IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 1 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG1 1. Überblick 1) In diesem Kapitel wenden wir uns der Analyse der Versicherungsunternehmung zu; d.h. wir betrachten den Produzenten und Anbieter des Produktes Versicherung. Den Gegenstand der Untersuchung bezeichnet man auch als Versicherungsbetriebslehre. Das Produkt Versicherung besteht im allgemeinen Fall aus den folgenden drei Komponenten: Risiko-Komponente, Spar-Komponente, Dienstleistungs-Komponente. 2) Die Risiko-Komponente und die Spar-Komponente setzen sich beide sowohl aus einer abstrakten als auch aus einer konkreten Leistung zusammen. Diese Dualität ist typisch für das Produkt Versicherung. Die abstrakten Leistungen sind in beiden Fällen die permanent gewährten finanziellen Garantien. Dies ist letztendlich das wesentliche Charakteristikum des Produktes Versicherung. Bei der RisikoKomponente ist es die Garantie, im Versicherungsfall eine Geldzahlung zu erbringen; bei der Spar-Komponente sind es im wesentlichen die gewährte Mindestzinsgarantie und die Liquidititätsgarantien. Die zugehörige konkrete Leistung besteht in beiden Fällen im Erbringen einer konkreten Geldzahlung, falls das Versicherungsereignis eingetreten ist. Die Dienstleistungs-Komponente besteht im Wesentlichen aus Tätigkeiten wie z.B. Beratung, Vertragsbearbeitung, Schadenabwicklung und ähnlichem. 1 Als Basis wird auf folgende Literatur zurückgegriffen: Albrecht, Peter: Zur Risikotransformationstheorie der Versicherung: Grundlagen und ökonomische Konsequenzen, Karlsruhe 1992 Eisen, Roland, Wolfgang Müller, Peter Zweifel: Unternehmerische Versicherungswirtschaft, Wiesbaden 1990 Farny, Dieter: Versicherungsbetriebslehre, Karlsruhe 1989 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 2 3) Die Herstellung dieser drei Produkt-Komponenten erfolgt durch zwei Arten von Prozessen: den so genannten betriebstechnischen Prozessen und den versicherungstechnischen Prozessen. Die betriebstechnischen Prozesse beziehen sich auf die konkreten Ausprägungen des Produktes. Zur Analyse dieser Prozesse lassen sich die üblichen Methoden der Betriebswirtschaftslehre anwenden unter Berücksichtigung gewisser Produkt-Spezifika. Als Beispiel betrachten wir im Folgenden recht kursorisch die funktionale Versicherungsbetriebslehre mit folgender klassischer Gliederung: Beschaffung von Produktionsfaktoren, Leistungserstellung in der Versicherungsunternehmung, Absatz der Versicherungsprodukte, Finanzierung der Aktivitäten der Versicherungsunternehmung, Verwaltung der Versicherungsunternehmung. In dieser Vorlesung werden die betriebstechnischen Aspekte dieser Funktionen nur kurz im Abschnitt 9 besprochen. 4) Schwerpunkt der Betrachtungen bilden dagegen die versicherungstechnischen Prozesse oder anders ausgedrückt die Versicherungstechnik. Diese Prozesse beziehen sich auf die abstrakte Dimension des Produktes Versicherung, d.h. es wird versucht zu analysieren, wie die Versicherungsunternehmung die von ihr permanent gewährten Garantien produziert. Zur Realisierung gewisser versicherungstechnischer Prozesse ist selbstverständlich auf spezielle betriebstechnische Prozesse zurückzugreifen. Wesentliche Elemente der versicherungstechnischen Prozesse sind: der Risikotransfer vom Versicherungsnehmer zur Versicherungsunternehmung gegen Zahlung einer Prämie, die Risikotransformation durch die Versicherungsunternehmung, z.B. durch Realisierung von Risikoausgleich im Kollektiv, die Informationstransformation durch die Versicherungsunternehmung, z.B. durch Ableitung von unternehmungseigenen Risikogrundlagen, das Tragen des versicherungstechnischen Restrisikos durch die Versicherungsunternehmung, das nicht eliminierbar bzw. rückversicherbar ist. 5) In den folgenden Abschnitten IV.2. bis IV.5. betrachten wir diese vier Elemente der Versicherungstechnik anhand der Risikokom- Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3 ponente, wobei der Schwerpunkt auf der Risikotransfromation durch Ausgleich im Kollektiv in Abschnitt IV.3. liegt. Die analogen Überlegungen für die Sparkomponente diskutieren wir in Abschnitt IV.6. In diesen beiden Abschnitten 3 und 6 analysieren wir die Produktionsmethoden der Garantien durch die Versicherungsunternehmung. In Abschnitt IV.7. gehen wir noch auf die Preispolitik ein. Das Zusammenwirken der verschiedenen versicherungstechnischen Verfahren wir in Abschnitt IV.8. analysiert. Abschliessend gehen wir nur kurz – wie oben schon erwähnt – in Abschnitt IV.9. auf die betriebstechnischen Aspekte ein. 6) Einen weiteren Schwerpunkt der Analyse der Versicherungsunternehmung bilden die entsprechenden finanzwirtschaftlichen Führungsinformationen. Aus Zeitgründen können wir hierauf erst in Teil II des Vorlesungszyklus eingehen. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 2. 4 Risikotransfer Mit dem Begriff Risikotransfer wird der folgende Vorgang umschrieben: Ein Versicherungsnehmer tauscht bezogen auf eine fest vereinbarte Versicherungsdauer zufallsabhängige finanzielle Belastungen aufgrund von Schäden gegen eine im voraus festgelegte Belastung in Form der Risikoprämie, die er an die Versicherungsunternehmung dafür zu entrichten hat, dass diese garantiert, im Schadenfall eine entsprechende Versicherungsleistung zu erbringen. Man kann auch sagen, dass der Versicherungsnehmer bezüglich seiner Vermögenssituation Unsicherheit gegen Sicherheit tauscht. Die Unsicherheit bezieht sich darauf, dass unsicher ist, ob überhaupt ein Schaden eintritt und wenn ja, wie hoch der Schaden ist. Bei vollem Versicherungsschutz besteht die Sicherheit darin, dass ein allfälliger Schaden von der Versicherungsunternehmung vollkommen gedeckt wird und dass die im Voraus bestimmte Prämie zu bezahlen ist. Involviert in den Risikotransfer sind also ein Nachfrager (sprich Versicherungsnehmer) und ein Anbieter (sprich Versicherungsunternehmung). Im Folgenden analysieren wir zunächst anhand eines Beispiels die Situation des Versicherungsnehmers, der den Versicherungsschutz nachfragt. 2.1. Beispiel zur Nachfrage nach Versicherungsschutz 1) Um die Frage zu beantworten, warum ein Individuum Versicherungsschutz (Risikotransfer) nachfragt, machen wir folgende Modellbetrachtung: Ein Individuum besitze zu Beginn der Betrachtungsperiode [0, 1] ein Vermögen Vo. In der betrachteten Zeitperiode kann ein Schaden der Höhe X mit Wahrscheinlichkeit p eintreten, und mit Wahrscheinlichkeit q = 1-p trete kein Schaden ein. Von einer Vermögenserhöhung aufgrund von Ersparnisbildung oder Verzinsung werde zur Vereinfachung der Darstellung abgesehen. Somit bleibt das Vermögen im schadenfreien Fall konstant, während es im Schadenfall um X sinkt. Das Individuum sieht sich also der folgenden Schadenverteilungsfunktion gegenübergestellt: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 5 Wahrscheinlichkeit 1 q p Schaden 0 X Die Zufallsvariable X ist in unserem Beispiel also binomial verteilt mit der Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p. Für die folgenden charakteristischen Werte für X ergibt sich somit: Erwartungswert: E[X] = 0 q + X p = X p. Varianz: D2[X] = E[(X - E[X])2] = E[X2] - (E[X])2 = 02 q + X2 p - (X p)2 = X2 p (1-p) = X2 p q. Variationskoeffizient (Streuungskoeffizient): S[X] = = D2 X EX X2 p q X p Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG = 6 q . p Für das Vermögen V1 im Zeitpunkt 1 gilt also: falls kein Schaden e int ritt; mit Wahrscheinlickeit q 1 p V0 V1 V X falls ein Schaden e int ritt; mit Wahrscheinlichkeit p 0 Falls die Höhe des Schadens eine stetige Zufallsgrösse ist, geht man meistens von Verteilungsfunktionen aus, deren Dichte folgende Gestalt hat: Dichte der Schadenverteilung Schaden 0 Hohen Schäden werden geringe Eintretenswahrscheinlichkeiten zugeordnet, während niedrige Schäden häufig auftreten. Im Folgenden betrachten wir mögliche Reaktionen des Individuums auf die oben geschilderte Situation. 2) Das Individuum tut nichts Die erste Reaktion, die wir analysieren, bestehe darin, dass das Individuum nichts tut. Für sein Vermögen V bedeutet dies: Im Zeitpunkt t=0 ist V eine sichere Grösse und beträgt V0. Im Zeitpunkt t=1 ist V eine Zufallsvariable und für V1 gilt: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 7 V0 falls kein Schadene int ritt ; mit Wahrscheinlickeit q 1 p V1 V0 X falls ein Schadene int ritt ; mit Wahrscheinlichkeit p Für den Erwartungswert von V1 erhalten wir E[V1] = V0 q + (V0-X) p = V0 (1-p) + (V0-X) p = V0 - pX. Für X V0 droht dem Individuum der Ruin. Falls zusätzlich die Eintretenswahrscheinlichkeit des Schadens so gross ist, dass durchaus mit dem Eintritt zu rechnen ist, so ist eine andere Reaktion als "Nichtstun" angezeigt. Beispiel: Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung Für viele (vermutlich die meisten) Personen ist bei grossen Motorfahrzeug-Haftpflichtschäden die Schadensumme X grösser als das Vermögen V0. Da zusätzlich die Eintretenswahrscheinlichkeit eines solchen Schadenfalls als nicht vernachlässigbar klein zu betrachten ist, ist in den meisten westlichen Staaten die Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung obligatorisch. Durch diese Massnahme wird sowohl das Vermögen des Verursachers als auch das des Geschädigten geschützt. (In Kalifornien gab es mal eine zeitlang keine Verpflichtung, eine Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung abzuschliessen.) Bei Bagatellschäden, d.h. falls X sehr klein ist in Relation zu V0, ist die Reaktion "Nichtstun" möglicherweise angezeigt; insbesondere wenn zusätzlich die Eintretenswahrscheinlichkeit nicht allzu gross ist. Es stellt sich jedoch die Frage nach den Kosten von alternativem Verhalten. (Vergleich von Alternativen und den Opportunitätskosten.) 3) Das Individuum kauft Versicherungsschutz Als zweite Reaktion betrachten wir den Fall, in dem das Individuum Versicherungsschutz bei einer Versicherungsunternehmung kauft. Hier findet ein Risikotransfer statt. Das Individuum gibt die Schadenverteilung, mit der es konfrontiert ist, gegen Zahlung einer im voraus festgelegten Versicherungsprämie R an die Versicherungsunternehmung weiter. Die Schäden stellen eine zufällige Belastung des Vermögens dar, während die Bezahlung der Prämie eine sichere Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 8 Belastung ist. Der Versicherungsnehmer tauscht für eine fest vereinbarte Versicherungsdauer bezüglich seiner Vermögenssituation Unsicherheit gegen Sicherheit. Für das Vermögen des Individuums gilt nun: Im Zeitpunkt t=0 ist V eine sichere Grösse und beträgt Vo. Auch im Zeitpunkt t=1 ist V jetzt eine sichere Grösse und beträgt V1 V 0 R . Hierzu sei darauf verwiesen, dass mit Versicherung für das Vermögen V1 gilt: ohne Schaden: V1 V0 R mit Schaden: V1 V0 R X VL V0 R mit Wahrscheinlichkeit q, mit Wahrscheinlichkeit p, bei Vollversicherung mit X = VL. Mit R wird hierbei die Brutto-Risikoprämie bezeichnet, die vom Versicherungsnehmer an die Versicherungsunternehmung zu zahlen ist. Sie setzt sich additiv zusammen aus dem Erwartungswert des Schadens E X (der Netto-Risikoprämie), gewissen Zuschlägen wegen des Zufalls-, Diagnose- und Prognoserisikos und allfälligen Gewinnzuschlägen. Man kann davon ausgehen, dass im allgemeinen R E X gilt. Mit VL wird die Versicherungsleistung bezeichnet; eine Vollversicherung liegt vor, falls X = VL gilt. Für eine Vollversicherung gilt also mit Sicherheit, d.h. mit Wahrscheinlichkeit 1, V1 V0 R . Zur Abdeckung der Kosten, die durch die Dienstleistungskomponente entstehen, wird in der Realität zusätzlich noch eine Kostenprämie K erhoben. 4) Vergleich der beiden Situationen Der Vergleich der beiden möglichen Handlungsalternativen sieht für den Versicherungsnehmer also wie folgt aus: Ohne Versicherung gilt für das Vermögen im Zeitpunkt 1: E [ V1o ] V0 EX . Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 9 Mit Versicherung gilt für das Vermögen im Zeitpunkt 1: E [ V1m ] V0 R Grafisch lässt sich das wie folgt veranschaulichen: ohne Versicherung mit Versicherung Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit 1 1 q Risikotransfer p 0 Schäden X Wahrscheinlichkeit Vermögensverminderung durch Prämienzahlung ("Schaden") R Wahrscheinlichkeit 1 1 Risikotransfer q p Vo-X Vo Vermögen im Zeitpunkt t1 Vo-R Vo Vermögen im Zeitpunkt t1 Für den alleinigen Vergleich der Erwartungswerte des Vermögens im Zeitpunkt t1 ergibt sich Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG E V1o 10 V0 pX V0 R V1m E V1m sofern R pX EX. In Teil II der Vorlesung werden wir das Konzept des Erwartungsnutzens ausführlich betrachten, mit dessen Hilfe man zeigen kann, dass es durchaus rational für den Versicherungsnachfrager ist, eine Risikoprämie zu zahlen, die grösser als der Erwartungswert des Schadens ist. Den Zustand mit Versicherung kann man als von der "finanziellen Realität abgekoppelt" interpretieren, da hier das Vermögen im Zeitpunkt t1 gleich V0 R ist, unabhängig davon, ob in der Realität der Schaden eintritt oder nicht. Bildlich gesprochen wird durch den Risikotransfer für den Versicherungsnehmer ein "Leben in einer Modellwelt" möglich. Dies ist selbstverständlich nicht kostenlos zu haben. Der Preis dafür ist in der Risikoprämie R enthalten. 2.2. Angebot von Versicherungsschutz Hier geht es um die Frage, warum es Unternehmungen gibt, die Versicherungsschutz anbieten bzw. zur Übernahme von Schadenverteilungen bereit sind. Ein wesentliches - wenn nicht sogar das entscheidende - Ziel aller Unternehmungen ist die Gewinnerzielung. Gewinn ist eine Residualgrösse und ergibt sich aus den Erlösen durch Subtraktion des Aufwands. Bezogen auf den Risikotransfer entsteht also Gewinn, falls die Prämieneinnahmen die Aufwendungen für die Schäden übersteigen. (Diese Darstellung ist bewusst sehr vereinfacht.) Mittels des Konzeptes des Erwartungsnutzens lässt sich zeigen, dass risikoaverse Individuen bereit sind, für den Risikotransfer Prämien zu zahlen, die grösser sind als der Erwartungswert der Versicherungsleistungen. Da letztere der wesentliche Bestandteil der Kosten des Risikoschutzes ist, eröffnet sich Versicherungsunternehmungen die Möglichkeit, Versicherungsschutz gewinnbringend zu verkaufen. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 11 Diese Hinweise bzgl. der Begründung eines Angebots von Risikoschutz mögen zunächst genügen. Im Laufe der folgenden Ausführungen kommen wir wieder darauf zurück und verweisen auf die Möglichkeiten, Versicherungsschutz gewinnbringend anzubieten. Somit ist aufgezeigt, wieso es Nachfrage und Angebot zum Risikotransfer gibt. Im folgenden Abschnitt gehen wir der Frage nach, wie bzw. wieso eine Versicherungsunternehmung Versicherungsschutz "produzieren" kann. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 12 2 3. Risikotransformation durch Ausgleich im Kollektiv 3.1. Grundmodell 1) Die älteste und wohl immer noch wichtigste Methode zur Risikotransformation ist der Ausgleich im Kollektiv. Verkürzt gesagt, handelt es sich hierbei um Anwendungen des Gesetzes der grossen Zahlen (J. Bernoulli). Im Abschnitt 3.5. weiter unten geben wir eine Herleitung dieser grundlegenden mathematischen Aussage. Für das folgende unterstellen wir - wie im Beispiel des vorigen Abschnitts -, dass das Diagnose- und Prognoserisiko ausgeschaltet sind, d.h. die tatsächliche Schaden-Verteilungsfunktion ist der Versicherungsunternehmung bekannt. Es verbleibt also lediglich das Zufallsrisiko, das sich darin manifestiert, dass die Realisationen der einzelnen Schäden nicht deterministisch vorhersagbar sind. 2) Wir greifen auf das Beispiel aus Abschnitt 2 zurück. Ausgangspunkt ist ein Individuum mit dem Vermögen Vo im Zeitpunkt 0. Zusätzlich gibt es eine Zufallsvariable X, die mit Wahrscheinlichkeit q = 1-p den Wert 0 annimmt und mit Wahrscheinlichkeit p den Wert X, der für das Individuum einen Schaden darstellt. Am Ende der Betrachtungsperiode ist im schadenfreien Fall das Vermögen V1o gleich Vo , und im Schadenfall gilt V1o Vo X , falls keine Versicherung abgeschlossen wird. 3) Für das Individuum betrachtet ergeben sich für die Zufallsvariable X die folgenden charakteristischen Werte: EX X p , D 2 X X2 q p , SX D 2 X EX X2 q p q 1 p . Xp p p Der Variationskoeffizient S (Streuungskoeffizient) ist gleich dem Quotienten aus der Standardabweichung D2 und dem Erwartungswert E. Er ist also ein relatives Streuungsmass und somit zum 2 Vgl. Braess, Paul, Versicherung und Risiko. Wiesbaden, 1960 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 13 Vergleich der Streuung von Zufallsvariablen mit verschiedenen Erwartungswerten geeignet. 4) Eine Versicherungsunternehmung gewährt nun nicht einem Individuum allein Versicherungsschutz, sondern bietet dies einem möglichst grossen Bestand von Versicherungsnehmern an. Angenommen es gelingt ihr, n gleichartige Versicherungsverträge der obigen Art abzuschliessen ("Querschnittsbetrachtung" orthogonal zur Zeitachse). Das einzelne Individuum ist ohne Versicherungsschutz der obigen Schadenverteilung der Zufallsvariable X gegenübergestellt. Für die Versicherungsunternehmung ist dagegen die Summe dieser einzelnen Zufallsvariablen relevant, d.h. sie ist mit der Zufallsn variable Z X i konfrontiert. i1 Falls wir Unabhängigkeit der Zufallsvariablen Xi und Xi X für i=1, ... , n annehmen, ergibt sich für Z: E Z X p n , D 2 Z X2 p q n , SZ D 2 Z EZ q p n X2 p q n Xp n 1 p . pn 5) Wichtig ist die Feststellung, dass der Variationskoeffizient S[Z] (Streuungskoeffizient) für die Versicherungsunternehmung abhängig ist von der Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p und der Anzahl n der Verträge. Das Pendant S[X] für das einzelne Individuum weist lediglich die gleiche Abhängigkeit von p auf. Im Einzelnen gilt für diese Abhängigkeiten: 1 p S Z; p,n p p p n = Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 1 1 1 p n 2 p 21 p( 1)1 p 1 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 p2 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG S Z;p, n n 14 = 1 1 1 p n 2 p = 1 p n p n 12 1 p2 0, 1 p 1 32 n 0. p 2 = Für die zugehörigen Elastizitäten ergibt sich: S p p S S n n S = 1 12 2 1 p n p 2 p = = 1 1 p 2 p = Für 0 < p < 1 gilt S p p S 1 1 p 2 12 1 p p np 12 1 1 p 1 1 0, 2 1 p p 21 n 32 1 p n np 21 1 0. 2 1 1, woraus weiter folgt 1 p S n . n S Das heisst: Mit wachsender Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p sinkt der Variationskoeffizient S. Mit wachsender Anzahl n der Versicherungsnehmer sinkt der Variationskoeffizient S. Der Variationskoeffizient S reagiert auf eine proportionale Änderung der Eintretenswahrscheinlichkeit p stärker als auf eine gleich hohe proportionale Änderung der Anzahl n der Versicherungsnehmer. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 15 6) Für die Versicherungsunternehmung stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Netto-Risikoprämie als Erwartungswert des Schadens beträgt pro Versicherungsnehmer E[X] = pX. Die kalkulatorische Sicherheit, dass für den Bestand die Netto-Risikoprämien in Höhe von n p X für die tatsächlich eingetretenen Schäden ausreicht, nimmt mit wachsender Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p und wachsender Anzahl n versicherter Einheiten zu. Hierbei dient der Variationskoeffizient S als Massstab für die Unsicherheit mit der Massgabe, dass mit sinkendem S die Unsicherheit sinkt, was impliziert, dass mit sinkendem S die Sicherheit steigt. In der Realität entspricht die dem Versicherungsnehmer in Rechnung gestellte Risikoprämie R einer Brutto-Risikoprämie, die sich additiv zusammensetzt aus der Netto-Risikoprämie in Höhe des Erwartungswertes des Schadens (hier E[X] = p X), gewissen Zuschlägen zur Abdeckung des Zufalls-, Diagnose- und Prognoserisikos und allfälligen Gewinnzuschlägen. Zur Abdeckung der Kosten aus der Dienstleistungskomponente wird zusätzlich eine Kostenprämie K erhoben. Der Variationskoeffizient S kann als Massstab für die Höhe des Zuschlages zur Abdeckung des Zufallsrisikos herangezogen werden. 7) Mit dem folgenden Beispiel einer einjährigen Todesfallkapitalversicherung mit Versicherungssumme 1 verdeutlicht Braess wie die Erhöhung der Eintretenswahrscheinlichkeit p des Schadens die Risikosituation für die Versicherungsunternehmung verbessert, falls sie in der Lage ist, eine dem erhöhten Risiko (d.h. dem erhöhten Erwartungswert) entsprechende Prämie einzunehmen: "Gesetzt, der Versicherer hat nur einen einzigen Versicherungsnehmer, nämlich einen Mann von 50 Jahren, mit einer Sterbenswahrscheinlichkeit von 1% (= Nettoprämie). Stirbt dieser Versicherungsnehmer, was ja durchaus möglich und auch mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit einkalkuliert ist, so entsteht ein Verlust in Höhe der 99fachen Nettoprämie. Handelt es sich dagegen um einen 90jährigen Versicherungsnehmer, so würde die Sterbenswahrscheinlichkeit 30% betragen und dementsprechend die Nettoprämie 30 mal so hoch sein. Der Tod dieses Versicherungsnehmers könnte "nur" einen Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 16 Verlust in Höhe von 70% = dem 2 31 fachen der Nettoprämie erzeugen 3. Insoweit ist jetzt der Versicherer, eben weil die Prämie von vornherein dem maximalen Auszahlungsbedarf sehr viel näher liegt, zweifellos besser abgesichert. Eine Zusammenfassung zahlreicher Versicherungen gleicher Art (hier 50-, dort 90-jährige) ändert an diesem Tatbestand nicht das geringste." 8) Um die Wirkungsweise des Terms q/p in der Formel für den Variationskoeffizienten S plastisch zu veranschaulichen, fährt Braess auf Seite 28 wie folgt fort: "Wir bringen die Formel für S in die Fassung: S Der Faktor 1 q n p 1 unter der Wurzel bezieht sich auf den Effekt aus der n Zahl der Verträge - das leuchtet ohne weiteres ein. Der zweite Faktor in Gestalt des Quotienten q ist der Ausdruck für die Risikolage innerp halb jeder einzelnen Versicherung. Nehmen wir nun an, dass die qund p-Werte jeweils in Tausendsteln gemessen werden – beispielsweise p = 10%o, q = 990%o. Jetzt stellen wir uns ein Kollektiv aus 1000 "Fiktiv-Personen" vor, indem wir rechnerisch Zähler und Nenner des Quotienten mit 1000 erweitern. Dieses Kollektiv zerfällt dann in eine p-Gruppe mit 10 und eine q-Gruppe mit 990 Personen. Risiko-mässig ist die p-Gruppe völlig ungefährlich. Mit einem Ableben (= Schaden) hat der Versicherer von vornherein gerechnet und eine entsprechende Prämie erhalten, so dass insoweit unliebsame Überraschungen auf jeden Fall ausgeschlossen sind. Anders jedoch die qGruppe (= 990 Personen), die als vermutlich schadenfrei in die Nettoprämie einkalkuliert worden ist. In ihr und nur hier liegen die Überraschungsmöglichkeiten, die sofort akut werden, wenn durch den Einfluss des Zufalls Personen, die nach der Vorkalkulation des Versicherers zur q-Gruppe gehören sollen, wider Erwarten in die pGruppe überwechseln. Ihre Ansprüche würden nicht durch eine 3 Das Beispiel ist absichtlich sehr krass gewählt, um die Tendenz möglichst deutlich hervortreten zu lassen. Die absoluten Verlustbeträge weichen naturgemäss bei weitem nicht so stark voneinander ab. Im ersten Falle (50jähriger Versicherungsnehmer) beträgt der absolute Verlust 99% der Versicherungssumme, im zweiten Falle 70%. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 17 entsprechende Nettoprämie, sondern allenfalls durch einen zusätzlichen "Sicherheitszuschlag" zur Nettoprämie gedeckt sein. So betrachtet ist der Quotient q tatsächlich ein sinnfälliger oder doch p zumindest verständlicher Ausdruck für die Grössenrelation zwischen der risikobehafteten Gruppe q und der risikofreien Gruppe p. Je grösser q im Verhältnis zu p ist, umso ausgeprägter wird das Zufallsrisiko sein. (Dass schliesslich aus dem Gesamtausdruck noch die Quadratwurzel gezogen werden muss, wird man allerdings nur noch mathematisch aus der Definition von S erklären, nicht aber anschaulich darstellen können.)" 9) Anhand der Konstruktionsprinzipien der Sterbetafeln für Todesfallkapitalversicherungen möchten wir dies noch weiter verdeutlichen. Durch den Einbau von Sicherheitszuschlägen und Margen werden hier die realistischen originären Sterbewahrscheinlichkeiten bewusst erhöht. Als Mass für die Sicherheitszuschläge wird oft der Variationskoeffizient benutzt; hierdurch soll Schutz gegen das Zufallsrisiko erreicht werden. Gegen das Diagnose- und Prognoserisiko werden zusätzlich oft noch Margen eingebaut. Im Bild von Braess führt dies dazu, dass die p-Gruppe vergrössert und folglich die risikobehaftete q-Gruppe verkleinert wird. Falls Mitglieder der p-Gruppe sich anders verhalten als angenommen (d.h. in diesem Beispiel nicht sterben), so entsteht keine Leistungspflicht für die Versicherungsunternehmung, obwohl sie mit einer solchen gerechnet hat. Falls Mitglieder der q-Gruppe sich anders verhalten als angenommen (d.h. in diesem Beispiel sterben), so entsteht für die Versicherungsunternehmung eine Leistungspflicht, obwohl sie dies nicht eingerechnet hat. Durch die bewusste Verkleinerung der qGruppe erreicht also die Versicherungsunternehmung eine Verbesserung ihrer Risikosituation. Bei gegebenem Todesfallkapital steigt hierdurch der Erwartungswert der nach dem versicherungsmathematischen Modell zu erbringenden Versicherungsleistungen und damit die entsprechende Risikoprämie. Dies impliziert, dass die gemäss Modell berechneten Risikoprämien die realistischerweise zu erwartenden Todesfallkapitalleistungen mit hoher Wahrscheinlichkeit übersteigen. Man sagt, dass die Lebensversicherungsunternehmung dann auf der "sicheren Seite" ist. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 18 Grafisch lässt sich das wie folgt veranschaulichen CHF B y% x% A (1) (2) (1) Bestandteile der "Brutto-Risikoprämie" (2) "Brutto-Risikoprämie" A: gemäss realistischen Sterbewahrscheinlichkeiten erwartete Todesfallleistungen ("Netto-Risikoprämie", erwarteter Aufwand; Aufwand gemäss „best estimate assumptions“)) B: gemäss versicherungsmathematischem Modell berechnete Risikoprämie ("Brutto-Risikoprämie", Ertrag) x: Sicherheitszuschlag in Höhe von x % von A, abgeleitet aus dem Variationskoeffizienten (Schutz gegen des Zufallsrisiko) y: Margen in Höhe von y % von A (Schutz gegen das Diagnose- und Prognoserisiko). Die Differenz aus den realisierten Werten von Ertrag und Aufwand stellt den Risikoüberschuss dar. Bei Lebensversicherungen werden die Annahmen wegen der langfristigen Garantien so gewählt, dass meist tatsächlich ein positiver Risikoüberschuss vorliegt. Mittels der Überschussbeteiligung erhält der Kunde einen Anteil hiervon. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3.2. 19 Zur Grössenordnung der Unsicherheit 1) Der Variationskoeffizient S mit S q np 1 p 1 . p n wird als Mass der Unsicherheit interpretiert. Im Folgenden geben wir anhand von Beispielswerten einen Überblick über die Grössenordnung von S. Dazu betrachten wir zunächst S als Funktion der Eintretenswahrscheinlichkeit p des Versicherungsfalls und der Anzahl n der Verträge. Die Wahrscheinlichkeit p kann man auch interpretieren als Nettoprämiensatz oder als Nettoprämie für die Versicherungssumme 1. 4 S in Abhängigkeit der Nettoprämie p und der Anzahl n der Verträge: n 1 100 10'000 100'000 p=10% 3.0 0.3 0.03 0.0095 p=1.0% 10 1 0.1 0.0315 p=1.0%o 31.61 3.161 0.316 0.10 p=0.5%o 44.71 4.471 0.447 0.141 "Daraus geht beispielsweise hervor, dass 10'000 Verträge bei einem Nettoprämiensatz von 0.5%o (letzte Spalte) mit 0.447 eine höhere Unsicherheit beinhalten, als nur 100 Verträge bei einem Nettoprämiensatz von 10%, da hier S = 0.3 gilt." 2) Für einige Beispiele lässt sich die Aussage der obigen Tabelle wie folgt grafisch darstellen: 4 Braess, Paul: Versicherung und Risiko, 1960, Seite 29 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 20 p= Netto-Prämie = Erwartungswert 10% 1 01 . p 1% 2 3 0.03 p 4 0.3 p p Bestände n=10'000 n=100 n=10'000 n=100 i i 1, ,4 gibt die jeweilige Standardabweichung wieder ausgedrückt als Vielfaches der Netto-Prämie, d.h. des Erwartungswertes. Der Proportionalitätsfaktor ist gerade gleich dem Variationskoeffizienten (oder Streuungskoeffizienten). Hierzu ist zu beachten, dass definitionsgemäss gilt Variationskoeffizient S tan dardabweichung Erwartungswert S E 3) Für die Berechnung der Werte gilt im einzelnen: p = 0.1: S 3 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 1 01 . 1 0.9 1 1 9 01 . 01 . n n n 1 n Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 21 3 0.009486 316 100' 000 316 ; p = 0.01: S 0.99 1 0.01 n = = 99 1 n 1 9.95 ; 0.03148 316 n 9.95 p = 0.0005: S = = 0.9995 0.0005 44.71 1 n 1 44.715 ; 0.14148 316 n 4) Im Folgenden betrachten wir das Verhalten von S unter der Annahme, dass das Prämienvolumen n p konstant ist. Für beliebige Wahrscheinlichkeiten p und po sowie beliebige Anzahlen n und no von Verträgen mit np = nopo ergibt sich zunächst Sp Sp o 1 p np 1 p o nop o 1 p . 1 po Setzen wir beispielsweise po = 0.1, so ergibt sich für das Verhältnis Sp / Sp0 unter den Annahmen np n o p o sowie stets gleicher Versiche5 rungssumme für verschiedene p folgendes: p 0.2 0.1 0.01 0.001 0.0001 Sp / Sp0 0.9428 1.0000 1.0488 1.0536 1.0540 5 Braess kommt auf Seite 30 zu etwas anderen Ergebnissen. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 22 Dies besagt, dass z.B. bei einem Bestand von n Versicherungen mit Nettoprämiensatz 0.001 die Unsicherheit - gemessen durch S lediglich um gut 5% grösser ist als bei einem Bestand von n/100 Versicherungen mit Nettoprämiensatz 0.1. Im Wesentlichen wird also das Mass der Unsicherheit durch das Prämienvolumen bestimmt. Es erscheint recht unbedeutend zu sein, ob das Prämienvolumen aus einer "relativ kleinen Zahl schwerer" Risiken stammt oder einer "relativ grossen Zahl leichter" Risiken. 5) Braess schreibt hierzu: "Die Konsequenz würde also lauten, dass unter den angenommenen Voraussetzungen (gleiche Versicherungssumme bei allen Verträgen, nur Totalschäden) die Unsicherheit praktisch ausschliesslich vom Prämienvolumen abhängt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die gesamte Prämieneinnahme aus einer relativ kleinen Zahl "schwerer" Wagnisse oder einer entsprechend grösseren Zahl "leichter" Risiken 6 gewonnen worden ist. : Der Einfluss der Nettoprämie, soweit er nicht bereits im Prämienvolumen enthalten ist, bleibt dabei so gering, dass er in dem für die Versicherung relevanten Bereich vernachlässigt 7 werden kann ." 6) Abschliessend sei nochmals darauf verwiesen, dass dies unter der einschränkenden Voraussetzung abgeleitet wurde, dass alle Versicherungssummen gleich sind, und es wurden lediglich spezielle Relationen der Eintretenswahrscheinlichkeiten betrachtet. 6 Man könnte versucht sein, den Satz noch pointierter zu formulieren. Der Versicherer, der sein Prämienvolumen vergrössert, verbessert damit automatisch seine Sicherheit, vorausgesetzt natürlich, dass jeweils die richtige Nettoprämie erzielt wird. In dieser Form ist die Behauptung jedoch noch nicht bewiesen, weil hier Probleme der Bestandeshomogenität mitsprechen, die wir erst später betrachten können. 7 Zu prinzipiell dem gleichen Ergebnis, wenn auch in einer etwas abweichenden Formulierung, kommt Gürtler (Das Risiko des Zufalls im Versicherungsbetrieb, a.a.O., S.311). Es muss jedoch sehr nachdrücklich betont werden, dass dieses Ergebnis nur unter den einschränkenden Voraussetzungen gilt, wonach ausschliesslich Totalschäden vorkommen und alle Versicherungssummen gleich 1 sind. Sobald auch nur eine der beiden Voraussetzungen aufgegeben wird, kommt man allein mit den Nettoprämien-Volumen zur Charakterisierung der Unsicherheit nicht mehr aus. (Näheres im fünften Kapital.) Insoweit hat also das hier formulierte Ergebnis nur eine geringe Bedeutung. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3.3. 23 Auswirkung auf Prämienkalkulation und -politik "Einige weitere und sehr bedeutsame Fragen, die mit unserer Tabelle (oben unter Ziff. 3.2.1.) im Zusammenhang stehen, können wir hier leider nur am Rande streifen. Es handelt sich vornehmlich um Fragen der Prämienkalkulation und -politik, die abseits von unserem eigentlichen Thema liegen: a) Welches Mass an Unsicherheit ist zulässig, wenn man überhaupt noch ernsthaft von "Versicherung" sprechen will? Dass eine Unsicherheit, die mehr als das Einfache der gesamten Nettoprämie beträgt, die Voraussetzung einer Versicherung nicht erfüllen kann, bedürfte keines weiteren Beweises (Die Tabelle lässt erkennen, bei welcher Zahl von Verträgen diese Grenze erreicht wird.) Welcher Bruchteil aber soll im Einzelnen als Obergrenze zuge-lassen werden? b) Entsprechend dem Mass der Unsicherheit wird die reine Nettoprämie um einen bestimmten Sicherheitszuschlag erhöht werden müssen, für den wiederum die Grösse S als der geeignete Massstab dienen kann8. c) Auf den Versicherungsmärkten konkurrieren Versicherungsunternehmungen mit jeweils ganz verschiedenen Versicherungsbeständen, die je nach ihrer Grösse und Zusammensetzung einen stark abweichenden Sicherheitszuschlag bedingen werden. Für die Preisbildung massgeblich wird häufig derjenige Versicherer sein, der unter sonst gleichen Voraussetzungen (insbesondere in bezug auf die Verwaltungskosten) mit dem geringsten Sicherheitszuschlag auskommt9. Die übrigen Wettbewerber werden sich auf eine solche Marktsituation einstellen müssen, indem sie gegebenenfalls zumindest einen Teil des sonst erforderlichen Sicherheitszuschlages durch eine Kapitalreserve ersetzen, die im Falle von technischen Verlusten zur Deckung herangezogen werden kann." 8 Die Frage, ob die einfache Standardabweichung ausreicht oder ob ein Mehrfaches davon erforderlich ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. 9 P. Braess, Angebot und Nachfrage in der Versicherung, Wirtschaft und Recht der Versicherung, Beiheft 1/1938. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3.4. 24 Wie verhält sich die Praxis? "Wir haben also gesehen, dass nach dem "Gesetz der grossen Zahlen" die Anzahl der Verträge im gleichen Sinne risikomindernd wirkt wie die "Schwere" der Einzelrisiken, ausgedrückt durch den Schadengrad p. Wie hat die Praxis bisher auf diese Folgerung reagiert? Im ersten Falle (Zahl der Verträge) können wir feststellen, dass die Kenntnis dieses Zusammenhangs eigentlich seit jeher zum absolut gesicherten und unumstösslichen Wissen der Praxis gehört. Man wird sogar ohne Übertreibung behaupten können, dass die Praxis aus Instinkt und Erfahrung diesen quasi-gesetzmässigen Zusammenhang seit den ersten Anfängen des Versicherungswesens schon sehr viel früher erkannt hat als die später einsetzende theoretische Forschung, die insoweit das Erfahrungswissen aus der Praxis nur bestätigt hat. Ganz anders jedoch im zweiten Falle, der sich auf die Schwere der Wagnisse bezieht. Die Praxis hat hier anscheinend keine Folgerungen aus dem theoretisch gewonnenen Ergebnis gezogen, obwohl es nicht gerade neu ist. Ihre skeptische, wenn nicht gar ablehnende Haltung10 mag drei verschiedene Gründe haben. Der erste ist sozusagen technischer Art. Oft wird für schwere Risiken nicht eine voll ausreichende oder doch nicht so reich bemessene Prämie wie für leichte zu erzielen sein. Darin stecken Verlustgefahren, die naturgemäss mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen nichts zu tun haben, die es aber verständlich machen, dass sich der Versicherer speziell auf dem Wege der Rückversicherung und häufig auch auf deren Kosten von solchen Risiken zu entlasten sucht. Der zweite Grund hat systematische Bedeutung und ist deshalb sehr viel interessanter. Alle bisher gewonnenen Ergebnisse gelten nur unter den einschränkenden Prämissen, die im Einzelnen mehrfach genannt worden sind. Dazu gehört hier vor allem die Voraussetzung, dass im Versicherungsfalle jeweils nur "Totalschäden" in Frage 10 Das zeigt sich insbesondere bei der Frage, ob schwerere Risiken in höherem Masse summenmässig rückzuversichern sind als leichte. Gürtler (Das Risiko des Zufalls im Versicherungsbetrieb, a. a. O., S. 313) kommt auf Grund der theoretischen Ableitung zum entgegengesetzten Ergebnis, schwächt es dann aber wieder ab, indem er schwere und leichte Risiken gleich behandelt wissen will. Die Praxis steht ziemlich einhellig auf dem Standpunkt, schwere Risiken summenmässig stärker rückzudecken als leichte, ignoriert insoweit also die Theorie. - Einzelheiten zu diesem Thema, insbesondere zur Frage des Rückversicherungsbedarfs, folgen später. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 25 kommen. Wenn diese Einschränkung aufgegeben wird, ändern sich die Aspekte sehr wesentlich, wie im fünften Kapitel zu zeigen sein wird. Drittens werden die sogenannten schweren Risiken häufig noch deshalb als besonders gefährlich angesehen, weil sie meist in geringerer Zahl vorkommen und somit "in sich" keinen genügenden Risikoausgleich bieten. Mit diesem - grundsätzlich verfehlten Argument können wir uns erst in den nächsten Kapiteln auseinandersetzen." 3.5. Das Gesetz der grossen Zahlen11 1) Grundlage für den Risikoausgleich im Kollektiv (bzw. die Risikotransformation durch das Pooling) ist das Gesetz der grossen Zahlen von Jakob Bernoulli (1654 – 1705). Mittlerweile gibt es verschiedene Formulierungen dieses Gesetzes. Ein recht allgemeine Form lautet wie folgt: Gesetz der grossen Zahlen: Sei X1, , Xn eine zufällige Stichprobe einer Zufallsvariablen X mit endlichem Erwartungswert und endlicher Varianz 2 . Dann gilt lim Pr [ X ] 1 n n für beliebiges > 0 und X : Xi / n . i 1 Mit Pr [ ] wird das zugrunde gelegte Wahrscheinlichkeitsmass bezeichnet. X gibt den Mittelwert der Stichprobe wieder. Die X i 1 i n sind als zufällige Stichprobe der Zufallsvariable X unabhängig und identisch verteilt (englisch: independent and identical distributed [iid]). Das Gesetz der grossen Zahlen besagt in dieser Variante, dass für n die Wahrscheinlichkeit dafür gegen 1 strebt, dass - für beliebig 11 Vgl. Cummins, J. David, "Statistical and Financial Models of Insurance Pricing and the Insurance Firm", Journal of Risk and Insurance, 1991, Seite 261-302 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 26 vorgegebenes > 0 - der Mittelwert der Stichprobe X um weniger als von dem Erwartungswert der Zufallsvariable abweicht. Oder etwas salopper formuliert: für grosse n ist der Mittelwert X der Stichprobe X1 1 i n fast sicher in der Nähe des Erwartungswertes der Zufallsvariable X. Falls die Zufallsvariable X zählt, ob ein gewisses Ereignis eintritt oder nicht, d.h. falls X binomial verteilt ist mit den Werten 0 bzw. 1, so sagt das Gesetz der grossen Zahlen aus: Für n strebt die Wahrscheinlichkeit dafür gegen 1, dass die n relative Häufigkeit X : Xi / n beliebig nahe der theoretischen i 1 Eintrittswahrscheinlichkeit p des Ereignisses ist (X = 1). 2) Die Gültigkeit des Gesetzes der grossen Zahlen lässt sich leicht aus der Tschebyscheff'schen Ungleichung ableiten; die lautet wie folgt: Tschebyscheff'sche Ungleichung: Sei X eine Zufallsvariable mit endlichem Erwartungswert und endlicher Varianz 2 . Dann gilt für jedes k > 0 Pr [ X k ] 1 1 k2 . Diese Ungleichung besagt, dass für jedes k > 0 die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Realisation der Zufallsvariablen X um weniger als das k-fache der Standardabweichung vom Erwartungswert abweicht, grösser ist als 1 1 k2 . Zur Veranschaulichung dieser Abschätzung betrachten wir beispielsweise die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Realisation der Zufallsvariablen X um weniger als die doppelte Standardabweichung vom Erwartungswert abweicht; d.h. wir betrachten den Fall k = 2. Gemäss der Tschebyscheff'schen Ungleichung ist diese Wahrscheinlichkeit grösser gleich 0.75. Für diese Abschätzung wird lediglich vorausgesetzt, dass die Verteilung von X einen endlichen Erwartungswert und eine endliche Varianz besitzt. Falls darüberhinaus vorausgesetzt wird, dass X normal verteilt ist, ist diese Wahrscheinlichkeit Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 27 sogar gleich 0.9545. Der Wert der Tschebyscheff'schen Ungleichung liegt also eher in theoretischen Anwendungen als in praktischen Abschätzungen von Wahrscheinlichkeiten; hierfür ist die Abschätzung zu grob. Allerdings erfordern feinere Abschätzungen mehr Information über die Verteilung. Dieses "Problem" wird meist vermutlich per Annahme "gelöst". 3) Als Hilfsmittel zum Beweis der Tschebyscheff'schen Ungleichung beweisen wir zunächst die Markov'sche Ungleichung: Sei X eine Zufallsvariable mit X 0 und endlichem Erwartungswert E[X]. Dann gilt Pr [ X t ] E[ X] für t > 0. t Beweis: Der Beweis wird für eine stetige Zufallsvariable X mit Dichte f(x) geführt. E[X] = x f x d x 0 = t 0 t x f x dx x f x dx x f x d x t t f x d x t = t Pr [ X t ] . Also gilt E[ X] t Pr [ X t ] bzw. Pr [ X t ] Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 E[ X] . t Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 28 4) Wir gehen jetzt über zum Beweis der Tschebyscheff'schen Ungleichung: Wir setzen Y : X E[ X] 2 . Dann gilt Y 0 und E[Y] = Var[X]. Auf Y ist somit die Markov'sche Ungleichung anwendbar. Sie liefert für t > 0: Pr [ X E[ X] t ] = = Pr [ Y t 2 ] E[ Y] t2 Var [ X] t2 . Also gilt Pr [ X E[ X] t ] 1 Var [ X] t2 . Für t k k Var [ X] folgt Pr [ X E[ X] k ] 1 Var [ X] t2 1 1 k2 . 5) Aus der Tschebyscheff'schen Ungleichung ergibt sich das Gesetz der grossen Zahlen. Beweis des Gesetzes der grossen Zahlen: Da die Xi unabhängig und identisch verteilt sind, gilt für die Zufalls- n 1 variable X : X1 : i 1 n E[ X] = Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 1 n E[ Xi ] n i n 1 n n Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG = Var [ X] = = = 29 1 n Var [ Xi ] n2 1 i n 2 n 2 n 2 . n Die Tschebyscheff'sche Ungleichung lautet für X und beliebiges k > 0 Pr [ X E[ X] k Var [ X] ] 1 1 k2 . Setzen wir nun für beliebiges > 0. k 1 Var [ X] = n , so folgt Pr [ X ] 1 2 2 n also lim Pr [ X ] 1. n Womit der Beweis des Gesetzes der grossen Zahlen abgeschlossen ist. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3.6. 30 Verallgemeinerungen des Grundmodells 3.6.1. Unterschiedliche Versicherungssummen 1) Die erste Verallgemeinerung besteht darin, dass wir unterschiedliche Versicherungssummen VSi pro Vertrag i (i 0= 1, ... , n) zulassen, Im folgenden unterstellen wir weiterhin, dass lediglich Totalschäden auftreten, die auch voll entschädigt werden, so dass gilt VSi (i = 1, ... , n). VLi Xi (Versicherungssummei = Versicherungsleistungi = Schadeni) Weiter sei zunächst noch in allen n Verträgen die Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit konstant und zwar gleich p. Für den Variationskoeffizienten S ergibt sich dann n SX1,..., Xn;p, n q X2i n p Xi i 1 = Mit s2 X1,..., Xn i 1 = q q s2 np np 1 n := 2 n = 2 Xi X i 1 2 X n X : q 1 s2X1,..., Xn np q 1 s2 np Quadrat des Variationskoeffizienten der Versicherungssummen bzw. Totalschäden Mittelwert der Versicherungssummen bzw. Totalschäden 1 Xi n i 1 s2 (X1, ... , Xn ) ist ein Mass für die Inhomogenität der Versicherungs- summen bzw. der Totalschaden Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 31 Es gilt S s 2 0. Die impliziert, dass - ceteris paribus - die Unsicherheit für die Versicherungsunternehmung steigt, falls die Versicherungssummen (Totalschäden) inhomogener werden. Die absoluten Höhen der Versicherungssummen (Totalschäden) sind hingegen hiernach für das Ausmass der Unsicherheit irrelevant; sie sind natürlich für die Höhe der Prämie relevant. Zur Einordnung dieser beiden Aussagen ist festzuhalten, dass implizit unterstellt wird, dass die Versicherungsunternehmung in der Lage ist, die Prämie in Höhe des Erwartungswertes des Schadens am Markt durchzusetzen. Ferner werden das Diagnose- und Prognoserisiko per Annahme ausgeschaltet, so dass als Unsicherheitsfaktor für die Versicherungsunternehmung lediglich das Zufallsrisiko verbleibt. Für dieses Risiko wird dann der Variationskoeffizient als adäquates Risikomass bzw. Mass für Unsicherheit angesehen. 2) Ein Mittel zur Vergrösserung der Homogenität der Versicherungs- summen (Totalschäden) auf eigene Rechnung besteht für die Versicherungsunternehmung in einer geeigneten Rückversicherungspolitik. Zur Veranschaulichung geben wir folgendes (leicht abgeändertes) Beispiel aus dem oben zitierten Buch von Braess wieder: "Hierzu ein theoretisch konstruiertes Beispiel: Ein Versicherer besitzt einen Bestand von 20'000 Versicherungen. Die Nettoprämie, einheitlich für alle Versicherungen, beträgt 5%o. 3) Wenn alle Versicherungssummen gleich wären (ohne Rücksicht auf die absolute Höhe), wäre S aus der Grundformel q np mit 995 995 20'000 5 100' 000 zu errechnen, und es ergäbe sich S = 0.09975. D.h. die Standardabweichung beträgt 9.975% der jeweiligen Nettoprämie. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 32 Hierzu beachte man die Definition des Streuungskoeffizienten S als S . E Daraus folgt für die Standardabweichung S E. Hierbei ist der Erwartungswert E als Nettoprämie zu interpretieren. Das ist der Minimalwert für einen "summenhomogenen" Bestand von 20'000 Verträgen bei einer Nettoprämie je 5%o. (Summenhomogenität bedeutet, dass keinerlei Streuung der Versicherungssummen vorhanden ist.) 4) Die Versicherungssummen zusammensetzen: mögen sich jetzt wie 1'000 Verträge je Versicherungssumme = 1, zusammen 3'000 Verträge je Versicherungssumme = 2, zusammen 10'000 Verträge je Versicherungssumme = 3, zusammen 4'000 Verträge je Versicherungssumme = 5, zusammen 1'000 Verträge je Versicherungssumme = 10, zusammen 1'000 Verträge je Versicherungssumme = 20, zusammen 20'000 Verträge mit insgesamt Versicherungssumme = = = = = = folgt 1'000 6'000 30'000 20'000 10'000 20'000 87'000 Die durchschnittliche Versicherungssumme beträgt 4.35. Bei der gegebenen Streuung der Versicherungssummen berechnen wir S(Vn) nach der expliziten Formel auf S. 29, indem wir die jeweils gleichen Versicherungssummen stückzahlmässig zusammenfassen: S(Vn) 995 1000 ' 12 3'000 22 10'000 32 4'000 52 1000 ' 102 1000 ' 202 5 87'0002 S(Vn) = 0.136. D.h. die Standardabweichung beträgt 13.6% der gesamten Nettoprämie. Gegenüber dem summenhomogenen Bestand ist die "Unsicherheit" um mehr als 13 grösser geworden. 5) Der Versicherer kann die Sicherheit verbessern, indem er beispielsweise alle Versicherungssummen, die über 3 hinausgehen, in Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 33 Rückversicherung gibt (Summenexzedenten-Rückversicherung). Sein "Restbestand" für eigene Rechnung sieht dann so aus: 1'000 Verträge je Versicherungssumme = 1, zusammen = 3'000 Verträge je Versicherungssumme = 2, zusammen = 16'000 Verträge je Versicherungssumme = 3, zusammen = 20'000 Verträge mit insgesamt Versicherungssumme Die durchschnittliche gegenüber 4.35. Versicherungssumme beträgt 1'000 6'000 48'000 55'000 nun 2.75 Nunmehr wird V S(n) 995 1' 000 12 3' 000 22 16'000 32 5 55' 0002 V S(n) = 0.1016. D.h. die Standardabweichung beträgt 10.16% der gesamten Nettoprämie. Das ist nur noch ein geringfügiger Unterschied gegenüber dem Minimalwert von 9.975%. Der positive Effekt der Rückversicherung macht sich also sehr deutlich bemerkbar und kann quantitativ exakt gemessen werden. Ob der Erstversicherer in diesem Ausmasse tatsächlich von der Rückversicherung Gebrauch machen will, oder ob er sich mit einer geringeren Spitzenabdeckung begnügt (etwa nur die Versicherungssummen, die über 5 oder 10 hinausgehen), mag dahingestellt bleiben. Hier spielen vor allem Fragen der verfügbaren Kapitalreserven und schliesslich auch die Gewinnmöglichkeiten eine Rolle, die in der Bruttoprämie stecken." 3.6.2. Zusammenlegung von Versicherungsbeständen 1) Als nächstes Beispiel betrachten wie den Fall, in dem zwei Versicherungsbestände zusammengefasst werden, und versuchen Aussagen über Wirkungen auf den Streuungskoeffizient abzuleiten. Gegeben sei ein Versicherungsbestand 1 bestehend aus n1 Versicherungen mit gleicher Versicherungssumme (Totalschaden) X1 und gleicher Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p1. Dann gilt für den Streuungskoeffizient S1 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG S1 34 q1 n1 X12 p1 n12 X12 mit q1 1 p1. Der neu hinzu kommende Versicherungsbestand 2 sei charakterisiert durch n2 Verträge mit der Versicherungssumme (Totalschaden) X2 und der Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit p2. 2) Wir betrachten nun den Versicherungsbestand, der sich durch Zusammenlegen der beiden Versicherungsbestände 1 und 2 ergibt und indizieren die entsprechenden Grössen mit 1+2. Falls wir Unabhängigkeit der n1 2 n1 n2 Zufallsvariablen X1 2 voraussetzen, ergibt sich für den Streuungskoeffizienten dieses Gesamtbestandes. SX1 2 = = = mit q2 D 2 X1 2 EX1 2 n1p1 q1 X12 n 2 p 2 q2 X 22 n1 p 1 X 1 n 2 p 2 X 2 n1p1q1X12 n 2p 2 q2 X22 n1p1X1 n2p 2 X2 2 1 p2 . In der Ausgangssituation wird die Unsicherheitslage durch den Bestand 1 festgelegt und beträgt S1. Falls durch die Hinzunahme des Bestandes 2 die Unsicherheitssituation des Gesamtbestandes 1+2 nicht grösser sein soll als die Unsicherheitslage in der Ausgangs-situation, muss gelten S1 2 S1 d.h. n1p1q1X12 n2p 2 q2 X22 n1p1X1 n2p 2 X2 2 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 n1p1q1X12 n1p1X12 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 . 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 35 Durch (langwierige) elementare Umformungen12 erhält man schliesslich X2 2X1 1 q2 n 2 p 2 q n1 p 1 1 . Zunächst analysieren wir das Verhalten des Faktors F 1 F q2 n p 2 2 q1 n1 p 1 in Abhängigkeit von p1 bzw. p2. Für p1 = p2 gilt q1 = q2 und somit F 1 n 1 2 n1 . Des weiteren gilt 1 F 0 1 p n p 2 p 2 p 2 2 2 1 p 1 n1 p 1 wegen p 2 1 p 2 n2 p 2 1 p n p 1 1 1 1 n 1 2 0. 1 p1 n1 p1 0 0 Somit folgt 1 q2 n p 2 2 q1 n1 p 1 p 2 p1 12 1 n 1 2 n1 1 q2 n p 2 2 q1 n1 p 1 p 2 p1 p 2 p1 . Vgl. im oben angegebenem Buch von P. Braess, S. 129, ff. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 36 Zur Interpretation dieser Ungleichung treffen wir nachstehende Fallunterscheidung: 3) p1 = p2 Zunächst sei p1 p 2 , d.h. der neu hinzugenommene Bestand 2 hat die gleiche Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit wie der Ausgangsbestand 1. Die obere Schranke für die Versicherungssummen (Totalschäden) des neuen Bestandes, die einzuhalten ist, falls durch die Bestandeszusammenlegung das Unsicherheitsmass nicht erhöht werden soll, lautet nun X2 2X1 1 1 n2 n1 . Für n2 klein in Relation zu n1 ergibt sich keine Erhöhung des Unsicherheitsausmasses, d.h. es gibt S1 2 S1, solange die neue Versicherungssumme (Totalschaden) kleiner als das Doppelte der alten Versicherungssumme ist. Für n2 ungefähr gleich gross wie n1 ergibt sich, dass im Prinzip keine Beschränkung bzgl. der neu aufzunehmenden Versicherungssummen (Totalschäden) zu beachten ist. Aus dem oben angegebenen Buch von P. Braess zitieren wie zusätzlich zu diesem Fall: "Aus der Bestimmungsgleichung ist weiterhin zu folgern, dass die Aufnahme neuer Versicherungen mit kleineren Summen als bisher das Risiko niemals vergrössert. Vielleicht erscheint dieser Schluss für den Praktiker so selbstverständlich, dass er ihn gar nicht erwähnenswert hält13. Vom theoretischen Standpunkt müssen wir jedoch auf die nicht unwichtige Konsequenz hinweisen, dass die Hereinnahme kleinerer Versicherungssummen in einen bisher summenhomogenen Bestand zwar die Streuung der Versicherungssummen vergrössert, dass dieser Effekt aber in jedem Falle durch den risikomindernden Einfluss des grösseren n absorbiert und überkompensiert wird14. 13 Man kann sich in der Tat kaum vorstellen, dass ein Versicherer, der bisher nur relativ grosse Versicherungssummen im Bestande hat, aus Risikogründen auf die Übernahme kleinerer Versicherungssummen verzichten würde. 14 Hierzu wieder ein konstruiertes Beispiel: Alter Bestand = 10 Versicherungen je 1, Nettoprämie = 5%o, S1 = 4.461. Hinzu kommt ein Vertrag mit einer Versicherungssumme = 1/10, S2 = 4.419, also etwas kleiner als S1. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 37 Auf dieser theoretischen Grundlage kann man die Wandlungen der Risikosituation beim allmählichen Aufbau eines Versicherungsbestandes aus kleinen Anfängen heraus sehr gut demonstrieren. Solange der Versicherungsbestand noch sehr klein ist, wird das Risiko gross sein; seine Verminderung muss das vorrangige Ziel der Gesellschaft sein. Das geschieht zunächst durch möglichst weitgehende Nivellierung der Versicherungssummen im Wege der passiven Rückversicherung. Entscheidend ist dabei nicht so sehr die absolute Höhe der Versicherungssummen, wie vielmehr ihre Streuung. Enthält der Versicherungsbestand in Mehrzahl kleine Versicherungssummen, so bedeutet das den Zwang zur Nivellierung der Eigenbehalte nach unten. Die weitere Geschäftspolitik wird alsdann auf eine stückzahlmässige Vergrösserung des Bestandes ausgerichtet sein. Wenn das gelingt, wird das Risiko stetig zurückgehen, bis schliesslich die Risikogrenze erreicht wird, die nach der Marktlage und nach den sonst noch vorhandenen Sicherheitsmitteln als ange-messen empfunden wird und insoweit nicht mehr unterschritten zu werden braucht. Erst von diesem Punkt ab kann neben dem extensiven Wachstum durch Vermehrung der Verträge eine intensive Ausdehnung durch allmähliche Erhöhung der Eigenbehaltsversicherungssummen beginnen. Wenn die Gesellschaft dabei die Norm zugrunde legt, dass die zuwachsende Eigenbehalts-Versicherungssumme ohne Gefahr der Risikoverschlechterung das Doppelte vom Durchschnitt der bisherigen Eigenbehalte ausmachen darf, so wird durch die Hereinnahme grösserer Summen allmählich auch der allgemeine Durchschnitt der Versicherungssumme ansteigen und somit stetig die natürliche Kapazität zur Risikodeckung für eigene Rechnung anwachsen15." 15 Wie weit die Praxis den Grundsätzen einer derart "dynamischen" Geschäftspolitik immer gerecht wird, mag fraglich erscheinen. Anscheinend wird häufig eine mehr statische Rückversicherungspolitik betrieben, indem die höchst zulässigen Eigenbehaltssummen in Form von Maximaltabellen festgelegt und für lange Zeit ohne Rücksicht auf die weitere Entwicklung des Versicherungsbestandes beibehalten werden. Dazu ist zu sagen, dass einerseits selbst die Einhaltung von Maximaltabellen eine Risikoverschlechterung nicht verhindert (die Hereinnahme kleiner Versicherungssummen wird ja u.U. die Streuung vergrössern), andererseits die Beibehaltung alter Tabellen erhebliche Gewinneinbussen verursachen kann. Eine ständige Überwachung des Versicherungsbestandes nach seiner jeweiligen Zusammensetzung erscheint daher von beiden Seiten aus erforderlich. Zutreffend fordert Gürtler (Risiko und Rückversicherung, a.a.O., S. 451), dass das Eigenbehaltsmaximum jeweils das Doppelte des durchschnittlichen Selbstbehaltes betragen soll. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 38 4) p1 < p2 Gelte nun p1 < p2, d.h. der neu hinzugenommene Bestand hat eine höhere Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit als der Ausgangsbestand. Es werden - wie man sagt - schwerere Risiken hinzugenommen. Jetzt lautet die Bedingung X2 2X1 mit 1 q2 n p 2 2 q1 n1 p 1 1 > 0. q p 2 2 n2 p 2 q1 n1 p 1 Dies impliziert, dass die obere Schranke für die Versicherungssumme (Totalschaden) des neuen Bestandes grösser wird mit wachsendem p2 (in Relation zu p1). D.h. je schwerer die neuen Risiken sind in Relation zu den ursprünglichen, desto grösser dürfen die Versicherungssummen sein bei gegebener Anzahl n2 der neuen Versicherungen, ohne das Unsicherheitsmass zu erhöhen. 5) p1 > p2 Die Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit der neuen Versicherungen 2 ist also kleiner als diejenige des Ausgangsbestandes. In Analogie zu 4) folgt nun X2 2X1 1 q2 n2 p 2 q1 n1 p 1 2X1 1 1 n2 n1 . Diesmal besagen diese Ungleichungen, dass die neue Versicherungssumme (Totalschaden) um so niedriger sein muss, je kleiner ihre Schaden-Eintrittswahrscheinlichkeit p2 im Verhältnis zu p1 ist, sofern das Unsicherheitsmass sich nicht erhöhen soll. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 39 3.6.3. Unterschiedliche Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeiten und unterschiedliche Versicherungssummen 1) In diesem Abschnitt seien n Versicherungen gegeben mit den Versicherungssummen VS1, ... ,VSn bzw. Totalschäden X1, ... ,Xn und den zugehörigen Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeiten p1, ... ,pn . Es gelte qi = 1 - pi für i = 1, ... , n. Für den Streuungskoeffizient als Mass der Unsicherheit dieses Versicherungsbestandes gilt dann n p i qi Xi2 S i 1 = n p i Xi i 1 2 n p i X2i i 1 = n p i Xi i 1 2 sp2X 1 n mit s2p X := P := 1 n n pi Xi P 2 i 1 P 2 , 1n pi Xi . ni 1 2) Für Xi = X (i = 1, ... , n) ergibt sich mit po s2p := 1n pi , ni 1 1 n := n p i p o 2 i 1 p 2o für den Streuungskoeffizient S bei gleichen Totalschäden, jedoch unterschiedlichen Eintretenswahrscheinlichkeiten: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 40 n pi qi S i1 n pi i1 2 n pi = i 1 n pi i 1 = = np o n2 p 2o 1 2 = n sp2 1 n sp2 1 n np o = sp2 1 s2p 1 1 po n po n qo np o sp2 n mit qo := 1-po. 3) Zunächst zur Beziehung S = sp2 qo . np o n po bzw. qo sind die durchschnittlichen Eintretens- bzw. Nichteintretenswahrscheinlichkeiten des gesamten Bestandes, definiert als arithmetisches Mittel; sp2 gibt die Streuung der Eintretenswahrscheinlichkeiten pi wieder. Der Streuungskoeffizient S hängt zunächst einmal wie im einfachen Ausgangsfall von qo, po und n ab, wobei nun die Mittelwerte relevant sind. Zusätzlich ist ein mit negativem Vorzeichen versehener Korrekturposten zu berücksichtigen, der von der Streuung der piVers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 41 Werte abhängt. Falls alle pi-Werte p gleich sind, reduziert sich obige Gleichung auf S q . np = Bemerkenswert ist, dass bei gleichen Versicherungssummen der Korrekturposten aufgrund der Streuung der Eintretenswahrscheinlichkeiten negativ auf den Streuungskoeffizient, d.h. auf das Mass der Unsicherheit, wirkt. Bei unterschiedlichen Totalschäden und gleichen Eintretenswahrscheinlichkeiten führt die Streuung der Totalschäden dagegen zu einer Erhöhung der Untersicherheit, der Streuungskoeffizient wird hier erhöht durch den entsprechenden Korrekturterm. In diesem Modellkontext ergibt sich also - jeweils ceteris paribus argumentiert - dass eine Erhöhung der Streuung der Versicherungssummen (Totalschäden) die Unsicherheit für den Versicherer erhöht, während eine Erhöhung der Streuung der Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeit die Unsicherheit für den Versicherer vermindert. Im Buch von Braess wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der letztgenannte Effekt vom Ausmass her nicht allzu gross ist; ein mathematischer Beweis im Rahmen der Modellannahmen wird jedoch nicht geliefert. Falls nun die Schaden-Eintretenswahrscheinlichkeiten und die Versicherungssummen (Totalschäden) differieren, ist wiederum das Auftreten eines mit negativem Vorzeichen versehenen Korrekturterm festzustellen. Hier gilt n pi Xi2 i 1 S n pi Xi i 1 2 sp2X 1 n . Auch hier wird darauf verweisen, dass der Korrekturterm absolut klein ist. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 42 3.6.4 Homogene Eintretenswahrscheinlichkeiten und Maximierung der Unsicherheit In dem oben zitierten Artikel von Cummins wird ein Beispiel von Feller wiedergegeben, an dem sich leicht veranschaulichen lässt, dass bei homogenen Eintrittswahrscheinlichkeiten die Unsicherheit für die Versicherungsunternehmung maximiert wird. Angenommen, man hat n unabhängige Zufallsvariablen Xi mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten p i i 1, , n . Die Schadenhöhe betrage jeweils 1, d.h. für die Schadenhöhe wird maximale Homogenität angenommen. Für i 1, , n gilt EXi = 0 1 p i 1 pi = pi Var Xi = E Xi2 E Xi 2 = p i p i2 = p i 1 pi . Wir definieren Z n := Xi , i 1 p0 := 1 n pi , n i1 di := pi – p0 für i 1, , n . Dann folgt wegen der Unabhängigkeit der Xi Var Z = n Var Xi i 1 = n p i 1 p i i 1 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG = 43 n p 0 p i p 0 1 p 0 p i p 0 i 1 n = p 0 1 p 0 di 1 p0 p 0 di di2 i1 n Wegen di 0 folgt i 1 Var Z = n 2 p 0 1 p 0 di i 1 = n n p 0 1 p 0 di2 . i 1 n Das Maximum der Varianz von Z Xi ergibt sich für di = 0 für alle i 1 i. Im Einklang mit der Aussage von Braess wird also die Unsicherheit für die Versicherungsunternehmung in diesem Beispiel maximiert, wenn für die Eintrittswahrscheinlichkeit Homogenität vorliegt. Des weiteren gilt, dass bei gegebenem n die Varianz für p = ½ maximiert wird, da dann der Term p 0 (1 p 0 ) maximal wird. Dies besagt, dass (bei gegebenem n) die Varianz der Zufallsvariable n Z Xi maximiert wird, falls i 1 erstens alle Eintrittswahrscheinlichkeiten pi gleich sind und falls zweitens dieser einheitliche Wert gleich 0.5 ist. Die Unsicherheit über die erwartete Schadenbelastung ist also maximal, falls der Schaden Xi mit Wahrscheinlichkeit ½ für i 1, , n eintritt. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 3.7. 44 Teilschäden 3.7.1. Grundlagen 1) Als letzte Stufe der Verallgemeinerungen des Grundmodells führen wir nun Teilschäden ein. Ausgangspunkt der Betrachtungen sei die folgende Situation: Gegeben seien 10'000 gleichartige Versicherungsverträge jeweils mit Versicherungssumme 1. Es treten Teilschäden gemäss nachstehender Schadentafel auf: Schadentafel A Anzahl der Schäden 1 4 7 17 71 100 Prozentsatz der Schadenhöhe 100% = 50% = 25% = 10% = 5% = 1.00 0.50 0.25 0.10 0.05 Schadensumme 1.00 2.00 1.75 1.70 3.55 10.00 Es liegen also 100 Schäden mit einer totalen Schadensumme von 10 vor. 2) Zur modellmässigen Beschreibung werden folgende Kennzahlen sowohl für Durchschnittswerte als auch für die einzelnen Schadenklassen eingeführt. Aus der Anzahl der Schäden (100) in Relation zur Gesamtzahl der Verträge (10'000) ergibt sich die durchschnittliche Schadenhäufigkeit oder auch Schadenfrequenz, die als Schaden-Eintretenswahr100 1 scheinlichkeit zu interpretieren ist p . 10'000 100 Die durchschnittliche Schadenhöhe (a) ergibt sich als Quotient aus totaler Schadensumme (10) und Anzahl Schäden (100), also a 10 1 . 100 10 Das Produkt aus durchschnittlicher Schadenhäufigkeit (p) und durchschnittlicher Schadenhöhe (a) wird als durchschnittlicher Schaden- Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 45 grad bezeichnet; er entspricht der Risikoprämie ohne Zuschläge R . Also gilt R p a 1 1 1 bzw. 100 10 1' 000 Netto-Risikoprämie = durchschnittlicher Schadengrad = Schadenfrequenz * durchschnittliche Schadenhöhe Falls m Schadenklassen unterschieden werden, gilt für i = 1, ... , m ai Schadenhöhe (in Prozent ausgedrückt) der Schadenklasse i, pi Eintretenswahrscheinlichkeit (Frequenz) der Schadenklasse i, m p pi Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt ein Schaden eintritt, i 1 q=1-p Wahrscheinlichkeit, dass kein Schaden eintritt. 3) Für den Streuungskoeffizienten Sna für n gleichartige Versicherungen mit der Versicherungssumme 1 und für eine Schadentafel mit den Parametern ai und pi (i=1, ..., m) ergibt sich m Sna = p i a2i 1 . 2 n m n p i ai i 1 i 1 Für den Spezialfall, dass nur Totalschäden auftreten (ai = 100 % = 1 für i = 1, ... , m), folgt m pi Sn = = i 1 m n p i i 1 p np Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 2 2 1 n 1 n Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG = 1 p np = q . np 46 Das Ergebnis ist aus dem Grundmodell aus Abschnitt 3.1. wohl bekannt. 2 4) Führen wir die Streuung s( a) der Schadenhöhen ai (i = 1, ... , m) ein, so lässt sich der Streuungskoeffizient Sna auch wie folgt darstellen 2 q s( a) Sna = np q 1 2 s a np np Für die Risikosituation - gemessen durch den Streuungskoeffizienten gilt also Sna 0, n d.h. eine Erhöhung der Anzahl der Verträge senkt das Risikoniveau; Sna 0, p d.h. eine Erhöhung der Schadeneintrittswahrscheinlichkeit senkt das Risikoniveau; Sna 2 s(a) 0 d.h. eine Erhöhung der Streuung der Schadenhöhe erhöht das Risikoniveau. Die ersten beiden Aussagen beinhalten nichts Neues. 5) Die dritte Aussage ist vergleichbar mit der entsprechenden Feststellung bzgl. der Streuung der Versicherungssummen bei Totalschäden (vgl. Abschnitt 3.5.1). Gemäss den dortigen Ausführungen gilt q 2 SX1,..., Xn;p,n s X1,..., X n 1 np Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 q q 2 s np np 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 47 wobei Xi (i = 1,..., n) die Versicherungssummen bzw. Totalschäden der n Versicherungen sind und s2(X1,..., Xn) die zugehörige Streuung dieser Werte. Bezüglich der Wirkung der Streuung der Schadenhöhen bei Teilschäden (X) bzw. der Versicherungssummen bei Totalschäden (Y) ist der Faktor q zu beachten, der im Fall der unterschiedlichen Versicherungssummen zu einer Dämpfung des Einflusses dieser Streuung führt in Relation zum Fall der unterschiedlichen Teilschäden: 2 (X): (Y): Sna = q s( a) np q 1 2 s a np np q 2 SX1,..., Xn;p,n s X1,..., X n 1 np q q 2 s np np 2 Bei der Streuung s( a) der Schadenhöhen fehlt bei dem additiven Korrekturterm der Faktor q < 1 im Vergleich zu dem additiven Korrekturterm bei unterschiedlichen Versicherungssummen. Wie bisher stets festgestellt, hat die Grösse der Schadenhöhen ai (i = 1, ..., m) bzw. des Durchschnittsschaden a keinen Einfluss auf die Risikosituation; letztere wird durch die Variation der Schäden beeinflusst. Die Höhe des Durchschnittsschadens wird jedoch relevant bei der Bestimmung der Risikoprämie R , für die gilt nämlich R p a. Bemerkung: In der Realität hat auch die Streuung (Inhomogenität) Einfluss auf die Prämie und zwar über die Sicherheitszuschläge. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 48 3.7.2. Vergleich von Versichertenbeständen 1) Man kann die Risikosituation von Versichertenbeständen auch vergleichen, wenn man die Bezugsgrösse Anzahl n der Verträge ersetzt durch das Prämienvolumen P mit P n R n p a . Für den Streuungskoeffizienten erhalten wir dann folgende Darstellung: Sna 2 a q s(a) npa 2 a q s(a) . P Nun ergibt sich für Sna eine funktionale Abhängigkeit von a mit positiver partieller Ableitung Sna a 0, wobei zu beachten ist, dass a > 0 und P = 0 impliziert, dass sich n und/oder p kompensatorisch verändern müssen, indem z.B. n sinkt und p konstant bleibt. 2) Die obige Darstellung des Streuungskoeffizienten besagt nun, dass für zwei Versichertenbestände mit gleichem Prämienvolumen die Risikosituation abhängt von der Höhe des Durchschnittsschadens a und zwar mit positiver partieller Ableitung. Selbstverständlich gilt 2 weiterhin unverändert für den Einfluss von q (sprich -p) und s(a) die positive partielle Ableitung. Für die praktische Geschäftspolitik lässt sich hieraus folgendes ableiten: Für Versicherungsunternehmungen im Aufbau mit geringem Prämienvolumen ist es angezeigt, eine niedrige durchschnittliche Schaden2 höhe (a) und eine kleine Streuung der Schadenhöhen s(a) anzu- streben - gegebenenfalls durch entsprechende Rückversicherungspolitik. Durch solche Massnahmen lässt sich die Risikosituaiton der Versicherungsunternehmung bewusst steuern. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 49 Mit steigendem Prämienvolumen sind höhere Eigenbehalte und höhere Streuungen der Schadenhöhen für die Versicherungsunternehmung möglich, ohne dass sich die Risikosituation verschlechtert. 3.7.3. Anwendungsbeispiele Wir betrachten die folgenden Schadentafeln für jeweils 10'000 Verträge mit Versicherungssumme 1. 1) Schadentafel A Anzahl der Schäden 10'000 pi Prozentsatz der Schadenhöhe ai Schadensumme 1.00 0.50 0.25 0.10 0.05 1.00 2.00 1.75 1.70 3.55 10.00 1 4 7 17 71 100 10'000 pi ai Es gilt: durchschnittliche Schadenhäufigkeit p = durchschnittliche Schadenhöhe a = durchschnittlicher Schadengrad pa = Streuung der Schadenhöhen Streuungskoeffizient Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 s(2a) = R = Risikoprämie = 1.336 Sna = Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 100 1 10' 000 100 10 1 100 10 1 1' 000 0.1666 = Sna ( A ) 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 50 2) Schadentafel B 10'000 pi 1 3 6 15 75 100 ai 10'000 pi ai 1.00 0.50 0.25 0.10 0.05 1.00 1.50 1.50 1.50 4.50 10.00 Es gilt: 100 1 10'000 100 10 1 a gleich wie bei Schadentafel A 100 10 1 R pa p 1'000 p 2 s(a) (B) = Sna = 1.243 < 2 1.336 = s(a) (A) 0.1592 San B Somit folgt San B San A . Die tiefere Streuung der Schadenhöhen für Schadentafel B führt zu einem tieferen Streuungskoeffizienten für B - jeweils in Relation zu Schadentafel A. 3) Schadentafel C 10'000 pi 4 8 9 16 63 100 ai 10'000 pi ai 1.00 0.50 0.25 0.10 0.05 4.00 4.00 2.25 1.60 3.15 15.00 Es gilt: p = Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 100 1 10'000 100 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 wie bei A und B 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG a 51 15 > 10 wie bei A und B 100 = 100 p a = pR 1 15 15 1.5 > 1/1000 wie bei A und B 100 100 10'000 1'000 2 s(a) (C) = Sna = 2 2 > 1.336 = s(a) (A) > s(a) (B) 1.434 0.1746 San C Somit folgt San A San C . Die höhere Streuung der Schadenhöhen für Schadentafel C führt zu einem höheren Streuungskoeffizienten für C - jeweils in Relation zu den Schadentafeln A und B. Die Erhöhung der durchschnittlichen Schadenhöhe wirkt sich nur auf die Risikoprämie, nicht jedoch auf die Risikosituation aus. 4) Schadentafel D 10'000 pi 8 16 18 32 126 200 ai 10'000 pi ai 1.00 0.50 0.25 0.10 0.05 8.00 8.00 4.50 3.20 6.30 30.00 Es gilt: 200 2 1 wie bei A und B 10'000 100 100 30 15 a wie bei C 300 100 2 15 30 3 p a pR als bei A und B 100 100 10'000 1'000 p 2 s(a)D 1.434 Sna > als bei A und B 0.1232 Sa n D Somit folgt San D San B . Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 52 Die in Relation zu den Schadentafeln A und B höhere Streuung der Schadenhöhen wird durch die Erhöhung der Schadenhäufigkeit überkompensiert, so dass schliesslich ein merklich tieferer Streuungskoeffizient resultiert. 5) Zum Schluss dieser Betrachtungen analysieren wir noch die Wirkung von Selbstbehalten. Wir unterscheiden dabei zwischen einer Integral-Franchise von 5% von der Versicherungssumme und einer absoluten Abzugs-Franchise von 5% der Versicherungssumme. Wir beschränken uns bei der Analyse auf die Schadentafel A. Schadentafel A mit Integral-Franchise von 5% ai 10'000 pi 1 1.00 4 0.50 7 0.25 17 0.10 29 10'000 pi ai 1.00 2.00 1.75 1.70 6.45 Die 71 Schadenfälle mit einer Schadenhöhe von 5% gehen wegen der Integral-Franchise von 5% nicht mehr zu Lasten der Versicherungsunternehmung. Es verbleiben nur noch 29 Schadenfälle für die Betrachtung. Zum Vergleich werden in Klammern die entsprechenden Werte ohne Franchise angegeben. p 29 10'000 = a 6.45 29 = pa = 0.0029 0.2224 = 0.000645 = 0.645%o < pR 2 0.0029 0.2224 < (0.01) > (0.1) (1%o) s(a) 0.9042 < (1.336) Sna 0.2502 > (0.1666) Es liegt eine markante Erhöhung der Risikoexposition vor. Offensichtlich kann die Verringerung der Streuung, die risikomindernd wirkt, die Risikosteigerung aufgrund der Senkung der Schadenhäufigkeit nicht kompensieren. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 53 6) Schadentafel A mit relativer Abzugs-Franchise von 5% der Versicherungssumme 10'000 pi ai 10'000 pi ai 1 4 7 17 29 0.95 0.45 0.20 0.05 0.95 1.80 1.40 0.85 5.00 Wiederum verbleiben nur noch die 29 Schadenfälle, deren ursprüngliche Schadenhöhe grösser als 5% ist. Neu werden jetzt aber alle Schadenhöhen wegen der proportionalen Abzugsfranchise von 5% um diese 5% reduziert. Wiederum werden in Klammern die entsprechenden Werte ohne Franchise angegeben. p 29 10'000 = 0.0029 < (0.01) a 5 29 = 0.1724 > (0.1) pa = = 0.0029 0.1724 = 0.0005 0.5%o < (1%o) pR 2 s(a) 1.166 < (1.336) Sna 0.2851 > (0.1666) Es liegt eine noch markantere Erhöhung der Risikoexposition vor als bei der Integral-Franchise. Die Erhöhung des Risikos aufgrund der Senkung der Schadenhäufigkeit ist gleich geblieben. Allerdings führt die nicht so starke Verringerung der Streuung der Schadenhöhe zu einer nicht so grossen Verminderung des Risiko - jeweils in Relation zur Integral-Franchise betrachtet. Aufgrund der Erhöhung des Risikos durch die Einführung von Franchisen darf nicht unbesehen dafür plädiert werden, Franchisen abzuschaffen. Franchise-Regelungen können sehr wohl Sinn machen. Zum einen sind bei Bagatellschäden spürbare Verwaltungkosteneinsparungen möglich und zum anderen sind sie ein wirksames Mittel gegen das moral-hazard-Problem. Offensichtlich stehen die Versicherungsunternehmungen bezüglich des Einsatzes von FranchiseRegelungen vor einem Trade-off-Problem. Es ist pro Versicherungsprodukt und pro Versicherungsunternehmung zu entscheiden, welches die optimale Franchise-Regelung ist. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 54 4. Informationstransformation 4.1. Grundsätzliches 1) Im vorangegangenen Abschnitt 3. ist die Risikotransformation ausführlich diskutiert worden. Hierbei wird typischerweise vorausgesetzt, dass die Verteilung der Zufallsvariablen bekannt ist. Ziel der Überlegungen und Massnahmen ist, das Zufallsrisiko für die Versicherungsunternehmung handhabbar und tragbar zu machen. Als Mass für das Zufallsrisiko wird die Varianz bzw. der Variationskoeffizient benutzt. (Korrekterweise müsste man sich eigentlich auf asymmetrische Risikomasse konzentrieren, aus Praktikabilitätsgründen werden jedoch symmetrische Masse benutzt.) 2) Die Herleitung der Verteilung der betrachteten Zufallsvariablen ist Hauptaufgabe der Informationstransformation. Hierbei geht es also darum die stochastischen Gesetzmässigkeiten zu bestimmen, nach denen sich in Zukunft die relevanten Zufallsvariablen verhalten werden. Man bezeichnet diese Informationen auch als statistische Grundlagen. Als Beispiel sei auf die Sterbetafeln der Lebensversicherung verwiesen. Diese statistischen Grundlagen bilden die Basis einerseits zur Bestimmung der Tarifprämie und andererseits zur Dotation der Rückstellungen. Die Informationstransformation besteht im Allgemeinen aus zwei Schritten, zu denen das Diagnose- und Prognoserisiko korrespondieren. 3) Im ersten Schritt der Informationstransformation geht es darum, aus den vorhandenen Daten der Vergangenheit die für diesen Zeitraum richtigen stochastischen Gesetzmässigkeiten abzuleiten. Hierzu bedient man sich der statistischen Inferenz. Als Diagnoserisiko bezeichnet man das Risiko, das darin besteht, dass hierbei für die Versicherungsunternehmung ungünstige Fehler bzw. Abweichungen auftreten. Da bei der konrekten Arbeit oft auf statististische Tests zurückgegriffen werden muss, sind nur Aussagen möglich, die lediglich mit gewissen - wenn auch hohen – Wahrscheinlickeiten richtig sind. Dies impliziert, dass auch ohne "echte" Fehler zu machen, falsche Aussagen als richtig angenommen werden können und als Basis für weitere Schlussfolgerungen benutzt werden können. Ferner können auch Probleme aufgrund unvollständiger Daten oder mangelhafter Qualität der Daten auftreten. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 55 4) Der zweite Schritt der Informationstransformation besteht nun darin, aus den Gesetzmässigkeiten die für die Vergangenheit abgeleitet worden sind, solche abzuleiten, die in Zukunft gelten sollen. Die Versicherungsunternehmung geht hier ein Prognoserisiko ein, das darin besteht, dass sich in Zukunft die Zufallsvariablen anders verhalten, insbesondere derart, dass für die Versicherungsunternehmung höhere finanzielle Belastungen entstehen als prognostiziert. Teilweise sind solche Prognosen statistischen Verfahren zugänglich wie z.B. bei der Veränderung der Lebenserwartung von Rentnern, teilweise sind bei solchen Prognosen mathematische Verfahren nicht anwendbar wie z.B. bei Änderungen der Rechtsprechung bei Haftpflichtversicherungen. 5) Ergebnis der Informationstransformation sind also stochastische Gesetzmässigkeiten, die die Grundlage für die zukünftige Prämienbestimmung und Rückstellungspolitik bilden. Um sich gegen die darin immanent enthaltenen Diagnose- und Prognoserisiken zu schützen, werden Margen in die Tarifprämien eingebaut. Allerdings stellt sich die Frage, ob die so resultierenden Prämien am Markt durchsetzbar sind. Die Schwere der hier involvierten Risiken hängt selbstverständlich sehr stark von den Gültigkeitsdauern der Tarife ab. Bei Lebensversicherungen werden oft Tarifgarantien mit Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren gewährt, was das Prognoserisiko entsprechend erhöht. Dies führt dazu, dass äusserst vorsichtig vorgegangen werden muss. Konkret impliziert dies, dass relativ hohe Margen eingebaut werden. Auf der Tarifebene operiert man somit in einem aktuariellen Modell, das sich durchaus spürbar von der Realität unterscheiden kann. Über die nachträgliche Überschussbeteiligung (Bonus) erfolgt bei solchen Lebensversicherungsprodukten jedoch eine nachträgliche Anbindung an die Realität. Bei einjähriger Tarifgarantie ist dagegen das Prognoserisiko natürlich erheblich geringer. Bei Lebensversicherungsprodukten sind hiervon im Wesentlichen die Zinsgarantien und die Sterbetafeln angesprochen. Als Paradebeispiel eines Produktes mit hohem Prognoserisiko gelten Rentenversicherungen. Die Garantiedauern sind recht lang und man kann in den meisten westlichen Ländern eine spürbare Verlängerung der Lebenserwartung feststellen (Bsp.: Equitable Life). Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 56 In diesem Zusammenhang ist auf die unterschiedlichen Risiken beim BVG-Mindestzinssatz und dem BVG-Rentenumwandlungssatz zu verweisen. 6) Voraussetzung für eine erfolgreiche Informationstransformation ist einerseits spezifisches Know-how und andererseits ausreichendes Datenmaterial. In der Schweiz wurden bisher beide Voraussetzungen durch die Versicherungsunternehmungen gemeinsam erfüllt, indem die statistischen Grundlagen und Tarife gemeinsam aufgrund von gemeinsam erhobenen Daten erarbeitet wurden. Es stellt sich die Frage, wie diese Aufgaben in Zukunft, d.h. in einem weitgehend deregulierten und entkartellisierten Markt gelöst werden. Der Aufbau des spezifischen Know-how stellt im Prinzip "lediglich" eine Kostenfrage dar. Die Unternehmung muss anstreben hinreichend gut ausgebildetes Personal in ausreichenden Umfang bereitzustellen. Anders verhält es sich mit dem Datenmaterial. Hier kommen die einzelnen schweizerischen Versicherungsunternehmungen sehr leicht an "Volumengrenzen", die ein eigenständiges Arbeiten verunmöglichen, weil einfach die Versichertenbestände zu klein sind. Die Zukunft wird hier zeigen, ob man weiterhin bereit ist auf diesem Feld gemeinsam zu arbeiten. Die grossen Gesellschaften könnten eventuell versucht sein, autark vorzugehen. Für die mittleren und kleinen Gesellschaften ist diese jedoch nicht denkbar. Hier stösst die Deregulierung des schweizerischen Versicherungsmarktes an gewisse Grenzen, die nicht ohne weiteres überschritten werden können. In Deutschland hat z.B. die Deutsche Aktuar Vereinigung (DAV) auf Grund des statistischen Datenmaterials vieler grosser deutscher Lebensversicherungsunternehmungen neue Sterbetafeln für Rententarife entwickelt, die jetzt im Prinzip von allen deutschen Lebensversicherungsuntermehmungen benutzt werden. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 4.2. 57 Beispiel: Herleitung von Sterbetafeln 1) Die direkt aus den statistischen Messungen gewonnen Werte heissen rohe Sterbewahrscheinlichkeiten. Die Grafik unten beruht auf Messungen, die in Österreich in den Jahren 1959 - 1961 durch-geführt wurden. Rohe Sterbewahrscheinlichkeiten 8 M änner F ra u e n Einjährige Sterbewahr. in o/oo 7 6 5 4 3 2 1 0 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 40 43 46 49 A lt e r in J a h r e n 2) Der Verlauf der Grafik ist typisch für rohe Daten. Zunächst ist zu erwähnen, dass die einjährige Sterbewahrscheinlichkeit für männliche Säuglinge 42 ‰ betrug (32 ‰ für weibliche Säuglinge). Sie sind aus Darstellungsgründen in der Grafik ausgelassen worden. Diese Sterbewahrscheinlichkeiten sind extrem hoch, wenn man bedenkt, dass selbst für 49-jährige Männer der Wert unter 7 ‰ liegt. Diese hohen Werte sind auf die Säuglingssterblichkeit zurückzuführen, die früher selbst in den Industrienationen sehr hoch ausfiel. Dank den verbesserten hygienischen Bedingungen bei der Geburt sowie der verbesserten medizinischen Betreuung von Schwangeren und Neugeborenen ist die Säuglingssterblichkeit stark zurückgegangen, liegt aber vielerorts immer noch weit über der Kindersterblichkeit. Diese fällt, wie der Grafik zu entnehmen ist, mit zunehmendem Alter und erreicht ihr Minimum zu Beginn der Pubertät. Weiter fällt auf, dass die Kurve im zweiten Jahrzehnt steigt, um wieder zu fallen. Das relative Maximum um das Alter 20 trägt den Namen "Unfallbuckel" und spiegelt die überproportional hohe Unfallhäufigkeit für diese Altersgruppe wieder. Der Unfallbuckel ist bei Männern stärker Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 58 ausgeprägt als bei Frauen. Etwa gegen Ende des dritten Jahrzehnts fängt die Kurve an, sich zu "normalisieren". Die obige Grafik hat "Schönheitsfehler". Sie weist an manchen Stellen eine Abnahme der Sterblichkeit aus, für die es keine Erklärung gibt. Solche Unregelmässigkeiten werden als statistische Ausreisser betrachtet. 3) In der Praxis verwendet man deshalb eine ausgeglichene oder geglättete Sterbetafel. Die rohen Daten werden mittels mathematisch-statistischer Verfahren ausgeglichen. Eine geglättete Sterbetafel sieht typischerweise wie folgt aus. Einjährige Sterbewahr. in o/oo Ausgeglichene Sterbetafel 20 18 Männer Frauen 16 14 12 10 8 6 4 2 0 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 Alter in Jahren Die aus den rohen Sterbewahrscheinlichkeiten durch Ausgleichung abgeleiteten Sterbewahrscheinlichkeiten bezeichnet man als Sterbewahrscheinlichkeiten 2. Ordnung. 4) Eine weitere Veranschaulichung zur Glättung der rohen Wahrscheinlichkeiten geben wir in der nachstehenden Grafik; es handelt sich hierbei um Daten aus einem Referenzkollektivs, die uns vom BPV zur Verfügung gestellt wurde. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 59 Rohe und geglättete Sterbewahrscheinlichkeiten eines Referenzkollektivs Sterblichkeiten roh und Die grau dargestellten Vertrauensintervalle zeigen sehr deutlich die Problematik der Sterbewahrscheinlichkeiten für tiefe aber insbesondere für sehr hohe Alter, d.h. für Alter ab 90 Jahre. Der Grund für diese extrem grossen Vertrauensintervalle liegt an der sehr kleinen Anzahl Versicherter in diesen Bereichen. Die hierdurch auftretenden Unsicherheiten sind für die tiefen Alter nicht sehr gravierend, da es für diesen Altersbereich nur wenige Lebensversicherungen gibt. Ganz anders ist das bei den hohen Altern, insbesondere wenn man an Rentenversicherungen denkt. 5) Die Berücksichtigung des Zufalls-, Diagnose- und Prognoserisikos erfolgt durch den Einbau von Sicherheitszuschlägen (Margen). 6) In einem Dokument der Schweizerischen Aktuarvereinigung (SAV) wird zur Bestimmung des Sicherheitszuschlages wegen des Zufallsrisikos beispielsweise folgendes Vorgehen vorgeschlagen: Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Gesamtheit aller Todesfälle mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (z.B. 99 %) unterhalb einer gewissen Konfidenzschranke liegen soll. Formal kann man das wie folgt beschreiben: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 60 WK T k 99 % mit WK( ) Wahrscheinlichkeitsmass T Anzahl Todesfälle, wobei T eine Zufallsvariable ist k Konfidenzschranke Der Sicherheitszuschlag wegen des Zufallsrisikos sx wird zu den ausgeglichenen Sterbewahrscheinlichkeiten 2. Ordnung q2,x additiv hinzugefügt. Mit dem Ansatz k L x q 2,x s x ergibt sich zur Bestimmung von sx WK T k WK Tx L x q2,x s x 99 % mit Tx Anzahl Tote mit Alter x mit Lx Anzahl Lebende mit Alter x Zur Bestimmung von sx wird zusätzlich gefordert, dass auch für jedes Alter x die Wahrscheinlichkeit, dass die Anzahl der Todesfälle mit Al ter x unter einer Schranke liegt, hinreichend hoch ist; ferner wird angenommen, dass man mittels der Normalverteilung approximieren kann. 7) In dem oben erwähnten Dokument der SAV wird zur Berücksichtigung des Prognoserisikos ein multiplikativer Trendzuschlag vorgeschlagen. Somit ergibt sich für die Netto-SterbewahrscheinlichN keiten q x , d.h. ohne Kostenzuschläge, folgende Struktur: qNx t x q2,x s x mit t x stückweise konstant. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 61 8) Die Sterbewahrscheinlichkeiten, die sich aus den geglätteten Sterbewahrscheinlichkeiten durch Einbau dieser Sicherheitszuschläge ergeben, bezeichnet man als Sterbewahrscheinlichkeiten 1. Ordnung. Mit diesen Wahrscheinlichkeiten wird tarifiert, d.h. hiermit werden die Prämien / Leistungsverhältnisse bestimmt. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 5. 62 Versicherungstechnisches Restrisiko 1) Das Produkt Versicherung ist im Wesentlichen charakterisiert durch die Gewährung von finanziellen Garantien durch die Versicherungsunternehmung. Der Versicherungsnehmer vollzieht einen Risikotransfer, indem er Schadenverteilungen gegen die Zahlung von Versicherungsprämien tauscht; verkürzt gesagt, er tauscht Unsicherheit gegen Sicherheit. Die Sicherheit entsteht aufgrund der Gewährung von finanziellen Garantien durch die Versicherungsunternehmung. Die Versicherungsunternehmung ihrerseits kann Risiken übernehmen und die Garantien leisten, da sie Risikotransformation vornimmt. Die Risikosituation stellt sich für eine Versicherungsunternehmung ganz anders dar als für den einzelnen Versicherungsnehmer. Die wesentliche Methode für die Risikotransformation ist der Risikoausgleich im Kollektiv, d.h. die Anwendung des Gesetzes der grossen Zahlen. Zusätzlich ist auch der Risikoausgleich in der Zeit mit Hilfe von Risikoreserven (Solvenzkapital / Schwankungsreserve) relevant. Allerdings verbleibt bei der Versicherungsunternehmung ein so genanntes versicherungstechnisches Restrisiko, das weder durch Risikotransformation noch durch Rückversicherung oder dergleichen eliminiert werden kann. Für die folgenden Ausführungen beschränken wir uns zu Vereinfachung der Darstellung allein auf die Risiko-Komponente des Produktes Versicherung. 2) Die Versicherungsunternehmung als ganzes sieht sich mit den jeweiligen Schadenverteilungen zu den verschiedenen Risiken konfrontiert. Durch Aggregation entsteht für die Versicherungsunternehmung eine sogenannte Gesamtschadenverteilung. Im Folgenden betrachten wir diese. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 63 Für die Dichtefunktion der Gesamtschadenverteilung gelte die nachstehende Grafik: Dichte Ertrag EWS Aufwendungen Da es sich um eine Gesamtschadenverteilung handelt, haben nur Aufwendungen positive Eintretenswahrscheinlickeiten. Erträge fallen nicht an. Mit EWS werde der Erwartungswert des Gesamtschadens bezeichnet. 3) Im Modellkontext entspricht die Summe aller Risikoprämien (ohne Sicherheitszuschläge) gerade dem Erwartungswert aller Schäden. Unter Berücksichtigung der Risikoprämie ergibt sich somit für die Dichtefunktion der zugehörigen Gewinne und Verluste folgende Darstellung: Dichte Gewinn EWG Verlust R 0 Der Erwartungswert des Gewinns unter alleiniger Berücksichtigung der Risikoprämie EWGR ist gerade gleich Null. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 64 4) Um die Risikosituation der Versicherungsunternehmung zu verbessern (auch im Interesse der Versicherungsnehmer) werden in der Realität jedoch zusätzlich zum Erwartungswert des Schadens auch Sicherheitszuschläge und Margen vom Versicherungsnehmer verlangt. Für die entsprechende Dichtefunktion der zugehörigen Gewinne und Verluste gilt nun: Dichte Gewinn Verlust SZ EWG SZ Der Erwartungswert des Gewinns unter Berücksichtigung einer Risikoprämie bestehend aus dem Erwartungswert des Gesamtschadens und den entsprechenden Sicherheitszuschlägen und Margen ist gleich diesen Zuschlägen und Margen (EWGSZ ) und ist somit echt positiv. 5) Zusätzlich zur erhobenen Risikoprämie steht einer Versicherungsunternehmung noch eine sogenannte Risikoreserve (RR) zur Verfügung. Sie stellt im Prinzip Eigenkapital dar - und nicht Fremdkapital wie die Rückstellungen. Die Alimentation dieser Risikoreserve erfolgt entweder durch Einzahlung von Eigenkapital (z.B. Kapitalerhöhung) oder durch Einbehaltung von Gewinnen. Man kann nun die Risikosituation der Versicherungsunternehmung betrachten als Wahrscheinlichkeitsaussage über die Veränderung der Risikoreserve. Für die entsprechende Dichtefunktion ergibt sich: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 65 Dichte D C B A Risikoreserve SZ RR t 1 EWR RR t1 SZ RRt 1 bezeichne die Risikoreserve zu Beginn der Betrachtungsperiode [t-1, t] und RRt die am Ende der Periode. SZ sei der Sicherheitszuschlag inklusive Margen. Die Netto-Risikoprämie R sei gleich dem Erwartungswert des Gesamtschadens. Mit EWR bezeichnen wir nun den Erwartungswert der Risikoreserve am Ende der Betrachtungsperiode. Dieser Erwartungswert ist gleich der anfänglichen Risikoreserve zuzüglich des Sicherheitszuschlages und der Margen. Es gilt nämlich für diesen Erwartungswert EWR RR t 1 SZ R EWS t 1, t 0 RR t 1 SZ. Für die realisierten Werte gilt RR t RR t 1 SZ R Gesamtschaden t 1,t . Die Summe aus Netto-Risikoprämie R und Sicherheitszuschlag SZ wird auch als Brutto-Risikoprämie bezeichnet. Ein Risikogewinn liegt vor, falls die Brutto-Risikoprämie grösser ist als der Gesamtschaden; andernfalls liegt ein Risikoverlust vor. 6) Die Flächen A, B, C, D geben folgende Wahrscheinlichkeiten wieder: Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 66 A : die Netto-Risikoprämie ist grösser als der Gesamtschaden, d.h. der Risikogewinn ist grösser als der Sicherheitszuschlag; B : die Netto-Risikoprämie ist kleiner als der Gesamtschaden, die Brutto-Risikoprämie jedoch grösser, d.h. der Risikogewinn ist positiv, jedoch kleiner als der Sicherheitszuschlag; C : es liegt ein Risikoverlust vor, der dem Betrag nach jedoch kleiner als die anfängliche Risikoreserve ist; D : es liegt ein Risikoverlust vor, der dem Betrag nach grösser als die anfängliche Risikoreserve ist. In den Fällen A und B liegt ein Risikogewinn vor. Es stellt sich die Frage, was konkret mit dem Risikogewinn gemacht wird. Hier ist unterstellt, dass der gesamte Betrag der Risikoreserve zugewiesen wird, so dass am Ende der Betrachtungsperiode die Risikoreserve gerade um diesen Betrag grösser ist als zu Beginn. Ein Teil des Risikogewinns kann jedoch auch als Überschussbeteilligung an die Versicherungsnehmer (z.B. bei Lebensversicherungen im Rahmen der Überschussbeteiligung) oder an die Aktionäre als Dividende ausgeschüttet werden. Möglicherweise können solche Mittel auch für Investitionen z.B. Akquisitionen gebraucht werden. In den Fällen C und D liegen Risikoverluste vor. Im Fall C können sie durch die Risikoreserve aufgefangen werden. Hier findet ein intertemporärer Risikoausgleich vor. Man spricht vom Risikoausgleich in der Zeit. Im Fall D liegt für die Risiko-Komponente allein betrachtet ein Ruin vor. Die Fläche D gibt also die Ruinwahrscheinlichkeit wieder. Falls noch andere Einnahmequellen vorhanden sind wie z.B. die Dienstleistungs- oder die Spar-Komponente, so muss das noch nicht den Ruin der Versicherungsunternehmung bedeuten. Diese Ruinwahrscheinlichkeit stellt das versicherungstechnische Restrisiko dar, dem eine Versicherungsunternehmung unwiderbringlich ausgesetzt ist. 7) Die Risikopolitik der Versicherungsunternehmung hat Einfluss auf die Gestalt der Gesamtschadenverteilung. Sie kann versuchen das Restrisiko möglichst gering zu halten. Eine vollständige Elimination ist nicht möglich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass entsprechende Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 67 risikopolitische Massnahmen wie z.B. Rückversicherungsschutz nicht kostenlos zu haben sind. Zur Handhabung und Absicherung des versicherungstechnischen Restrisikos dienen die Solvabilitätsvorschriften bzw. Solvabilitätsmassnahmen. Es sei an die neuen EU-Richtlinien erinnert, die auch für die Schweizer Versicherungswirtschaft relevant sind (vgl. Recht-liche Rahmenbedingungen), oder an den Schweizer Solvenz Test. 8) In Abschitt 3. "Risikotransformation durch Ausgleich im Kollektiv" führten wir den Streuungskoeffizienten als Mass für das Risiko der Versicherungsunternehmung ein. Definiert als Quotient von Standardabweichung und Erwartungswert ist dies ein relatives Risikomass. Für eine zufällige Stichprobe X1, Xn einer Zufallsvariablen X mit endlichem Erwartungswert und endlicher Varainz 2 gilt gemäss dem Gesetz mit grossen Zahlen16 lim Pr [ X ] 1 n n für beliebiges 0 und X : Xi / n . i 1 Für k ergibt sich n lim Pr [ X k n ] 1 n oder lim Pr [ n Der Term n X 1 k ] 1. n ist gerade gleich dem Streuungskoeffizienten der Zufallsvariable X , da E X und Var X 2 gilt. Mit steigendem n n 16 Die folgenden Ausführungen greifen auf den oben zitierten Artikel von J.David Cummins zurück. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 68 geht also das relative Risiko n der Versicherungsunternehmung gegen Null. Andererseits kann man das Gesetz der grossen Zahlen auch schreiben als n lim Pr [ Xi n n ] = n i 1 n lim Pr [ Xi n k n ] 1 . n i 1 In Analogie zum obigen kann man den Term n als das absolute Risiko der Versicherungsunternehmung interpretieren. Es ist zu beachten, dass das absolute Risikomass mit n gegen strebt. 9) Wir kommen nun zum zweiten grundlegenden Pfeiler der Versicherungsmathematik, der Gültigkeit des zentralen Grenzwert-satzes. Definieren wir für die obige Stichprobe Xi i 1, , n der Zufallsvariable X die neue Zufallsvariable Yn wie folgt n Xi n Yn i1 := n = n X , so gilt gemäss dem zentralen Grenzwertsatz, dass die Verteilungsfunktion Fn y der Zufallsvariable Yn für n gegen die Standardnormalverteilung Ny konvergiert. Nehmen wir an, dass für hinreichend grosse n die Grenzwertaussage des zentralen Grenzwertsatzes schon exakt gilt, so folgt n Xi n Pr [ = i 1 n y ] n Pr [ Xi n y n ] = 1-, i 1 Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010 IV. VERSICHERUNGSUNTERNEHMUNG 69 wobei y das -Quantil der Standardnormalverteilung ist mit N y 1 . Für die Versicherungsunternehmung impliziert dies folgendes: Um mit n Wahrscheinlichkeit 1- alle Schäden Xi bezahlen zu können, i 1 benötigt die Versicherungsunternehmung neben den Prämieneinnahmen (n) einen totalen Schwankungsfonds (oder eine Risikoreserve) in Höhe von y n . Der Schwankungsfonds pro 1 Versicherungsvertrag beträgt somit y . n Der Schwankungsfonds der Versicherungsunternehmung verhält sich also wie das absolute Risiko der Unternehmung und jener pro Versicherungsvertrag wie das relative Risiko. Dies impliziert für n , dass der Schwankungsfonds pro Versicherungsvertrag gegen Null strebt, während der Schwankungsfonds der Versicherungsunternehmung gegen Unendlich strebt. Vers.-Oek.Teil-I-Kap-IV-1-5 Dr. Ruprecht Witzel; HS 10 19.10.2010