Künstliche Ernährung – Ethische Entscheidungsfindung in der Praxis Michael Peintinger Zusammenfassung. Die „Künstliche Ernährung“ steht in enger Beziehung zu den grundsätzlichen Fragen nach medizinisch sinnvollen und angemessenen Maßnahmen, nach Therapiebegrenzung, Lebensqualität und Sterbehilfe. Im Diskurs müssen die dabei verwendeten Begriffe hinsichtlich der ihnen innewohnenden, oft unbewussten Wertungen zur Diskussion gestellt werden. Einer ethischen Entscheidungsberatung muss eine sorgfältige Abklärung der naturwissenschaftlichen Aspekte, einschließlich einer umfassenden Erhebung der Vorsituation und der gegenwärtigen Befindlichkeit des einzelnen Kranken, sowie eine aufrichtige Einschätzung der Zielorientierung vorausgehen. Unter Zugrundelegung der – unter Umständen auch nur ersatzweise wahrgenommenen - Selbstbestimmung des Patienten werden in der ethischen Diskussion mögliche stereotype Vorgehensweisen, latente Entscheidungskonflikte oder eine vermeintliche Vorrangigkeit naturwissenschaftlicher Lösungsansätze zur Sprache kommen. Ziel ist eine gemeinsam erarbeitete individuell angemessene Lösung, die sich – unabhängig vom Ergebnis – heilsam in den Lebenshorizont des Patienten einbetten lässt. Schlüsselwörter: Künstliche Ernährung, Ethische Fallberatung, Selbstbestimmung, Patientenverfügung Einleitung Die „künstliche Ernährung“ stellt ein „running theme“ in vielen medizinethischen Diskussionen dar. Zahlreiche Anfragen zur ethischen Einzelfallberatung geben ebenso Zeugnis davon wie der Umstand, dass kaum eine Gesprächsrunde mit Pflegekräften und Ärzten1 vergeht, ohne dass die Ernährungsfrage in den Blickpunkt des Interesses rückt. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass in dem Thema Problemkreise wie die grundsätzliche Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit von therapeutischen Maßnahmen, die Frage nach einer Therapiebegrenzung, ja auch die Frage nach Sterbehilfe mitschwingen. 1 Notabene: Die Verwendung der gebräuchlichen maskulinen Termini bezieht sich selbstverständlich sinngemäß auf Personen beiderlei Geschlechts und stellt nur eine Konzession an die Lesbarkeit des Textes dar! 1 Die „künstliche Ernährung“ als Beispiel ebenso sinnvoller wie auch menschlicher Patientenversorgung steht Meinungsmultiplikatoren. zudem im Spannungsfeld Auffassungen der Mitglieder ganz unterschiedlicher von unterschiedlichen Gesundheitsberufen, selbst schon Repräsentanten von verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen, begegnen jenen der Angehörigen, jenen der öffentlichen und der „veröffentlichten“ Meinung, sowie, in jüngster Zeit - und für die meisten Entscheidungsträger noch ungewohnt - auch der Meinung der für ökonomische Entscheidungen Verantwortlichen. Diese vielen unterschiedlichen Standpunkte spiegeln sich auch in den beim einschlägigen Diskurs verwendeten Begriffen wider. In ihnen werden zugleich - verdeckt oder offen Wertungen transportiert, die zwar zumeist unbeachtet bleiben oder kritiklos übernommen und weiterverwendet werden, die Richtung und Fortsetzung des Diskurses jedoch in entscheidender Weise beeinflussen. Im Hinblick auf die „Ernährung“ ließe sich von einer geradezu „babylonischen Sprachverwirrung“ sprechen. Schon der Begriff „Künstliche Ernährung“ stellt keinesfalls einen homogenen Terminus dar. Seine Verwendung - noch gänzlich unabhängig davon, ob damit eine sinnvolle Therapie, eine pflegerische Handlung, eine physiologische Überbrückungshilfe oder eine als unphysiologisch empfundene „Zwangsmaßnahme“ diskutiert wird [42] - wirft die Frage auf, wie diese „Künstlichkeit“ zu verstehen ist. Bezieht sie sich auf den notwendigen künstlichen Zugang (Sonden, ZVK, PEG) [25]? Bezieht sie sich auf die als künstlich angesehene Zusammensetzung, auf die radikale Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes (z.B. pürierte Verabreichung einer zuvor appetitlich angerichteten Wunschkost vermittels PEG-Sonde bei ALS-Patienten)? Ist sie schon deshalb als künstlich zu bezeichnen, weil die Art der Verabreichung mit der Optik des Essens wenig Ähnlichkeit hat? Verweist der Begriff auf die möglicherweise dazu notwendige medizinischtherapeutische Anordnung, auf eine Intention (z.B. jene, den Patienten durch die Ernährung „künstlich am Leben erhalten“)? Oder bezieht sich die Künstlichkeit auf den in jüngster Zeit neu hinzugekommenen Aspekt der Verwendung von gentechnisch veränderten Bestandteilen? Aus diesem letzten Gesichtspunkt geht vielleicht am deutlichsten hervor, dass sich die Termini „künstlich“ und „natürlich“ im Laufe der letzten Jahrzehnte zu zwei mit unterschiedlichen Wertungen verbundenen Begriffen entwickelt haben. Wer sich ihrer bedient, muss sich bewusst sein, dass er die darin verborgenen Werturteile weitergibt, beziehungsweise er sollte sich vergewissern, ob sein jeweiliger Diskurspartner die gleiche oder eine unterschiedliche Wertung vornimmt! 2 Jedoch auch der Begriff „Ernährung“ selbst lässt sich nur auf den ersten Blick als problemlos in Bezug auf seine Eindeutigkeit ansehen. Solange beispielsweise im Gespräch mit Angehörigen auf zahlreichen geriatrischen Stationen bereits 500ml einer kristallinen Lösung, gegebenenfalls ergänzt durch einen halben Liter 5%iger Glucose, als „Ernährung“ verstanden werden, sind Missverständnissen und Fehldeutungen Tür und Tor geöffnet. Eine auf diesem Hintergrund ablaufende Diskussion und daraus resultierende Entscheidung wird dadurch möglicherweise verzerrt sein! Es bestätigt auch die Erfahrung, wonach der Stellenwert der Ernährung im Alter von den behandelnden Ärzten, aber auch von den Familien und Sozialbetreuern, ja oft auch von den Verantwortlichen in Pflegeheimen nicht ausreichend wahrgenommen wird [38]. Der Aspekt der Ernährung, naturwissenschaftlich fundiertes spezifisches Sachwissen, aber auch die damit oft verbundenen kulturellen und sozialen Bezüge wurden bislang im Medizinstudium vernachlässigt. Ja es scheint, dass sie, zumindest in Österreich, auch im gegenwärtig neu entwickelten Medizin-Curriculum noch nicht ausreichend wahrgenommen werden. Unterschiedliche Wahrnehmungen - unterschiedliche Wertungen Im klinischen Alltag lässt sich zeigen, dass die Wahrnehmung der Ernährung auch von den aktuellen Situationen abhängig ist, woraus sich in der Folge ein unterschiedlicher Stellenwert der Handlung ergeben kann. So wird die Ernährungsproblematik auf Intensivstationen vom dort tätigen therapeutischen Team in der Regel bloß als adjuvanter Teil einer Therapie angesehen, deren vorrangiges Ziel in der Sicherung und Unterstützung der bedrohten vitalen Systeme besteht. Hingegen scheint die Ernährung auf geriatrisch ausgerichteten Stationen neben einer geordneten Medikamenteneinnahme oft einen zentralen Stellenwert in der Wahrnehmung einzunehmen, ja mitunter sogar die hauptsächliche „therapeutische Handlung“ darzustellen. Die aus diesen beiden Szenarien resultierenden unterschiedlichen Haltungen sind evident: Da das therapeutische Team auf Intensivstationen die Ernährung als eine nachgeordnete, jedoch mit der medizinischen Therapie gekoppelte Handlung ansieht [31], findet ein Thematisieren oder gar Problematisieren nur dann statt, wenn auch die Reduktion lebenssichernder Therapiehandlungen zur Diskussion gestellt wird. Da sich aber der Effekt einer Reduktion von akut überlebensnotwendigen Handlungen innerhalb kurzer Zeit zeigt, wird der gleiche Effekt durch das Vorenthalten von Nahrung daher an Intensivstationen in praxi nicht erlebt. 3 Daraus resultieren unterschiedliche Bewertungen. Kaum ein Mitglied des Intensivteams wird eine „künstliche Ernährung“ bei laufender intensivmedizinischer Maximaltherapie als kulturelles Geschehnis interpretieren. Die Nahrungsaufnahme wird hier nicht als Beitrag zur sozialen Integration, als „Zeichen der Freundschaft“ oder als bewusster Akt „gegen die Ausgrenzung eines Patienten aus der Gemeinschaft“ gedeutet [1]. Diese Bewertungen aber sind es, die bei den auf geriatrischen Stationen tätigen Berufsgruppen besonders dann ins Spiel gebracht werden, wenn andere medizinisch-therapeutische Handlungen immer mehr eingeschränkt oder - abgesehen von der Gabe einiger Medikamente - zur einzigen Verordnung der Mediziner werden. Dem jeweils umgebenden Szenarium entsprechend, lassen sich auch unterschiedliche Wahrnehmungen, Verständnisinhalte und Bewertungen der Angehörigen aufzeigen, die spätestens dann aufscheinen, wenn mit ihnen ein weiteres, möglicherweise invasives Ernährungsmanagement beratschlagt wird. Denn während Angehörige auf der Intensivstation zumeist das vitale Monitoring sowie die Anzeigen der Beatmungsmaschine etc. beobachten und die eher unbeachtet abseits stehenden Infusionspumpen mit Mischernährung tatsächlich übersehen, wird auf einer geriatrischen Station diese Aufmerksamkeit oft gerade der langsam tropfenden Infusionsflasche gewidmet. Beide je Szenario unterschiedlichen Aspekte der besonderen Wahrnehmung werden dann zumeist als Garant des Überlebens interpretiert. Eine als fraglich eingeschätzte Funktion oder gar begleitende Alarme werden als akut lebensbedrohlich interpretiert. Aufgrund dieser unterschiedlichen Wertungen und Wahrnehmungen kann eine Diskussion zum Thema „Künstlichen Ernährung“ sinnvollerweise nicht im Allgemeinen verbleiben, wie dies derzeit häufig der Fall ist. Derart unterschiedliche Patientengruppen wie etwa ALSPatienten, Patienten im persistierenden oder permanenten vegetativen Zustand, Anorexia nervosa–Patienten, austherapierte, womöglich bereits protrahiert sterbende Karzinomkranke, Demente, oder geriatrische, oft polymorbide Patienten, weisen zu unterschiedliche Aspekte auf [26]. Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich in besonderer Weise auf jenen zuletzt genannten Kreis von Patienten, der vorwiegend in jener Krankenanstalt betreut wird, in der die Beratung der ethischen Anfragen durch die von mir geleitete Ethikkommission erfolgt. Maßstab: Der einsichts- und urteilsfähige Patient 4 Bei diesen Überlegungen muss zunächst eine Vermischung von einsichts- und urteilfähigen Patienten mit dementen, ihrer Selbstbestimmungskompetenz vielleicht gänzlich beraubten Kranken vermieden werden. Maßstab des therapeutischen Handelns ist und bleibt der mündige, sein Selbstbestimmungsrecht kompetent wahrnehmende Patient. Erst wenn bei diesen Kranken das Vorgehen ausreichend geklärt wurde, kann begonnen werden, an Hilfskonstruktionen und „Selbstbestimmungs-Krücken“ für die in ihrer Autonomiekompetenz eingeschränkten Patienten zu arbeiten, beziehungsweise bereits bestehende Konstrukte auf ihre Hilfsmächtigkeit zu hinterfragen [32]. Wer sich nicht ausreichend im Klaren ist, ob die Autonomie des Patienten im alltäglichen Handeln auch wirklich der oberste Maßstab seines (Wohl-)Tuns bleibt, wird angesichts dementer Patienten noch viel weniger zu Ergebnissen gelangen! Ebenso sollte zugleich außer Diskussion stehen, dass die Autonomie des Patienten vorrangig als Schutzrecht verstanden werden muss, das in Kongruenz zur Rechtsprechung eigenmächtige Heilbehandlungen unterbindet [32, 28, 27, 12]. Denn unabhängig davon, ob man der Ansicht zuneigt, dass die „künstliche Ernährung“ eine medizinische Handlung darstellt, oder ob man die Auffassung vertritt, sie sei ein Bestandteil (basis)pflegerischer Maßnahmen [42, 18] und werde höchstens durch medizinische Hilfshandlungen (z.B. Anlage einer PEG-Sonde) ergänzt, sollte es selbstverständlich sein, dass jedwede am Patienten vorgenommene Handlung dessen Zustimmung bedarf! Bei mehrmaliger irrtumsfreier, konsistenter Ablehnung eines therapeutischen Vorgehens ist der Patientenwille zweifellos bindend! Die Zustimmung des Patienten ist daher sowohl zum Problemkreis „Ernährung“ selbst als auch zum Problemkreis „Technische Verfahren zur Gewährleistung der Ernährung“ (z.B. ZVK, PEG-Sonde) erforderlich. Es ist allerdings evident, dass lebensgestaltende Entscheidungen auch bei ausreichend kompetenten Patienten Dilemmata für die Gesundheitsberufe nach sich ziehen können. Dies schlägt sich auch in der bis 2004 gültigen Richtlinie der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften nieder [37]. Denn, während einerseits dezidiert verlangt wird, dass der Wunsch eines urteilsfähigen Patienten auf Behandlungsverzicht (bzw. Abbruch bereits eingeleiteter Maßnahmen!) zu respektieren ist, wird schon im nachfolgenden Punkt jede Beihilfe zum Suizid ausgeschlossen. Es wird jedoch – je nach Anschauung – wohl gelegentlich erhebliche Schwierigkeiten bereiten können, im individuellen Fall einen relevanten Unterschied herauszuarbeiten [5,6,19, 35, 41, 43]. Als wesentliche Hilfe zur Klärung solcher Situationen können dabei Analogien mit der Willensbildung von austherapierten Karzinomkranken 5 im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium dienen, die sich ja häufig auch einem weiteren, schicksalhaften Verlauf nicht mehr „entgegenstemmen“, sondern den biologischen Gegebenheiten ihren Lauf lassen [14]. Grundsätzliche Aspekte Vor der Beurteilung der individuellen Situation sollten einige grundlegende Aspekte außer Streit stehen, auf die in der Folge näher Bezug genommen wird. Vor jedem konkreten Falldiskurs muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass Ernährung und Lebensbewertung nicht gleichgesetzt werden. Weder die Überfrachtung des Begriffs durch sofortigen Bezug zu hohen und höchsten Lebensprinzipien, noch die gänzliche Ausblendung jedweder Wertorientierung (Ernährung als vermeintlich „bloß naturwissenschaftliches Problem“) werden der Problematik und auch dem Anspruch eines Patienten gerecht, seine Entscheidung selbstbestimmt und daher in Abwägung seiner Wertehierarchie treffen zu können. Ebenso muss auch gegen die im klinischen Alltag oft allzu bestimmende „normative Kraft des Faktischen“ angekämpft werden. Weder ist eine Entscheidung für eine PEG-Sonde aufgrund ihrer einfachen und in der Regel komplikationsarmen Durchführung schon legitimiert, noch ist die unreflektierte Fortsetzung der Ernährung bereits damit ausreichend begründet, dass einem eben zutransferierten Patienten anderen Orts geradezu „automatisch“ eine PEG-Sonde gesetzt wurde! Auch die in Diskussionen oft feststellbare Zuflucht zu rechtlichen Regelungen scheint analog zur Sterbehilfe - nicht unproblematisch [33]. So sehr juristische Normen eine hilfreiche Orientierung darstellen, droht in der bloß strikten Beachtung doch auch die Gefahr, dass eine Auseinandersetzung mit anderen sachlichen und menschlichen Gesichtspunkten und weiteren wesentlichen ethischen Aspekten vermieden wird. Diese Zuflucht kann überdies dazu verleiten, dass durch eine bloße Normenerfüllung die eigene persönliche Werthaltung ausgeblendet werden kann und die individuellen Bedürfnisse des Patienten aus den Augen verloren werden [33]. Abzulehnen sind weiters problematische „dogmatische Aussagen“, die beispielsweise den Einsatz einer PEG-Sonde anhand von präferenzutilitaristischen Einschätzungen verweigern, weil aufgrund des Fehlens von mentalen Leistungen des Kranken der Schluss gezogen wird, dass es sich um „keine Person mehr handle“. 6 Ebenso sind resignative, ja oftmals unsachliche Argumentationsfiguren abzulehnen, die insbesondere eine PEG-Sondensetzung damit begründen „...damit etwas gemacht wird“. Dies verweist auf den Hang zu einem unreflektierten Automatismus, wonach bei Patienten, die, insbesondere in späten geriatrischen Lebensphasen, eine zunehmende Tendenz zur Nahrungseinschränkung zeigen, gewissermaßen automatisch die Setzung einer PEG-Sonde veranlasst wird, statt phantasievolle und kreative Versuche der Nahrungsaufnahme zu planen [16]. In diesem Zusammenhang muss auch bewusst sein, dass das mitunter vorgebrachte Versprechen, „man könne die PEG-Sonde ja wieder entfernen, wenn sie nicht mehr benötigt werde“, in der Realität kaum eingelöst wird. Ebenso abzulehnen ist die immer öfter angebotene Begründung, wonach die Ernährung mittels PEG-Sonde eine ökonomische Notwendigkeit darstelle, da jede Fütterung von Patienten zunehmend zeitintensiv und personalaufwändig würde [10]. Es sollte vielmehr die grundsätzliche Frage geklärt werden, wie viel Zeit ein betagter Mensch in Institutionen zum Essen brauchen dürfe und welche zusätzlichen Hilfen dafür denkbar wären. Problematisch erscheint daher auch die „Indikation“, wonach die Anlage einer PEG-Sonde als Vorbedingung für die Aufnahme in ein Pflegeheim angesehen wird. Gänzlich abzulehnen und auch auf politischer Ebene vehement zu hinterfragen sind die vereinzelten, geradezu ultimativen Ankündigungen von Pflegeheimen, dem Rücktransfer ihrer Bewohner nach einem Krankenhausaufenthalt nur mehr dann zuzustimmen, wenn diese eine PEG-Sonde erhalten haben! Sollte nämlich eine - wenn auch zeit- und personalaufwändige - alimentäre Versorgung des Kranken grundsätzlich ohne invasives Management erfolgen können, erhebt sich die Frage, ob der Mangel einer tatsächlich medizinisch begründbaren Indikation durch strukturelle Defizite einer Pflegeeinrichtung übertroffen werden kann. Davon allerdings deutlich zu unterscheiden sind jene Fälle, in denen sich Angehörige beispielsweise erst dann zur privaten Pflege eines hochbetagten Familienmitgliedes imstande sehen, wenn durch die Implantation einer PEG-Sonde - und in Verbindung mit einer soliden Anleitung - eine ausreichende Ernährung gewährleistet werden kann [21, 26]. Gerade in solchen Fällen wird wohl zumeist davon ausgegangen werden können, dass dies mehr als eine Hilfe verstanden werden kann, dem Patienten das anstrebenswerte und zumeist auch erwünschte Leben in einem familiären Bereich zu ermöglichen und strukturelle, zeitökonomische Gründe nur von sekundärer Bedeutung sind! Abzulehnen ist ferner die auf Wertungen beruhende Manipulation von Angehörigen, wonach diesen - sofern sie tatsächlich dazu rechtlich befugt sind! - ihre Zustimmung zu einem 7 invasiven Vorgehen damit abgerungen wird, dass sie den Kranken „doch nicht verhungern lassen wollten“ [13]. Solche und ähnliche wertende Begriffe setzen Angehörige sofort dem moralischen Druck aus, etwas „Unmenschliches“ und „Verbotenes“ zu intendieren, selbst wenn sie tatsächlich kongruent zu früheren Äußerungen des Patienten und frei von allen unlauteren Motiven im besten Interesse des Patienten entscheiden wollten. Ebenfalls abzulehnen ist die mitunter auch von namhaften Autoren vertretene Ansicht, wonach es den „Gesundheitsberufen nicht zumutbar sei, einem Patienten eine Nahrung zu geben und beim anderen Patienten die Ablehnung zu tolerieren“ [9]. Gerade solche Überlegungen führen dazu, dass nicht mehr der Kranke im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und sein Wille durch die Interessen anderer relativiert wird. Der Weg zur Entscheidung im Einzelfall Um im Einzelfall eine Entscheidung treffen zu können, die dann der individuellen Lebenssituation entspricht und damit im weitesten Sinn des Wortes als „heilsam“ empfunden werden kann, sind neben den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der Würdigung von statistisch gesicherten Zusatzinformationen das Wissen über individuelle medizinische Gegebenheiten, die Vorsituation, sowie die aktuelle Befindlichkeit unverzichtbar. Jedes Handeln verlangt zunächst eine naturwissenschaftlich orientierte Einschätzung und jedes therapeutische Vorgehen bedarf einer Indikation [33, 10]. Es sollten daher vorrangig die Frage der Sinnhaftigkeit des medizinischen Handelns, die Fragen nach den Zielvorstellungen und der Adäquatheit der jeweilig eingesetzten Mittel behandelt werden, ehe ethische Gesichtspunkte zum Tragen kommen [33, 34]. Welche Grunderkrankungen mit welchen ihnen charakteristischerweise innewohnenden Zukunftsaspekten bestehen? Welche sonstigen Erkrankungen lassen sich weiter feststellen, die bei den zumeist polymorbiden Patienten erschwerend hinzutreten und zu einer eventuellen Lebensbegrenzung beitragen können? An welche Erkrankungszustände ist der Patient adaptiert, welche Lebensqualität lässt sich aktuell erheben, welche Änderungen der Lebensqualität sind unter der Therapie zu erwarten, und welche diesbezüglichen Besserungen lassen sich als beständig, beziehungsweise nur für einen wie kurzen Zeitraum annehmen? Hier wird sich bei ehrlicher Einschätzung zeigen, inwieweit weitere Therapieschritte für den Patienten hilfreich sein können, oder ob es sich bloß um eine aus welchen Gründen auch immer erwogene „Befundkosmetik“ (etwa bei Elektrolytentgleisung durch Einschränkung der 8 Flüssigkeitszufuhr) handelt, die letztlich innerhalb kurzer Zeit wieder zum gleichen Zustand führt. Gerade im Hinblick auf die medizinische Einschätzung und die Beurteilung der Lebensqualität ist die genaue anamnestische Erhebung der Situation in den vorangegangenen Tagen und Wochen von besonderer Bedeutung. Dabei sollte neben den Fragen nach dem sozialen Umfeld und den verbliebenen Fähigkeiten, den Alltag zu meistern (Selbstpflege, Gang aufs WC, u.ä.), auch eine bestehende oder fehlende Selbstgefährdung, etwa durch mangelnde Orientierung innerhalb der gewohnten Umgebung, sowie die Ursachen für eine Nahrungsverweigerung erhoben werden. Zu den letztgenannten Ursachen zählen in erster Linie verschiedene Formen von Verwirrtheitszuständen, die allerdings oft durch undramatische Ursachen wie Harnwegsinfekte oder unregelmäßige Tabletteneinnahmen ausgelöst werden. Auch eine im Alter keineswegs seltene „Vergesslichkeit“ bezüglich der Nahrungsaufnahme, verbunden mit einer gewissen Antriebslosigkeit und einem verminderten Durstgefühl lässt sich dazu zählen. Zu weiteren Auslösern für eine Nahrungsunlust von hochbetagten Menschen und ein daraus resultierendes Ernährungsdefizit zählen häufig Kaustörungen durch Zahnverlust oder einen schlecht angepassten Zahnersatz (46%!), wie auch die motorische Unfähigkeit, beispielsweise Fleisch selbst zu schneiden, während Hilfspersonen dafür nicht verfügbar sind [22]. Weiters lässt sich eine Verbindung zwischen der Nahrungsreduktion und einem eingeschränkten Aktionsradius des Menschen feststellen. So kann Studien zufolge bereits eine mäßige Einschränkung der Gehfähigkeit bis zu 23% an einer Unlust zur Nahrungsaufnahme verantwortlich sein. Bei hochgradiger Immobilität neigen fast 50% der Patienten dazu, die gewohnte Ernährung zu reduzieren [40]. Diese „Risikofaktoren“ führen in weitaus größerer Zahl zu Unterernährung, als dies beispielsweise bei schwer dementen aber kontinuierlich betreuten Patienten der Fall ist [13]! Schließlich können auch eine soziale Isolation sowie besonders einschneidende und belastende Lebensereignisse für eine deutliche, bisweilen dramatische Nahrungseinschränkung bei etwa einem Drittel der untersuchten Patienten verantwortlich gemacht werden [38]. Selbst wenn man solche Studien als konkrete Entscheidungshilfe für den Einzelfall nicht überschätzt, ist das Wissen um die je individuellen Auslöser dennoch höchst wichtig, will man medizinisch individuell angemessen auf die Mangelernährung des Menschen reagieren. Die Anordnung, eine PEG-Sonde anzulegen, wenn das Ernährungsdefizit die Folge einer sozialen Isolation oder eines „kommunikativen Todes“ darstellt, mag zwar den 9 naturwissenschaftlichen Aspekt würdigen oder als Überbrückungshilfe gedacht werden können, wird aber der eigentlichen Problematik noch nicht ausreichend gerecht werden! Jedenfalls sollte auch bereits in einer vorwiegend medizinisch fundierten Gesamtschau berücksichtigt werden, dass der Verlust von Hunger und Durst nicht bloß als „Krankheitssymptom“ angesehen werden kann, sondern häufig ein geradezu typischer Ausdruck einer keineswegs nur als depressives Symptom interpretierbaren „Lebenssattheit“ und eines langsam und undramatisch verlöschenden Lebens sein kann! Bedeutung der Vorsituation Wie schon anhand der eben genannten Ursachen angedeutet, wird beim geriatrischen Patienten die Sinnhaftigkeit des Vorgehens durch die Würdigung der Vorsituation beeinflusst. Dabei sind typischerweise zwei Szenarien vorherrschend. Szenario eins: Unabhängig von einer polymorbiden Grundsituation wird die Nahrungseinschränkung durch ein neu hinzutretendes Ereignis, beispielsweise einen akuten Verwirrtheitszustand, ausgelöst und lässt sich nicht als logische Folge eines zum Ende führenden Krankheitsprozesses ansehen. Ursachenforschung und Überbrückungshilfen sind selbstverständlich und unabhängig von einer eventuell bestehenden Grunderkrankung durchzuführen. Szenario zwei: Die langsam zunehmende Nahrungseinschränkung (bzw. -verweigerung) stellt das Ergebnis eines chronischen, stetig fortschreitenden, beispielsweise demenziellen Grunderkrankungsbildes dar. In Analogie zu neuromuskulären Erkrankungen kann auch ein nicht als krankhaft zu qualifizierender Alterszustand oder ein chronisch zunehmendes demenzielles Erscheinungsbild an Schwere so zunehmen, dass die Fähigkeit, lebensnotwendige Handlungen zu setzen, gänzlich und endgültig verloren geht. Eine Nahrungseinstellung bzw. eine Nahrungsverweigerung könnte damit die direkte und logische Folge der physiologischen Lebensbegrenzung oder des Erkrankungsbildes darstellen. Mit anderen Worten: Der Patient wäre in eine chronische Sterbephase (der Grunderkrankung) eingetreten. Kennzeichen dieser Phase ist häufig überdies ein zunehmendes Desinteresse an der Nahrungsaufnahme sowie eine Verringerung von Durstgefühlen, ein Verhalten, das von manchen Autoren bei nicht dementen Menschen auch als Ausdruck des sich immer mehr einschränkenden Lebenswillens verstanden wird. Natürlich müssen gerade in diesem Fall sorgfältig andere mögliche Ursachen mitbedacht werden! 10 Die erhobenen medizinischen Parameter müssen dann auch auf Basis dieser Bewertung interpretiert werden: So wird sich etwa eine zunehmende Elektrolytentgleisung durch die Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr analog zum stetigen Ansteigen von Harnstoff und Kreatinin als Folge eines chronischen Nierenversagens bei einem austherapierten Karzinompatienten bewerten lassen. Auch bei diesem werden zumeist wohl keine heroischen Therapieversuche mehr unternommen werden, um eine „Befund-Kosmetik“ durchzuführen und die Parameter bloß vorübergehend abzusenken. Vielmehr registriert man oft dankbar die daraus resultierende, von dem Patienten häufig als durchaus angenehm erlebte Müdigkeit. Ähnliche Schlüsse werden sich bei einem Patienten anbieten, der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme als Ausdruck des verlöschenden Lebens einstellt und unter keinen Symptomen wie Hunger oder Durst leidet. Zwar mögen auch in diesen Fällen - insbesondere wenn hinsichtlich der Ursache oder Vorsituation noch ein gewisses Maß an Unsicherheit bestehen bleibt - noch einzelne Therapieversuche ihre Berechtigung haben, auch wenn grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit geäußert werden. Da jedoch weiterführende therapeutische Anstrengungen bei richtiger (und gegebenenfalls neu hinterfragter) Einschätzung der Vorsituation kaum zu einer Änderung führen werden, erhebt sich die Frage, ob dadurch mehr als eine Verzögerung des Sterbens oder letztlich nur eine Sterbeerschwernis erreicht werden kann [7]. Gegenwärtige Befindlichkeit des Patienten Zu den wesentlichen individuellen Aspekten lässt sich, wie eben angedeutet, auch die aktuelle emotionale Befindlichkeit des Patienten zählen. So kann etwa aus einer deutlich euphorischen Patientenstimmung auch bei mäßig dementen Patienten durchaus auf einen geringen, ja möglicherweise gänzlich fehlenden Leidensdruck geschlossen werden. Selbst unter dem diskutierten Aspekt einer vermehrten, euphorisierenden Endorphin-Ausschüttung wird ein hungernder und durstiger Patient auch bei höhergradiger Demenz seinem Unbehagen zumeist noch unmissverständlich Ausdruck verleihen können. Ebenso ist der Umstand zu bewerten, wenn die Stimmung grundsätzlich gut gelaunter Patienten jedes Mal umschlägt, sobald eine mit der Ernährung verbundene Maßnahme gesetzt werden soll, insbesondere wenn zuvor Missempfindungen oder Schmerzen beim Schluckakt ausgeschlossen werden konnten. Auch eine je nach Tageszeit unterschiedliche Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme, oder der Umstand, dass etwa Pflegehandlungen den Patienten so erschöpfen oder als so große - auch psychologische - Belastung empfunden werden, dass 11 deshalb kaum mehr eine Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme besteht, können wesentlich zur Entscheidungsfindung beitragen. So vorsichtig generell mit den Rückschlüssen auf konkludente Zustimmungen von Patienten umgegangen werden muss, so wird doch eine stets gleiche Abwehr jedes neuen Versuches, Nahrung auf welche Art auch immer zugeführt zu bekommen, durchaus einen Interpretationsbeitrag für die Gesamtsituation leisten können. Weiters sollte bedacht werden, dass oft ungeachtet einer mäßiggradigen Demenz oder einer erschwerten Kommunikation noch häufig konsistente Willensbildungen erfolgen können. Wenn Patienten beispielsweise wiederholt bestätigen, Durst zu empfinden und auch entsprechend kongruent dazu zustimmen, trinken zu wollen, während sie andererseits ebenso wiederholt verneinen, hungrig zu sein, sollte diesen Aussagen selbst dann ein entsprechendes Gewicht beigemessen werden, wenn eine für eine tatsächlich umfassende Selbstbestimmung notwendige Folgeneinschätzung nur mehr bedingt wahrnehmbar ist [3]. Wer angesichts eines möglicherweise erhöhten Zeitaufwandes und im Wissen um die strukturelle Problematik zu geringer personeller Ressourcen seine Bedenken bezüglich der zeitlichen Ressourcen ausspricht, sollte sich jedoch auch die Frage stellen, inwieweit sich solche Entscheidungen bloß aufgrund struktureller Notwendigkeiten als unaufschiebbar darstellen [26, 33, 36]. Denn die wenigsten Ernährungsentscheidungen bei alten Menschen finden tatsächlich unter großem Zeitdruck statt! Antizipierte Entscheidungen und Patientenverfügung Ebenso wie die ausreichenden Vorinformationen sich letztlich als zeitsparend für den Entscheidungsprozess erweisen werden, lässt sich auch feststellen, dass viele ethische Dilemmata bei entsprechender Vorsorge vermeidbar wären. Denn zahlreiche in ethischen Beratungen vorgebrachte Fälle weisen eine typische Problematik auf: Wie in vielen anderen medizinischen Bereichen wird die Frage nach den Möglichkeiten des weiteren Vorgehens zu lange nicht gestellt und gerät erst dann ins Blickfeld, wenn entweder die Kommunikation mit dem Patienten bereits weitgehend unmöglich erscheint oder dessen Selbstbestimmungskompetenz verloren gegangen ist. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Autonomie des Patienten aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die je eigene Lebensgestaltung nicht mehr bloß ein Prinzip unter mehreren sondern das vorrangige Prinzip schlechthin darstellt [4], muss diese Frage rechtzeitig und angemessen thematisiert werden. Wenn, wie noch vor kurzer Zeit von einem renommierten Pflegeheim publiziert, Patienten 12 zunächst zwei bis drei Jahre sozial adaptiert, integriert und entscheidungsfähig das Heim bewohnen [44], so muss doch mit großem Erstaunen die Frage gestellt werden, weshalb ein weiteres Vorgehen erst dann thematisiert wird, wenn der betreffende Heimbewohner - sich über Wochen und Monate kontinuierlich verschlechternd - schließlich sowohl die Nahrung verweigert als auch – demenziell bedingt - entscheidungsunfähig geworden ist! Zweifellos stellt es einen Akt der Fürsorge dar, auch die Frage bezüglich einer künftig vielleicht notwendigen Ernährung nach Maßgabe der Möglichkeiten rechtzeitig einer Klärung zuzuführen [33]. Und auch in diesem Fall - analog zu der Problematik der Wahrheitsvermittlung - darf davon ausgegangen werden, dass der Patient, möglicherweise nach einer anfänglichen Unsicherheit [16], für die ihm gebotene Entscheidungsmöglichkeit dankbar ist, entweder aktiv gestaltend in sein zukünftiges Leben einzugreifen, oder aber diese Entscheidung explizit seinen Betreuern anheim zu stellen. Damit zeigt sich in besonderer Weise, dass eine antizipierte Patientenverfügung nicht nur auf die Patientenmitbeteiligung bei explizit therapeutischen Maßnahmen, sondern auch auf zahlreiche andere Betreuungsentscheidungen erstrecken kann [2, 11, 20, 24, 29, 30, 42]. Allerdings bedarf es dazu, wie bereits mehrmals deutlich gemacht, einer Ausgestaltung der Patientenverfügung, in welcher der Patient ausreichend die Gründe für seine Ablehnungen verdeutlicht [33]. In diesen Begründungen könnte dann die generelle Einschätzung des Essens ebenso dargelegt werden wie beispielsweise die Bewertung von dazu eventuell notwendigen Hilfshandlungen, die von der Anlage einer PEG-Sonde bis hin zur Fixierung der Extremitäten zur Sicherung des Ernährungsvorganges reichen. Auch in diesem Fall zählt es zu den Notwendigkeiten einer kompetenten, rechtzeitigen und fürsorglichen ärztlichen Aufklärung, auf die Wichtigkeit dieser wertorientierten Begründungen hinzuweisen und dem Gesprächspartner gegebenenfalls bei einer möglichst klaren Formulierung beizustehen [33]. Hilfestellung der ethischen Einzelfallberatung Bei der ethischen Einzelfallberatung hat sich das Vorgehen nach einem diskursethischen Modell als hilfreich erwiesen [33]. Dabei muss zunächst jedes therapeutische Konzept auf seine Sinnhaftigkeit, zielorientierte Praktikabilität und Angemessenheit der eingesetzten Mittel untersucht werden. Bestehende Unklarheiten müssen vorab sachkompetent beseitigt werden und können nicht vorzeitig durch eine thematische Verlagerung auf ethische Aspekte umgangen werden. Diesbezüglich möglicherweise bestehende Erwartungshaltungen oder Versuche müssen von Anfang an klar ausgesprochen und „ent-täuscht“ werden. Die ethische 13 Hilfestellung besteht vielmehr in einem zweiten Schritt darin, dass die bei der Beurteilung vorgebrachten Argumente und Entscheidungsvorschläge hinsichtlich der zugrunde gelegten Normen und Prinzipien gemeinsam diskutiert, innewohnende Werte und Präferenzen von Vorurteilen und Stereotypien unterschieden und eventuell verborgene Werthaltungen aufgezeigt werden, sowie die Kongruenz des Vorgehens zu den vier „mittleren medizinethischen Prinzipien“ betrachtet wird [17]. Latente Entscheidungskonflikte können dadurch bewusst in den Diskurs einfließen, statt dass sie vorschnell durch „gewohnte“ Handlungsautomatismen umgangen werden. Naturwissenschaftliche Lösungsansätze können dadurch weder automatisch als vorrangig angesehen werden noch entziehen sie sich „sakrosankt“ jeder Argumentationsnotwendigkeit. In der bewussten Konzentration auf den autonomen Patienten ungeachtet aller sachlichen, personellen und strukturellen Aspekte [15], stellt die Beratung eine Voraussetzung dafür dar, dass der therapeutische Prozess selbst dann zu einem individuell angemessenen Vorgehen für den kranken, den alten, den dementen Menschen werden kann, wenn dessen wiederholte, deutliche Ablehnung von Flüssigkeit und Nahrung in Zusammenschau mit den medizinischen, anamnestischen und sozialen Fakten eventuell zur Entscheidung gegen eine weitere Nahrungszufuhr führt. Ist schließlich eine individuelle Entscheidung gefallen, kann es hilfreich sein, explizit darauf zu verweisen, dass die Nahrungsablehnung eines Patienten auch in der Folge behutsam und ohne „Zermürbungstaktik“ hinterfragt werden sollte, um diskret wahrnehmbare „Meinungsänderungen“ nicht zu übersehen. Ebenso wichtig ist die Erinnerung, dass ein therapeutischer Rückzug keine sonstigen pflegerischen Handlungen, symptomorientierten Hilfen und Akte der Menschlichkeit negativ beeinflussen dürfe. Einbezogen werden sollte weiters auch die Problematik einer notwendigen Freiheitsbeschränkung von Patienten zu ihrem „Wohl“, die bei einer längerfristigen Ernährungssicherung zweifellos einer anderen Bewertung unterliegt als im Notfall und keineswegs durch den Hinweis auf eine bloße Verbesserung der Laborparameter begründbar ist. Der Grundsatz, dass nur die geringste, der Handlung und dem Handlungsziel adäquat angemessene Freiheitsbeschränkung eingesetzt werden darf [23], erteilt jedem stereotypen Vorgehen, das nicht auf die individuelle Situation Bezug nimmt, eine Absage und stellt auch die so genannte „pharmakologische Bindung“ durch sedierende Medikamente zur Diskussion. Ausgehend von der ethischen Einzelfallberatung lassen sich vermehrte Diskussionen im therapeutischen Team anregen, aus denen in der Folge eine orientierende Leitlinie für die jeweilige Institution erwachsen kann, die es erlaubt, für den einzelnen Patienten innerhalb 14 einer gewissen Bandbreite kreativ eine individuell passende Vorgehensweise zu finden. In dieser Leitlinie sollte die Notwendigkeit einer ausreichenden Information über die Situation vor der Aufnahme ins Krankenhaus (Heiminformationen, Informationen von Angehörigen, etc.) angesprochen und die sorgfältige ärztliche und pflegerische Anamneseerhebung [40], einschließlich einer umfassenden Wertanamnese des Patienten hervorgehoben werden. Etwaige dem Patienten häufig vorauseilende und seine mentalen Fähigkeiten oft negativ beschreibende Diagnosen sollten dabei nicht als Begründung dienen dürfen, dass eine Erhebung der individuellen Präferenzen von Anfang an unterbleibt, oder es an notwendigen Ermunterungen fehlt, dass diese Menschen dennoch ihren Willen ausreichend äußern [31]. Ebenso sollte die umfassende Dokumentation in der Krankengeschichte, abseits aller rechtlichen Notwendigkeiten [8], von allen Berufsgruppen mit noch größerer Aufmerksamkeit erstellt und verfolgt werden! Denn anhand einfacher, aber aussagekräftiger Notizen lassen sich sowohl persönliche Bewertungen unterschiedlicher Betreuungspersonen, als auch tendenzielle Einschätzungen von Meinungs- und Verhaltensänderungen durch die jeweils gleiche Person erheben, was insbesondere hilfreich für den Nachweis der Konsistenz des Patientenwillens oder von diskret eintretenden Meinungsänderungen sein kann. Ausblick Es ist zu erwarten, dass die Problematik der „künstlichen Ernährung“ noch längere Zeit zu den belastendsten Themen im medizinischen Alltag zu zählen sein wird. Ihre Handhabung wird erst dann zu befriedigenden Lösungen führen können, wenn neben den naturwissenschaftlichen Aspekten auch die Autonomie des Patienten als wirklich bestimmende Größe jedes heilsamen Handelns anerkannt wird. Einen wesentlichen Beitrag wird dabei auch der - noch gesunde - Mensch zu leisten vermögen, der sich seiner verantwortlich gehandhabten Selbstbestimmung bewusst ist und vermittels einer individuell und intelligent erstellten Patientenverfügung zur Vermeidung zukünftiger ethischer Dilemmata beitragen kann. Die demokratische Gesellschaft aber wird sich der Verantwortung nicht entziehen können, den Stellenwert des alten und dementen Menschen in unserer Gesellschaft zu definieren und die zeitlichen und finanziellen Ressourcen für die Betreuung danach auszurichten. Dazu zählt insbesondere jede präventive soziale Anstrengung, damit den „sozialen Indikationen“ wie beispielsweise der Vereinsamung und dem sozialen Absterben schon im Vorfeld so kompetent wie möglich begegnet werden kann. 15 „Bettet doch alte Menschen weich und warm, und lasset sie recht genießen, denn weiter vermögen sie nichts mehr; und beschert ihnen gerade im Lebens-Dezember und in ihren längsten Nächten Weihnachtsfeiertage und Christbäume: sie sind ja auch Kinder, ja Zurückwachsende“, appelliert Jean Paul an uns. Eine aufmerksame Betreuung und ein kreativer Umgang mit den persönlichen (Ernährungs-)Bedürfnissen der alten und kranken Menschen werden einen individuellen Beitrag zur heilsamen Gestaltung dieser Tage und Nächte leisten können, und verhindern, dass - überspitzt formuliert - die PEG-Sonde die einzige gesellschaftliche Antwort auf die Bedürfnisse am Lebensabend bleibt! Literatur 1. Abbt I (1993) Ist der Mensch, was er isst? 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Ehrnährungsmed. 3: 36; veröffentlicht auch http://www.kup.at/kup/pdf/879.pdf Dr. med. Michael Peintinger Lehrbeauftragter für Medizinethik an der Med. Universität Wien und Universität Wien Lektor am International Management Center der Fachhochschule Krems Oberarzt für Anästhesie und Vorsitzender der Ethikkommission der Krankenanstalt "Göttlicher Heiland" Stellvertretender Vorsitzender des „EthikForum Niederösterreich“ Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin, Göttingen homepage: http://www.medizinethik.at.tf 19 unter: