Musik: Air auf Ende fahren

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENsWERT
“...zur Recreation des Gemüthes” Bach als Therapie?
Von Volker Bernius
Sendung:
Freitag, 28.07.2000, 08:30 Uhr bis 08:45 Uhr, hr2
Donnerstag, 17.04.2003, 08.30-8.45 Uhr, hr2
Samstag, 23.12.2006, 09.30 Uhr, hr2
00-341
COPYRIGHT:
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des Hessischen Rundfunks.
”... zur Recreation des Gemüthes...”
Bach als Therapie?
Manuskript: Volker Bernius
hr2, 28.07.00, 8:30 Uhr
c: Hessischer Rundfunk, Frankfurt/Main
Musik: Air auf Ende fahren
Zitat Himmelsmusik
Musik hoch
Zitat Goethe
Musik hoch
Zitat Furtwängler
Musik: Schluß
Moderation:
In den Himmel gehoben - entrückt - zeitlos gültig. So erscheint das irdische
Werk des Johann Sebastian Bach in den Aussagen von Albert Schweitzer,
von Goethe und von Wilhelm Furtwängler. Bachs Musik entfaltet ihre Wirkung
auf den Menschen: als Synthese von höchster Kunst und tiefster Frömmigkeit.
Zitat Menuhin (0’22)
E: ... Yehudi Menuhin.
Ob Brandenburgische Konzerte, die Cellosonaten, die berühmte Air oder die
Choräle aus dem Weihnachtsoratorium: Bachs Musik wird funktional für viele
Zwecke verwendet. Jeder, der sie mag, nutzt sie auf seine Weise – um
sich zu entspannen oder trösten zu lassen, um das Selbstwertgefühl oder
um Lebensfreude aufzubauen, um Energie zu aktivieren oder Einsamkeit zu
überwinden. Lebenshilfe und Selbsttherapie nach bestem eigenen Wissen.
Auch und gerade mit der Musik von Bach. Jeder sucht sich die Musik aus,
die er kennt und
von der er weiß, dass sie ihm in seiner individuellen
Situation hilft. Ein intuitives Wissen ist das über das, was gut tut.
O-Ton 1 Witzel 0‘35
// mich berührt besonders die sogenannte Tiefe, die Möglichkeit dass diese Musik sich in meinen
Urgründen in meinem Urwesen zu berühren mag, was eben nicht sehr viele Musik schafft, also
es gibt sehr viele Musik, die mich emotional berühren kann, aber nicht in meinen existentiellen
Urwesen treffen berühren und auch verändern kann.
Das sagt Mathias Witzel über Musik und besonders über die von Bach. Als
Psychotherapeut arbeitet er in Zürich sowohl in der Psychiatrie als auch in
eigener PsychotherapiePraxis. Musik nutzt er als Medium. Ein wesentlicher
Faktor für heilsame Prozesse. Musik ist in dieser Therapie aber keine
Tablette, die eingenommen oder aufgelegt wird und die dann von sich aus
automatisch wirkt. Die Therapie ist keine ”Musikapotheke”. Musik allein
genügt nicht, sie muss eingebunden sein in eine Beziehung zwischen Patient
und Therapeut, in eine therapeutische Beziehung. Eine Beziehung zwischen
zwei Menschen, die Vertrauen möglich macht. So dass Musik als Medium
in die Tiefe dringen kann.
O-Ton Witzel 2 (1’19) (kürzen)
ZB kommt eine Person zu mir, die ein Verlusterlebnis hatte, das nicht verarbeiten in der Lage
ist in einem Trauerprozess feststeckt oder dieser Trauerprozeß nicht weitergehen kann, da biete
ich Musik an, von der ich weiß, dass sie gerade auch für solche Kontexte von Bach komponiert
wurde ZB die ganzen Kantaten, die komponiert wurden im Kontext von Sterbesituationen Anlässen
wo er zu Trauerfeiern spezielle Musik komponiert hat die mit den Klienten helfen aus dieser
Versteifung aus dieser nicht mehr fühlen können aus dieser Erstarrung herauszukommen weil
diese Musik besonders Potential hat auszubalancieren Prozesse wieder in Gang zu bringen, die
stecken geblieben sind und die wenn sie nicht angegangen werden in Depressionen führen oder
in sucidalphasen bringen.
Wenn etwas nicht mehr weitergeht, kann Musik helfen - zunächst ohne
Worte. Mathias Witzel vertraut der Kraft in der Musik von Johann Sebastian
Bach, die verändern kann. Es sind keine musikwissenschaftlichen Kenntnisse,
keine theologischen Überzeugungen, die den Psychotherapeuten aus Zürich
prägen: Die Arbeit an der Seele, an seelischen Schmerzen steht im
Vordergrund. Zunächst wird eine Diagnose erstellt. Woran leidet der Patient,
wie sehen die seelischen Schmerzen aus. Erst nach dieser
Bestandsaufnahme wird überlegt, wie eine Behandlung geplant
und
verantwortlich durchgeführt werden kann. Eine grundlegende Voraussetzung
für jede seriöse psychotherapeutische Behandlung. Wie in diesem Falle für
die rezeptive Musiktherapie. Rezeptiv heißt: Musik anhören und danach sich
mit dem auseinandersetzen, was durch die Musik an Gefühlen, an seelischen
Erlebnissen ausgelöst wird. Darüber sprechen, malen, bewegen, produktiv
werden. Es geht um die aktive Arbeit an Problemen. Psychotherapeut Witzel
setzt hierbei auch auf die Kantaten von Bach. Und zwar deshalb, weil in
ihnen Themen angesprochen werden, die heute wie vor 250 Jahren im Leben
von Menschen eine Rolle spielen: Ängste, Krisen, Spannungen.
O-Ton 3 (0’25)
also es geht oft um Prozesse existentieller Bedrohung wo starke Schmerz, starke Trauer starke
Ohnmachtsgefühle im Menschen sind Einsamkeit Verlassen sein ganz im Vordergrund ist und
die Zuversicht auch das Selbstvertrauen verschwunden sind und in diesen Prozessen hilft die
Musik die Bach ganz klar für existentielle Lebenssituationen komponiert hat // // dass die
Art und Weise wie er komponiert hat, dass spezielle ist was heilsam wirkt.
Bach ist es gelungen, so Matthias Witzel, eine starke emotionale Betroffenheit
in der Musik zu formulieren. Den Menschen da abzuholen, wo er sich befindet
zum Beispiel in seiner Trauer.
O-Ton 4 (0’21)
aber gleichzeitig in jeder einzelnen Komposition ist wieder Gegenpol die Hoffnung einkomponiert
das Vertrauen oder auch das Selbstbewußtsein verstärkende Kraft mit einkomponiert ist so dass
in diesen Kompositionen eine Balance existiert die den Menschen verhilft auch zu innerer Balance
zurückzufinden.
Musik?
Es ist das musikalische Handwerk seiner Zeit, das Bach wie kein anderer
perfekt anwendet: Gefühle und Affekte wie Freude Trauer Zorn oder Furcht
werden in bestimmten musikalischen Wendungen und Formeln dargestellt.
Genauso auch äußerliche Bewegungen wie ”laufen, springen, hüpfen,
stehen”. Aber: nicht nur in Gegenständen sondern auch in Bildern wurde
in übertragener Weise musikalisch gedeutet. Auferstehung und Tod, Himmel
und Hölle: Komponisten haben in dieser Zeit Bilder musikalisiert
-für die
Hörer verstehbar. Von Bach kunstvoll in Töne Melodien und Klänge
umgesetzt.
Zitat Eggebrecht ( 0’09) Bach konnte gar nicht anders als qualifizierte Musik schreiben.
Hans Heinrich Eggebrecht.
Mod.
Am Beispiel einer Arie aus der Bachkantate 58 macht der Züricher
Musikpsychotherapeut Mathias Witzel deutlich, wie er Bachsche Musik als
Therapiemedium einsetzt.
Bachkantate Arie 58
Vorlauf 0‘35
Eine Dialog-Arie aus der Bachkantate: ”Ach Gott wie manches Herzeleid”.
Eine Begegnung zwischen Sopran und Baß. Im Sopran, so sagt Mathias
Witzel, im Sopran ist die leidende und suchende Seele verkörpert mit diesem
Text:
”Ach Gott wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit” der schmale
Weg ist trübsalsvoll, den ich zum Himmel wandern soll”
Und im Baß die tröstende Stimme, die Hoffnung ausdrückt:
”Nur Geduld Geduld mein Herz
es ist eine böse Zeit. Doch der Gang zur
Seeligkeit führt zur Freude nach dem Schmerze. Nur Geduld: es ist eine
böse Zeit..”
O-Ton6 ( 1’10) Okay wir müssten dann hinschauen was versteht der Patient oder das gegenüber
unter der bösen zeit, aber das wird sehr gut verstanden wenn jemand in einer schmerzvollen
Phase ist, dass er die Zeit im Moment wirklich als böse erlebt, als gegen ihn gerichtet als
schwierig so dass er im Moment keinen Weg sieht und erlebt wirklich dass ein Weg zum
Seelenheil oder Seelenfreude wirklich schmal ist und trübsalsvoll ist zum er fühlt sich ernst
genommen auch durch diesen Text und in der Musik kommt dann das ist das Spannende dass
diese beiden Pole das wirklich ausformuliert wird vom Sopran der Schmerz den Bach wirklich
sehr tief darstellen kann und gleichzeitig in einer Balance dazu zusammen ein Ganzes ergeben
das musikalisch wunderschön ist und einmalig von ihm so komponiert dieser Bass der eine Tiefe
an Trost gibt einen Hoffnungsweg aufzeigt und dieses Miteinander diese Synergie, die im Text
zu finden ist wird durch die Musik auf eine Ebene geholt wo sehr stark emotional berührt
und heilsame Prozesse in Gang bringt, wo dann schmerzlösende Impulse durch die Musik zum
Menschen kommen er Schritte machen kann, die vorher // nicht möglich waren
Bachkantate nochmal einspielen s.o.
Der Text allein kann die Impulse, die zur Verarbeitung von seelischen
Problemen nötig sind, nicht herstellen – er muß sich mit der Musik verbinden.
Als Einheit von Texten und Musik. Hier werden Begriffe angesprochen, wie
”Seelenlust, Zagen fühlen, Herzenspein”. Begriffe, die aus einer anderen
Zeit stammen und recht fremdartig klingen, vielleicht abschrecken oder gar
amüsieren. Der Zugang zu den barock-religiösen Texten ist nicht einfach
herzustellen.
Wer sie unvoreingenommen lesen lernt, wer sich auf sie einlassen kann,
findet in ihnen auch Beispiele für aktuelle Themen, findet in ihnen innere
Bilder, vielfach werden emotionale Zustände umschrieben. Vielleicht reizen
sie auch zum Widerspruch: aber auch das ist ein Weg
der
Auseinandersetzung:
O-Ton5: (0’21)
Dann werden diese Begriffe plötzlich wie zu Schlüssel und die Widerstände die vorher da waren
schmelzen recht schnell und es gibt im Gegensatz dazu wirklich eine Lust sich mit diesen
Texten auseinander zusetzen und einmal hineinzuspüren, was heute da möglich ist an Impulse
zu holen.
Bach - als Therapie?
In Bachkantaten lassen sich seelische Vorgänge gut nachvollziehen, weil die
Struktur einzelner Kantaten, einzelner Arien der Struktur eines seelischen
Verarbeitungsprozesses ähnelt.
Die Musik wird kein Beruhigungsmittel, sondern gibt Impulse, sich mit den
Lebensthemen auseinanderzusetzen. Die professionelle Arbeit an der Seele
führt zu existentiellen Berührungen, weltlichen Grenzerfahrungen, zu einer
säkularen Mystik. Auf diesen Feldern wächst die Wirkung, die Bachsche
Musik auch heute noch auslöst, auch bei Menschen ohne einen direkten
Glaubensbezug.
Hans Werner Henze, Komponist unserer Zeit, hat vor 20 Jahren auf den
Punkt gebracht, was Matthias Witzel in seiner Psychotherapie-Praxis in
Zürich zum Klingen bringt:
Zitat Henze 1 und Henze 2 (1’05)
... von ihrem Erfinder.
Musik Schußakkord
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