1 DAS LEIB – SEELE – PROBLEM Das Leib – Seele - Problem (das Geist – Materie – Pro- blem) hat mich bereits während des Studiums interessiert. Insbesondere deshalb habe ich ein Jahr nach dem Studium begonnen, mich dem Fach Psychiatrie zu widmen. Nach all den Jahren seither bin ich immer noch überzeugt, dass die Diskussion des Leib – Seele – Problems für unser Fach unumgänglich und von zentraler Bedeutung ist. Umso enttäuschter bin ich, wenn sie sowohl in der Ausbildung als auch alltagspraktisch nur am Rande geführt wird. Im Rückblick hat Platon im 5./4. Jahrhundert v. Chr. mit der so genannten Ideenlehre die Diskussion eröffnet: Idee (griech. eidos Begriff, Vorstellung, Idee, Urbild, Wesenheit) im Sinne Platons bezeichnet alles Wahre, ewig Seiende. Was wir mit unseren Sinnen über die Dinge erfahren und diese selbst sind gemäss Platon nur unvollkommene Imitationen, Abbilder dieser zu Grunde gelegten Urbilder. Implizit beinhaltet also Platons Ideenlehre bereits einerseits das Transzendentale, Immaterielle, Gedankliche und andererseits das Materiale, das für unsere Sinne Wahrnehmbare, das auf diese Weise Wirkliche. Aber das wirkliche Wirkliche sind die Ideen der Dinge. Die Dinge hätten ohne ihre Ideen gar nicht entstehen können. Bei Platon steht das Materielle gegenüber den Ideen nicht im Gegensatz, sondern zwischen den Ideen und dem aus den Ideen auf die Welt Gekommenen besteht ein Kontinuum, denn die Ideen verkörpern sich sukzessive und was sich auf diese Weise materialisiert, vergröbert sich und entfernt sich sich je länger je mehr von der Reinheit und Einzigartigkeit seiner Urbilder. Ein mit dem Zirkel aufs Papier 2 gezogener Kreis ist nicht mehr so vollkommen wie ein gedachter Kreis. Die Ideenlehre Platons enthält eine zu tiefst pessimistische Überlegung. Mit der Zeit zerfallen die Dinge. Entsprechend ist beispielsweise die Liebe, griech. die Agape, schliesslich in der körperlichen Liebe verkommen. Das klägliche Gestöhn während der Vereinigung von Mann und Frau enthält nur noch eine vage Erinnerung an das wunderbare ätherische Gesäusel in der wahren Liebe. Der Komplex der Ideen wird gemäss Platon durch den Logos, durch die Vernunft in einen Zusammenhang gebracht. Die im Hellenismus erzogenen Lehrer des frühen Christentums, wie Johannes oder Paulus, integrieren Platons Philosophie in ihre eigenen Lehren: Der Evangelist Johannes (im 1./2. Jahrhundert n. Chr.) vereinfacht die Darstellung Platons. Seiner Meinung nach „war am Anfang das Wort (griech. logos); und das Wort war bei Gott; und Gott war das Wort“ (Joh.1.1). - „Und das Wort ward Fleisch“ Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο kai ho logos sarx egeneto, verbum caro factum est (Joh. 1.14). Nun also, was hat sich im Wandel aus der platonischen in die frühchristliche Lehre verändert: - Bei Platon erschafft der Demiurg, der Schöpfergott, aus der Welt der Ideen den Kosmos, wie wir ihn kennen. Die Ideen sind gedankliche Bilder. Das griechische Wort eidos Idee ist abgeleitet aus dem griech. Verb idein sehen. Bei Johannes aber hat Gott entsprechend der hebräischen Auffassung gesprochen. Am Anfang, in Gott, war das Wort, griech. logos. Die griechische Auffassung 3 betont also das Sehen, die hebräische und später christliche Auffassung betont das Hören (Gott kann und darf man sich nicht bildlich vorstellen). - Platon hatte ein Problem. Wenn sich Ideen sukzessive materialisieren und damit zerfallen, wie gewinnt man deren Reinheit zurück? – Nur durch eine langatmige Anstrengung. Nur durch ein fortwährendes Studium können wir im Weg zurück das Wesen der ursprünglichen Ideen wieder erahnen. Also nicht mehr mit der Geliebten oder dem Geliebten samstags im Bett primitiv suhlen. Es besteht die Gefahr, dass wir definitiv so wie die Schweine werden, wenn der Bauer den Eber in den Pferch zu den Säuen lässt. Sondern wir müssen wieder früh aufstehen und im Zirkel mit edlen Menschen über die ewige Liebe diskutieren. Bei den Christen ist Platons Problem entschärft, weil nach ihrer Auffassung Gott seinen Sohn, Jesus, den Gesalbten, griech. christos, geschickt hat, er in ihm zu Fleisch wurde, um uns durch seinen Tod und nachfolgender Aufersteheung zu erlösen. Der Tod bedeutet also, dass wir uns aus dem Fleisch wieder zurück in den reinen logos verwandeln können. Wir, die wir doch schon über viele Generationen aus der Reinheit herabgesunken sind, können auf jeden Fall zurück, so schlimm wir es auch getrieben haben, wir müssen nur an Jesus glauben. Das ist das Verführerische und Verheissungsvolle im Christentum. Die Arbeit wurde schon durch Jesus geleistet, so dass dieses mühselige Philosophieren, das Platon fordert, wegfällt. Die Liebe kann nun in Christo unmittelbar erfasst werden, worauf deshalb das samstägliche Suhlen im Bett von selbst wegfallen sollte. Im Christentum wird somit auf den Schultern Platons das 4 Leib - Seele - Problem deutlicher. Es gibt einerseits die Geistigkeit und andererseits das Fleisch. Es gibt noch Übergänge vom Geist in den Körper. Wir können näher oder weiter entfernt von Gott, bzw. dem Geistigen sein. Doch jetzt gibt es eine Bruchlinie zwischen den beiden und das ist der Tod. Im eigentlichen Sinne, präzise formuliert hat das Geist – Körper – Problem Decartes im 17. Jahrhundert n.Chr.: Decartes unterscheidet bekanntlich einerseits das denkende Ich, die res cogitans, die denkende Sache. Gemäss Decartes können wir an allem zweifeln, an Gott, am Himmel, daran dass wir einen Körper haben. Aber wir können nicht annehmen, dass es uns, die wir solches denken, nicht gibt. Denn gerade dann, wenn wir daran zweifeln, existieren wir ja als Denkende. `Ego sum, ego existo; je pense donc je suis; cogito ergo sum` sind die Kernsätze der Decartesschen Erkenntnisstehorie. Dieser res cogitans stellt Descartes die res extensa, die ausgedehnte Sache gegenüber. Descartes fomuliert also gegenüber der Physis, gegenüber den Dingen, die eine Ausdehnung haben, eine Sache, die immateriell ist, eben die res cogitans. Damit hat er den bekannten Geist – Körper – Dualismus formuliert. Dass er die res cogitans, das denkende Ich, wahrnimmt, lag im Zeitgeist, jedenfalls im Zeitgeist des aufstrebenden Bürgertums in Holland, wo sich Descartes zeitweilig niedergelassen hatte. Sein Zeitgenosse Rembrandt malte sich in Selbstporträts über 100 Male, das ganze Leben als Maler hindurch. Wie zur Illustration Descartesschen Überlegungen malte Jan Vermeer sich als Maler, wie er die Muse Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, malt. Sowohl Rembrandt wie Vermeer, auf dem Höhepunkt in der abendländischen Malerei, reflek- 5 tieren also sich und ihr Tun – ähnlich wie Descartes, der sich als Denkender gegenüber der Welt erfährt. Bei Platon stehen die Ideen am Anfang. Bei den Christen ist der reine Geist zu Fleisch geworden. Schliesslich gemäss Descartes befindet sich Denken, der Geist, in erster Linie in uns selbst. Nur das denkende Ich ist sicher. Das Geistige in uns gibt es ohne Zweifel. Das Materielle gibt es natürlich auch. Aber das ist nicht zweifelsfrei. Das Erleben der res extensa könnte ja unserer Vorstellung entspringen. Zwischen dem Geistigen und dem Materiellen besteht eine Kluft. Noch mehr, das Geistige und das Materielle sind zwei verschiedene Sachen, die nicht ineinander überführt werden können. Doch man höre und staune: Unterdessen, nach all den Jahrhunderten, ja nach 2500 Jahren, kratzen sich Forscher unserer Tage am Kopf und überlegen sich, ob das Denken nicht Epiphänomen des Materiellen sei. Platon führte alles auf Geistigkeit zurück. Ursprünglich hat es nur Ideen gegeben. Doch die Naturforscher unserer Tage sind der Meinung, dass am Anfang der Urknall war, den sie auf 13,7 Milliarden Jahre genau datieren können. Daraus heraus haben sich die Masse-Elementarteilchen und 4 KräfteElementarteilchen (die Bosonen) differenziert, aus welchen die Elemente und die 4 Kräfte entstanden. Daraus formte sich die Makrowelt mit den Gestirnen. Die Atome der verschiedenen Elemente vereinigten sich zu Molekülen und diese wiederum bildeten Organismen, welche erst in jüngster Zeit so etwas wie Geist in Form von Artefakten wie Sprache, Bildnisse, Bücher und Tonfolgen zu produzieren begannen. Diese Artefakte entstehen dank neuronaler Netzwerke in spezialisierten Organen dieser Organismen, die untereinander kommunizieren. Die Netzwerke generieren 6 dem betroffenen Organismus auch recht fragwürdiges Erleben wie sinnliche Empfindungen, Gefühle und, wie man es nennt, Bewusstsein. Das was jener Descartes emphatisch geäussert hat, dass er zweifelsfrei denke, war gemäss modernen Wissenschaftlern Ausdruck seines Erlebens im Bewusstsein, was aus der Kommunikation durch elektrochemische Impulse in bestimmter Nervenzellgruppen entsteht. Doch dieses Wechselspiel unter den Nervenzellen ist äusserst fragil und kann deshalb nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Bereits ein paar Becher aus einem mit Hopfen und Malz hergestelltem Getränk können es abschalten. Kurz, heute sind wir der Meinung, dass am Anfang die Materie war und aus der Materie wurde das Fleisch und aus dem Fleisch der flüchtige Geist. Bei Platon war das Unverrückbare, das Ewige, das Reine und Wahre die Welt der Ideen. Aus ihnen wurde im Lauf der Zeit Materie. Entsprechend sind auch die Christen der Meinung, dass sie gemäss dem Bilde Gottes erschaffen und zu Fleisch geworden sind. Deshalb hat Gott Jesus geschickt, um sie aus dieser sündigen Fleischeslust wieder zu befreien. Schon Platon war der Meinung, dass wir mediativ möglichst zum Geist zurückfinden müssen, falls während unseres irdischen Daseins etwas schief läuft. Doch in unserer Zeit haben sich diese Auffassungen genau ins Gegenteil verkehrt. Die Naturwissenschaftler meinen zu erkennen, dass am Anfang das Materielle war. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit das Fleisch und dieses erst generierte den Geist. Neurowissenschaftler sind oft der Meinung, dass man die Ursache im Fleisch suchen muss, wenn wir uns nicht angemessen verhalten, wenn bei uns gedanklich etwas nicht stimmt. Wenn sich unser Geist irrt, muss man medizinisch ins neuronale Netzwerk eingreifen, 7 um eine Korrektur zu erwirken. Doch manchmal, in der Nacht, wenn sie nicht einschlafen können, kommen auch den Neurowissenschaftlern Zweifel. Sind nicht auch ihre eigenen Ideen über das Funktionieren der Welt Ausdruck pulsierender Nervenzellen? Wie können die Wissenschaftler jeweils sicher sein, dass diese ihnen vernünftige Theorien vermitteln. Was sie als Vernunft bezeichnen, dieses Erleben, haben ihnen ebenfalls die Nervenzellen ins Bewusstsein geschrieben. Auch das Bewusstsein ist Ausdruck von Nervenzellaktiviät. Und wenn die Naturwissenschaftler darüber zu zweifeln beginnen, wird ihre Verwirrung noch grösser: In ihrem Glauben wären ja auch Zweifel Ausdruck der neuronalen Tätigkeit? Doch warum generiert Nervenzellaktivität einerseits das Erleben von Vernunft und andererseits lässt sie daran zweifeln. Und diese Diskussion auf einer Metaebene über Sinn und Unsinn von Nervenzellaktivität, die wäre ebenfalls Ausdruck von Nervenzellaktivität? ... fertig lustig, abschalten, das läuft ins Uferlose, lieber vor den Fernseher hocken und ein Bier trinken. Vielleicht wird auf dem Sportsender die Reprise des letzten Champions League Finals mit dem FC Barcelona gezeigt! ... Nein, nicht schon wieder: Ist dieser Entscheid, vor den Fernseher zu hocken, Ausdruck des freien Willens oder wiederum nur Ausdruck neuronaler Aktivität? - Wenn letzteres der Fall wäre, warum beschliessen die Nervenzellen selber, sich abzuschalten? Immerhin, Messi vom FC Barcelona schiesst ein Tor, so verlässlich wie ein zweifelsfreies Naturgesetz. Das ist die Hauptsache. Wir sehen: Das Geist – Materie – Problem lässt sich sowieso nicht lösen. Ohne den Glauben an ein Bewusstsein, 8 einen freien Willen und das Denken geht es nicht. – Aber ohne Materie, ohne Bier, ohne Fussball geht es auch nicht. Platons Ideenlehre ist zu einseitig. Die reduktionistische Sicht moderner Neurowissenschaftler ebenfalls. Mit dem Descartesschen Dilemma, dem Leib – Seele – Dualismus, müssen wir vorerst weiter leben. Doch vielleicht gibt es eine Möglichkeit, der Diskussion neuen Schwung zu geben. Wie ich im nebenstehenden Artikel darlege, habe ich versucht, ein Organigramm menschlichen Erlebens zu skizzieren. Daraus ergibt sich eine Fülle neuer Erwägungen. © Kurt Kunz 2011