteilung auf alle Nutzniesser gerechter? 6 3.1.5 Von der Ethik als einer Theorieform zu unterscheiden ist die Rationalität des Handelns, die Lebensführung. Am Anfang der nikomachischen Ethik hält Aristoteles fest: „Jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von Gut als das Ziel, zu dem alles strebt“. Diese Definition ist hilfreich, weil sie einem möglichen Missverständnis entgegenwirken kann: Unser Handeln wird nicht durch dem Tun vorausliegende Gründe und Normen ausgelöst; ebenso wenig von entsprechenden Gütern und Zielen. Beides spielt beim Handeln und bei der Lebensführung eine Rolle, ist aber von ihm nicht als ein selbstständiger Prozess abzusondern. Vielmehr werden die zu erstrebenden Güter ebenso wie die Gründe und Motive einer Handlung durch diese selbst generiert und strukturiert. Die aristotelische Formel, derzufolge das gute Leben dasjenige ist, das auf der Suche nach dem guten Leben verbracht wird, bringt diesen Sachverhalt ebenso zum Ausdruck wie das Sprichwort „Es gibt nichts Gutes außer man tut es“. Die Kriterien für dieses Gute sind dabei im Prozess des Handelns selbst lokalisiert; sie verdanken sich jener Intuition und jenem Habitus, die das Handeln bestimmen, liegen aber außerhalb des Handelns zunächst nicht als selbstständige Größen vor. Ein Großteil der Probleme gerade in der anwendungsorientierten Ethik resultieren aus der auf Platon zurückgehenden Vorstellung, wenn man erst das Gute erkannt habe, dann könne auch dementsprechend gehandelt werden. Dem widerspricht jedoch die Alltagserfahrung: Wenn ich sehe, dass ein Kind vor ein Auto läuft, werde ich versuchen, es festzuhalten, ohne über die Gründe, Normen und Ziele dieses Verhaltens nachzudenken. Diese Fragen kommen erst dann ins Spiel, wenn ich beginne, über das eigene Handeln zu reflektieren, also die Ebene der Theorie der Lebensführung einnehme. Gründe und Ziele dienen dazu, das eigene Verhalten kommunikabel zu machen, nicht dazu es zu konstituieren. Dies gilt allein darum, weil jede Reflexion über die Gründe oder die Ziele einer Handlung immer schon auf eine Handlung rekurrieren muss (vgl. Fichte, Einheit von Theorie und Praxis) 3.2 WAS SOLL ICH TUN? DIE METHODIK DER ETHIK 3.2.1 Eine solche Einsicht kann vor zu hohen Erwartungen an die handlungsleitende Kraft von Argumenten schützen. Denn nicht also schon beim Handeln, sondern wenn man in den Diskurs über die Lebensführung eintritt, sei es vor dem Forum des eigenen Gewissens, sei es vor Anderen, steht die Frage der Rechtfertigung einer Handlung im Mittelpunkt. Damit aber stellt sich nun die Frage, welcher Struktur ein solche Rechtfertigung folgen solle, nachdem oben bereits festgestellt wurde, dass es zwei grundsätzliche Möglichkeiten dafür geben kann, nämlich eine Rechtfertigung und Überprüfung im Blick auf das Rechte und im Blick auf das Gute. 3.2.2 In unserer durch das Menschenrechtsdenken der Aufklärung geprägten ethischen Kultur nimmt die Würde des Menschen den Charakter einer grundlegenden Norm ein. Das bedeutet, dass alle weiteren Güter und Normen nur dann ethisch legitim sind, wenn sie mit dem Prinzip der Menschenwürde vereinbar sind. In seinem Kern besagt der Menschenwürdegedanke, dass für den Menschen „kein Äquivalent verstattet ist“ (Immanuel Kant), dass also der Wert eines Menschen nicht mit irgendetwas anderem verrechenbar ist. Verschiedene Güter sind deshalb nur dann gegeneinander abzuwägen, wenn dabei die Würde des Menschen nicht verletzt wird. 7 3.2.3 Das Prinzip der Menschenwürde konkretisiert sich besonders in der Hochschätzung der Freiheit, die historisch wie systematisch den Ausgangspunkt jeden Nachdenkens über das richtige und gute Handeln darstellt: Nur wer sich selbst als nicht vollständig durch Religion, Natur oder Gewohnheit determiniert wahrnimmt, kann sinnvoll über die Fragen der Ethik nachdenken. In der europäischen Geschichte ist dies erstmalig der Fall mit dem Abschied vom mythischen Weltbild und der Emanzipation des Einzelnen von den in diesem Weltbild festgeschriebenen Verhaltenserwartungen in der vorsokratischen griechischen Philosophie. Freiheit bedeutet damit die Möglichkeit, den eigenen Willen als Antriebskraft für eigene Handlungen der Vernunft zu unterstellen. Im Blick auf das Zusammenleben in einer Gesellschaft resultiert aus dem Leitgedanken der Menschenwürde sodann das Grundprinzip der Gerechtigkeit. Es besagt, in Respekt vor der nicht mit etwas anderem verrechenbaren Würde des Einzelnen, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Zusammengenommen mit den Gedanken von Freiheit und Gerechtigkeit ergibt sich schließlich aus der Menschenwürde das Prinzip der Solidarität. Denn insofern jedem Menschen das gleiche Maß an Freiheit aufgrund seiner eigenen Würde zukommt, er also in dieser Perspektive gleich zu behandeln ist, ist auch darauf zu achten, dass er im Rahmen der durch die Gerechtigkeit vorgegebenen Grenzen seine Freiheit mit Unterstützung seiner Mitmenschen auch wirklich realisieren kann. Solche Solidarität erstreckt dabei grundsätzlich über die eigene Generation hinaus, auch auf die Eltern- und Nachkommengeneration. Der Respekt vor deren Freiheit und Würde verbietet es, denen, die nicht mehr oder noch nicht Handeln können, einen geringeren Wert zuzuschreiben. Er verpflichtet vielmehr dazu, für diese Gruppen eine anwaltschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Ob sich darüber hinaus eine generelle Solidarität mit weiteren nachfolgenden Generationen ethisch begründen lässt, ist umstritten. Wohl aber resultiert aus der Hochschätzung der Freiheit der Appell, Freiheitsspielräume auch für Nachfolgende zu erhalten. 3.2.4 Ethische Urteile setzen sich aus Regelkenntnis und Faktenkenntnis zusammen. Wer entscheiden möchte, muss wissen, was der Fall ist. Dazu muss er die Alternativen ausmachen und leitende Wert- und Normvorstellungen, besonders auch die rechtlichen Rahmenbedingungen kennen. Doch ein ethisches Urteil entsteht erst durch die Kombination von verschiedenen Arten des Wissens. Die Kunst der Ethik – wie die Kunst der Lebensführung – besteht in der Fähigkeit, situationsbezogen Fakten- und Regelkenntnis miteinander in Einklang zu bringen. Dabei gilt: Fakten ohne Bewertungsmaßstäbe erzeugen nur ein diffuses Rauschen ohne handlungsleitenden Informationsgehalt. Bewertungsmaßstäbe ohne Faktenkenntnis jedoch sind ebenso inhaltsleer. 3.2.5 Noch ehe wir überhaupt in die ethische Reflexion eintreten können, gilt es zuallererst, eine Situation adäquat zu verstehen. Es muss identifiziert werden, ob und welche ethischen Normen hier überhaupt tangiert werden. Dieses Verständnis begründet zunächst den interdisziplinären Charakter der Ethik und verweist sie an die jeweiligen Fachwissenschaften, wie es zugleich über sie hinausweist. Für das Verständnis einer bestimmten Situation ist die Fach- und Detailkenntnis der jeweils beteiligten Disziplinen unumgänglich. Nur wer die Auswirkungen im Blick auf Flächenverbrauch und Immissionen einer bestimmten Trassenplanung durch eine genaue Kenntnis der technisch bedingten Notwendigkeiten sachgerecht beschreiben kann, kann eine verlässliche Grundlage bieten für die weitere, über die bloße Faktenkenntnis hinausgehendende ethische Reflexion. Auf der anderen Seite kann das Faktenwissen aber nicht schon die Beurteilung einer bestimmten Situation leisten. Was im einzelnen ein irreversibler Eingriff in die das Lebensumfeld eines Einwohners für diesen bedeutet, lässt sich nicht an abstrakten Nutzwerten ablesen. 8 3.2.6 Weil sich ethisch relevante Entscheidungen im Überschneidungsbereich von Fachkompetenz und Regelkenntnis vollziehen, ist die ethische Reflexion zwar von der Fachexpertise zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Die fachwissenschaftlich verantwortete Beschreibung einer Problemlage liefert das Material für die Prüfung der Handlungsalternativen vor dem Hintergrund der Suche nach dem richtigen und guten Leben. Umgekehrt muss die Implementierung der Ergebnisse einer solchen Überprüfung wiederum von den entsprechenden Fachkompetenzen und den ihnen zugeordneten Entscheidungsprozessen geleistet werden. 3.2.7 Der Komplementarität von Sach- und Regelkenntnis, von Faktenwissen auf der einen, Werte- und Normenkenntnis auf der anderen Seite entsprechend, sind beide Elemente in einer Stakeholderanalyse zur Vorbereitung einer Entscheidung zu berücksichtigen: In einer planungsrelevanten Analyse sind somit nicht nur die Fragen des technisch Machbaren, sondern auch des ethisch Wünschenswerten und Verantwortbaren zu berücksichtigen und im Abwägungsprozess aufeinander zu beziehen. Denn ebenso wie sich eine denkbare Alternative nach fachlich-technischen Gründen als nicht realisierbar erweisen kann, so gilt auch, dass sich aus der ethischen Reflexion heraus Optionen als nicht durchführbar erweisen und somit aus der weiteren Überlegung ausgeschlossen werden müssen. So wären im nachfolgenden Beispiel allein die Alternativen C und E in der weiteren Planung zu berücksichtigen und ihrerseits einer genaueren, weiterführenden technischen Analyse zu unterziehen. TECHNISCH MÖGLICHE LINIENFÜHRUNGEN EINER UMFAHRUNGSSTRASSE FACHLICHE PERSPEKTIVE ETHISCHE PERSPEKTIVE Linienführung A machbar abzulehnen Linienführung B abzulehnen abzulehnen Linienführung C machbar machbar Linienführung D abzulehnen machbar Linienführung E machbar machbar 3.2.8 Dieser Prozess gegenseitiger Ergänzung und Korrektur bildet für sich auch noch einmal die beiden Elemente des richtigen und des guten Lebens ab: Das Kriterium des Richtigen bezieht sich in besonderer Weise auf eine sachgerechte, lege artis vorgenommene Situationsbeschreibung und eine methodisch korrekt vorgenommene Reflexion leitender Normen (Machbarkeitsstudie). Ergänzend dazu soll die Überprüfung der Fachexpertise an den ethischen Leitlinien sicherstellen, dass das Richtige auch als das Gute angenommen werden kann. Aufgrund der konstatierten Verschränkung von Fachwissen und Regelkenntnis kommt dem Berufsethos der einzelnen Akteure eine besondere Bedeutung zu. Sie müssen als die eigentlich Handelnden und als die fachspezifischen Experten in besonderer Weise die Kunst der ethischen Reflexion beherrschen. Dabei ist die intellektuelle Aufrichtigkeit, die Selbstverpflichtung zu einer möglichst genauen Analyse der Situation Ausdruck individueller Würde und Freiheit und zugleich das vielleicht wichtigste Element des Berufsethos. 9 3.2.9 Als einer Kunst der Kombination gelten für die Ethik andere Kriterien der Exaktheit wie etwa in der Mathematik und der Logik. Schon Aristoteles hatte darum konstatiert: „Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen, wie man es ja auch nicht im Handwerklichen tut. [...] Denn es kennzeichnet den Gebildeten, in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, wie es die Natur des Gegenstandes zulässt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und vom Redner zwingende Beweise fordern würde.“ (Nikomachische Ethik, 1094b). Ethische Urteile lassen sich zwar auf Konsistenz und Kohärenz hin überprüfen. Dennoch bleibt stets ein Spielraum für individuelle Abwägungen und Plausibilitäten. Hermann Lübbe hat darum vom „dezisionistischen Rest“ gesprochen und damit denselben Sachverhalt benannt, der hier mit der Selbstständigkeit des Handelns zum Ausdruck gebracht wird: Handeln ist nicht einfach die Anwendung zuvor gewonnenen Wissens, sondern die kreative Umsetzung von Intuitionen, die ihrerseits wieder geprägt werden durch die Reflexion über die Lebensführung. Seine Regeln folgen keiner Begründungslogik, sind jedoch auch keinesfalls beliebig. Sie folgen jedoch einer Rationalität, die nur den Entscheidenden selbst bindet, ihm aber nicht vollständig zur Disposition steht: Die Kontexte, in denen ich aufgewachsen bin und in denen ich mich selbst verorte, prägen sehr nachhaltig die Vorzugsregeln, nach denen ich mich in ethischen Konfliktlagen orientiere. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass Entscheidungen keinesfalls allein durch das Abwägen von Argumenten zustande kommen, sondern ein komplexes Ineinander von Affekten und Intuitionen darstellen. So gehen in solche Abwägungsprozesse immer auch vermeintlich sachfremde Elemente ein, etwa Sympathien und Antipathien sowie Erwägungen, die auf der Beziehungsebene angesiedelt sind und die mittelfristigen Folgen einer entsprechenden Positionierung kalkulieren: Welche Konsequenzen hat es über die konkret zur Debatte stehende Entscheidung hinaus, wenn ich mir die Argumentation eines Gegenübers und einer Gruppe zu eigen mache oder mich ihr verschließe? Nicht zuletzt sind hier auch die Einsichten der psychologischen Forschung zu berücksichtigen, die das Phänomen von Kongruenz und Abweichung zwischen Einstellungen und tatsächlichem Verhalten zum Thema haben: Realisiertes Verhalten folgt nicht notwendig den selbst artikulierten Einstellungen. 3.2.10 Da handlungsleitende Urteile damit notwendig einen individuellen Zuschnitt haben, sich menschliches Handeln aber immer in einem sozialen Raum vollzieht, besteht ein Gutteil der ethischen Reflexion darin, die Gemeinsamkeiten und Kompatibilitäten der einzelnen Positionen auszuloten. Ethik fragt hier nicht nur bei mir selbst nach den Gründen, Motiven und Intuitionen, die eine handlungsrelevante Entscheidung steuern, sondern auch bei den anderen Betroffenen. Ihr Ziel ist es dabei, einen overlapping consensus (John Rawls) zu erreichen, eine Schnittmenge der verschiedenen Positionen. Daraus folgt zugleich die besondere Bedeutung des Kompromisses für die Ethik. 10 3.3 WAS DARF ICH HOFFEN? DER METHODISCH VERANTWORTETE KOMPROMISS ALS ZIEL DER ETHIK 3.3.1 Der individuelle Charakter ethischer Urteile bedeutet nicht, dass es keine Verständigung über gemeinsame methodische Standards, oder besser: über die Kunstregeln der ethischen Urteilsbildung geben könnte. Die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit beim Erstellen einer fachbezogenen und regelbezogenen Expertise ist dabei schon genannt worden. Solche Kunstregeln bilden die Grundlage für eine im Kompromiss zu findende Konvergenz unterschiedlicher Sichtweisen, insofern sie es erlauben, die unterschiedlichen Perspektiven, nicht zuletzt auch konkurrierende Güter wie etwa Immissionsschutz und die Bewahrung gewachsener Landschaft- und Lebensräume methodisch kontrolliert aufeinander zu beziehen. Zugleich erfüllen sie für die an einer Entscheidung Beteiligten eine Entlastungsfunktion. Denn sie bilden eine Struktur ethischer Reflexion, mit deren Hilfe eine verfahrensorientierte Reduktion und damit Operationalisierung der Komplexität ethischer Urteilsbildung, die „Vielspältigkeit“ des Ethischen (Ernst Troeltsch) erfolgen kann. Solche Kunstregeln ersetzen dabei nicht die Entscheidung, aber sie strukturieren sie vor und machen sie so einem transparenten Verfahren zugänglich. 3.3.2 Wer und was gehört zum Kreis der zu berücksichtigenden Interessen? Der innerste Kreis umfasst die heute am Ort Lebenden und vom Projekt tangierten Menschen. Die etablierten Mitwirkungs- und Partizipationsverfahren in Verkehrs- und Raumplanung decken diesen Bereich weitgehend ab. Die nächsten beiden Kreise werfen die Fragen der intragenerationellen Solidarität mit allen heute lebenden Menschen und der intergenerationellen Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen auf. Sie umfassen das, was heute allgemein unter dem Prinzip der Nachhaltigkeit verstanden wird. Auf der Ebene der allgemeinen Proklamation besteht dazu heute ein allgemeiner Konsens, der sich in internationalen Vereinbarungen und in der Bundesverfassung ausdrückt. Für die konkrete Projektebene ist eine Konkretisierung und Vereinbarung nötig, was für die Beteiligten gemeinsam gelten soll. Die anschliessenden Kreise umfassen die Natur. Sie reichen von leidensfähigen Tieren (pathozentrische Ethik) bis zur gesamten Natur (Ehrfurcht vor der Schöpfung - Albert Schweitzer). Zumindest im anthropozentrischen Bereich besteht heute ein Konsens darüber, dass zu den heute Lebenden auch die Interessen zukünftiger Generationen zu bedenken sind, dass also alle drei inneren Kreise in die Betrachtungen und Abwägungen einzubeziehen sind. Im biozentrischen Bereich beschränkt sich die Einigkeit zumindest auf die empfindsame Natur, auf Tiere, die leidensfähig sind. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Interessen immer nur stellvertretend von den heutigen Entscheidungsträgern wahrgenommen werden können. Dies bringt mit sich, dass die Argumentation mit den Interessen der empfindsamen Natur und den zukünftigen Generationen auch leicht als Stärkung der eigenen Position missbraucht werden kann. Darum muss in einem Beurteilungsverfahren sorgsam auf die Unterscheidung der verschiedenen Argumente geachtet werden. Darüber hinaus empfiehlt es sich, die Kreise nicht nur im Sinne einer Unterscheidung, sondern auch im Sinne 11 einer Hierarchisierung zu begreifen. Der Verweis auf die Nachfolgenden kann eine in der Gegenwart getroffene Entscheidung korrigieren, er kann aber nicht eine Handlung legitimieren, die im Gegensatz zu den erklärten Interessen der Gegenwart und den unmittelbar Betroffenen stehen. 3.3.3 Drei Fragen identifizierte Immanuel Kant als die Grundfragen des Menschen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die Kunstregeln der ethischen Urteilsfindung nehmen diese drei Dimensionen auf und transformieren sie in Leitsätze für die Praxis. Dabei bringen die drei Dimensionen zugleich die Reflexion auf das Gewordene, das im Werden Begriffene und das Zukünftige zum Ausdruck und umfassen darin Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das nimmt zugleich die bereits oben dargestellte Position auf, dass die ethische Urteilsbildung ich auf mehr als die eigene Gegenwart erstreckt. 3.3.4 Die erste Dimension: Was kann ich wissen? leitet dazu an, die Situation, die zu einer Handlungsentscheidung herausfordert, möglichst präzise wahrzunehmen. Das bezieht sich auf die Analyse des Gegebenen, die Implikationen der möglichen Handlungskonsequenzen, die Frage nach den Betroffenen und ihren Interessen. Darüber hinaus gilt es auch, die möglicherweise tangierten Normen und Güter zu identifizieren. Zu einer solchen Analyse gehört es auch, anwaltschaftlich vorzugehen und Position derjenigen zu berücksichtigen, die diese nicht selbst artikulieren können. 3.3.5 Die zweite Dimension: Was soll ich tun? umfasst Themenbereiche, die sich mit den Fragen des Richtigen und Guten auseinandersetzen. Die Wahrung der Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit, die Beachtung von Gleichheit und Fairness sind hier zu nennen, ebenso auch die Frage nach der Allgemeingültigkeit und der Kompatibilität für zukünftige Generationen. 3.3.6 Die dritte Dimension: Was darf ich hoffen? nimmt das Ziel menschlichen Handelns in den Blick. Sie ist dabei maßgeblich davon geleitet, einen Ausgleich zu erzielen zwischen dem Bewusstsein von Freiheit und Selbstständigkeit des Menschen und dessen Sehnsucht nach der Überwindung der Kontingenz und Vereinzelung, die sich daraus als Kehrseite ergibt. Das Bestreben, in Respekt vor der Sonderstellung des Menschen, seiner Fähigkeit zur Distanzierung von der eigenen Natur, zugleich zu einer Existenz im Einklang mit der Natur zu gelangen, ist der gemeinsame Fluchtpunkt der hier zu berücksichtigenden Fragen. Nachhaltigkeit, Geborgenheit und die Wahrnehmung vor dem Schönen sind hier besonders zu nennen. 12 3.3.7 Damit ergeben sich folgende planungsethische Leitsätze für die Praxis: WAS KANN ICH WISSEN? LEITSÄTZE ZUR PROJEKTVORBEREITUNG 1. UMFASSENDE BETRACHTUNG Die Interessen und Bedürfnisse aller heute und zukünftig Betroffenen – Mensch, Wirtschaft und Natur –- einbeziehen. 2. WAHRNEHMEN DER VERANTWORTLICHKEIT FÜR SICH UND FÜR ANDERE Interessenkonflikte erkennen, bedenken und offen behandeln. Die Interessen und Bedürfnisse Schwacher und Nichtanwesender anwaltlich vertreten. 3. ÜBER DIE GRENZEN DENKEN Nichts unbedacht als gültig betrachten. Spielräume für neue Lösungen entdecken und kreativ nutzen. WAS SOLL ICH TUN? LEITSÄTZE ZUR PROJEKTDURCHFÜHRUNG 4. SPIELRÄUME OFFENHALTEN Nachfolgenden Generationen Optionen für neue Entwicklungen und Neuorientierungen ohne grossen Reparatur- und Beseitigungsaufwand offen halten. 5. GERECHTIGKEIT Faire Verfahren und gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten in Bezug auf alle heute und zukünftig Betroffenen. 6. ERBEN UND VERERBEN Achtung vor der Würde des in langer Zeit Gewordenen. Erhalten und Verbessern der uns übergebenen natürlichen und kulturellen Ressourcen, Objekte und Netze. 7. IDENTITÄT UND UND GEBORGENHEIT Natürliche und kulturelle Elemente, die für die Erfahrung von Heimat und Herkunft wichtig sind, erkennen, stützen und weiterentwickeln. WAS DARF ICH HOFFEN? LEITSÄTZE ZUR PROJEKTEVALUATION 8. HANDELN NACH DEM UNIVERSALISIERUNGSPRINZIP Könnte ich der Lösung auch zustimmen, wenn ich in einer andern Existenz aus dem Kreis der Betroffenen mit den Projektauswirkungen konfrontiert würde? 9. IM URTEIL ZUKÜNFTIGER GENERATIONEN Wie werden spätere Generationen uns und unser heutiges Handeln bei diesem Projekt beurteilen? 13 4. ABSTIMMUNG AUF DIE ÜBERGEORDNETEN GRUNDLAGEN Infrastrukturprojekte und Siedlungsplanungen haben eine ausgesprochene Hebelwirkung. Sie bestimmen in hohem Masse die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung und das Bild der Zukunft. Sie sind weitgehend irreversibel. Deshalb ist es wichtig, sie auf die Ziele der übergeordneten Grundlagen abzustimmen. Diese sind vom Bundesrat gestützt auf die Bundesverfassung formuliert worden. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Leitsätze mit der Bundesratsstrategie 2002 verbunden sind. Mit der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2002 hat der Schweizerische Bundesrat Zielrichtung und Kriterien für die zukünftige Entwicklung der Schweiz formuliert. Mit der Nachhaltigkeitsbeurteilung NHB des Bundesamtes für Raumentwicklung und mit Nistra (Nachhaltigkeitsindikatoren für den Strassenbau) wurden Umsetzungsinstrumente entwickelt. Damit stehen für Verkehrs- und Raumplanung Grundlagen für die praktische Anwendung zur Verfügung. Der planungsethische Beitrag besteht darin, eine Konkretisierung im normativen Bereich zu leisten und die systematische Steuerung von Projekten im Hinblick auf die Bundesratsstrategie zu ermöglichen. Ausgangspunkt der Bundesratstrategie ist die Bundesverfassung. Mit der Präambel bindet diese das Schweizervolk und die Kantone u.a. in die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen ein. Artikel 2 umfasst den übergeordneten Zweck der Eidgenossenschaft. Dieser umfasst die Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt, der nachhaltigen Entwicklung, des inneren Zusammenhaltes und der kulturellen Vielfalt. Damit wird die Nachhaltige Entwicklung zu einem Staatsziel der Eidgenossenschaft. Gemäss Artikel 73 haben Bund und Kantone – als verbindlicher Handlungsauftrag an die staatlichen Organe aller Stufen – „ein auf die Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits“ anzustreben. In welchem Verhältnis stehen die im vorangehenden Kapitel formulierten Leitsätze zu den Grundprinzipien der Bundesratstrategie? 14 Bundesratsstrategie Nachhaltige Entwicklung 2002 und Leitsätze Grundprinzipien Bundesratsstrategie Ziele der Leitsätze Inhalte der Leitsätze Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt und ganzheitliche ausgewogene Berücksichtigung von Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft Die Leitsätze 1, 2, 3 stellen an die Projektverantwortlichen diejenigen Fragen, welche eine ganzheitliche Betrachtung und Organisation gewährleisten 1. UMFASSENDE BETRACHTUNG Die Interessen und Bedürfnisse aller heute und zukünftig Betroffenen – Mensch, Wirtschaft und Natur einbeziehen. 2. WAHRNEHMEN DER VERANTWORTLICHKEIT FÜR SICH UND FÜR ANDERE Interessenkonflikte erkennen, bedenken und offen behandeln. Die Interessen und Bedürfnisse Schwacher und Nichtanwesender anwaltlich vertreten. 3. ÜBER DIE GRENZEN DENKEN Nichts unbedacht als gültig betrachten. Spielräume für neue Lösungen entdecken und kreativ nutzen. Berücksichtigung der Interessen zukünftiger Generationen (intergenerationelle Solidarität) und aller Erdenbewohner (intragenerationelle Solidarität) Stärkung des inneren Zusammenhaltes und Erhaltung der kulturellen Vielfalt Die Leitsätze 4, 5, stecken den Rahmen ab für den ethischen Diskurs über Projekte und deren Wirkungen. Sie umfassen die Interessen der heute Lebenden, zukünftiger Generationen und der leidensfähigen Natur. 4. SPIELRÄUME OFFENHALTEN Nachfolgenden Generationen Optionen für neue Entwicklungen und Neuorientierungen ohne grossen Reparatur- und Beseitigungsaufwand offen halten. Die Leitsätze 6, 7 lenken die Optik auf die natürliche und kulturelle Umwelt im Hinblick auf deren Erhaltung und deren Bedeutung für die lokale Geborgenheit der Menschen in der globalisierten Welt. 6. ERBEN UND VERERBEN Achtung vor der Würde des in langer Zeit Gewordenen. Erhalten und Verbessern der uns übergebenen natürlichen und kulturellen Ressourcen, Objekte und Netze. Umsetzung der Verfassungsaufträge auf Die Leitsätze 8, 9 nehmen die allen Stufen von Bund und Kantonen Handelnden in die Verantwortung. Sie stellt diese sozusagen „daneben“ und lässt sie einen reflektiven Blick werfen auf das, was sie tun. 5. GERECHTIGKEIT Faire Verfahren und gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten in Bezug auf alle heute und zukünftig Betroffenen. 7. IDENTITÄT UND UND GEBORGENHEIT Natürliche und kulturelle Elemente, die für die Erfahrung von Heimat und Herkunft wichtig sind, erkennen, stützen und weiterentwickeln. 8. HANDELN NACH DEM UNIVERSALISIERUNGSPRINZIP Könnte ich der Lösung auch zustimmen, wenn ich in einer andern Existenz aus dem Kreis der Betroffenen mit den Projektauswirkungen konfrontiert würde? 9. IM URTEIL ZUKÜNFTIGER GENERATIONEN Wie werden spätere Generationen uns und unser heutiges Handeln bei diesem Projekt beurteilen? 15 5. FOLGERUNGEN FÜR DIE INGENIEURPRAXIS Wie können die planungsethischen Grundlagen in der Praxis eingesetzt werden? Welche Aspekte sind dabei zu beachten? Die folgenden Überlegungen beleuchten Themen in den Projektabläufen, die für die Verbindung der beiden Prozessebenen – technische Ebene und Werteebene – wichtig sind. 5.1 EIN BEISPIEL Die Erschliessung des Flughafens Bern-Belp und verschiedener Industrie- und Gewerbezonen führt heute durch die Wohngebiete der Gemeinden Belp und Kehrsatz und ist bezüglich Ausbaugrad und Linienführung ungenügend. In einem von Kanton, Region, Gemeinden und Flughafenbetreibern gemeinsam getragenen, offenen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess sollen deshalb Lösungen für die heute unzureichenden Zufahrten zum Flughafen Belp gefunden werden. Ziel ist, gemeinsam einen Korridor zu bestimmen, innerhalb dessen die Projektierung eingeleitet werden kann. Im ersten Arbeitsschritt wurden mit einer technischen Machbarkeitsuntersuchung mögliche Korridore für eine neue Strassenführung bestimmt. Die folgenden Diskussionen dieser Möglichkeiten haben dann die Interessengegensätze zwischen ökologischen, psychologischen, politischen, technischen und wirtschaftlichen Standpunkten deutlich gemacht: Bewohner wollen keine Immissionen und Gefährdungen, sie ziehen die siedlungsfernen Linienführungen vor. Gleichzeitig wollen sie die Naturräume in der Umgebung als Naherholungsräume erhalten. Konflikt: Wohnqualität versus Erhaltung von Naturräumen Die Bewohner des dicht besiedelten Mehrfamilienhausquartiers, durch welches die Zufahrt heute führt, wollen endlich eine Entlastung. Die Menschen im neuen Einfamilienhausquartiers wehren sich gegen zusätzliche Belastungen durch eine neue Strasse entlang ihrer Bauzonengrenze. Konflikt: Individuelles gutes Leben versus Kollektivinteressen Wirtschaftsvertreter und Automobilverbände fordern eine attraktive neue Zufahrtsstrasse zum Flughafen. Umweltverbände fordern eine nachhaltige Lösung mit dem öffentlichen Verkehr. Konflikt: Kurzfristige Interessen versus nachhaltiges Handeln. 16 5.2 KONFLIKTE AUF DER WERTEEBENE Die Argumente und Konflikte, die im Fallbeispiel zutage treten, liegen nicht auf der mit dem Projekt üblicherweise abgedeckten Sachebene, sondern auf der Werteebene. Um auf sie eingehen zu können, müssen Verbindungen von der Theorie der Ethik zu den im Planungsbereich etablierten Verfahren und Abläufe geschaffen werden. Dazu müssen die folgenden Themen beleuchtet werden: Verhältnis zwischen technischen und ethischen Aspekten: In welchem Verhältnis stehen technische Sachprozesse und planungsethische Beurteilung zueinander? Wie können sie sinnvoll verbunden werden? Aufgaben auf den verschiedenen Planungsebenen: Projekte durchlaufen hierarchisch verschiedene Planungsebenen. Welche Fragen stellen sich auf den jeweiligen Ebenen? Welche Charakteristiken sind zu beachten? Beteiligte, Rollen und Aufgaben: Die Planungsabläufe basieren auf etablierten gesetzlichen und normierten Verfahren. Wem kommen auf den jeweiligen Planungsebenen welche Aufgaben und Verantwortungen zu? Verhältnis zu Partizipation und Mitwirkung: Mitwirkung und Partizipation in Verkehr und Raumplanung sind gesetzlich vorgeschrieben und haben sich etabliert. In welchen Verhältnis zueinander stehen Partizipation und Planungsethik? Die Folgerungen und Erkenntnisse zu diesen Fragen sind in Kapitel 5.7 dargestellt. 17 5.3 VERHÄLTNIS ZWISCHEN TECHNISCHEN UND ETHISCHEN ASPEKTEN Das Fallbeispiel zeigt: Die Diskussionen verlaufen in zwei Bereichen: Zum einen auf der Ebene der technischen Aspekte, in denen Ingenieure sattelfest sind und die in Projekten und Nutzwertanalysen behandelt werden. Parallel dazu, aber mit dem technischen Sachprozess verwoben, verläuft ein meist unterschwelliger Diskurs auf der Ebene der Einstellungen und Werte. Im Fallbeispiel angesprochen werden Verteilungsgerechtigkeit von Lärm, Fairness und Transparenz in den Verfahren, Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, Autonomie, Schadensvermeidung etc.. Theoretisch ist zu diesen Fragen rasch ein Konsens erreicht. Anders sieht es aus, wenn die Auswirkungen konkreter Projekte zu diskutieren sind. Ethische Güter werden in der Konkretisierung unterschiedlich bewertet und gewichtet. Dies drückt sich dann (trotz grundsätzlichem Konsens) in einem Anwendungsdissens aus und die unterschwelligen Wertungskonflikte erschweren die Diskussion. Um diese Klippen zu meistern, müssen die Konflikte offengelegt und in den Projektprozessen die Bereiche der Sach- und der Wertediskussion klar auseinandergehalten werden. Im Sachprozess werden die Fakten ermittelt, es wird gezeigt, „was Sache ist“, wie sich das Projekt in den verschiedenen Bereichen auswirkt. Ob diese Auswirkungen auch gewünscht sind und verantwortet werden wollen, muss im planungsethischen Diskurs beantwortet werden. Daraus ergibt sich die Positionierung der planungsethischen Betrachtung in Bezug auf die technischen Verfahren und Methoden: Sie ist ein ständiger Prozess während der Bearbeitung, und sie hilft an Schlüsselstellen ganzheitliche Urteile zu fällen. Mit andern Worten: Verlauf und Ergebnisse des Sachprozesses werden an den Inhalten der ethischen Diskussion (Orientierungsebene) immer wieder kritisch gespiegelt. Im Fallbeispiel: Die aus den technischen Machbarkeitsstudien resultierenden Varianten werden im planungsethischen Diskurs anhand der Leitsätze beurteilt. Jede Variante wird daraufhin beurteilt, ob sie aus ethischer Sicht grundsätzlich vertretbar ist (unter welchen Bedingungen) oder ob sie abzulehnen ist (mit Begründung). Nur die mit Ja beantworteten Varianten gehen mit den Bedingungen in die nachfolgende technische Bearbeitung über. Diese frühzeitige Verständigung über grundsätzliche Haltungen schafft klare Verhältnisse, ermöglicht die Konzentration der Kräfte auf die erfolgversprechenden Lösungen und spart Zeit und Geld. 18 5.4 AUFGABEN AUF DEN VERSCHIEDENEN PLANUNGSEBENEN Für die planungsethische Betrachtung ist die Planungsebene von entscheidender Bedeutung, weil der Entscheidungs- und Beeinflussungsspielraum je nach Projektstufe sehr unterschiedlich ist: Während auf der Strategieebene Grundsatzentscheide und weitreichende Weichenstellungen erfolgen können, liegt der Spielraum auf der Projektebene hauptsächlich in lokalen Gestaltungs- und Betriebsentscheiden. Zwischen der Strategie und dem Projekt rückt der Betrachtungszeitraum der Projektwirkungen vom Heute ins Morgen, vom Grundsätzlichen ins Konkrete. Je nach Ebene sind die Betroffenen mehrheitlich abwesend (Strategieebene) oder anwesend (Projektebene). Damit hängen die Aufgaben der Bearbeiter zusammen: von gutachterlicher Tätigkeit bei Strategien bis zur Partizipation bei Projekten. EBENEN BETRACHTUNGSZEIT AUFGABEN ERGEBNIS Strategie gutachterlich Grundsatzentscheid Konzept anwaltlich Variantenentscheid Planung paritätisch Massnahmenprogramm Projekt partizipativ Gestaltungs- und Heute Morgen INTERESSENVERTRETUNG Anwesende Vertretene Betriebsentscheid 19 Die Gliederung in Projektstufen in Verkehrs- und Raumplanung ist in der Systematik des Bundesgesetzes über die Raumplanung und der VSS-Normen festgelegt. Die planungsethischen Methoden müssen auf diese etablierten Grundlagen abgestellt und mit ihnen verbunden werden. EBENE Raumplanung Verkehrsplanung (Bundesgesetz über Raumplanung, Verordnungen) (Richtlinien VSS) Inhalt STRATEGIE Entwurf des generellen Vorgehens, mit dem der Handelnde bestimmte Ziele zu erreichen sucht KONZEPT Ergebnisse - Transportsysteme - Generelle Wahl von Verkehrssystemen - Visionen, Szenarien, Prognosen - Mobilitätsentwicklungen - Mobilitätsbeeinflussung - Mögliche nationale Entwicklungen - Ziele - Verkehrspolitische Positionen - Analyse der Flächennutzungsprobleme - Leitbilder, Planungsgrundsätze - Koordinationsplattform - Variantenentscheid - Transportnachfrage - Modalsplit-Entscheid - Modalsplit-Varianten - Planungsstudien - mögliche Flächen, Standorte, Korridore - Wahl der Korridore und Flächen - Betriebskonzepte - Belastungspläne je Verkehrsträger - Legislaturziele - Analyse raumwirksamer Tätigkeiten - Gesamtkonzepte - Gesamtrichtpläne - Teilrichtpläne Projekt Nutzungspläne - Grundsätze der Flächennutzung - Anordnungsprinzipien - Investitionsprioritäten - Sachkonzepte Vorschlag von Mass- Massnahmenmöglichnahmen, um unter Bekeiten rücksichtigung von Randbedingungen und Prog- Pflicht zur Abwägung nosen die gewählten bei HandlungsspielZiele zu erreichen räumen Darstellung eines künftigen Zustandes von Flächennutzungen, Bauten und Anlagen sowie der natürlichen Umwelt Inhalt - Legislaturprogramm - Politische Grundsatzentscheide Generelle Vorschläge um - Entwicklungsvarianten erkannte Probleme zu lösen oder bestimmte - GesamtplanungsZiele zu erreichen studien PLANUNG Ergebnisse - Massnahmenpläne - Variantenprüfung - Vorprojekte - Vorentscheide Zonenpläne Objektpläne - Umfassende Projektbearbeitung - Definitive Bauprojekte - Ausführungsmöglichkeiten - Betriebsplan, Unterhaltsplan - Realisierungsplan - Betriebsvarianten Inhalte, zeitliche Dimension und Ergebnisse sind in den verschiedenen Planungsstufen verschieden. Die an den Leitsätzen orientierten ethischen Fragen sind jedoch dieselben. Um die Leitsätze für konkrete Projekten anzuwenden, müssen diese deshalb in Bezug auf die jeweilige Thematik konkretisiert werden. Dieser Konkretisierungsschritt muss von den Beteiligten jeweils beim Projektstart vollzogen werden. Dieser Schritt ist im Zeitprogramm einzuplanen. 20 5.5 BETEILIGTE, ROLLEN UND AUFGABEN Verkehrsprojekte durchlaufen verschiedene Bearbeitungsebenen. Die Bearbeiter sind in eine Entscheidungshierarchie eingebunden, in welcher die vorgesetzten Instanzen Aufträge erteilen. Wem kommen im Planungsprozess welche planungsethischen Aufgaben und Verantwortungen zu? Die folgende Abbildung basiert auf den etablierten Verfahren, die im Prinzip in allen Projektstufen identisch sind. Auftrag AUFTRAGGEBER Politische Behörde, Verwaltungshierarchie Phase I Vorbereitung Fällt den Grundsatzentscheid und erteilt den Auftrag an die Projektleitung PROJEKTLEITUNG Analysiert den Auftrag und formuliert PROJEKTPROZESS anhand der Leitsätze 1, 2, 3, Ziele Im technischen Prozess wird das und Kriterien für die Bearbeitung Projekt entwickelt, im planungsethischen Diskurs werden die Er- Phase II Durchführung gebnisse anhand der Leitsätze 4 – 9 ganzheitlich beurteilt. Resultat: Technisch und ethisch ab- Phase III Evaluation PROJEKTLEITUNG Analysiert die Ergebnisse, bildet sich gestützes Projekt mit Bedingungen und Empfehlungen zur Bearbeitung in der nächsten Projektstufe ein ganzheitliches Urteil und erstattet den Auftraggebern Bericht und Antrag Auftrag Die zuständige Instanz fällt den Grundsatzentscheid und erteilt der Projektleitung den Auftrag. Im Fallbeispiel hat der Regierungsrat die Erstellung einer neuen Zufahrt beschlossen und den Auftrag für die Projektierung erteilt. Es ist deshalb nicht Aufgabe der Projektierung, zum Beispiel die Zweckmässigkeit des Flugplatzes an sich zu thematisieren. Je nach Erkenntnissen sind jedoch in der Rückkopplung Empfehlungen möglich und nötig. 21 Phase I – Prozessvorbereitung Die Projektleitung organisiert den Planungsprozess. Auf der Basis des ihr erteilten Auftrages formuliert sie die zu lösenden Aufgaben und legt den Kreis der Beteiligten fest. Beide Fragenbereiche haben eine relevante ethische Bedeutung. Phase II – Prozessdurchführung Zu Beginn werden die „Spielregeln“ für die planungsethische Projektbegleitung und der Leitsätze für die Projektbetrachtung erarbeitet. Anschliessend erfolgt deren Anwendung. Phase III – Prozessevaluation Die Projektleitung analysiert die Ergebnisse des Planungsprozesses und übergibt den Auftraggebern das Projekt mit den Empfehlungen zur Beschlussfassung. Es ist aber auch möglich, dass zu allen technischen Lösungen starke ethische Vorbehalte anzubringen sind. In diesem Falle müssen Empfehlungen auch für einen Neustart mit veränderten Bedingungen abgegeben werden. Die kritische Rückkopplungsmöglichkeit ist deshalb wichtig, weil mit der Auftragserteilung wichtige Grundsatzfragen jeweils vorgängig entschieden werden, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Faktenkenntnisse noch nicht vorliegen können. Dieses Problem lässt sich nur dadurch lösen, dass jeweils die obere Stufe ihre Entscheide so definiert, dass sie den nächsten Stufen das Recht einräumt und die Pflicht auferlegt, den Auftrag zu hinterfragen und aufgrund neuer Erkenntnisse durch vertiefte Abklärungen Rückkommensanträge zu stellen: Kritische Rückkoppelung RECHT, Grundsatzentscheid und Auftrag Fragen zu Vorentscheiden zu stellen Variantenstudium und Beurteilung PFLICHT, zur Infragestellung aufgrund von Detailerkenntnissen 22 5.6 VERHÄLTNIS ZU PARTIZIPATION UND MITWIRKUNG Die planungsethische Beurteilung ist nicht zu verwechseln mit Projektpartizipation und Mitwirkung. Diese beiden Themen können – müssen aber nicht – kombiniert werden. Nach dem Grundsatz, dass keine neuen Verfahren sinnvoll sind, sondern die Weiterentwicklung der bestehenden, müssen die planungsethischen Aspekte stufenweise sinnvoll integriert werden. Auf der Strategie- und Konzeptebene werden Projekte mit langem Zeithorizont entwickelt. Erfahrungsgemäss ist der breite Einbezug der Bevölkerung in die Detailarbeit zu diesem Zeitpunkt problematisch. Die Mitbestimmung erfolgt auf dieser Stufe primär über Abstimmungen. Die planungsethische Aufgabe wird deshalb zweckmässigerweise auf Expertenbasis gelöst. Ziel ist die umfassende Betrachtung und wohlüberlegte Begründung von Strategie- und Konzeptentscheiden. Auf der Planungs- und Projektebene werden heute fast durchwegs breit abgestützte Begleitkommissionen eingesetzt. In diesen Gremien fallen deshalb Projektpartizipation und planungsethischer Diskurs zusammen. Die Durchführung ist anspruchsvoll und bedarf genügender Zeit. 5.7 FOLGERUNGEN UND ERKENNTNISSE Inhalt der Planungsethik ist es, die Werte, Bedürfnisse und Interessengegensätze aller Beteiligter und Betroffenen (Stakeholder) im geordneten Rahmen zur Diskussion zu bringen und die Planungselemente an allgemeinen Leitsätzen, auf die man sich verständigt hat, zu spiegeln. Aus den vorangehenden Überlegungen ergeben sich dazu die folgenden Erkenntnisse: VERHÄLTNIS ZWISCHEN TECHNISCHEN UND ETHISCHEN ASPEKTEN: In welchem Verhältnis stehen technische Sachprozesse und planungsethische Beurteilung zueinander? Wie können sie sinnvoll verbunden werden? In Planungsprozessen laufen parallel und miteinander verwoben eine Sachdiskussion und – in Bezug auf die Projektauswirkungen - eine Wertediskussion ab. Während für die Sachdiskussion heute etablierte Verfahren bestehen, wird eine strukturierte Wertediskussion noch kaum geführt. Die Beurteilung der ethischen Projektimplikationen kann nicht durch die Eingliederung in die Kriteriensysteme technischer Methoden (z.B. Nutzwertanalyse) erfolgen. Die ethischen Fragen, die sich stellen, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich einem aggregierten Abwägungsprozess entziehen. Sie betreffen Grundsatzfragen, welche unabhängig von den technischen Beurteilungen zu diskutieren und zu entscheiden sind. Daraus ergibt sich die Positionierung der planungsethischen Betrachtung in bezug auf die technischen Verfahren und Methoden: Sie ist ein ständiger Prozess während der Bearbeitung, und sie hilft an Schlüsselstellen ganzheitliche Urteile zu fällen. 23 AUFGABEN AUF DEN VERSCHIEDENEN PLANUNGSEBENEN: Projekte durchlaufen hierarchisch verschiedenene Planungsebenen. Welche Fragen stellen sich auf den jeweiligen Ebenen? Welche Charakteristiken sind zu beachten? Inhalte, zeitliche Dimension und Ergebnisse sind in den verschiedenen Planungsstufen verschieden. Die an den ethischen Leitsätzen orientierten Fragen sind jedoch dieselben. Um die Leitsätze an Projekten anzuwenden, müssen diese deshalb in Bezug auf die jeweilige Thematik konkretisiert werden. Dieser Konkretisierungsschritt muss von den Beteiligten beim Projektstart vollzogen werden. Dieser Schritt ist im Zeitprogramm einzuplanen. BETEILIGTE, ROLLEN UND AUFGABEN: Die Planungsabläufe basieren auf etablierten gesetzlichen und normierten Verfahren . Wem kommen auf den jeweiligen Planungsebenen welche Aufgaben und Verantwortungen zu? Planungsethische Methoden müssen sich an den bestehenden Verfahren orientieren und sich an diese angliedern. Sie dienen der Formulierung der Fragestellungen, der Festlegung der zu berücksichtigenden Bedürfnisse und Interessen und der „Spielregeln“ für den Prozess. Entscheidend ist dabei die Rolle der Projektleitung bei der Projektvorbereitung (Formulierung der Ziele, Kriterien und Bedingungen, Festlegung des Beteiligtenkreises), bei der Projektdurchführung (Prozessplanung, Zeitbudget, Monitoring) und bei der Projektevaluation (Urteilsbildung zu den Resultaten, Entscheide, Bericht und Antrag an die Auftraggeber). VERHÄLTNIS ZU PARTIZIPATION UND MITWIRKUNG: Mitwirkung und Partizipation in Verkehrs- und Raumplanung sind gesetzlich vorgeschrieben und haben sich etabliert. In welchen Verhältnis zueinander stehen Partizipation und planungsethischer Diskurs? Der planungsethische Diskurs ist nicht gleichzusetzen mit Partizipation und Mitwirkung. Er ist ein Diskussionsschritt für die Behandlung von Wertefragen bei Projekten und ist in die Projektabläufe integriert. Auf der Strategie- und Konzeptebene, wo schwergewichtig Expertenarbeit geleistet wird, ist der planungsethische Diskurs ein Instrument für diese Gremien. Auf der Planungs- und Projektebene, wo die direkte Partizipation sich etabliert hat, ist er ein Instrument in diesem Partizipationsprozess. 24 6. PLANET - METHODE UND INSTRUMENTE Für die praktische Anwendung der ethischen Prinzipien muss die Verbindung zu den im Planungsbereich etablierten Verfahren gefunden werden. Dabei muss sichergestellt sein, dass kein neues Verfahren nötig wird – es gibt heute viele – sondern dass der planungsethische Diskurs integriert wird in bestehende Abläufe. 6.1 PLANET - METHODE FÜR DIE PRAXIS Basierend auf den bisherigen Erkenntnissen wird im Folgenden eine dreistufige Methode vorgeschlagen, die sich am Praxisablauf in Verkehrs- und Raumplanung orientiert. Sie ermöglicht den planungsethischen Diskurs auf allen Planungsstufen, integriert in den technischen Prozess. Die Methode umfasst drei Phasen mit je zwei Schritten. Phase I – Projektvorbereitung Der erste Arbeitsschritt obliegt der Projektleitung. Ihr kommt die Aufgabe zu, das Projekt in Bezug auf die ganzheitliche Bearbeitung und Beurteilung auf die richtige Schiene zu bringen und den Planungsprozess entsprechend zu organisieren. Im ersten Schritt wird die Aufgabe analysiert und den Planungsebenen und deren Resultaten zugeordnet. Anhand der Leitsätze 1, 2 und 3, welche auf die ganzheitliche Betrachtung abzielen, bestimmt sie im zweiten Schritt die Projektgruppe und formuliert deren Aufträge und Pflichtenhefte. Dabei ist zu beachten, dass die Durchführung des planungsethischen Diskurses hohe Anforderungen an die Prozessmoderation stellt. Phase II – Projektdurchführung Die Projektgruppe bearbeitet das Projekt und verzahnt den technischen Prozess mit der ethischen Beurteilung. Dazu legt sie in einem ersten Schritt anhand der Leitsätze 1, 2 und 3 den Kreis der zu berücksichtigenden Interessen fest (Stakeholderliste) und formuliert „Spielregeln“ für die anwaltliche Vertretung von nicht anwesenden Betroffenen. Der planungsethische Diskurs (zweiter Schritt dieser Phase) verläuft integriert in den technischen Ablauf. Er dient dazu, die Wertekonflikte, die meist unterschwellig mitlaufen, in einer geordneten Diskussion auf den Tisch zu bringen. Diskussionsleitfaden sind die Leitsätze 4 – 7 zur materiellen Projektbeurteilung und die Leitsätze 8 und 9 zur individuellen Reflexion. Der planungsethische Diskurs findet seinen Abschluss in der Beurteilung der Ergebnisse, in der positiven Stellungnahme zu Varianten mit Bedingungen für die Weiterbearbeitung oder in der mit ethischen Argumenten begründeten Ablehnung von Varianten. Phase III – Projektevaluation Diese Phase liegt wiederum in der Verantwortung der Projektleitung. Sie analysiert die Ergebnisse des Projektprozesses und die planungsethischen Empfehlungen und bildet sich ein wohlbegründetes – technisch und ethisch abgestütztes – Urteil und formuliert Bericht und Antrag an die beschliessende Instanz. Im Sinne des erwähnten Rechtes und der Pflicht zur kritischen Rückkopplung kann es auch möglich sein, dass aufgrund der Erkenntnisse einen neue Aufgabenformulierung nötig ist, um zu befriedigenden Lösungen zu kommen. 25 In der folgenden Tabelle sind die drei Phasen mit den je zwei Schritten dargestellt. 6.2 FUNKTION DER LEITSÄTZE Die Verbindung der Leitsätze mit den drei Arbeitsphasen zeigt die PLANUNGSETHISCHE LEITSÄTZE FÜR DIE PRAXIS Funktion der einzelnen Sätze auf. 1. Wahrnehmumg der Verantwortlichkeit Die Leitsätze 1, 2 und 3 dienen der Projektleitung zur Projektvorberei- 2. Über die Grenzen denken 3. Umfassende Betrachtung 4. Spielräume offenhalten tung. Sie stellen den Projektverant- 5. Gerechtigkeit wortlichen diejenigen Fragen, die 6. Erben und vererben eine umfassende Betrachtung und 7. Indentität und Geborgenheit Organisation ermöglichen. Sie ste- 8. Handeln nach dem Universalisierungsprinzip cken insbesondere den Rahmen Vorbereitung 9. Im Urteil zukünftiger Generationen Durchführung Kontrolle ethik in planung und projektierung 26 der zu berücksichtigenden Interessen ab und bilden die Basis für die Bestimmung der Mitglieder der Projektgruppe. Die Leitsätze 4 – 7 dienen der Projektdurchführung. Sie beinhalten die materiellen Themen zur Projektbeurteilung. Je nach Planungsstufe sind die Betrachtungsraster gröber oder feiner. Deshalb müssen die Leitsätze aufgabenbezogen konkretisiert werden. Dies erfolgt im ersten Arbeitsschritt der Phase II. Beispiel Leitsatz 5 – Gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten: Im Fallbeispiel ist damit zum Beispiel der Interessekonflikt zwischen Bewohnern der Mehrfamilienhaus- und der Einfamilienhausquartiere angesprochen. Bei der Beurteilung einer Ortsdurchfahrt steht demgegenüber die Verteilung der knappen Flächen zwischen den Verkehrsteilnehmern zur Diskussion. Die Leitsätze 8 und 9 nehmen die Handelnden in die Verantwortung. Diese stellen sich sozusagen „daneben“ und werfen einen selbstkritischen Blick auf das, was sie tun. Diese beiden Leitsätze dienen damit der Projektreflexion. 6.3 ARBEITSGRUNDLAGEN Sowohl in Phase I (Festlegung der Beteiligten durch die Projektleitung) wie in Phase II (Festlegung der zu berücksichtigenden Interessen und der Spielregeln für die anwaltliche Vertretung) sind die Stakeholderliste und die Stakeholderanalyse wichtige Arbeitsgrundlagen. Der Begriff der Stakeholder stammt ursprünglich aus der Wirtschaftsethik und umfasst alle an einem Projekt Beteiligten und alle von dessen Auswirkungen Betroffenen (im Gegensatz zum Begriff der Shareholder, der nur die Nutzniesser umfasst). Beispiel Stakeholderliste Phase I eines Umfahrungsprojektes STAKEHOLDER ÜBERLEGUNGEN Wir hier – direkt Betroffene Es können direkt eingebunden werden: Anwohner, Gewerbe, ANWESEND ABWESEND X Liegenschaftseigentümer, Landwirtschaft, kommunale und kantonale Behörden, Verkehrsverbände MIV / OeV / NGO’s etc. Nicht vertreten sind meist: Frauen, alte Menschen, Behinderte, X Jugendliche, Kinder, Ausländer Indirekt Betroffene Je nach Entscheid werden Nachbargemeinden tangiert (Linienfüh- X rung, Verkehrsverlagerung, Erholungs- und Kulturräume, Bodenpreisänderungen etc.) Zukünftige Generationen Die heutige Aufgabe besteht darin, die Handlungsspielräume X offenzuhalten: Keine irreversiblen Risiken, Erhaltung und Verbesserung der natürlichen und kulturellen Ressourcen Tiere (empfindsame Natur) Die Lebensräume und Vernetzungskorridore der Tiere müssen erhalten oder adäquat wiederhergestellt werden X 27 Grundlage für die Erstellung der Stakeholderliste sind die Zugehörigkeitskreise, wie sie im Einführungskapitel beschrieben sind. Im anthropozentrischen Bereich besteht heute ein Konsens dahin, dass zu den heute Lebenden auch die Interessen zukünftiger Generationen zu berücksichtigen sind, dass also alle drei Kreise in die Betrachtungen und Abwägungen einzubeziehen sind. Im biozentrischen Bereich besteht Einigkeit zumindest bezüglich der empfindsamen Natur, der leidensfähigen Tiere. Beispiel Auszug Stakeholderliste Phase II eines Projektes Sanierung Ortsdurchfahrt In der Stakeholderanalyse wird auch abgeklärt, welche Aspekte in den Verfahren bisher bereits abgedeckt sind und welche Fragen für die planungsethische Beurteilung offen sind. In der folgenden Tabelle sind als Beispiel diese offenen Themen aufgenommen und es werden ethische Überlegungen dazu angestellt. 28 Beispiel Themenliste Phase II für den planungsethischen Diskurs (Auszug) OFFENE THEMEN ÜBERLEGUNGEN Freiheit und Selbstverantwortung In den technischen Verfahren werden bereits ethische Ziele berücksichtigt, z.B. Reduktion der Zahl von Getöteten und Verletzten etc. Andere, individuell wichtige Wertedimensionen wie zum Beispiel Freiheit und Selbstverwirklichung als Auto- oder Motorradfahrer werden jedoch meist ausgeklammert. Dies führt zu unterschwelligen Wertekonflikten, ermöglichen die bekannte Skandalisierung und erschwert die Kommunikation. Eine Versachlichung kann nur erreicht werden, wenn auch diese Wertekonflikte in der Stakeholderdiskussion offengelegt und verhandelt werden. Anwaltliche Verantwortung für nicht Zahlreiche Stakeholder sind in den Planungsprozessen nicht oder schwach vertreten: Kinder, Jugendliche, Alte, vertretene Interessen, Verantwor- Mieter, aber auch die zukünftigen Generationen und – mit einer nicht nur anthropozentrischen Sicht – auch die tung für zukünftige Generationen leidensfähigen Tieren. In der ethischen Projektbeurteilung müssen diese Interessen anwaltschaftlich vertreten werden. Dazu müssen „Spielregeln“ vereinbart werden; Rollendefinitionen, Vetorecht zu nicht verhandelbaren Prinzipien etc. Vorsorgeprinzip Das Vorsorgeprinzip ist in der Bundesverfassung und im Umweltschutzgesetz verankert. Es sagt aus, dass gehandelt werden muss, wenn die Möglichkeit einer schädlichen Einwirkung besteht. Zu beurteilen ist die Wahrscheinlichkeit des Eintretens und das Ausmass der Auswirkungen. Dies deshalb, weil im schweizerischen Umweltrecht der explizite Hinweis fehlt, dass staatliches Handeln auch dann legitim sein kann, wenn ein Risiko wissenschaftlich nicht sicher erwiesen ist. Im vorliegenden Falle wird diese Frage aktuell in der Gegenüberstellung und Abwägung der Handlungsalternativen bezüglich den bestehenden Belastungen und den damit verbundenen Schäden für die Anwohner und möglichen Risiken für in neuen Gebieten Betroffene. Orientierung an Grenzen versus Der Begriff „sustainability“, der dem Bericht der sogenannten Brundlandt-Kommission zugrunde lag, basierte auf Abwägeprinzip der Nachhaltigkeit dem Prinzip der „Orientierung an Grenzen“. Mit der Formulierung der Gleichgewichtigkeit der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt hat das heutige Nachhaltigkeitsverständnis hat eine grundsätzliche Umdeutung erfahren. An die Stelle der Orientierung an Grenzen trat das Prinzip des Abwägens. Damit wird alles wieder möglich. Dieser Umstand erschwert die konkrete Variantendiskussion, müssen doch die normativen Grundlagen dazu jedes Mal neu diskutiert und vereinbart werden. 29 6.4 BEURTEILUNG Die folgende Liste mit den Leitsätzen 4 – 9 ist Arbeitsinstrument für die planungsethische Beurteilung. Sie dient zum Beispiel bei einem Variantenvergleich dazu, die Projektwirkungen dahingehend zu beurteilen, ob diese in die richtige Richtung der im Leitsatz angesprochenen Prinzipien zeigen ( Pfeil nach oben), ob sie neutral sind (horizontaler Pfeil) oder ob sie den Prinzipien widersprechen (Pfeil nach unten). Beispiel Beurteilungsformular Phase II Ortsumfahrungsvarianten ethik in planung und projektierung Die Bearbeitung erfolgt in fünf Schritten. 1. Individuelle Beurteilung der Varianten mit Tendenzpfeilen und erste persönliche Bilanz (welche Varianten schliesse ich aus?). 2. Zusammenstellung der individuellen Ergebnisse zur Gruppenübersicht und Festellung, wo Übereinstimmung, wo Differenzen bestehen. 3. Begründung der Differenzen durch die jeweiligen Personen und Diskussion der damit angesprochenen Wertekonflikte. 4. Überprüfung und gegebenenfalls Modifikation der individuellen Einschätzung aufgrund der Diskussionserkenntnisse. Erarbeitung Gruppenkonsens. 5. Formulierung der Bedingungen für die Varianten, welche zur Weiterbearbeitung empfohlen werden und Begründungen zu den nicht empfohlenen Varianten. 30 Das Beurteilungsformular kann in verschiedener Hinsicht interpretiert werden. Die vertikale Betrachtung zeigt die Stärken und die Schwächen einer Variante und dient der Variantenbeurteilung (weiterverfolgen ja oder nein). Die horizontale Interpretation dient der Variantenoptimierung. Sie gibt Hinweise darauf, wie die unterstützten Varianten verbessert und optimiert werden können. Beispiel Interpretation der Ergebnisse Variantenoptimierung Variantenwahl ethik in planung und projektierung 6.5 POSITIONIERUNG IM PLANUNGSABLAUF Wichtig ist die zweckmässige Platzierung der planungsethischen Beurteilung im Projektablauf. Die Untersuchungen und Tests haben gezeigt, dass diese möglichst früh erfolgen soll. Das erwähnte Fallbeispiel zeigt, dass in diesem Falle grundsätzliche Wertefragen angesprochen werden, zum Beispiel bezüglich des Umganges mit dem Aareraum: Ist dieser eine Tabuzone (mit welchen Begründungen) oder sind Eingriffe möglich, wenn Ausgleichsmassnahmen gefunden werden können? Die frühzeitige Diskussion dieser Grundsatzfragen ermöglicht eine Triage der aus den politischen Wunschkatalogen und den Machbarkeitsstudien vorliegenden Varianten. In die technische Weiterbearbeitung fliessen nur noch diejenigen Varianten, die auch planungsethisch als machbar eingeschätzt werden. Beispiel zur Platzierung der ethischen Beurteilung Phase II Erschliessungskorridore 31 Im folgenden Beispiel dient PLANET der abschliessenden Urteilsbildung nach dem Vorliegen der Ergebnisse aus technischen Beurteilungsinstrumenten (zum Beispiel NISTRA, Nachhaltigkeitsindikatoren für Strasseninfrastrukturprojekte). Resultate daraus sind quantifizierte Aussagen (Zahlenreihen) in den drei Nachhaltigkeitsbereichen Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt. Jetzt stellt sich das Problem: Wie geht man mit diesen Zahlen um? Wie lassen sich die Projekte in bezug auf die gesamtheitliche Nachhaltigkeit miteinander vergleichen, wenn die Ergebniszahlen aus den drei Bereichen nicht zusammengezählt werden dürfen? Entsprechend dem Nachhaltigkeitsprinzip des Bundesrates müssen die Ergebnisse gegeneinander abgewogen werden. Dies erfolgt durch das ethische Abwägen mit den Leitsätzen. Ergebnis ist die „Nachhaltige Projektrangliste“. Beispiel Urteilbildung nach der technischen Bewertung 32 7. ERKENNTNISSE UND EMPFEHLUNGEN Der wechselseitige Prozess zwischen Theorieerarbeitung und Praxistests hat zur Erkenntnis geführt, dass der Vorschlag PLANET auf fruchtbaren Boden fällt, dass jedoch noch gezielte Vertiefungen nötig sind. 7.1 PRAXISTESTS Ziel der Vorstudie ist, die Möglichkeiten der Transformation ethischer Grundlagen in den Planungsbereich zu untersuchen und Praxisgrundlagen für die Anwendung innerhalb der institutionalisierten Verfahren zu entwickeln. Die dazu im Vorschlag PLANET erarbeiteten Methoden wurden während der Arbeit praktisch getestet: Mit der Begleitkommission fanden vier Workshops zur Projektkritik statt Am 1. Oktober 2004 wurde PLANET an einer speziellen Tagung an der Hochschule Rapperswil zur Diskussion gestellt Es wurden Weiterbildungskurse an der Universität Bern und im Tiefbauamt des Kantons Bern sowie eine Projektbeurteilung im Amt für Verkehr und Tiefbau Kanton Solothurn durchgeführt. An der Fachhochschule beider Basel FHBB konnten an der Bauingenieur- und der Geomatikabteilung die Ausbildungseinheiten mit Studierenden aller Semester getestet werden. Dabei hat sich gezeigt, dass der Vorschlag grundsätzlich begrüsst und verstanden wird und dass die vorgeschlagenen Instrumente funktionieren. Wichtig ist das Instrument als Hilfe und Unterstützung in partizipativen Prozessen, in denen Projektleitende ständig mit diesen Fragen konfrontiert sind und wo sie die praxisnahe Unterstützung benötigen. 7.2 ERFAHRUNGEN Zu Beginn der Arbeiten wurden fünf Hypothesen zur Verbindung von Planungspraxis und angewandter Ethik formuliert. Aus den Diskussionen lassen sich dazu die folgenden Erkenntnisse formulieren: Hypothese 1 – Relevanz der Ethik in Verkehrsplanung und Strassenbau In Verkehrsplanung und Strassenbau stellen sich auf allen Projektstufen ethische Fragen, die in den traditionellen technischen Beurteilungs- und Vergleichsinstrumenten nicht berücksichtigt sind. Mit der Planungsethik wird ein aktuelles Thema angesprochen und auf Probleme reagiert, die heute in fast allen Planungsprozessen auftauchen und für deren Behandlung adäquate Praxisinstrumente fehlen. Das Interesse und die Bereitschaft leitender und ausführender Planungsfachleute und Projektleiter, sich mit planungsethischen Fragen im praktischen Prozess zu beschäftigen ist gross. 33 Hypothese 2 – Ethik als Praxisinstrument Die angewandte Ethik kann praktische Instrumente und Methoden für die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse zur Verfügung stellen. Mit dem frühzeitigen Aufgreifen der unterschwellig mitlaufenden Wertekonflikte in einem geordneten Diskurs können Probleme frühzeitig erkannt und behandelt werden. Mit dem systematischen Vorgehen wird eine breite Abdeckung von Interessen und Bedingungen im Sinne der Verfassungsaufträge zur nachhaltigen Entwicklung gewährleistet. Mit der frühzeitigen Projekttriage und der planungsethischen Beurteilung können die Kräfte konzentriert und Investitonen knapper Mittel in überflüssige Varianten vermieden werden. Wichtig ist, dass die einzubeziehenden Beteiligten rechtzeitig und frühzeitig erfasst werden und dass die Gefahr des Übersehens einer Gruppe reduziert wird. Hypothese 3 – Verfahrenshierarchie Die ethischen Beurteilungen müssen mit den technischen Beurteilungsinstrumenten verzahnt werden. Sie sind diesen vorgelagert oder laufen begleitend mit und liefern Impulse in diese. PLANET ist kein neues Verfahren, sondern stellt innerhalb der bestehenden Projektabläufe Instrumente für eine offene Diskussion bis heute vernachlässigter, aber oft erfolgsbestimmender Wertefragen zur Verfügung. Die Methode ist konfliktlösungsorientiert und partizipativ. Konflikte werden offengelegt und geordnet diskutiert, die richtigen und wichtigen Fragen kommen rechtzeitig auf den Tisch. Die Anwendung stellt jedoch hohe Anforderungen an die Prozessmoderation. Hypothese 4 – Entscheidungshierarchie Die ethischen Beurteilungsinstrumente müssen entsprechend den Entscheidungshierarchien auf allen Projektstufen angewandt und auf die Charakteristiken dieser Stufen abgestimmt werden. Die vorgeschlagene Methode des planungsethischen Diskurses lässt sich auf allen Projektstufen anwenden. Allerdings sind dazu die Konkretisierungen der Leitsatzinhalte bezogen auf die jeweilige Aufgabe zu erarbeiten. 34 Hypothese 5 – Verantwortung Die Wahrnehmung der Verantwortung durch Berücksichtigung ethischer Aspekte beschränkt sich nicht auf die vorgesetzten Entscheidungsinstanzen. Für die Bearbeiter auf allen Projektstufen besteht die moralische Pflicht, die Verantwortung für ethisches Handeln wahrzunehmen. Wichtig ist, dass sich PLANET von Planungsfachleuten und Projektleitern zusammen mit Laien anwenden lässt. Es sind keine Ethikkommissionen nötig. Die Methode wirkt kreativitätsfördernd. Sie bewahrt vor unkritischer Normenanwendung und fördert die Suche nach neuen Lösungen. 7.3 SCHWIERIGKEITEN Bei den Praxistests hat sich aber auch gezeigt, dass der Einstieg in das Thema Ethik für Planungsfachleute nicht ganz einfach ist. Probleme haben sich in den folgenden Bereichen gezeigt: Das Vorwissen von Planungsfachleuten und Projektleitern im Bereich Philosophie und Ethik ist in der Regel eher gering. Es ist deshalb eine vertiefte Einführung nötig, die mehr Zeit beansprucht als die jeweils zwei bis drei Stunden in den Praxistests. Dabei geht es weniger um eine Einführung in die Begründungszusammenhänge, als mehr in die Methodik der Urteilsbildung. Insbesondere das Verfahren zu einem Aufdecken konkurrierender Interessen, Güter und Werte muss deutlicher herausgearbeitet werden und eine Einführung in das Verfahren der Güterabwägung münden. Dazu muss die Theorie noch besser auf das richtige Verständlichkeitsniveau gebracht werden, also in die Sprache und die Denkweise von Planungsfachleuten und Projektleitern übersetzt werden. Das Interesse besteht an praktischer Anwendung. Die Verbindung der Theorie mit Fallbeispielen, an denen der Umgang mit den Instrumenten geübt werden kann, ist deshalb wichtig. Die Interpretation der Leitsätze und deren fallbezogene Konkretisierung ist für viele Anwender nicht einfach. Für den ersten Schritt der zweiten Phase – Diskussion und Konkretisierung der Leitsätze für die vorliegende Aufgabe – muss deshalb genügend Zeit vorgesehen werden. Die Leitsätze selbst sollen nochmals überprüft werden. Für die Konkretisierung der Leitsätze in Bezug auf die Planungsstufen und Planungsthemen (z.B. Umfahrungsvarianten, Ortsdurchfahrt etc.) müssen Vorschläge als Diskussionseinstieg bereitgestellt werden. Es ist noch ein Leitfaden für die Prozessmoderation zu erstellen. Vor allem sollte dabei darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein zweistufiges Verfahren handelt: Zunächst werden die „Spielregeln“ festgelegt, dann die in Frage stehende Problematik mit Hilfe der Spielregel erläutert. 35 7.4 WEITERES VORGEHEN Ziel der Vorstudie war es abzuklären, wie die Transformation von Wissen der angewandten Ethik in den Planungsbereich erfolgen kann, damit Ingenieure und Planer besser in die Lage versetzt werden, die ethischen Implikationen bei ihrer Tätigkeit zu erkennen, zu reflektieren und in ihren Projekte argumentativ zu vertreten. Auf dem Theoriefundament der angewandten Ethik wurde der Rahmen dazu abgesteckt und mit PLANET ein Vorschlag für die Praxis entwickelt. Es haben sich aber auch Lücken gezeigt, die noch zu schliessen sind. Diese liegen in den folgenden Bereichen: PROJEKTANWENDUNG Die bisherigen Praxistests erfolgten an Tagungen und Kursen an Fallbeispielen. Nach der Integration des dabei Gelernten ist nun der „Ernstfall“ gefragt, die Anwendung an konkreten Projekten mit Bearbeitern und Begleitkommissionen. Ziel: Partner: Anwendung an konkreten Projekten auf den vier Planungsstufen Kantonale und kommunale Tiefbau- und Raumplanungsämter VERTIEFUNG Für die Einführung der Planungsfachleute in das Thema der Planungsethik braucht es weitere inhaltliche Vertiefungen der ethische Begründungen zu den Leitsätzen und die Transformation in die Sprache und Denkweise der Anwender, verbunden mit Beispielen, welche es erlauben, die Leitsätze aufgaben- und fallbezogen anzuwenden. Diese Grundlagen fliessen in die Projektanwendung ein. Ziel: Partner: Themenbezogene Vertiefung und Konkretisierung der Leitsätze in Bezug auf die wesentlichen Fragen, die sich bei vielen Projekten immer wieder stellen. Ausarbeitung Anwendungsleitfaden für die Praxis Overhead-Finanzierung bei Anwendungsprojekten AUSBILDUNG Weiterentwicklung der Trainingseinheit für die Grundausbildung an Hochschulen und die Weiterbildung im Rahmen interner Fortbildungskurse und Tagungen. Ziel: Partner: Durchführung von Kursen und Integration der Planungsethik in die Lehrpläne Fachhochschulen, Verwaltungen, Fachorganisationen ETABLIERUNG Positionierung der Planungsethik als Bestandteil des Planungs- und Ingenieurdenkens und als Element von Projektentwicklungen, sowie von Planungs- und Partizipationsprozessen Ziel: Planungsethik wird ein etabliertes Thema Partner: Fachzeitschriften, Tagungen