VELUX Daylight and Architecture Ausgabe 3

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ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO
SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO
DAYLIGHT &
ARCHITECTURE
DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX
DAYLIGHT & ARCHITECTURE
ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
SOMMER 2006 AUSGABE 03
Herausgeber
Michael K. Rasmussen
Website
www.velux.de/Architektur
VELUX-Redaktionsteam
Christine Bjørnager
Lone Feifer
Axel Friedland
Jana Masatova
Lotte Nielsen
Torben Thyregod
E-mail
[email protected]
Redaktionsteam Gesellschaft
für Knowhow-Transfer
Thomas Geuder
Katja Pfeiffer
Jakob Schoof
Bildredaktion
Torben Eskerod
Adam Mørk
Art Direction & Layout
Stockholm Design Lab ®
Kent Nyberg
Sharon Hwang
Cecilia Anefelt
www.stockholmdesignlab.se
Titelfoto
Torben Eskerod
Recherche und Textredaktion
Gesellschaft für
Knowhow-Transfer
Auflage
90,000 Stück
ISSN 1901-0982
Dieses Werk und seine Beiträge sind
urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf
der Zustimmung der VELUX Gruppe.
© 2006 VELUX Gruppe
® VELUX und das VELUX Logo sind
registrierte Markenzeichen mit Lizenz
der VELUX Gruppe.
Porträt von Torben Eskerod
Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für
den er erdacht wird. Ein Gebäude passt sich nicht nur im
Querschnitt an die vorhandene Topografie und in der Ausrichtung der Grundrisse an die Tageslichtverhältnisse an. Der
Standort beeinflusst auch die Auswahl der Materialien, die sein
Erscheinungsbild prägen werden: seine Textur.
Wenn ein Architekt diese Aspekte in seiner Arbeit berücksichtigt und sich seiner Umwelt bewusst bleibt, werden die
natürlichen Gegebenheiten zu Grundlagen einer Architektur, die
sich nicht dem Zeitgeist oder momentanen Trends unterwirft.
Jedes Projekt beginnt aufs Neue mit der Analyse dieser Grundlagen und der Rückbesinnung auf sie. Der Architekt muss eine
Vorstellung davon besitzen, welche Art von Raum er schaffen
will: Soll dieser eine unsichtbare Wirkung entfalten – soll er
Ruhe ausstrahlen, Gefühle erzeugen? Oder soll er eher auf der
sichtbaren Ebene auf den Betrachter einwirken – komplexer in
der Nutzung, aber kraftvoller im Ausdruck? Wie auch immer die
Entscheidung ausfällt, in beiden Fällen werden neben der
funktionalen Zweckbestimmung auch der Einsatz des Lichts
und die Textur des Gebäudes das Ergebnis beeinflussen.
Licht und Textur gehören untrennbar zusammen; sie bilden
eine konzeptionelle Einheit. Der Lichteinfall in ein Gebäude
hängt nicht zuletzt von der Materialauswahl ab und sollte diese
daher mit bestimmen. Eine gute Auswahl – die auch einen
erheblichen Einfluss auf die Textur des Gebäudes besitzt –
kann die Wahrnehmung des architektonischen Raums stark
beeinflussen. Wellenbewegungen in der Fassade, Lichtfugen
im Boden oder punktuelle Beleuchtungselemente machen das
Licht zu einem architektonischen Element, das die Textur des
Gebäudes harmonisch ergänzt. Von Bedeutung ist aber nicht
nur das Licht und dessen Vorhandensein in Gebäuden und auf
Oberflächen. Es geht ebenso um das Fehlen von Licht, um
Schatten. Obgleich Licht und Schatten so gegensätzlich sind,
sollen sie eine gemeinsame Wirkung entfalten.
Textur hängt jedoch nicht allein von der Beschaffenheit
eines Materials ab. Auch Strukturen, Proportionen und die
Ordnung der Elemente entscheiden über die Textur eines
Körpers. Dieser ‚Körper‘ ist in der Architektur das Gebäude und
die Anordnung seiner Elemente ist Ausdruck gesunden Menschenverstands.
Lesen Sie mehr über die Architektur von Fernando
Menis im Artikel ‚Megalithkreis in der Wüste’ ab
Seite 14.
Fernando Menis
DISKURS
VON
FERNANDO
MENIS
1
VELUX EDITORIAL
WILLKOMMEN BEI
DAYLIGHT & ARCHITECTURE
DEM ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
SOMMER 2006
AUSGABE 03
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Diskurs von Fernando Menis
VELUX Editorial
Inhalt
Jetzt
Mensch und Architektur
Architektur und Webkunst
Texturen
Kongresszentrum ‚Magma’, Teneriffa
Reflektionen
Natürliche Oberflächen
Licht Europas
Scarborough, Yorkshire, England
Tageslicht im Detail
Licht und Material
VELUX Einblicke
Ein Kleid für besondere Anlässe
VELUX Panorama
Sonnenstube unterm Dach
Monolith am Mühlenweiher
Mit der Natur verwachsen
VELUX im Dialog
Schriften zur Architekturlehre
Bücher
Rezensionen
Empfehlungen
Vorschau
In Zeiten digitalen Entwerfens widmen sich Architekten zunehmend der Aufgabe, wohlbekannten
Materialien durch neue Arten der Oberflächenbearbeitung bislang ungeahnte Eigenschaften zu
verleihen. Nach der zunehmenden Dematerialisierung und Abstraktion im Zuge der Moderne entdeckt die Architektur die Textur der Materialien als
Eigenschaft wieder, mit der sich die Atmosphäre
von Räumen und die ‚Aura‘ von Gegenständen beeinflussen lässt. Oberflächen gelten nicht länger
nur als zweidimensional, sondern erhalten räumliche Tiefe und treten damit in ein umso engeres
Wechselspiel mit Licht und Schatten. Wir freuen
uns, Ihnen in dieser Ausgabe einen herausragenden
Vertreter dieser Tendenz zu zeigen, das Kongresszentrum ‚MAGMA‘ in Teneriffa. Mit einer außergewöhnlich großen Vielfalt an Texturen aus einem
einzigen Baumaterial haben die Architekten die
massiven Außenwände ihres Gebäudes unter der
südlichen Sonne zum Leben erweckt.
Nach der zweiten Ausgabe von Daylight & Architecture, die sich mit der Frage befasste, wie ein
Haus zu einem ‚Zuhause‘ wird und wie sich Prozesse und Produkte zu Lebensräumen formen, betrachten wir unsere physische Umgebung diesmal
im Detail: Das Thema der aktuellen Ausgabe lautet
‚Texturen‘. Ständig werden im Bestreben, optimale
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der
Lektüre von Daylight & Architecture 03.
INHALT
JETZT
4
Die neue Kathedrale von Oakland und die Hauptverwaltung der Wasserwerke von Barcelona
stehen ganz im Zeichen des Tageslichts. Jeroen
Hoorn entwirft einen Pavillon aus Glasbrocken
in Gabionen, Mario Bellini und Rudy Ricciotti
einen zarten Glasschleier über dem Visconti-Hof
des Louvre. Außerdem: die ‚Camera obscura‘ von
Madrid, der Neubau der Handelskammer von
Rafael de la Hoz.
MENSCH UND ARCHITEKTUR
ARCHITEKTUR UND
WEBKUNST
8
2
Lebensräume zu schaffen, neue Wege gesucht und
beschritten. Wir laden Sie ein, bekannte Materialien aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Wie funktioniert die Wärmedämmung eines
Eisbären wirklich? Lässt sich Efeu als Fassadenmaterial verwenden? In Graz wirft das Bürogebäude
von Innocad ein neues Licht auf das Bauen im historischen Kontext, indem es außen wie innen unverwechselbare und unterschiedliche Materialien
und Texturen zeigt.
Wir bei VELUX suchen den kontinuierlichen Dialog mit den Planern über Fortschritte in Architektur und Bauwesen. Die vorliegende Zeitschrift ist
ein Beispiel; ein anderes ist unser Engagement bei
der European Association of Architectural Education, EAAE. Seit 2001 ist VELUX Sponsor des
EAAE-Preises ‚Schriften zur Architekturlehre‘. In
seinem Beitrag für die Rubrik ‚VELUX im Dialog‘ befasst sich Per Olaf Fjeld mit dem Thema des letzten
EAAE-Preises 2003-2005, ‚Neues Wissen‘. Für die
aktuelle Ausgabe des Preises für die Jahre 2005
bis 2007 suchen die Auslober noch Texte zum Themenbereich ‚Darstellung in der Architektur, Kommunikation – Bedeutung – Visionen‘.
Das Weben, eine der ältesten Kulturtechniken des
Menschen, ist auch für die Architektur von herausragender Bedeutung. Das wusste schon der deutsche Architekt und Theoretiker Gottfried Semper
(1805-1879). Wie sich Sempers Theorien der textilen Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts
weiterentwickelt hat und welcher Zusammenhang
zwischen Weben und Bauen heute besteht, untersucht Peter Blundell Jones in seinem Beitrag.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
TEXTUREN
KONGRESZENTRUM
‘MAGMA’, TENERIFFA
Im Wüstensand im Süden Teneriffas ist ein
außergewöhnliches Kongresszentrum entstanden:
MAGMA, das Werk des ortsansässigen Architekten Fernando Menis, besteht aus Betonkuben, die
wie aus dem lavahaltigen Fels der Insel gehauen
scheinen, und einem Wellendach aus Faserzementplatten. Ins Innere des Gebäudes gelangt das Licht
durch schmale Fugen in Wänden und Dächern.
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REFLEKTIONEN
NATÜRLICHE OBERFLÄCHEN
32
Was haben das Straußenei, die Haselnussschale
und das Eisbärenfell mit Architektur zu tun? Gar
nicht so wenig, meint Dr. Udo Küppers, Wissenschaftler an der Universität Bremen. In seinem
Beitrag untersucht er die Bionik natürlicher Oberflächen und zeigt ‚Erfindungen‘ der Natur auf, die
zum Vobild auch für Bauteile in der Architektur
werden könnten – oder schon geworden sind, wie
im Beispiel der Transparenten Wärmedämmung.
VELUX EINBLICKE
EIN KLEID FÜR BESONDERE
ANLÄSSE
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Mit einer goldglänzenden Fassade aus Kupferschindeln machten die jungen Architekten Innocad ihr Wohn- und Geschäftshaus am Rande der
Grazer Altstadt zum Blickfang mit überregionaler
Wirkung. Das „Kleid für besondere Anlässe“ kommuniziert auf vielfältige Weise mit seiner Umgebung: Es greift die gelbe Farbe der benachbarten
Altbauten auf und interpretiert zugleich das Logo
der Architekten, die ihr Büro im Erdgeschoss bezogen haben.
VELUX PANORAMA
Einen Meter starke Natursteinmauern neben filigranen An- und Einbauten aus Stahl und Glas: Bei
ihrem Umbau der Kotrč-Mühle zu einem Wohnhaus operiert die tschechische Architektin Lucie
Kavanova mit gegensätzlichen Extremen. Außerdem: Das Seehotel am Neuklostersee, ein Ensemble aus Alt- und Neubauten in ländlicher Umgebung,
wurde von Nalbach und Nalbach Architekten
durch dichten Efeubewuchs in seiner Umgebung
‚verwurzelt‘.
56
3
JETZT
Was Architektur bewegt: Veranstaltungen,
Projekte und aktuelle Neuentwicklungen
rund um das Thema Tageslicht.
CHRIST THE
LIGHT CATHEDRAL
IN OAKLAND
FOTO VON GERALD RATTO
Bis Anfang 2008 soll die ‚Christ The
Light Cathedral‘ in Oakland bei San
Francisco fertig gestellt werden. Der
Neubau von Craig Hartman vom Architekturbüro Skidmore, Owings & Merrill (SOM) ersetzt die historische St.
Francis de Sales-Kathedrale, die 1989
durch ein Erdbeben zerstört wurde.
Sein Name ‚Christ The Light Cathedral‘ geht auf das Dokument ‚Lumen
Gentium‘ des Zweiten Vatikanischen
Konzils aus den 60er Jahren zurück,
das mit den Worten „Christus ist das
Licht aller Völker“ beginnt. Hartman
hat ihn zum Programm erhoben: „Es
geht bei dieser Kathedrale, wie bei
allen historischen Kathedralen, um
die Betrachtung des Lichts als heilige Naturerscheinung – und um die
poetische Beleuchtung von sakralen
Räumen. Wir wollen das Licht nutzen,
um die bescheidenen Baumaterialien
– vor allem Holz, Beton und Glas – zu
veredeln“, schreibt er. Wie zahlreiche
Sakralbauten im pazifischen Raum
wird die neue Kirche vorwiegend aus
Holz erstellt. Die Innenwände ihres
bis zu 40 Meter hohen Gewölbes
haben die Form zweier Kugelschalen.
Zwischen den gekrümmten Längsträgern werden lamellenartige Holzpaneele eingefügt, deren Neigung von
unten nach oben immer flacher und
die Wand damit immer lichtdurchlässiger wird. Die äußere Klimahülle
der neuen Kathedrale bilden zwei konische Segmente aus Glas mit Keramikglasur, die im Abstand von einem
bis drei Metern vor der Holzkonstruktion angebracht sind.
Nachts strahlt das Licht aus dem Kirchenraum durch die Paneelkonstruktion, ins Freie. Das flache Dach des
Kirchenschiffs, der ‚Oculus‘, und die
Altarwand bestehen aus diagonalen Trägerrosten mit Aluminiumverkleidung. Die Paneele der Unterdecke
sind gefaltet und lassen durch ihre
Öffnungen gerichtetes Licht Richtung Altarwand fallen.
4
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
„Dies ist kein Turm, kein Wolkenkratzer im amerikanischen Sinn [...], eher eine
flüssige Masse, die eben aus dem Erdboden hervorgequollen ist, ein Geysir, der
unter ständigem, dosiertem Druck steht.“ Jean Nouvel
TORRE AGBAR IN
BARCELONA
FOTO VON ROLAND HALBE
Auch wenn man dies vielleicht annehmen möchte: Jean Nouvels
neuer Büroturm in der katalanischen
Hauptstadt erhielt seinen Namen
keineswegs in Anlehnung an einen
arabischen Herrscher. ,Agbar‘ ist
nichts anderes als ein Akronym für
,Aguas de Barcelona‘, die städtischen
Wasserwerke. Und als symbolische
,Fontäne‘ aus Glas, Licht und Luft
möchten die Entwerfer das Bauwerk
auch verstanden wissen. Die Barceloner sahen dies verständlicherweise
anders: Seit Beginn der Bauarbeiten
im Jahr 2002 begleiteten sie das
Bauwerk mit teils amüsierten, teils
brüskierten Kommentaren über dessen phallische Gesamtform. Die Parallelen zur „erotischen Gurke“ der
SwissRe von Norman Foster sind
unverkennbar und vielleicht sogar
beabsichtigt. Anders als diese entfaltet Jean Nouvels Turm an der Avenida Diagonal jedoch ein Spiel aus
Lichtreflexen in allen Farben des Regenbogens. Fassadenmodule aus lackiertem Aluminium-Wellblech in 25
Farben bilden die innere Fassadenschicht; außen davor angebrachte,
unterschiedlich geneigte Glaslamellen in vier Transparenzgraden lassen
den Turm im Sonnenlicht regelrecht
,Funken sprühen‘. Die Lichtstimmung
in den Innenräumen wird maßgeblich von den kleinteiligen Fenstern
bestimmt, die die gesamte Fassade
unabhängig von der Geschossteilung
wie ein abstraktes Pixelmuster überziehen. Ihr Licht vervielfältigt sich in
den spiegelnden Geschossböden und
Deckenpaneelen oder wird – wie im
Eingangsbereich – von transluzenten
Flächenvorhängen gedämpft.
5
FOTO VON MARGHERITA SPILUTTINI
FOTO VON WILLEM VAN DET
GLASGERÖLL
IM DRAHTKORB
Das Gebäude „konnte sich einfach
keine Rückseite erlauben“, sagt
Jeroen Hoorn über seinen Entwurf
für einen neuen Schnellimbiss im
Zentrum von Rotterdam. Der Autound Fußgängerverkehr der Autos
und Fußgänger umströmt ihn von
allen Seiten; nebenan liegen zudem
die U-Bahn und ein belebter Skater-Park. Hoorn entwarf „eine solide kleine Kiste, die ,hip‘ genug ist
für die Skater und gleichzeitig den
robusten Stil der umliegenden Bürogebäude aus den 70er Jahren widerspiegelt“. Der Bauherr hatte eine
Fassade aus Gabionen vorgeschlagen – eine Lösung, die er bereits aus
der Landschaftsarchitektur kannte
und die auch Herzog & de Meuron bei
ihrem Weingut im Napa Valley angewandt hatten. Gemeinsam mit den
Experten der Materialdatenbank
Materia suchte Hoorn nach einer geeigneten Füllung für die Drahtkörbe.
Seine Wahl fiel auf eine Mischung
aus asphaltfarbenem Kalkstein und
großen Glasbrocken, die die grobkör-
6
MUSEUM IM
HELDENBERG
nige Fassadenstruktur im Gegenlicht
noch eindrucksvoller erscheinen lassen. Wie ,Lichtaugen‘ durchbrechen
die Glaselemente die Außenwand
und streuen das Sonnenlicht in den
Innenraum. Die Klimahülle (und Insektenschutzbarriere: Gabionen sind
bevorzugte Nistplätze für Ungeziefer aller Art) besteht aus raumhohen
Glasscheiben mit Zedernholzrahmen
auf der Innenseite der Gabionen.
Nachts, so sagt Jeroen Hoorn, beginnt das Gebäude „wie ein Haufen
heißer Kohlen zu glühen“.
Sie stehen noch heute überall in Europa: Gedenkstätten, die den verblichenen Größen zerfallener Reiche
huldigen. Der österreichische Vertreter dieser Gattung ist der ,Heldenberg‘, eine Art Walhalla der
österreichischen Kaisertreuen, der
ab 1849 im niederösterreichischen
Kleinwetzdorf errichtet wurde.
Mit dem dreiflügeligen, tempelähnlichen Bauwerk hatten die Stadtväter für 2005 Großes vor: Unter dem
Titel ,Zeitreise Heldenberg‘ sollte eine
neue Ausstellung samt zugehörigem
Museum entstehen, die der Historie
des Orts huldigt. Den Architektenwettbewerb für das neue Museum
gewannen Peter Ebner und Franziska Ullmann aus Wien. Äußerlich
besticht ihr Bauwerk durch extreme
Zurückhaltung, ja es tritt überhaupt nur in Form eines auskragenden, langgestreckten Eingangsbauwerks aus Sichtbeton und Glas in
Erscheinung. Der weitaus größte Teil
der Ausstellungsflächen liegt unterirdisch, auf einer Ebene mit der Gruft
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
der verblichenen Militärgrößen. Und
doch ist den Räumen nichts von dem
Pathos des Altbaus zu eigen: Ebner
und Ullmann entwarfen eine vielfach
gefaltete Innenraumlandschaft ganz
in Weiß, in der trotz ihrer Lage im Untergrund das Tageslicht eine Hauptrolle spielt. Stets fällt es indirekt
durch Dachaufbauten, die die Oberfläche des Hügels durchstoßen, teils
mittig in den Raum und teils als Streiflicht entlang der Außenwände. Das
Licht geleitet den Besucher durch das
Museum; im Zusammenspiel mit der
ständig sich ändernden Raumhöhe
und –breite definiert es Weg-Räume
und Ort-Räume, also Zonen der Bewegung und des Verweilens. Bewusst
verzichteten Ebner und Ullmann auf
eine Unterteilung des Museums in unterschiedliche Kabinette. Sie gliedern
den Ausstellungsrundgang lediglich
durch subtile Faltungen der Decken,
Wände und teilweise des Bodens, die
während des Entwurfsprozesses an
zahllosen Arbeitsmodellen erprobt
wurden.
„Der Visconti-Hof darf nicht verdeckt werden!“ begründen Mario
Bellini und Rudy Ricciotti ihren Siegerentwurf im Wettbewerb um das
neue Museum für islamische Kunst
in Paris. Es wird im Visconti-Hof im
Südflügel des Louvre entstehen, der
mit seinen klassizistischen Sandsteinfassaden als einer der schönsten
Innenhöfe im gesamten Komplex gilt.
Um sein Ambiente nicht zu zerstören, schlagen die Architekten vor, das
gesamte Raumprogramm des neuen
Museums auf zwei Untergeschosse
zu verteilen. Zum darüber liegenden Visconti-Hof wird der visuelle
Kontakt durch Deckendurchbrüche
hergestellt. Überdeckt werden die
Ausstellungsflächen mit einer leichten Dachkonstruktion, die von nur
vier filigranen Stahlstützen getragen
wird. Das 80 Zentimeter hohe Raumtragwerk des Daches wird beidseitig
mit einem Verbundwerkstoff verkleidet, dessen Oberfläche mit Tausenden kleiner Glaslinsen bestückt ist.
Dieser ,Schleier’ schützt den darun-
FOTO VON ROLAND HALBE
FOTO VON RUDY RICIOTTI ARCHITECTES/STUDIO MARIO BELLINI
EIN SCHLEIER
FÜR DEN LOUVRE
CAMERA OBSCURA
ter liegenden Raum nicht nur vor der
Witterung, er filtert auch das Licht
und bricht es in seine Spektralfarben.
Dadurch wird der Ausstellungsraum
stets in ein diffuses und farblich intensives Licht getaucht, was nicht
nur der Behaglichkeit der Besucher,
sondern auch der Konservation der
Exponate zu Gute kommen und die
Künste des Islam stilvoll ins rechte
Licht rücken soll.
Das Wort ,Cámara’ bedeutet auf
spanisch nicht nur ,Kammer’ oder
,Zimmer’, sondern auch ,Fotoapparat’. Aus dieser linguistischen und
semantischen Verwandtschaft heraus erklärt Rafael de la Hoz seinen
Entwurf für die neue Handelskammer der Region Madrid. Die ,Cámara
de Comercio’ liegt auf einem schmalen Grundstück zwischen einer Ausfallstraße und der Autobahn; seitlich
schließt sich eine Grünanlage an. Alle
drei macht de la Hoz für den Besucher sichtbar, indem er das Gebäude
– oder, in seiner Terminologie: die ,Kamera’ – über drei mehrgeschossige
Glasfassaden nach außen öffnet. Zusätzlich fällt über ein Glasdach, das
durch einen gewaltigen Trägerrost
aus Stahlbeton getragen wird, Tageslicht auch ins zentrale Atrium.
Hinter jeder der drei ,Linsen’ seiner
Kamera platziert de la Hoz ein Objekt als ,Raum im Raum’: Im Westen,
zur Autobahn hin, durchstößt ein geschlossener Metallkubus die Glasfassade. Im Süden, Richtung Park,
ragt ein Glaskubus nach außen vor.
Die eindrucksvollste Raumkomposition gelang dem Architekten jedoch
im Osten: Ein Kubus aus Naturstein
scheint wie von Geisterhand getragen im viergeschossigen Foyer zu
schweben. Lediglich über eine schmale Brücke ist er vom Zentrum des
Gebäudes aus zugänglich. Die Konstruktion wurde komplett vom Betontragwerk des Daches abgehängt;
sie wirkt massiv, besteht jedoch aus
einem Stahlskelett, das mit dünnen
Alabasterscheiben verkleidet wurde.
Im Inneren des Kubus herrscht tagsüber ein kontrastarmes Dämmerlicht, in dem die Struktur des Steins
gut zur Geltung kommt. Nachts kehrt
sich der Eindruck um: Aus dem eben
noch grauen, unscheinbaren Natursteinkubus wird unvermittelt ein
überdimensionaler Leuchtkörper,
der durch die Glasfassade weit in
die Landschaft hinaus strahlt.
7
Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:
Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.
FOTO VON GIOVANNI ANTICO
MENSCH UND
ARCHITEKTUR
1
ARCHITEKTUR
UND WEBKUNST
8
Oben Die Tatami-Matte ist
der wichtigste Einrichtungsgegenstand im traditionellen
japanischen Wohnhaus und
repräsentiert zugleich die wichtigste Maßeinheit in der altjapanischen Architektur. Ihre Länge
(ken) variiert je nach Region zwischen 170 und 191 Zentimetern .
Text von Peter Blundell Jones.
In seinem Buch ,Die vier Elemente der Architektur’
identifiziert Gottfried Semper die Webkunst als eine
der Grundlagen der Architektur. Bis heute hat das
Weben (lateinisch texere) seine Bedeutung im Bauwesen erhalten – und sei es nur im metaphorischen
Sinne, wie Peter Blundell Jones in seinem Beitrag
schreibt. Er untersucht Mythos und Praxis des
Webens in der menschlichen Kultur und geht der
Faszination nach, die gewobene Oberflächen bis
heute auf den Menschen ausüben.
Schon im Entwurf seiner Theorie der vier Elemente in der
Architektur zeigte sich Gottfried Semper von der Polychromie und den farbenprächtigen Ornamenten antiker Bauwerke
beeindruckt. So widersprach er der weit verbreiteten These,
der Ursprung der Architektur sei in der reinen Konstruktion,
insbesondere im Mauerwerk zu finden. Intellektueller Hintergrund war die Debatte über die klassische Antike und deren
mutmaßliche Ursprünge im alten Ägypten und Assyrien, teilweise auch mit chinesischen Einflüssen. Wissenschaften wie
Archäologie und Anthropologie waren damals noch Neuland,
die Mutmaßungen zu frühgeschichtlichen Ursprüngen somit
reine Spekulation. Für Semper war die Feuerstelle Ausgangspunkt und somit erstes Grundelement des häuslichen Lebens.
Zweites und drittes Element waren Boden und Dach: Während Lehm oder Mauerwerk als Basis des ersteren dienten, bildeten Zimmerarbeiten die Grundlage für zweiteres. Hieraus
resultierte das vierte Element, dem er die größte Bedeutung
beimaß: der Einfassung durch den Wandbereiter unter Rückgriff auf die Webkunst. Laut Semper sind Begrenzungsmauern
ursprünglich auf ein Hindernis oder einen Teppich zurückzuführen und sollten daher diesem Ursprung als Bekleidung
in würdiger Weise gerecht werden. Seine Sichtweise war nicht
nur bahnbrechend für das Wiederaufleben farbiger Ornamentik, sondern erhob diese geradezu zur moralischen Pflicht; so
regte er an, sich bei der Findung dekorativer Bezeichnungen
von der Webkunst inspirieren zu lassen. Semper arbeitete zu
einer Zeit, in der – um Ruskin zu zitieren – „die Ornamentik wichtigster Teil der Architektur war“. Bezeichnenderweise
wurde Sempers Theorie im Postmodernismus aufgegriffen, als
man erneut nach einer Begründung für aufwändige Verzierungstechniken suchte und das Interesse an altertümlichen
Bauweisen erneut aufflammte.
Sempers Plädoyer für die Verkleidung ist heutzutage kaum
noch nachvollziehbar. Sicherlich würde er auch derzeit noch
weltweit Beweise für seine Theorie finden, so zum Beispiel Zelte
oder Behausungen wie die Maloca der Tukano im Regenwald
des Amazonasgebietes, deren Rohholzrahmen mit Flechtgrasmatten verkleidet sind. Andererseits dient bei vielen Lehm- und
Ziegelhäusern das Erdreich als primäres Mittel zur Errichtung
dicker und solider Wände; in einigen Fällen wird mittels Wölbung der Wände sogar ein Dach geformt. Auch die Vorliebe
der Neugotik für ausladende Torbögen findet sich oftmals
wieder; bestes Beispiel hierfür ist die bekannte Behauptung
Louis Kahns, dass der Ziegel Bogen sein wolle.
Die primäre Bedeutung der Verkleidung scheint sich insbesondere in der ostasiatischen Architektur zu offenbaren: In
China, Japan und Korea bestehen die Hauswände traditionell
aus einer Art Bekleidung, die nach Errichtung der Grundstruktur in diversen Schichten aufgetragen werden kann. Bei
genauerem Hinsehen hingegen ist die Verkleidung keinesfalls primäres Element: Die Primärkonstruktion besteht aus
Zimmerwerk und Dachgebälk. Die schichtweise ineinandergreifenden Verbindungen der komplexen Holzdachstruktur
bestimmen sowohl die äußere Rundform als auch die sorgfältig ausgearbeiteten Kanten (Abb. 3). Hier ist eindeutig der
Zimmermann federführend, er genießt weitaus größeres Ansehen als der Maurer, der nur die Basis der Gebäude schafft. Das
Bauwerk steht frei und offen auf seinen Säulen, bevor Trennund Außenwände eingesetzt werden; die Verkleidung ist daher
sekundär. Zwischen der Wandverkleidung und der soliden
Mauer aus Lehm oder Ziegeln ist streng zu unterscheiden. Letztere wird in China und Korea als äußere Begrenzungsmauer
des Grundbesitzes benutzt. Ihre starke und solide Bauweise
bietet Schutz vor Fremden und ansteckenden Krankheiten,
während die eigentliche Gebäudewand – manchmal nicht
mehr als ein Papierschirm – lediglich als Filter zwischen Haus
und Hof oder Garten dient. Das heiße und feuchte Sommerklima erfordert eine stetige Belüftung; gleichzeitig aber bringt
die Schichtung von Wandschirmen und Scheiben eine diskrete räumliche Trennung mit starker sozialer und ästhetischer
Komponente mit sich. Jüngste Beispiele aus Japan belegen,
dass diese Tradition vielerorts unvermindert vorherrscht. Bei
der traditionellen japanischen Hausplanung steht die tatamiMatte (Abb. 1) im Mittelpunkt, eine archetypische Webdecke von der Größe eines Bettes, welche die zentrale Stelle im
Haus einnimmt. Die papierverkleideten Gleitschirme oder
shoji als vertikales Gegenstück hierzu erscheinen wie Webstoff, insbesondere wegen ihrer geometrischen Rastermuster
und modularen Rahmen. Tief in der japanischen Architektur verwurzelt sind auch Bambuszäune. Ihre teils überaus feinen Details belegen die Behauptung Sempers, die Logik der
Technik verleihe der Form ihre Identität.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
9
2
FOTO VON YOSHIO KOMATSU
Die Sagopalme ist das wichtigste Material in der traditionellen
Wohnarchitektur Papua-Neuguineas. Die tragenden Pfosten
werden aus den Stämmen der
Palme hergestellt, die Dächer
und Wandausfachungen aus den
Blättern und der Boden aus der
Rinde der Bäume.
die ursprünge der webkunst
Die Kenntnis moderner Anthropologie hätte Sempers Überzeugung einerseits widerlegt, andererseits bestärkt. Die Feuerstelle, in nördlichen Gefilden nach wie vor von großer
Wichtigkeit, spielt in wärmeren Klimazonen eine deutlich
geringere Rolle. EineAusnahme bildet die Kultur der australischen Ureinwohner, in der sowohl das Feuer wie auch die
Webkunst (in Form halbrunder Hütten aus Astwerk) eine zentrale Rolle spielen. Die Artefakte und Fertigkeiten der Australier lassen auf Webarten schließen, die vermutlich lange vor
Erfindung des Webstuhls existierten, da Jäger und Sammler
Schnüre benötigten. Sie benutzten sie, um Dinge zu verknüpfen, Schmuck und Kleidung zusammenzuhalten und sogar zur
Herstellung zeremonieller Gegenstände. Lange bevor Schafe
domestiziert, in Herden gehalten und geschoren wurden, wurden solche Schnüre aus Menschenhaar hergestellt. Australische Ureinwohner fertigten sogar Schuhe aus Flechtgras. Die
Knotenkunst reicht weit in die Geschichte der Menschheit
zurück und ist vermutlich weitaus älter als der zehntausend
Jahre alte Landwirtschaftsbau; sie findet ihren Ursprung vor
rund 100.000 Jahren, als auch die Sprache erfunden wurde.
Hierfür waren räumliches Verständnis sowie eine gewisse
Fingerfertigkeit vonnöten, mögen wir unsere Schnürsenkel
heute auch in einem automatisierten Bewegungsablauf binden. Die verwobenen Muster keltischer Kunst mit ihren überund untereinanderliegenden Linien sind vermutlich an frühe
Sticktechniken angelehnt; die in späteren Zeitaltern kunstvoll angelegten Blumengärten haben ihren Ursprung in türkischen Teppichen. All dies beweist, dass Semper durchaus
wichtige Erkenntnisse gewonnen hatte.
Ohne Zweifel hätte er einige der bald aufkommenden bildreichen Sagen um den Webstuhl zu schätzen gewusst. In ‚Conversations with Ogotemmeli‘, Marcel Griaules berühmtem
Buch über die Dogon, spielt die Weberei eine besondere Rolle.
Ihrer Auffassung nach stand die Weberei den Männern zu,
während die Spinnerei Aufgabe der Frauen war. Die abwechselnd schwarzen und weißen Rechtecke eines Webteppiches
sollen, so wird vermutet, eine von oben betrachtete in Feldern
angelegte Ackerbaulandschaft symbolisieren. Somit reflektiert
diese Webtechnik das Grundmuster des landwirtschaftlichen
Anbaus mit Hilfe des Pfluges als Grundlage für jede Siedler-
gemeinschaft; dieser verlieh der natürlichen Topographie erstmals eine künstliche Geometrie und wurde somit zu einem
der wichtigsten Symbole der Zivilisation. Ähnlich wie beim
Pflügen bilden Kett- und Schussfaden einen rechten Winkel.
Die Verflechtung von Kett- und Schussfaden versinnbild-licht
die eheliche Verbindung, das Zusammenkommen von Mann
und Frau, wobei die unterschiedlichen Webtechniken verschiedene Aspekte der ursprünglichen Dogon-Mythologie widerspiegeln. Die aus Lehm gebauten Familienhäuser der Dogon
zeigen auf den Fronten ein Raster aus Nischen zum Andenken an die Vorfahren (Abb. 4); das ideale Haus sollte zehn
Reihen mit je acht Nischen aufweisen, die den Stammbaum
der Familie zurück bis zum ersten Ehepaar repräsentieren.
Dem gewebten Teppich kommt als Leichentuch seine größte
Bedeutung zu, denn wenn der Leichnam darauf gebettet wird,
„ist er Symbol für das Leben und die Auferstehung. Der Verstorbene wird wie ein Fötus im Mutterleib kurzzeitig darin
eingewickelt, um erneut in das Netz der Lebenden und der
sprießenden Felder Einkehr zu finden.“ 1
In vorwiegend mündlich überlieferten Kulturen wie derjenigen der Dogon gehörte die Erfindung des Webstuhls neben
der Töpferkunst und der Eisenbearbeitung zu den wichtigsten
technischen Errungenschaften. Mit diesen Techniken wurden nicht nur die essenziellen Artefakte der menschlichen
Kultur hergestellt, sie übten vielmehr auch eine gewisse Magie
aus: Grober Faserstoff wurde mit Hilfe praktischer Geometrie in ein schönes Stoff tuch umgewandelt. Die Techniken
mythischen Ursprungs mussten weitergegeben und mündlich
überliefert werden, ihr hoher Symbolwert ist daher kaum verwunderlich. So ist der Webstuhl zum Beispiel für die Kabylen
in Algerien ein Kultursymbol und die Weberei hauptsächlich Frauensache. In seiner bekannten Strukturanalyse eines
typischen Kabylen-Hauses bezeichnet Pierre Bourdieu den
Webstuhl als erstes Zeichen der Kultur. Nach ihm ist die
rückwärtige Hausmauer, die Webermauer, benannt; da dieser
sich jedoch im Hausinneren und somit im überwiegend weiblichen Bereich befindet, ist er den Frauen zuzuordnen. Überwiegend in der dunklen Jahreszeit genutzt, gehört er im Sinne
Bourdieu’scher Gegensätze zur dunklen, feuchten und weiblichen Seite. Die Bedeutung des Webstuhls für die Kabylen ist
vor dem Hintergrund ihres Frauenbildes und der Beschützer-
10
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Ganz unten Fassade eines Wohnhauses der Dogon. Ebenso wie
die Verflechtung von Kett- und
Schussfäden im Glauben der
Dogon die eheliche Verbindung
von Mann und Frau versinnbildlicht, repräsentieren die Nischen
neben dem Eingang den Stammbaum der Familie.
Rechts Wandfüllung eines Fachwerkhauses. Auch sie wird als
grobe Flechtwerk aus Zweigen
hergestellt, verschwindet jedoch
später hinter einer dicken Schicht
Lehm, Stroh und Verputz.
FOTO VON PETER BLUNDELL JONES
Unten (oberes Bild) Das Gebälk
eines altkoreanischen Tempels
zeigt die hohe Kunst der Holzbearbeitung in den alten, ostasiatischen Kulturen. Skelettbauten
wie dieser waren die Grundlage für die Entwicklung leichter, oftmals durchbrochener oder
geflochtener, Außenwandverkleidungen.
5
FOTO VON JOSEF F. STUETER
FOTO VON PETER BLUNDELL JONES
und hinten, nach links und rechts oder nach oben und unten
zurückzuführen sei.3 Dieser vorkartesianische Ansatz ist nicht
nur erster Beleg für die drei Dimensionen der Architektur,
sondern legt auch den Grundstein für die Choreografie, die
Koordinierung menschlicher Bewegungen unter Berücksichtigung von Raum und Zeit.
3
4
rolle des Mannes zu sehen: „Er befindet sich vor der Webermauer mit Blickrichtung zur Tür, wo die junge Braut Platz
nimmt… Wenn man weiß, dass das Mädchen zur Bewahrung
seiner Jungfräulichkeit in Richtung Webermauer durch den
Kettfaden treten muss, offenbart sich die magische Schutzfunktion… Für ihren zukünftigen Bräutigam spiegelt sich
das gesamte Leben der Braut in den Positionen wider, die sie
symbolisch gegenüber dem Webstuhl – als Sinnbild für den
männlichen Schutz – einnimmt.“2 Das Durchschreiten des
Webstuhls im Sinne einer symbolischen Schwelle gewinnt
vor allem angesichts der Theorie Bourdieus an Bedeutung,
dass die Geometrie körperlichen Ursprungs und somit auf
die primären menschlichen Bewegungsabläufe nach vorne
die spielregeln
Der Begriff ,Produkt’, der heutzutage häufig missbräuchlich verwendet wird, bezeichnete ursprünglich einen Gegenstand, der
,produziert’ werden musste. Die von einem Webteppich oder
Flechtkorb ausgehende Faszination mag auf deren sichtbar angelegte Konstruktion zurückzuführen sein. In seiner Anordnung
der Materialien zeigt er nicht nur eine bestimmte Geometrie,
sondern ermöglicht unterschiedliche Materialschichten, Farbwechsel usw. Variationen bei der Herstellung bieten dem Weber
ornamentale Möglichkeiten, die zunächst willkürlich anmuten
mögen, aber gewissen Spielregeln folgen müssen. So finden die
Muster traditionell handgefertigter Teppiche ihre Grenzen in
Fadenstärke, Stichart und einer begrenzten Auswahl an Farbstoffen. William Morris erkannte dies, als er versuchte, neben
anderen Handwerken auch die Webkunst wieder aufleben zu lassen. Seiner Auffassung nach solle der Weber ‚Weberblumen’ und
keine ‚Malerblumen’ schaffen, da das Produkt stets dem Material
und der angewandten Technik gerecht werden müsse:
„Füge nichts hinzu und schaffe nur das, was mit der Webkunst erreicht werden kann; das Werk möge in der Silhouette nach eigenem Gutdünken so fein wie möglich erscheinen,
sollte aber einfach gefertigt sein. Mit dem Weberschiff lassen
sich nicht beliebige Linien zeichnen, sondern vielmehr feine
rechtwinklige Mosaikmuster bilden. Sofern der Künstler dies
verinnerlicht und das Material nicht in unbefahrbare Wege
zwingt, dürfte er der Bearbeitung von Webstoffen den größten Reiz abgewinnen.“4 In derselben Schrift spielt er auf eine
persönliche Erfahrung an:
„ ... noch möchte ich die Fertigkeit des Webers als stumpfsinnige Tätigkeit abtun, da er wirklich wertvolle Arbeit leistet: Von Tag zu Tag sieht er das Gewirk auf nahezu magische
Weise wachsen und kann den Zeitpunkt erahnen, wenn es aus
dem Rahmen genommen wird und seine wohldurchdachte
Schönheit von der richtigen Seite offenbart.“
11
Marcel Griaule, Conversations with Ogotemmeli, Oxford University Press 1966, S. 79 (franz. Original: Dieu d’eau, entretiens
avec Ogotemmeli)
2 Pierre Bourdieu, Das Kabylenhaus oder Die verkehrte Welt, in
seinem Buch Algeria 1960, S. 137.
3 Pierre Bourdieu, Der Körper als Geometer, in seinem Buch
Abriss einer praktischen Theorie, Cambridge University Press
1976.
4 William Morris, Zur Webkunst, aus Die geringeren Künste des
Lebens, 1882, zitiert in Christine Poulson (Hrsg.), William Morris on Art and Design, Sheffield Academic Press 1996, S. 79.
.
1
webkunst in der architektur
Abgesehen von der Herstellung von Stoffen für Bekleidungsartikel, Betten und Mobiliar findet sich die Webkunst in der traditionellen ländlichen Architektur in dreierlei Form wieder: bei
der Schaffung von Hürden und Zäunen, in der Verwendung
ähnlicher Techniken zur Füllung von Holzrahmen und bei
der Errichtung von Strohdächern. Alte zusammengebundene
Bretterzäune, die man heute nur noch in Freilichtmuseen sieht,
zeugen insbesondere im Vergleich zu modernen Betonpfosten
und Stacheldrähten von gewissem Charme; für ihre Herstellung war eine genaue Kenntnis von Art und Alter des verwendeten Holzes erforderlich. Die Wandfüllung eines Fachwerkbaus
(Abb. 5), aus überkreuzenden horizontalen und vertikalen Elementen gefertigt, gewann ihre Stärke aus der Spannung der
miteinander verbundenen Materialien, war jedoch anschließend durch den beidseitig angebrachten Verputz nicht weiter
erkennbar. Die Webstruktur eines Strohdachs zeigt sich am
besten rund um den First und an den Kanten, wo das Material
besonders fest eingebunden werden und wetterfest sein muss.
Die hierzu verwendeten Sicherungsschnüre sind oftmals sichtbar und fügen sich in die Ornamentik ein; durch die Feinbearbeitung der Formen wird dem Strohdach – ähnlich einem
Haarschnitt – eine besondere Qualität verliehen.
Angesichts des heutzutage allgemein nachlassenden Interesses an echter Handwerkskunst findet sich die Weberei im
strikten Sinne in der modernen Architektur weitaus seltener
wieder. Hier und da wird Korbgeflecht verwendet, wie jüngst
bei den Balkonen eines Seminargebäudes von Lederer Ragnarsdóttir Oei in Stuttgart-Hohenheim; Widerstandsfähigkeit und Robustheit trotz ihrer Leichtigkeit stellt das Geflecht
nach wie vor bei Körben von Heißluftballons unter Beweis.
Eher jedoch als in der Realität findet sich die Webtechnik
in grundlegenden Ideen wieder. Während Wagner und Loos
die traditionelle Verkleidung im Sinne Sempers fortführten,
nahm Frank Lloyd Wright häufig Bezug auf Kette und Schuss
als Basis einer Planungsgeometrie, die verschiedene Materialien organisiert und einbindet. Die Architekten des Teams
Ten, vor allem Josic Candilis und Woods, kreierten eine ganze
Serie von Werken auf matten- oder tartanähnlichen Rasterplänen. Alvar Aalto kehrte beim Bau seiner Villa Mairea im
Jahr 1937 zu geknüpften und geflochtenen Materialien aus
Pflanzen zurück und schuf eine Reihe von Holzrasterstrukturen, insbesondere für raumbegrenzende Hängedecken. Josef
Frank brillierte vor allem in seiner schwedischen Karriere nach
1934 durch sein Textildesign und verwendete Rattan und
Rohrstock für Möbel. Versteht man den Begriff der Weberei
weiter gefasst im Sinne perforierter oder durchlässiger Materialschichten wie bei den japanischen shoji oder dem verschleierten Gebälk der Fenster eines arabischen Harems, finden sich
zahlreiche moderne Beispiele, einschließlich der von Egon
Eiermann entwickelten mehrschichtige Fassaden, die in den
Gebäuden Günter Behnischs noch verfeinert wurden. Einige
dieser Schichten sind sichtbar, andere umgebungsbezogen. Es
ist bereits eine Binsenweisheit, das Äußere eines Gebäudes
mit Kleidung zu vergleichen: ein wasserabweisender Regenmantel, ein wärmender Pullover usw.. Perforierte Metallraster
und –flächen, die einen visuellen Webeffekt vermitteln, ohne
gewebt zu sein, wurden in den letzten Jahren vielfach eingesetzt, insbesondere von Jean Nouvel. Herzog und de Meuron
gingen noch weiter und schufen Fassaden in überdimensionaler Nachbildung hürdenähnlicher Form. Bekanntes Beispiel
hierfür ist ihr Stellwerk Auf dem Wolf von 1988-95 (Abb. 7);
allerdings war dies nur ein Thema unter vielen in ihren Werken zur Neudefinition des Fassadencharakters unter bewusster
Einbeziehung der Wirkung bestimmter Materialien. Kabelnetze und Gittergerüste, erstmals propagiert von Frei Otto in
dem von ihm gegründeten Institut für Leichte Flächentragwerke (Abb. 8), ähneln einem Webstoff insofern, als sie nach
dem Ketten-Schuss-Prinzip gefertigt und flexibel sind und
von den Spannungskräften vorgegebene Formen aufweisen.
Vor allem Kabelnetze erinnern an Spinnweben und führen
uns vor Augen, dass die Spinne zwar der kleinste Weber in der
Natur sein mag, aber dennoch ein hoch kompliziertes Gebilde
von besonderer Schönheit produzieren kann und dabei eine
Art Balletttanz vollführt.
12
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Peter Blundell Jones ist Professor für Architekturtheorie und -geschichte
an der Universität von Sheffield. Er ist Autor zahlreicher Bücher, insbesondere über den deutschen Expressionismus, die skandinavische Moderne und
die so genannte ‚Grazer Schule‘. Peter Blundell Jones ist Mitglied der internationalen Organisation der Architekturkritiker CICA und des Professional
Publications Committee der RIBA sowie Redakteur der britischen Architekturzeitschrift Architectural Research Quarterly.
Ganz unten links Bei ihrem Stellwerk in Basel (fertiggestellt
1998) interpretieren Herzog &
de Meuron das Thema des Flechtens in freier Manier. Der asymmetrische Baukörper ist mit
Kupferbändern umwickelt, die
sich im Bereich der Fenster in die
Horizontale drehen, um Licht ins
Innere des Gebäudes zu lassen.
Die direkte Sonneneinstrahlung
wird durch die Lamellen jedoch
ausgeblendet.
Ganz unten rechts An Spinnweben und anderen natürlichen
Geweben orientierte sich Frei
Otto in seinen Entwürfen. Am
Olympiadach in München (19681972 mit Günter Behnisch) ist
die Struktur aus kreuzweise miteinander verbundenen Einzelseilen besonders gut ablesbar.
FOTO VON WERNER HUTHMACHER
Unten Edelstahlgewebe gehört zu
den wiederkehrenden Texturen im
Werk von Dominique Perrault. Das
Velodrom in Berlin ist fast vollständig damit verkleidet. Lediglich eine
knapp über mannshohe Glasfassade
trennt die scheinbar schwebende,
silbrige Scheibe vom Erdboden.
FOTO VON JAIME TAUTIVA
7
FOTO VON JAKOB SCHOOF
6
8
13
TEXTUREN
MEGALITHKREIS
IN DER WÜSTE
Kongresszentrum ‚MAGMA’, Teneriffa
14
Text von Jakob Schoof.
Fotos von Torben Eskerod.
Am südlichsten Rand Europas, inmitten der
Urlaubsregion an Teneriffas Südostküste,
hat Fernando Martin Menis vom spanischen
Architekturbüro AMP ein Kongresszentrum
von geradezu archaischer Monumentalität
geschaffen. Mit Geduld und Ideenreichtum
rang Menis den beiden Oberflächenmaterialien des Neubaus – Sichtbeton und Faserzementplatten – einen Reichtum an Formen
und Texturen ab, die weithin ihresgleichen
suchen.
15
16
Der Südosten der Insel Teneriffa ist unfruchtbares Land; eine Halbwüste im Windschatten des Vulkans Teide, mit 3718 Metern des
höchsten Gipfels auf spanischem Territorium, die auch in ihrer spärlichen Vegetation
eher die Nähe zu Nordafrika erahnen lässt als
zum fernen spanischen Mutterland. Wäre
nicht der florierende Tourismus, es gäbe
wenig Anlass, hier größere menschliche
Ansiedlungen zu vermuten – geschweige
denn eines der wichtigsten öffentlichen
Gebäude, die in den letzten Jahrzehnten
auf der Insel errichtet wurden. Das insgesamt 30 Millionen Euro teure Projekt
MAGMA war zunächst als reines Tagungszentrum geplant, wurde jedoch während der
Planungsphase auch für den Theater- und
Konzertbetrieb ausgelegt. Ein komplettes
Bühnenhaus kam hinzu. Künftig sollen im
Haus regelmäßig Konzerte des Orquestra
Sinfonica de Tenerife stattfinden, das bislang meist in dem 2003 eröffneten, von Santiago Calatrava geplanten Auditorium der
Inselhauptstadt Santa Cruz aufspielt.
Nicht zuletzt seine verkehrsgünstige
Lage soll MAGMA zu einem Kristallisationspunkt für die weitere wirtschaftliche und
kulturelle Entwicklung von Süd-Teneriffa
machen: Unmittelbar hinter dem Gebäude
führt die Autobahn Richtung Santa Cruz
vorbei. Der Bauplatz wurde teilweise aus
dem Hang abgegraben; Richtung Meer bildet er eine erhöhte Plattform, zu der mehrere Rampen hinauf führen.
Das oberhalb des Ortes Adeje gelegene
Kongresszentrum tritt auf den ersten Blick
als eigenartige Mischung aus international geprägtem Expressionismus und jener
zeitlosen, steinernen Schwere in Erscheinung, welche gerade die jüngere spanische
Architektur wieder für sich entdeckt hat.
Fernando Menis ist sich dieser Doppeldeutigkeit seines Entwurfs durchaus bewusst.
Er schreibt: „Aus der Ferne präsentiert sich
das Gebäude als arrogante Konstruktion [!]
mit expressiven, starken Formen, während
es aus der Nähe betrachtet mit der Umgebung verschmilzt und ein Teil von ihr wird.“
In dem Bestreben, den ungewöhnlichen Neubau von Adeje in eine allgemein
gebräuchliche Stilkategorie zu stecken,
haben Kritiker diesen bereits mit der Architektur Frank Gehrys verglichen. Wie der Kalifornier in seinen besten Bauten, so spielt
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Seite 14-15 Niedrige, breite Rampen führen aus dem Ort Adeje
hinauf auf den Vorplatz des Kongresszentrums. Hinter der Brüstung zeichnen sich rechts
bereits die Konturen des flach
geduckten Neubaus ab..
Links Die beiden Oberflächenmaterialien von MAGMA sind
Sichtbeton und Faserzementschindeln. Die Stirnseiten der
Betonwände wurden mit dem
Presslufthammer bearbeitet, um
sie wie verwittertes Eruptivgestein wirken zu lassen.
Oben Gesamtansicht des Gebäudekomplexes vom Bergabhang
oberhalb des Ortes aus. Sichtbar
wird hier der Wechsel zwischen
den wuchtigen Betonkernen und
den wellenartig über sie hinweg
gleitenden Faserzementdächern.
17
Die obere Konferenzetage lässt
sich mittels verfahrbarer Trennwände in maximal 26 kleinere
Räume unterteilen. Meist bleibt
sie jedoch offen und macht dann
– wie hier – das majestätisch
geschwungene Dach, das sich in
den Raumecken bis auf Fußbodenniveau herabsenkt, als Ganzes erlebbar.
18
19
Links Blick durch das Obergeschoss. Zur Beleuchtung dienen
in die Decke eingelassene Halogenspots und schmale Lichtschlitze im Dach, durch die
– stets auf indirektem Wege
– Tageslicht in den Innenraum
fällt.
Rechts Die Haupttreppe
ins Obergeschoss offenbart
Fernando Menis‘ bildhauerische
Qualitäten. Die Fassade des hinteren Büroriegels (rechts im
Bild) zeigt ein Patchwork aus
schalungsglatten und nachträglich gehämmerten Betonoberflächen.
auch Menis in seinem Entwurf mit der Spannung zwischen massiven Kuben und wellenförmig dahinschwingenden Dachelementen.
Indessen fehlt dem Kongresszentrum das
himmelwärts Strebende der Gehry-Bauten;
das Gebäude duckt sich flach in den Wüstensand und bleibt damit auf sympathische
Weise erdverbunden. Menis vergleicht die
massiven Betonkuben, die die Dächer tragen,
mit Blöcken aus magmatischem Ergussgestein; die Wellendächer selbst symbolisieren
für ihn „eine Flüssigkeit in Bewegung, die den
Raum in jeder Richtung umschließt“.
Tritt man näher an das Gebäude heran,
so zerfällt die unruhige Gesamtform in
Einzelelemente von beeindruckender Präsenz und spannungsreicher Haptik. Konsequent ließ Fernando Menis alle Betonteile so
bearbeiten, dass sie wie roh bearbeitete, aus
dem Steinbruch gehauene Blöcke wirken:
Während die Seitenflächen eine schräg verlaufende Bretterschalung erhielten, die an
die Arbeitsspuren einer gigantischen Säge
erinnert, wurden die Stirnseiten nachträglich mit dem Presslufthammer aufgeraut.
Als Dachkonstruktion dient Menis ein
gewaltiger Trägerrost aus Stahl mit abge-
20
hängten, 45 Zentimeter hohen Stahlträgern,
die die untere Deckenverkleidung tragen.
Berechnung und Fertigung der unregelmäßigen, doppelt gekrümmten Dachflächen erfolgte mit der Software CATIA, die
ursprünglich aus dem Flugzeugbau stammt
und bereits bei vielen biomorphen Baukonstruktionen der vergangenen Jahre ihre
Praxistauglichkeit bewiesen hat. Die Wellendächer sind innen- und außenseitig mit
flexiblen Faserzementplatten verkleidet, die
einander wie Schuppen überlappen. Selbst
an den Stirnkanten, an denen Unter- und
Oberseite des Dachs aneinander stoßen, verzichtete Menis auf jegliche Kantenbleche,
um die makellos raue, „steinerne“ Optik
des Bauwerks zu erhalten. Die Dachkanten
erhielten so eine sägezahnartige Struktur,
die gut zum Relief des behauenen Betons
passt. Im Gebäudeinneren sind Belüftung,
Elektroinstallation, Schalldämmung sowie
die Führungsschienen für die Schallschutztrennwände im Dachinnenraum verborgen.
Insgesamt zwölf, in etwa radial angeordnete Beton-Megalithen gliedern den
Gebäudegrundriss, tragen die Last der
Dächer und nehmen in ihrem Inneren Neben-
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
21
Ein wuchtiger, dreieckiger Balkon kragt aus dem Obergeschoss
in das Auditorium vor. Ebenso
wenig wie Gesteinslagen in der
Natur verlaufen die Schalungsmuster an den Wänden genau
waagerecht oder senkrecht;
immer dominiert die Diagonale.
Above The Tatami mat is the
most important item of soft furniture in the traditional Japanese residence and, at the
22
23
räume wie WCs, Fluchttreppen, Büros und
das Pressezentrum auf. Zwischen ihnen liegen die drei Zugänge zum Gebäude; selbst
diese sind flach und werden von wuchtigen
Balkonbrüstungen der Obergeschosse und
auskragenden Dachflächen beschattet. Der
Haupteingang führt vom Vorplatz ins Foyer
und in die linkerhand angrenzende, öffentliche Cafeteria, die MAGMA auch an Tagen
ohne Kongressbetrieb mit einem Minimum
an Leben erfüllen soll. Ein zweiter Zugang
führt von der Gebäuderückseite in den Verwaltungstrakt; ein dritter, der nur für Großveranstaltungen genutzt wird, direkt in das
Auditorium.
Wer das Innere von MAGMA betritt
und dabei das Bild herkömmlicher Konferenzzentren mit ihrer Serienbau-Ästhetik,
ihren modularen Stahl-Glas-Wänden und
endlosen Rasterdecken in Erinnerung hat,
kann eigentlich nur staunen über die Kunstfertigkeit, mit der Fernando Martin Menis
den höhlenartigen Großräumen des Bauwerks nicht nur Atmosphäre, sondern auch
eine Flexibilität verlieh, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht. Der
2350 m² große Mehrzwecksaal mit Bühne
24
im Erdgeschoss, in dem auch die Konzerte
stattfinden, kann in bis zu neun kleinere
Sitzungssäle unterteilt werden. Auch das
Obergeschoss ist entweder als ein 1865 m²
großer Sitzungssaal nutzbar oder in bis zu
26 kleinere Räume zu unterteilen. Garanten
für diesen erstaunlichen Grad an räumlicher
Variabilität sind schallgedämmte Schiebewände, die in den Nenbenraumzonen (Menis
bezeichnet sie als „Garderobenfelsen“)
geparkt werden.
In der Eingangshalle offenbart sich die
ganze archaische Wucht dieses Gebäudes,
sie ist flach und breit und relativ dunkel; riesenhafte Hohlkastenträger aus Stahlbeton
spannen quer durch die Halle, so niedrig, dass
man teilweise meint, sie mit der Hand greifen zu können. In die Träger ist die Belüftung
integriert, in die tief liegenden, schluchtengleichen Einschnitte zwischen ihnen die
Beleuchtung. Auch hier unterstrich Menis
die Masse des Betons, indem er die Unterseite der Betonträger schalungsrau beließ
und ihre Seitenflächen nachträglich mit
dem Presslufthammer bearbeiten ließ. Der
seitlich anschließende Hauptsaal mit seiner weitgespannten Decke nimmt die volle
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Ein Konferenzraum in einem der
Betonriegel. Mit den schmalen
‚grietas de luz‘ (Lichtschlitzen) in
ihren meterdicken Decken und
Außenwänden erzeugen sie
einige der eindrucksvollsten
Lichtstimmungen im ganzen
Gebäude.
Rechts Auch das große,
zweigeschossige Auditorium ist
durch Trennwände zu untergliedern – dunkle Fugen in Wänden
und Decke deuten es an. Letztere
wurde hier um einige Meter von
der eigentlichen Haupttragkonstruktion des Daches abgehängt.
Höhe des ansonsten zwei- bis viergeschossigen Bauwerks ein. Zahlreiche Nischen
und Alkoven machen nicht nur das Begehen des Gebäudes zu einer wahren Entdeckungsreise, sondern ermöglichen auch viele
unterschiedliche Nutzungsarten gleichzeitig – die Plenarsitzung und das Vier-AugenGespräch, den Frontalvortrag ebenso wie
das informelle Tete-à-tete. Statt stromlinienförmig jeder erdenklichen Nutzung zu folgen, inspiriert das Bauwerk seinerseits zu
Hunderten denkbarer Nutzungsarten. Seine
in sich ruhende, geradezu stoische Architektur ist robust genug, mit den unterschiedlichsten Anforderungen fertig zu werden,
und gleichzeitig ausdrucksstark genug, um
auch ohne diese als autonome Bauskulptur
zu bestehen.
Nach bester Bildhauermanier geht
Fernando Martin Menis in seinem Entwurf
auch mit dem Tageslicht um. In Süd-Teneriffa, wo Tageshöchsttemperaturen von 40
Grad im Sommer die Regel sind, verbietet
sich die großflächige, direkte Besonnung
von Innenräumen. Menis lenkt das Tageslicht stets indirekt in die Räume und dann
gezielt dorthin, wo es der Inszenierung der
Volumen und Oberflächen dient. Schmale
Schlitze in Wand und Dach (grietas de luz)
und punktförmige, regelrechte „Lichtlöcher“
(agujeros de luz) sind die häufigsten Tageslichtöffnungen in seinem Entwurf. Besonders dramatisch ist der Raumeindruck im
Pressezentrum im Obergeschoss, wo sich
Hohlkastenträger aus Beton mit bandförmigen Oberlichtern abwechseln. Nachts
ersetzen Halogenstrahler, die ebenfalls in
den Deckenfugen angebracht wurden, das
Tageslicht.
Die Analogie zur Skulptur prägt indessen nicht nur das Endergebnis, sondern auch
die Genese des Entwurfs: Die ersten Ideen zu
MAGMA nahmen an einem kaum schuhkartongroßen Plastilinmodell Gestalt an. Größere Modelle aus Plastilin und Schaumstoff
folgten, deren Maße später direkt in Konstruktionszeichnungen übertragen wurden.
Wie die Arbeit eines Bildhauers war auch
Menis’ Arbeitsrhythmus von der engen Verknüpfung zwischen Entwurf und Ausführung bestimmt: Die wenigsten Details lagen
bei Baubeginn bereits fest, vieles wurde erst
gezeichnet und noch mehr wurde verändert,
als der Bau schon am Entstehen war. Das
intensive Eintauchen des Architekten in den
Bauprozess ist bei einem Bauwerk mit der
geometrischen Komplexität und dem Variantenreichtum im Detail wie MAGMA vermutlich unabdingbar. Möglich war es nur,
weil Fernando Martin Menis über ein eingeschworenes Baustellenteam verfügte, das
ihm in die zahlreichen Verästelungen seines Entwurfs hinein nahezu bedingungslos folgte.
25
Links Farbe und Oberflächentexturen des Kongresszentrums
wandeln sich im Laufe der Tageszeiten. Die Dachüberstände sind
so berechnet, dass sie das Bauwerk bestmöglich vor der steilen
Mittagssonne schützen.
Rechts Detailansicht der Betonfassade. Dem Beton wurde
Gesteinsmehl aus der Region beigemischt, um ihn farblich an die
umliegenden Felsformationen
anzupassen.
26
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
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Längsschnitt
Querschnitt
Detailschnitt durch die
EIngangsfassade
Lageplan
Grundriss Erdgeschoss
Fakten
Gebäudetyp
Bauherr
Architekten
Standort
Fertigstellung
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Grundriss Obergeschoss
Kongresszentrum mit Konzertsaal, Cafeteria
und Büros
Canarias Congress Bureau Tenerife Sur S.A.
Artengo Menis Pastrana,
Santa Cruz de Tenerife
(Projektarchitekt: Fernando Martin Menis)
Costa Adeje, Tenerife
Herbst 2005
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Meine Heimat, die Kanarischen Inseln, hat meine Arbeit maßgeblich beeinflusst. Seine besondere geografischen Lage – weit entfernt von Europa und Amerika,
aber nahe bei Afrika – macht das Archipel zu einem herausragenden kulturellen und wirtschaftlichen Bindeglied zwischen den drei Kontinenten. Ihr vulkanischer
Ursprung und die vorherrschenden Lichtverhältnisse, Farben und Formen prägen den Charakter der vom Atlantik umgebenen Inseln.
Dieses einzigartige natürliche Umfeld nimmt seinerseits Einfluss
auf eine Architektur, die sich nicht dem Zeitgeist oder kurzfristigen
Trends unterwirft. In meinen Entwürfen, die diese Einzigartigkeit zumindest ein Stück weit einfangen sollen, analysiere ich die für einen
Baustandort charakteristischen Materialien. Ein Projekt teilweise vor
Ort zu entwerfen, hat den Vorteil, dass Muster im Maßstab 1:1 hergestellt werden können, an denen sich Farbnuancen ändern oder unbekannte Texturen bestimmter Materialien entdecken lassen.
Der Standort des zukünftigen Gebäudes wird so immer auch in das
Projekt einbezogen. Denn von der Umgebung hängt es ab, welche Materialien zum Einsatz kommen. Unabhängig davon, welchen Grundriss
der Bau hat, wie die Fassade aussehen wird oder welche Gebäudeaufteilung geplant ist, wähle ich für meine Architektur stets adäquate
Materialien aus, die nicht nur ästhetisch überzeugen, sondern auch
mit der Umgebung des Gebäudes harmonieren.
Das Kunst- und Kongresszentrum MAGMA Arte&Congresos auf Teneriffa beispielsweise bringt eine fließende Linienführung zum Ausdruck, die sich vom Boden über die Wände bis hin zum wellenförmigen
Dach fortsetzt, das über allem thront, und dem Gebäude einen in
sich geschlossenen Ausdruck verleiht. Das dominierende Material ist
Beton, da dieser gut mit dem Umland und der wüstenartigen Landschaft des Südens der Insel harmoniert. Um den Beton farblich noch
stärker an die Landschaft anzupassen, wurde sprödes, für diese Gegend typisches Gestein beigemischt, das aus nahe gelegenen Steinbrüchen stammt und für den Ockerton verantwortlich ist. Die äußere
Textur des Gebäudes ist eine Reminiszenz an die erodierende Landschaft des Südens; sie verleiht dem Gebäude zudem eine vom Tageslicht abhängige Dynamik. Das Licht unterstreicht somit außen
die Textur des Gebäudes. Im Innenraum kommt dem Licht dagegen
eine andere Aufgabe zu: In Kaskaden ergießt es sich über Boden und
Wände und lässt dabei ein abwechslungsreiches Spiel von Licht und
Schatten entstehen.
Fernando Menis
29
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REFLEKTIONEN
Neue Perspektiven:
Ideen abseits der Alltagsarchitektur.
FOTO (LINKS) AG HEYSER/UNI BREMEN. GEGENÜBER: PHOTOS 1, 3, 4 VON JAKOB SCHOOF, PHOTO 2 VON DR. UDO KÜPPERS
NATÜRLICHE OBERFLÄCHEN
Gegenüber Vier Beispiele äußerer natürlicher Oberflächen
von Organismen:
1. farbenprächtiges schuppenartiges Gefieder eines Fasans.
2. lichtdurchlässige Samenhülle des Blasenschötchens.
3. multifunktionale menschliche Haut.
4. hydrophobe Blattoberfläche des Frauenschuh.
32
Text von Udo Küppers.
Die Verpackungsbionik beschäftigt sich mit der Frage,
welche technischen Erfindungen sich aus natürlichen
Oberflächenstrukturen ableiten lassen. Schon in der
Vergangenheit hat dieser Zweig der Wissenschaft
große Fortschritte für das Bauwesen gebracht, zum
Beispiel den selbstreinigenden „Lotos-Effekt“ für
Farben und Putze, Metall- und Keramikoberflächen.
Doch die Bionik natürlicher Oberflächen hält noch
mehr Überraschungen für uns bereit, wie Dr. Udo
Küppers in seinem Beitrag erläutert.
Oberflächen sind Grenzflächen und als solche ein universelles Merkmal des Lebens. Man könnte auch sagen: Natürliche Oberflächen sind die Verpackungen des Lebens. Bereits
als kleinstes dünnes Häutchen von wenigen Millionstel Zentimeter Dicke leistet die Oberfläche einer Doppelschicht von
Fettstoffmolekülen mit zugehöriger Struktur Außerordentliches für die Energiegewinnung innerhalb eines Organismus.
Die Oberfläche der mehrere Dezimeter dicken Borkenschicht
eines Mammutbaums verteidigt den Organismus dagegen
unmittelbar und in vorderster Position gegen vielfältige
Wettereinflüsse, Feuer oder Tiere. Zwischen den kleinsten
und größten Grenzflächen des Lebens spannt sich ein unüberschaubarer Reichtum an hoch spezialisierten Oberflächen,
die die Evolution seit Jahrmillionen Schritt für Schritt verbessert. Im Inneren eines Organismus sind es zum Beispiel
spezialisierte Zellverbünde (Organe), die sich durch Grenzen ziehende Oberflächen voneinander unterscheiden, aber
miteinander kommunizieren. Gegenüber der Umwelt sind
es die äußeren umhüllenden Oberflächen, zum Beispiel die
menschliche Haut, die vielfältige multifunktionale Schutzaufgaben erfüllt. Es sind gerade diese äußeren Oberflächen,
die wir Menschen vorrangig wahrnehmen. Verteilt auf alle
Lebensbereiche unserer Erde erfüllen sie spezialisierte, für den
Organismus überlebenswichtige Aufgaben. Schönheit und
Funktionalität liegen bei natürlichen Oberflächen eng beieinander. Die Evolution hat es verstanden, beide Merkmale
perfekt zu vereinen.
Die Erkundung von Geheimnissen natürlichen Oberflächen ist unvollständig ohne einen Blick in die mikroskopische
Tiefe der Schichten. Gerade in den Dimensionen von Mikrometer und Nanometer zeigen sich erst die wahren Erfolgsstrategien natürlicher Organismen und zugehöriger anorganischer
Verbundmaterialien.
Der Katalysator zwischen den natürlichen Oberflächen,
die als Vorbilder für Oberflächen in Technik und Architektur
dienen können und den funktionalen, technisch und architektonisch anwendungsreifen Analogieprodukten, ist die Bionik. Sie ist eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin die sich
durch ihre Analogieforschung gut von anderen Disziplinen
unterscheidet:
1
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3
4
Bionik befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung
und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Prinzipien
biologischer Systeme.
Einer breiten interessierten Öffentlichkeit sind Produkte wie
eine schmutzabweisende Fassadenfarbe oder eine Spezialfolie zur Minderung des Oberflächen-Reibungswiderstandes
durch die Begriffe ,Lotus-Effekt‘ und ,Riblet-Effekt‘ bekannt.
Detaillierte Untersuchungen an natürlichen Oberflächen
des Lotusblattes und der Haihaut führten zu den bionischen
zukunftsweisenden Techniklösungen. Es sind nur zwei von
vielen herausragenden Ergebnissen bionischer Forschung und
Entwicklung, die uns nicht nur die überlegene Technik der
Natur deutlich vor Augen führt, sondern auch noch ganz
nebenbei eine Jahrzehnte alte Lehrbuchweisheit über technische Oberflächen ,über den Haufen‘ wirft. Die Natur weiß
das seit langem: nicht die noch so glatte, sondern die optimal
strukturierte Oberfläche ist die sauberste.
verpackungsbionik – entwicklungsmotor für zukunftsweisende technisch funktionale oberflächen
Noch weitaus mehr als wie die von Menschen gestalteten Verpackungslösungen erfüllen natürliche Verpackungen eine Querschnittsaufgabe zum Schutz und Transport, zur Lagerung und
Qualitätssicherung des verpackten Lebens. Wer natürliche
Oberflächen von Organismen untersucht, stößt damit unweigerlich auch auf deren ,Verpackungsgeheimnisse‘.
Die Verpackungsbionik hat sich inzwischen zu einem
eigenständigen wachsenden Zukunftsfeld innerhalb der Wissenschaftsdiziplin Bionik etabliert. Sie analysiert systematisch
die reichhaltige Formenvielfalt, die raffinierten Strukturverbünde und die systemisch ablaufenden Energie-, Material- und
Informationsprozessen natürlicher ,Verpackungen‘ und damit
auch natürlicher Oberflächen (Küppers 2006, 2004, 2003,
Küppers/Tributsch 2002).
Die folgenden Beispiele für zehn organismische Oberflächen und Organismen umhüllenden Oberflächen öffnen uns
nur ein kleines Fenster in die phantastische und hochgradig
effiziente Wunderwelt natürlicher Oberflächen:
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
33
FOTOS VON DR. UDO KÜPPERS, AUSSER NR 3, GETTY IMAGES
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1 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
Eisbär
schwarze Haut mit darüberliegendem
Pelz aus transparenten lichtleitenden
Haaren
Orientierung, Tarnung, Wärmegewinnung durch Totalreflektion
Transparente Wärmedämmung
(Bauelemente bereits verfügbar)
2 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
Edelweiß
weißer pelziger Belag
transparent, wärmeisolierend
Transparente Wärmedämmung
3 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Straußenküken
den Organismus umgebende Eischale
IR-Lichtreflektion, atmungsaktiv,
bakterienresistent, formoptimal
Formstabile, stützfreie und bruchfeste
Raumumhüllung mit integrierten
Versorgungsleitungen
Bionisches Lösungspotenzial
4 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
5 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
Macadamia
den Organismus umgebende Schale
aus Zellulose, bräunlich gefleckte,
kugelige Oberfläche
extrem bruchfest, vermutlich durch
speziell geformte Zellverbünde, optimales Oberflächen-Volumen-Verhältnis
schwingungsdämpfende Trägerelemente, bruchfeste Dachkonstruktionen
Haselnuss
den Organismus umgebende Schale
aus Zellulose, wellig, zylindrig-kugelige
Oberfläche
hoch bruchfest, integrierte NährstoffTransportröhrchen, perfekte Ausrichtung der Zellverbünde zum Schutz der
wachsenden Nuss
Formstabile stützfreie und bruchfeste
Raumumhüllung, bruchfeste Dachkonstruktionen
6 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
7 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
8 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
9 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
10 Organismus
Oberfläche
Funktionen
Bionisches Lösungspotenzial
34
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Mammutbaum
bräunlich gefärbte, faserige, weiche
und luftdurchflutete Borke,
sehr leicht, stark tanninhaltig dadurch
bakterienabweisend, hohe Wärmeisolationsfähigkeit, brandhemmend
Neue umweltverträgliche Isolationsmaterialien für den Baubereich, feuerabweisende, brandhemmende Verbundschichten, bakterienhemmende
Schutzfolie
Geraniengewächs
Wachshülle
lichtdurchlässig, Vermeidung von Verdunstung, abriebfest
ultraleichte tranparente Schutzhüllen,
z. B. von Solarzellen, Fassadenelemente
Speisezwiebel
Multischicht-Verbundfolien
optimales Oberflächen-VolumenVerhältnis, Temperaturregulator,
hochgradig pilzresistent, transparent,
wärmeisolierend, bakterienabweisend
ultradünne, temperaturausgleichende
Verbundschichten für aktive Regulation des Raumklimas, Anwendung für
stationäre und mobile Raumumhüllungen
Bläuling
linienorientierte Mikro-/Nanostruktur,
blau schimmernd
Farberzeugung ohne Farbstoff
Farbgebung beliebiger Art durch
physikalische Effekte ohne zusätzlichen Farbstoff zusatz
Knöterichgewächs
grün
spezielle raumsparende Faltungen,
Stabilität großer Flächen mit EinPunkt-Befestigung
Verpackung großen Flächen in
kleinstem Volumen, flexible, lichtsammelnde und zugleich Schatten spendende funktionale Schutzhülle
FOTO VON AG HEYSER, UNIVERSITY OF BREMEN
FOTO VON ART WOLFE /STONE/GETTY IMAGES
das straussenei – funktionale oberfläche mit schutz
für werdendes leben
Eier sind eine von vielen genialen Verpackungen der Natur,
in denen Leben geschützt vor äußeren Störeinflüssen heranwächst. Dieses Leben muss durch die mineralische Schale
von außen mit lebensnotwendigem Sauerstoff versorgt werden. Ausgeatmetes Kohlendioxid muss von innen nach außen
entweichen können. Umwelteinflüsse wie starke UV-Sonnenstrahlen müssen an der Schalenoberfläche reflektiert werden.
Ferner ist das Eindringen von Mikroorganismen durch die
Schalenstruktur für das heranwachsende Straußenleben zu
vermeiden. Schließlich muss die Schale mechanischen Stößen trotzen, also eine gewisse Bruchfestigkeit besitzen. Diese
Merkmale machen die Schale des Straußeneis zu einer perfekt
angepassten Verpackung im brütend heißen Lebensraum der
afrikanischen Wüsten.
Südafrikanische San (Buschmänner) leben seit mehreren
Tausend Jahren in enger Verbundenheit mit der Natur, die sie
für ihre Überlebenszwecke nutzen, ohne sie zu zerstören. Leere
Straußeneihüllen sind für sie daher hervorragende Depots für
Flüssigkeit. Brackwasser, ein Gemisch aus Süß- und Salzwasser,
wird von den Jägern in die Eierschalen gefüllt, diese werden
mit Lehmstopfen und Stammeszeichen verschlossen, markiert
und vergraben. Nach der Rückkehr von wochenlangen Jagdausflügen in der Wüste ist das Wasser noch trinkbar.
Der Grund hierin liegt im speziellen Aufbau der Eischale:
Auf ein inneres Membrangewebe (Proteinnetz) folgt ein anorganischer, im Querschnitt säulenartig strukturierter Kalkschalenaufbau. Zur Umwelt schließt die Schale mit einer glatten
kalzifizierten Außenschicht ab. Eine organische Außenhaut
wie zum Beispiel bei der Tomate existiert beim Straußenei
nicht. Da diese bakterienschützende Außenhaut fehlt, fungieren die Poren der Schale als antibakterieller Schutz: Sie
besitzen Durchgangsstellen mit Durchmessern im Submikrometer-Bereich, was sie zwar luftdurchlässig, aber für Bakterien (Größe 1-2 Mikrometer) unpassierbar macht.
Die Verpackungsbionik hat das Prinzip der Atmungsfähigkeit und Bakterienresistenz dieser biologischen Verpackung
aufgegriffen. Eine Wasser abweisende, mit funktionskeramischen Stoffen beschichtete atmungsaktive Membran wurde
nach dem Vorbild Straußenei hergestellt. Die gegenwärtig
Ganz oben Schale eines Straußeneis. Mit dem bloßen Auge
sind die kleinen Ein- und Ausgänge für den Gasaustausch auf
der porzellanartigen Oberfläche
gerade noch zu erkennen .
Darunter Ein San aus der Kalahari trinkt aus einem Straußenei,
das er als Wasservorratsbehälter beim Jagen nutzt.
35
Unten links Haltbarkeitstest von
Lebensmitteln. Links: PVC-Folie
(17), rechts: Bionikfolie (18).
Unten rechts Die Aufnahme einer
Haselnussschale unter dem Rasterelektronenmikroskop zeigt
deutlich die integrierten Versorgungsleitungen.
Prinzip der Lichtsammlung durch Eisbärhaare
Eisbärhaare
Lichtleitung durch Totalreflexion,
Streuung u. Lumineszenz
schwarze Eisbärhaut
Transparente Wärmedämmung
die haselnussschale – bruchfeste hülle mit integrierten versorgungsleitungen
Die Haselnuss ist durch eine samtartig erscheinende Außenfläche ausgezeichnet, was sich in der besonderen Oberflächenstrukturierung widerspiegelt. Da es sich um die eigentliche
Außenwand der Frucht handelt, ist die äußerste Schicht die
reguläre Epidermis, aus der kurze Haare auswachsen können.
Das erstaunliche Messergebnis eines Bruchbelastungstests
zeigt, dass die Schale Punktbelastungen bis ca. 700 N verträgt. Sie liegt damit im unteren Mittelfeld zwischen einer
Erdnussschale (100 N) und einer Macadamiaschale (3000
N) und weit abgeschlagen von einer Kokosnussschale (10000
N). Das Hineinsehen durch die sichtbare Schalenoberfläche
in die Mikro- bis Nanometer großen Materialstrukturen gibt
erste konkrete Hinweise auf die Geheimnisse von Materialfestigkeit, Dehnung und anderer Qualitätseigenschaften.
36
Licht mit energiereichem
UV-Anteil
Transparente Kapillarplatte
Glasputz
Mauerwerk
Opake Wärmedämmung
opake Isolationsschicht
Mauerwerk
Putz
ht
Lic
ht
Lic
Transmission
Reflexion
Reflexion
Innen
Außen
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Transmission
Innen
Außen
ZEICHNUNGEN VON DR. UDO KÜPPERS
verwendeten bionischen Verpackungsfolien besteht aus allgemein gebräuchlichen Kunststoffen wie zum Beispiel PET,
die durch ein spezielles Strahlungsverfahren Poren im Submikrometer- (Porendurchmesser 500 nm) bis Mikrometerbereich erhalten. Durch eine Oberflächenbehandlung mit nicht
toxischen Nanopartikeln erhält die Folie danach ihre antibakterielle und selbstreinigende Wirkung. Diese Nanopartikel setzen sich sowohl auf der Oberfläche als auch an den
Wänden der Poren fest, sodass zusätzlich eine antibakterielle
„Tiefenwirkung“ entsteht. In einem ersten Praxisvergleichstest
mit Standard-Verpackungsfolien aus PVC zeigte die Membran deutliche Vorteile bei der Vermeidung von Pilzbefall
auf Lebensmitteln.
Beispiele für weitere Anwendungen dieser bionisch entwickelten und strukturierten Oberfläche liegen in der Filtertechnik und im Bauwesen. Die Tatsache, dass diese besondere
Oberflächenstruktur sowohl auf flexible als auch auf feste technische Oberflächen aufgebracht werden kann, bietet nicht
zuletzt für die Architektur zahlreiche Ansatzpunkte, etwa
bei der Vermeidung von Schimmel und Fäulnis in schlecht
durchlüfteten Räumen. Denkbar wären zum Beispiel Wandelemente aus dünnen Verbundschichten, die biegefest und
tragfest sind und zudem die entsprechenden Wirkungen der
oben beschriebenen bionischen Folien aufweisen.
Ganz unten Eisbärenhaare leiten das energiereiche UV-Licht
durch Totalreflexion, Streuung
und Lumineszenz an die schwarze
Körperoberfläche des Bären weiter, wo es in Wärme umgewandelt wird (Mitte). Nach einem
sehr ähnlichen Prinzip funktioniert die Transparente Wärmedämmung im Bauwesen (unten).
Die makroskopische und mikroskopische Querschnittansicht der Haselnussschale zeigt deutlich die unterschiedlichen Zellformen und die eingebauten Transportkanälchen
für die Versorgung mit Nährstoffen. Mit bloßem Augen sind
diese innenliegenden Transportkanälchen als periphere Verstärkungslinien erkennbar. Die perfekt auf Bruchfestigkeit
abgestimmten Zellverbünde mit integriertem Röhrchensystem macht die Haselnussschale zu einem interessanten Bionikobjekt für ingenieurtechnisch funktionale Bauelemente.
Erste Modelle für biegesteife dünne Wandelemente mit eingebauten Versorgungsleitungen sind in Arbeit.
das eisbärfell: lichtsammler und wärmespender
Eisbären leben im hohen Norden unserer Erde, der Arktis. Ihr
Fell ist weiß und passt sich daher der Umgebung perfekt an.
Aber die Farbe ist nur ein evolutionäres Anpassungsmerkmal.
Als Forscher die warmblütigen Eisbären mit Infrarot-Kameras (infrarotempfindliche Filme detektieren Wärme besonders
gut) fotografieren und zählen wollten, erlebten sie eine Überraschung. Die entwickelten Filme zeigten keinen einzigen Eisbären, obwohl die Forscher sie doch mit eigenen Augen gesehen
hatten. Erst ultraviolett (UV) empfindliche Filme zeigten nach
ihrer Entwicklung die Eisbären als schwarze Punkte im weißen
Eismeer. Das Fell des Eisbären, dessen Haare kleinen Röhrchen ähneln, sammelt das energiereiche ultraviolette Licht der
Arktis, leitet es mit Hilfe verschiedener physikalischer Mechanismen durch die röhrchenförmigen Haare zur Körperoberfläche und wandelt es dort in Wärme um. Wenig von dieser
Wärme geht nach außen verloren. Daher war es den Kameraleuten zuerst nicht möglich, die Eisbären über Wärmeabstrahlung zu sichten. Experimente, an denen auch der Autor
beteiligt war, bestätigen diesen biologischen Mechanismus
eines effizienten Schutzes gegen Wärmeverlust.
In der Architektur ist ein ähnliches Prinzip der Umwandlung von Licht in Wärme bei der Transparenten Wärmedämmung (TWD) bekannt. Bauelemente, die dieses Prinzip
nutzen besteht aus einer wärmeaufnehmenden, schwarzen
Absorberschicht, mit einer darüber liegenden transparenten
Kapillarplatte und einer äußeren, lichtdurchlässigen wetterfesten Schutzschicht. Gegenüber einer gleich dicken, opaken,
also nicht transparenten Dämmschicht auf demselben Mau-
erwerk kann Transparente Wärmedämmung bedeutend mehr
Wärme durch das Mauerwerk ins Innere des Hauses leiten. Sie
ist damit eine sehr wirksame, weil energiesparende Anwendung aus der Baubionik, die bereits seit einigen Jahren mit
Erfolg eingesetzt wird.
Literatur
Küppers, U. (2006) Grenzflächen des Lebens – Die Natur als Verpackungskünstlerin, in: Faszination Bionik – Die Intelligenz der Schöpfung, Hrsg.: Blüchel/Malik
Küppers, U. (2004) Architekten der Natur – Organismen als geniale Baumeisterund Ingenieure, in: Mensch + Architektur, Nr. 46/47, September 2004
Küppers, U. (2003) Grenzflächen des Lebens – bionische Nutzen für die Verpackungstechnik? in: Baier et. al (Hrsg.), Transparenz und Leichtigkeit, Symp.,
Universität Essen
Küppers, U. und Tributsch, H. (2002) Bionik der Verpackung – Verpacktes Leben, verpackte Technik, Wiley VCH, Weinheim
Dr.-Ing. Udo Küppers studierte Fertigungstechnik/Werkzeugmaschinen
und promovierte an der TU Berlin mit einer experimentellen Arbeit über
aerodynamische evolutionsstrategische Tragflügeloptimierung. Seit fünfzehn Jahren ist Dr. Udo Küppers in der angewandten Bionik-Forschung und
–Entwicklung tätig. Seine Kernkompetenzen liegen in der Verpackungs-,
Organisations- und Evolutionsbionik sowie der bionischen Dynamik. Udo
Küppers hatte mehrere Lehraufträge zu Bionik an Fachhochschulen und Universitäten inne und ist Verfasser zahlreicher Fachveröffentlichungen sowie
mehrerer Bücher und Patente.
37
38
54° 18’ 12” N, 0° 24’ 36” W
1981
39
Foto und Haiku von Michael Kenna
Welle, Scarborough, Yorkshire, England. 1981
www.michaelkenna.net
40
Zum Himmel emporgereckt
lächeln, vorüberziehend, zwei Meeresriesen
in meine Kamera.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
41
TAGESLICHT
IM DETAIL
Genauer hingesehen:
Wie Tageslicht in Gebäude gelangt
FOTO VON VACLAV SEDY / CISA A. PALLADIO
LICHT UND MATERIAL
Oben Carlo Scarpa: Museo del
Castelvecchio, Verona (1961–64)
Licht schaff t Kontraste: Die Innenräume des Museums sind mit rauem
‚Stucco alla veneziana‘ verputzt.
Scarpa verwendet ihn, um das Licht
gleichmäßig und reflexionsfrei zu
streuen und einen Kontrast zu den
glatten, dunklen Sockeln der Exponate
zu bilden.
42
Text von Marietta Millet.
Licht und Material sind untrennbar miteinander
verbunden, ja sie bedingen einander: Beide werden für
das menschliche Auge erst sichtbar, wenn sie aufeinander treffen. Große Architekten haben sich in der
Wahl ihrer Baumaterialien daher stets auch von den
Lichtverhältnissen leiten lassen. Sie nutzten Licht, um
Materialkontraste hervorzuheben, und setzten
Materialien ein, die es ihnen erlaubten, eine ganz
bestimmte Lichtverteilung im Raum herzustellen.
licht und material bedingen einander. Für das Lichtverständnis in der Architektur kommt den Materialien eine
wesentliche Bedeutung zu, da sie die Menge und Qualität
des Lichts unmittelbar beeinflussen. Hierbei sind vor allem
zwei Materialeigenschaften wichtig: Oberflächenbeschaffenheit und Farbe. Spiegelnde Materialien mit blanken Oberflächen reflektieren das Licht wie ein Spiegel, so dass reflektierte
Bilder der Lichtquelle ,auf‘ der Fläche sichtbar sind. Matte
Oberflächen wie Naturstein, Holz und Putz streuen das Licht
gleichmäßig in alle Richtungen. Von den drei Eigenschaften
einer Farbe - Farbton, Helligkeit und Intensität – ist die Helligkeit der Faktor, der die Menge des absorbierten bzw. reflektierten Lichts bestimmt. Eine weiße Wand reflektiert nahezu
82 Prozent des einfallenden Lichts, eine hellgelbe Wand etwa
78 Prozent und eine dunkelgrüne oder blaue Wand nur 7 Prozent. Farbige Flächen geben einen Teil ihres Farbtons an das
reflektierte Licht ab.
Ein Materialwechsel kann die Atmosphäre eines Raums
und den Beleuchtungsgrad verändern. Ein dunkler Raum wird
durch einen weißen Wandanstrich heller. Andererseits kann ein
heller Raum durch Verringerung des Lichteinfalls oder mit Hilfe
gedeckter Farben verdunkelt werden. In der Architektur bedient
man sich häufig dieser Wirkung. So sind zum Beispiel die Innenflächen der Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp weiß
gestrichen; wegen des geringen Tageslichteinfalls erscheinen sie
aber in Schattierungen von hell- bis dunkelgrau.
Im Zusammenspiel mit Licht rufen Materialien Emotionen hervor. Funkelndes Glas, glitzernde Goldmosaike und
tiefdunkles Holz erzeugen eine emotionale Wirkung, die einerseits kulturell begründet ist und andererseits auf individueller
Wahrnehmung beruht. In vielen Gegenden greift man vorzugsweise auf traditionelle Bauformen und regionaltypische
Materialien zurück. Bestes Beispiel hierfür ist der von Carlo
Scarpa favorisierte stucco alla veneziana. Dieser Stuck, in einem
arbeitsintensiven Verfahren unter Nutzung spezieller Materialien aufgetragen, „gewinnt mit der Zeit ein weicheres und wässriges Aussehen von fantasieanregender Schönheit.“ 1
lichtfördernde materialien
Die bewusste Hervorhebung von Materialien basiert auf
der Wechselwirkung zwischen Licht und Material. Beson-
dere Akzente setzen blanke Materialien durch die Reflexion
einzelner Lichtpunkte. Die Oberflächenstruktur hebt sich
unter Lichteinfall deutlich hervor, während bei lichtdurchlässigen Materialien die innere Struktur sichtbar wird. Dunkle Schatten werden durch lichtableitende Oberflächen bzw.
durch lichtabsorbierendes Material erzeugt.
In der von Patkau Architects geplanten Newton Library in
Surrey bei Vancouver betont das Licht die Materialien, während diese wiederum das Licht und dessen Streuung begünstigen. „Weil das Licht in Vancouver unter dem im Winter
häufig bewölktem Himmel sehr weich und relativ schwach ist,
sind dunkles Holz und Beton wegen ihrer lichtabsorbierenden
Eigenschaften kaum dazu geeignet, das natürliche Licht in
die relativ tiefen Geschossebenen zu lenken“, so die Architekten. Im Bereich der hohen, abgeschrägten Glasfront auf
der Nordseite, die genügend Licht zum Lesen einlässt, blieb
die Deckenverkleidung aus Holz sichtbar. Der Kontrast zwischen den Materialien im Fensterbereich und dem Tageslicht
darf nicht zu groß sein, um unangenehme Lichtverhältnisse zu
vermeiden. Hier schwächen die sanften Sonnenstrahlen, die
auf die die Unterseite der Decke treffen, nicht nur den Kontrast an den Kanten ab, sondern sorgen auch für gleichmäßige
Helligkeit zwischen Fensterbereich und Raummitte. Etwa auf
halbem Wege zwischen der Glasfront und dem niedrigen Mittelträger wurden weiß gestrichene Gipskartonplatten an der
Decke angebracht, die das Tageslicht besser in die darunter
liegenden Arbeitsbereiche reflektieren. Bei sämtlichen Materialien wurde vor allem der Zweckmäßigkeit Sorge getragen.
Die schichtweise Anordnung der Materialien verdeutlicht die
Rolle, die jedem einzelnen Material in der Gesamtkonstruktion zukommt.
Normalerweise ist die Verglasung selbst kein wesentliches
Raumelement. Spezielle Verglasungsmaterialien wie hauchdünne Steinplatten können aber durch Art und Weise ihrer
Lichtdurchlässigkeit zum Blickfang werden. Unter dem Tonnengewölbe im Sitzungssaal des Museum of Contemporary
Art (Arata Isozaki, 1981-86) in Los Angeles wurde Onyx zur
Verglasung einer halbkreisförmigen Öffnung und der vier darunterliegenden Fenster verwendet. Der Onyx wurde bündig
in die Deckenwölbung eingepasst und transportiert die einfallenden Lichtstrahlen entlang der schwarzen Betondecke.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
43
Wegen seiner Helligkeit zieht der Onyx im Raum besondere
Aufmerksamkeit auf sich. Die Materialstärke sorgt für einen
blendfreien Lichteinfall durch die Fenster. Das Licht betont
die Maserung des durchscheinenden Steins auf spektakuläre
Weise und lässt ihn zum prägenden Charakteristikum des
gesamten Raums werden.
In dem sechs Stockwerke hohen Lichthof der Casa Batllo
(Antonio Gaudi, 1904-06) in Barcelona konzipierte Gaudi
die Keramikfliesen der Wandverkleidung bewusst als lichtmanipulierende Elemente. Durch Modulation von Farbton,
Helligkeit und Struktur der Fliesen veränderte er die Menge
und Qualität des Lichts sowohl im Lichthof als auch in den
angrenzenden Räumen. Die Farben der Fliesen reichen von
dunkelblau über hellere Blauschattierungen bis hin zu abgetöntem Weiß. Der dunkelblaue Farbton, durchsetzt mit helleren
Fliesen, findet sich vor allem im oberen Bereich des Lichthofs
unmittelbar unter der Dachverglasung. Hierdurch wird ein
optischer ,Kühlungseffekt‘ erzeugt, der das Licht nahezu wie
unter Wasser aussehen lässt. Der untere Bereich des Lichthofs ist mit hellen Fliesen verkleidet, hier und da durch mit
dunkleren Fliesen durchsetzt. Dazwischen verändern sich die
Farben graduell von dunklen bis hin zu hellen Farbtönen.
Diese Verteilung der Farbfliesen sorgt für einen Ausgleich des
Lichtabfalls innerhalb des Lichthofs und schafft eine gleichmäßige Beleuchtung. Dickere gemusterte Fliesen mit lichtreflektierenden Ecken sind auf der gesamten Länge zwischen
den dünneren Fliesen eingestreut und erzeugen einen gewissen
Glitzereffekt. Neben der Verwendung lichtmanipulierender
Materialien sorgen die Form des Lichthofs (der sich nach oben
erweitert) und die Fenster (die unten größer sind) für ausgewogene Lichtverhältnisse in allen Wohnungen. Zusätzlich
wird das Licht im Lichthof durch Balkone beeinflusst, deren
Böden aus Glasplatten als Oberlicht für die darunterliegenden
Räume fungieren. Das Licht, das durch die Fenster zum Lichthof in die Apartments eindringt, ist daher gleichmäßiger als bei
üblichen Konstruktionen dieser Art, wo die unteren Räume
im Schatten liegen. Neben den Glasfenstern sorgen separate
Belüftungsklappen (in geöffnetem Zustand) für zusätzliches
Licht im Rauminneren.
Doch auch den Materialien künstlicher Beleuchtungskörper kommt bei der Beleuchtung ein großer Wert zu. In der
Kapelle der Wiederauferstehung (Erik Bryggmann, 1939-41,
1984 renoviert) auf dem Friedhof von Turku reflektieren die
Messingleuchten das Tageslicht in einem kühlen Gelb. Beim
Einschalten der Glühlampen nehmen sie dagegen eine warme
und schimmernde Bernsteinfarbe an. Das Material und die
feinen Formen der Leuchten sind sorgfältig auf die künstliche Beleuchtung abgestimmt. Die Leuchtenverkleidungen
in Form vertikaler Blenden schimmern durch die wechselseitig erzeugten Lichtreflexionen. Die ,Krone‘ aus Messingringen
an der Decke fängt das Licht ein. Die goldenen Lichtflecke
verleihen der kühlen Innenatmosphäre eine gewisse Wärme
und erzeugen feuerscheinähnliche Effekte.
In der St. Henry‘s Church (Pitkänen, Laiho und Raunio, 1980) in Turku erhält das Material der Beleuchtungskörper unter Tageslicht ein völlig anderes Aussehen als bei
künstlicher Beleuchtung. Bei Tageslicht, das durch große Fenster einströmt, wirken die Reflektoren der Leuchten nahezu
durchscheinend, so dass die Ziegelmauern dahinter deutlich erkennbar sind. Bei künstlicher Beleuchtung werfen die
nunmehr weiß erscheinenden Reflektoren das Licht auf die
Kirchgänger zurück. Hierdurch wird die Sicht auf die dahinterliegende Wand verschleiert und ein warmer Lichtschein auf
den nächstgelegenen Wandflächen erzeugt. Ähnlich einem
Leinenvorhang bei Theatervorstellungen wechselt das Licht
zwischen Betonung des Hintergrundes und Reflexion des Vordergrundes.
44
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
lichtdämpfende materialien
Materialien können auch gezielt eingesetzt werden, um Lichteffekte abzuschwächen, verschiedenartige Materialien ähnlich
aussehen oder das Licht gleichmäßig wirken zu lassen. Die shojiWandschirme in traditionellen japanischen Häusern streuen
das einströmende Tageslicht sowohl bei sonnigem Wetter
als auch bei bewölktem Himmel. Ähnlich einem Sonnenschirm wird das Licht zunächst durch die großen Überhangdächer gedämpft und somit eine gleichmäßige Abschattung
der Innenräume erzielt. Die sorgfältige Gestaltung der Innenwände ist speziell auf die Lichtverhältnisse abgestimmt. In
seinem Buch ,Lob des Schattens‘ widmet Junichiro Tanizaki dieser Verbindung zwischen Licht, Material und Kultur besondere Aufmerksamkeit und liefert eine Erklärung für
1. Patkau Architects: Newton Library, Surrey
(1990)
Material lenkt Licht: Gezielt setzen Patkau Architects bei ihrer Bibliothek auf weiße Decken
und Wände aus Gipskarton, um das oftmals
schwache und diffuse Tageslicht British Columbias tief ins Innere der Lesesäle zu leiten.
8. Willard T. Sears: Isabella Stewart Gardner
Museum, Boston (1899–1901)
Licht schaff t Ortsbezug: Die Loggia im Innenhof
zitiert detailgetreu venezianische Vorbilder, und
selbst der Verputz wurde nach venezianischer
Rezeptur angemischt. Dennoch wirkt das Ergebnis auf das menschliche Auge nur dann überzeugend, wenn auch das Tageslicht der typisch
venezianischen, silbrig-sanften Lichtstimmung
entspricht.
5
7
FOTO VON KARI KOSKI
FOTO VON MARIETTA MILLET
4
FOTO VON SAMULI SILTANEN
7. Dale Chilhuly:
Niijima Floats (1992)
Material transformiert Licht: Bei dieser Installation im Seattle Art Museum standen weniger die
Glaskugeln selbst im Vordergrund als vielmehr
die ständig wechselnden Lichtreflexionen, die sie
auf den Raumoberflächen entstehen ließen.
2
6
FOTO VON MARIETTA MILLET
6. Interieur eines japanischen Wohnhauses
Material nivelliert Lichtunterschiede: Traditionelle japanische Häuser zeichnen sich durch ihre
weiten Dachüberstände und transluzenten ‚shoji‘Wände aus, die das Lichtniveau im Innenraum den
ganzen Tag über gleichbleibend niedrig halten.
FOTOS VON MARIETTA MILLET
3
FOTO VON MARIETTA MILLET
5. Pitkänen, Leiho und Raunio: Leuchten in St.
Henry’s Church, Turku (1980)
Licht verändert Materialien: Bei Tageslicht ist
der Glasreflektor nahezu durchsichtig und gibt
den Blick auf die dahinterliegende Ziegelwand
frei. Nachts erstrahlt er im Licht der darunter
angebrachten Lichtquelle als gelbliche, undurchsichtige Scheibe.
1
FOTO VON MARIETTA MILLET
4. Erik Bryggman: Auferstehungskapelle, Turku
(1939–41)
Material verändert Lichtstimmungen: Tagsüber
reflektieren die Messingleuchten im Kirchenschiff
das einfallende Tageslicht in einem stumpfen Gelbton. Abends und nachts erfüllen sie selbst die Kirche mit einem wesentlich wärmeren, goldgelben
Licht.
FOTO VON JAMES DOW / PATKAU ARCHITECTS
3. Antoni Gaudí: Casa Batllo, Barcelona (1904)
Material zoniert Räume: Die Fliesenverkleidung
des Innenhofs wird von oben nach unten zunehmend heller. Damit schaff t Gaudí einen Ausgleich
für das sukzessive abnehmende Tageslichtniveau.
FOTO VON KATSUAKI FURUDATE
2. Arata Isozaki: Museum of Contemporary Art,
Los Angeles (1981–86)
Licht veredelt Material: In den Gewölbefenstern
seines Museumsbaus ließ Arata Isozaki statt
Glas Onyxscheiben einsetzen. Das von außen
gesehen eher stumpfe Material gibt erstrahlt im
Gegenlicht zu voller Schönheit und lässt seine
edle Maserung erkennen.
8
45
Gegenüber Louis Kahn: Kimbell Art
Museum, Fort Worth (1966–72)
Licht moduliert Materialkontraste:
Die Wandoberflächen des Museums
bestehen aus Travertin, die Gewölbe
aus Sichtbeton. Je nach Richtung
(direkt/indirekt) und Art des Lichts
(Tageslicht/Kunstlicht) werden entweder die Materialunterschiede
deutlich, oder die Mateialien gleichen sich einander an.
FOTO VON ACHIM BEDNORZ/ BILDARCHIV MONHEIM
Unten Le Corbusier: Notre Dame
du Haut, Ronchamp (1950)
Licht verändert Farbeindrücke:
Hier lassen die unregelmäßig verteilten Fensteröffnungen die
exorbitante Wandstärke des Kirchenbaus erkennen. Die eigentlich
weiß verputzten Wandoberflächen werden im Gegenlicht nicht
als solche wahrgenommen; sie
erscheinen hell- bis dunkelgrau.
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D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
FOTO VON ROBERTO SCHEZEN/ESTO
die traditionelle Vorliebe der Japaner für Schatten und sanftes, perfekte Ergänzung zur Lichtreaktion von Beton. Wenn sich
gebrochenes Licht:
das Licht – draußen oder drinnen – ändert, verschmelzen die
„Wir gestalten unsere Wände in neutralen Farben, damit die Oberflächen der beiden Materialien miteinander. Zunächst
traurigen, zerbrechlichen und ersterbenden Sonnenstrahlen erscheint das eine Material wärmer, dann das andere. Einmal
in absoluter Ruhe versinken können. Während Vorratskam- erscheint das eine heller, dann das andere, das eine blank, das
mer, Küche und Dielen häufig glatte Oberflächen aufweisen, andere matt, bevor der Eindruck wechselt. Manchmal sieht das
sind die Wände des Wohnbereichs fast immer mit Lehm und eine, dann das andere Material gesprenkelter aus. Die Obereiner feinen Sandschicht verkleidet. Ein Kronleuchter würde flächen passen sich den veränderlichen Lichtverhältnissen an:
hier die Schönheit des schwachen und zerbrechlichen Lichts Das wahre Material ist in diesem Fall das Licht.
zerstören. Wir erfreuen uns am bloßen Anblick des sanften
Schimmers verblassender Sonnenstrahlen beim Auftreffen auf
„Meiner Meinung nach ist Licht ein Material wie jedes andere.“
eine düstere Wand, wo sie ihr letztes Leben aushauchen.“2
– James Turrell 5
Der in Venedig kultivierte ,lume materiale‘ (wörtlich:
,materielles Licht‘)3 lebt im Isabella Stewart Gardner Museum
(Willard T. Sears, 1899-1901) in Boston, Massachusetts, wie- Marietta Millet ist emeritierte Professorin an der Fakultät für Architekder auf. Die Wände wurden in Anlehnung an die traditionelle tur der Universität Washington, wo sie Entwurfsseminare im Grund- und
venezianische Stucktechnik bearbeitet und sind aus farbig Hauptstudium sowie Seminare zu Licht und Farbe, Tageslicht und künstimprägniertem Gips mit einem blassroten Anstrich gefertigt. licher Beleuchtung, klimabezogenem Design und Bautechnik leitete. Sie
war Partnerin des Büros Loveland/Millet Lighting Consultants und ist AuZwar ist das Licht in Boston nicht mit dem Licht Venedigs torin des Buches Light Revealing Architecture, veröffentlicht 1996 von Van
vergleichbar, aber an manchen Tagen kann der Schein das Nostrand Reinhold.
Auge täuschen. Die Oberflächen scheinen dann zu glänzen, so
dass das Licht und nicht das Material im Vordergrund steht. Dieser Text wurde mit der freundlichen Genehmigung von John Wiley &
Sons, Inc., reproduziert aus dem Buch ‘Light Revealing Architecture’ von
In ähnlicher Weise spielt bei,Niijima Floats‘, einer Installa- Marietta Millet, © 1996.
tion aus Glaskugeln von Dale Chihuly (1992 im Seattle Art
Museum), das vom Glas zurückgeworfene Licht die wichtigste Rolle. Nicht die Kugeln selbst, sondern vielmehr die von 1 Zambonini, Giuseppe: ‚ Notes for a Theory of Making in a Time of Necessity ‘, in : Perspecta 24, S. 3 -23. Erinnerungen von Eugejio de Luigi, einem
ihnen auf den darunterliegenden Flächen erzeugten Lichtmulangjährigen Mitarbeiter Carlo Scarpas
2
ster stehen im Vordergrund.
Tanizaki, Junichiro: ‚In Praise of Shadows‘, Newhaven 1977, S. 18
Louis Kahn erkannte sofort die natürliche Bedeutung des 3 Siehe auch Marco Frascari: ‘The Lume Materiale in the Architecture of
Materials als Lichtreflektor: Seine Auswahl von Beton und 4 Venice,’ in: Perspecta Nr. 24, 1988
Interview mit Louis Kahn, von Marshall Meyers im Jahr 1972. Abgedruckt
Travertin für den Bau des Kimbell Art Museum (1966-72)
in Loud, Patricia Cummings: ‚ The Art Museums of Louis I. Kahn ‘, Duke
beruht auf deren Oberflächenbeschaffenheit: „Travertin und
University Press, Durham 1989
Beton harmonieren perfekt, weil sich beim Betonguss unwei- 5 Millin, Laura (Hrsg.): ‚ James Turrell: Four Light Installations‘, The Real
Comet Press, Seattle 1982, S. 18
gerlich Unregelmäßigkeiten zeigen [...].“ Im Laufe der Zeit, so
ist er überzeugt, vereinigen sich alle Materialien auf zufällige
Weise; derweil obliege es dem Architekten, mit Hilfe sorgfältig abgestimmter Materialien wie Holz, Travertin und Beton
eine Einheit zu schaffen‚ „ohne dass die Materialien einander
ruinieren […] Auf die Auswahl kommt es an.“ 4
Ungeschliffener und unpolierter Travertin reagiert auf
Licht in charakteristischer Weise und eignet sich daher als
47
VELUX EINBLICKE
Architektur für den Menschen –
Bauen mit VELUX.
EIN KLEID FÜR
BESONDERE ANLÄSSE
Text von Katja Pfeiffer.
Fotos von Paul Ott.
Gold schimmert die Fassade des ‚Golden Nugget’ in
Graz – ganz der Philosophie der jungen Architekten
von Innocad entsprechend. Denn die vier Grazer
entwarfen mit diesem Firmensitz nicht nur gebaute
Corporate Identity, sondern auch ein Wohnhaus, das
sich glanzvoll in seiner Umgebung aus Gründerzeitbauten präsentiert.
48
49
Links Scheinbar wahllos übereinander gestapelt sind die quadratischen Fensterflächen an der
Straßenfassade. Sie repräsentieren das Logo der Architekten,
das ebenfalls aus sieben Quadraten besteht und sich immer
wieder zu neuen Mustern zusammensetzen lässt.
Gegenüber Auch die Fassade der
Hofseite präsentiert sich in goldfarbener Textur. Wie von einem
feinen Hauch von Goldpuder oder
Blütenpollen scheint das fast
transparente, metallene Treppengeländer benetzt.
Die Linie: Eine Einheit nach oben und dann
nach links, weiter aufwärts, bis die Ebene,
in der sie liegt, ihre Dimension verlässt, dem
Grazer Himmel entgegen. Die Fassadenhaut ist nun Dach, gleichmäßig mit einem
Netz aus goldfarbenem Kupfer überzogen.
Die sieben Quadrate: Wie in einem Schiebepuzzle wechseln sie scheinbar den Standort; die goldenen Vorhänge hingegen folgen
ihrem eigenen Spiel. Dem Puzzlemeister ist
das gleich. Er führt sein Schieben fort, setzt
die drei offenen Quadrate übereinander.
Ein goldener Abschluss schmiegt sich an
die Traufe des Nachbarhauses. Der leichte
stählerne Balkon zieht sich wie selbstverständlich aus der Fassadenebene zurück.
Das ‚Golden Nugget’ in der Grazbachgasse am Rande der Altstadt von Graz setzt
Akzente – gleich einem in den letzten Sonnenstrahlen schimmerndes Abendkleid. Die
äußere Textur ist in ein flächiges Netz aus
goldglänzenden Kupferschindeln. Es verbindet die in Gelbtönen gestrichenen Nachbarbauten aus der Gründerzeit und schließt
die Straßenfront zu einem homogenen
Ganzen. Auch in der Staffelung der Gebäudekontur vermittelt der Neubau zwischen den
50
unterschiedlich hohen Nachbarn. Von außen
nicht sichtbar ist das dazugehörige Hofgebäude, das aus dem 18. Jahrhundert stammt.
Es wurde saniert und ebenfalls mit einem
goldfarbenen Anstrich überzogen – symbolhaft ist hier die Bausubstanz durch eine ‚GoldSchicht’ für die Nachwelt konserviert.
Begonnen hat die Zusammenarbeit der
Architekten und Projektentwickler Andreas
Reiter, Peter Schwaiger, Martin Lesjak und
Bernd Steinhuber während eines Entwurfsseminars an der Grazer Uni. Hier hatten sie sich
kennen und schätzten gelernt, bevor sie nach
dem Diplom 1999 das Büro Innocad gründeten. Wie es der Zufall will, hatten sie sich schon
während des Studiums unabhängig voneinander mit dem schmalen Baugrundstück des
späteren ‚Golden Nugget’ befasst. Vier unterschiedliche Entwürfe sind damals entstanden. Heute verfolgen die jungen Architekten
ein gemeinsames Prinzip. Einfach klingt das
‚Rezept’, das sie für ihr Logo entwickelten und
das auf ein zentrales Möbel aus ihrem ehemaligen Büro zurückzuführen ist: Sieben goldene
Quadrate – und unzählbare Möglichkeiten, sie
miteinander zu kombinieren – bilden den Bausatz des Logos und seit Juni 2005 auch die in
der Fassade verteilten Fensterflächen ihres
neuen Firmensitzes, des ‚Golden Nugget’.
Das ‚Golden Nugget’ ist das erste Haus,
das die vier Architekten auf eigenes Risiko
bauten – und wozu sie eigens die Projektentwicklungsgesellschaft 99 Plus gründeten. Zurzeit entstehen zwei weitere Häuser
auf eigene Kosten. Ein mutiger Schritt sei das
Unterfangen gewesen, geben die Jungunternehmer zu. Dass der Mut jedoch seine Früchte
trägt, zeigt die breite Akzeptanz von ‚Golden Nugget’: Alle sieben Wohnungen waren
bereits vor Fertigstellung verkauft, und die
Stadt Graz lobte das Gebäude in höchsten
Tönen: Auf dem „Kongress des internationalen Städteforums“ wurde es als „hervorragendes Beispiel für den Umgang mit neuer
Architektur in historischen Städtebereichen“
vorgestellt.
Das Büro von Innocad liegt im Erdgeschoss und im zweigeschossigen Hofgebäude, während eine offene Rampe in das
Treppenhaus zur Erschließung der Wohnungen leitet. Die Corporate Identity der jungen Architekten setzt sich in der Gestaltung
der Räume konsequent fort: Goldgestrichene
Stehpulte, bedruckte oder hinterleuchtete
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
51
52
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Gegenüber und links Das historische Hofgebäude wurde innen
durchgängig in Weiß gestaltet. Wirkungsvoll wird hier das
Licht, das über die Dachflächen
den Raum erhellt, auf dem neutralen Fond in Szene gesetzt.
Wandelemente und Vorhänge unterstreichen gleichermaßen die Unternehmenspräsenz und den kommunikativen Charakter des
zur Straße offenen Raumes. Vorherrschend
sind in Gold gestrichene Deckenflächen und
rauer Sichtbeton. Im Kontrast hierzu – Ruhezone nicht nur für das Auge – ist das Innere des
Hofhauses durchweg weiß gestaltet.
Weiße Decken, weiße Böden, selbst
Leuchten und Vorhänge, die Gitter-Treppenstufen und die netzartigen Geländer bilden
einen neutralen, fast irreal wirkenden Hintergrund. Weiß ist der homogene Fond, der das
Licht durch das geneigte Dach auf Wand und
Bodenflächen reflektiert und den Gedanken
und ihren Urhebern Freiheit und Rückzugsmöglichkeiten lässt. In dieser Ruhe des vom
Straßenlärm (und der Laufkundschaft) abgewandten Raumes finden interne Sit-ins statt,
meditative Momente und kreative Pausen. Die
Wohnungen hingegen folgen dem ‚goldenen’
Prinzip der offenen, der Straße zugewandten
Flächen: Paarweise organisiert, werden sie
über ein zentrale zweiläufige Treppe erschlossen, die ab dem ersten Obergeschoss aus der
Baumasse als filigrane, fast schwerelos wirkende Konstruktion heraustritt. Netzartig
ist das Geländer, wie in den Hofbüros, dünn
und nackt die Bodenplatten und Balkonbrüstungen aus Sichtbeton, die sich kaum merklich vom goldfarbenen Metallüberzug der
Fassade absetzen. Den krönenden Abschluss
bildet das zweigeschossige Penthouse, das
mit seiner großzügigen, sich über die gesamte
Tiefe erstreckenden Dachterrasse den besten
Blick über die Umgebung bereithält.
Die Appartements sprechen eine Klientel
an, die, so die Planer und Bauherren, den Wert
der Architektur und die Tatsache zu schätzen weiß, „dass wir hier ungewöhnliche, gut
geschnittene und flexible Wohnungen anbieten, die sonst am Markt nicht zu bekommen
sind“ (Innocad in einem Gespräch mit dem
Architekturkritiker Oliver Elser). Es sind genau
die Menschen, zu denen die vier Architekten
zu zählen sind und die sie selbst als „urbane
Menschen“ bezeichnen: weltgewandt und
jung, selbstbewusst und überdurchschnittlich gebildet. Auch wenn das Viertel, in dem
das ‚Golden Nugget’ steht, unter Immobilienexperten nicht als Top-Lage gehandelt wird
– am Rande des Weltkulturerbes Altstadt, in
einer Zone, die bei den Grazern ‚Scherbenviertel’ heißt – für die Bewohner bedeutet es einen
hohen Mehrwert: Transparenz und Offenheit
durch raumhohe, durchgehende Fensterflächen auf der einen, bewusst der Öffentlichkeit
zugewandten Seite suggerieren Kommunikation: Die Fassade ist Schaufenster, von außen
wie von innen. Wer es, temporär oder für länger, weniger offen wünscht, wird sich der
Vorhänge und/oder der flexiblen Raumteiler
bedienen. Auch hier gilt: Edel sind Erscheinungsbild und Textur, Gold die vorherrschende
Farbe. Wirkungsvoll ist der Kontrast zu den
rauen Sichtbetonwänden und den weißen,
individuell gestaltbaren Wand- und Deckenverschalungen, auf die der Nutzer durchaus
ein „Blümchenmuster tapezieren“ darf, „wenn
er möchte“ (Innocad). Das legen die jungen
Architekten denjenigen nahe, die nicht ganz
dem Charme des nackten Betons oder den
goldenen Texturen der Vorhänge und Raumteiler erlegen sind.
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NORTH ELEVATION SCALE 1/200
SOUTH ELEVATION SCALE 1/200
EAST ELEVATION SCALE 1,200
Nord- Süd- und Ostansicht
4TH FLOOR SCALE 1/200
3. Obergeschoss
1. Obergeschoss
4. Obergeschoss
5TH FLOOR SCALE 1/200
Erdgeschoss
Fakten
Standort
Gebäudetyp
Bauherr
Architekten
Fertigstellung
54
6TH FLOOR SCALE 1/200
3TH FLOOR SCALE 1/200
2. Obergeschoss
5. Obergeschoss
Gegenüber Das ‚Golden Nugget’
integriert sich durch Farbgebung
und Kubatur in die bestehende
Baustruktur, ohne sich anzubiedern. Im Gegenteil: Die goldene
Fassade besitzt Signalwirkung
und stellt das Gebäude als einzigartig heraus.
Grazbachgasse, Graz, Österreich
Wohn- und Bürohaus
99 Plus Projektentwicklung
und Bauträger GmbH
Innocad Planung und
Projektmanagement GmbH
2005
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
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VELUX PANORAMA
Architektur mit VELUX
aus aller Welt.
SONNENSTUBE UNTERM DACH
ARCHITEKTURBÜRO IN LJUBLJANA
Architekt
Standort
Fertigstellung
Sanierung / Innenausbau
Maechtig Vrhunc Arhitekti d.o.o.,
Ljubljana
Tomaž Maechtig / Maechtig Vrhunc
Arhitekti, Ljubljana
Ljubljana, Slowenien
2004
FOTOS VONY BOR DOBRIN
Fakten
Gebäudetyp
Bauherr
1
Die beiden jungen slowenischen
Architekten Tomaž Maechtig und
Ursa Vrhunc hatten bereits eine längere Suche nach einem geeigneten
Standort für ihr neues Büro hinter
sich, als sie auf das Jugendstilhaus
in der Innenstadt von Ljubljana aufmerksam wurden. Das denkmalgeschützte Gebäude durfte äußerlich
nicht angetastet werden, doch das
heruntergekommene Dachgeschoss
besaßt genug räumliche Qualität,
um sich an die funktionalen und ästhetischen Erfordernisse des Architekturbüros anpassen zu lassen. Wie
meistens, wenn Architekten ihr eigenes Büro planen, war auch Maechtig
Vrhunc Arhitekti nicht nur an modernen, technisch ‚funktionierenden‘
Räumlichkeiten gelegen (so mussten zum Beispiel die Heizung, Elektro- und Datenleitungen komplett
neu installiert werden), sondern
auch an einer Büroatmosphäre, die
das junge Architektenteam im Alltagsgeschäft zu Höchstleistungen
anspornen sollte.
Der Arbeitsweise von MVA entsprechend wurden die Räume so
offen wie möglich angelegt. Ein begehbarer Wandschrank, der die Nebenräume wie Teeküche, Toilette
und Lager aufnimmt, schmiegt sich
an die Rückwand der Büroetage.
Auf seiner von den Dachsparen abgehängten Decke entstand eine
Galerie zum Ausruhen und als zusätzlicher Arbeitsraum. Neue Dachfenster auf zwei Ebenen belichten
den bis auf einen graugrünen Teppichboden komplett in Weiß gehaltenen Büroraum. Mit Ausnahme der
Schreibtischlampen sind alle künstlichen Lichtquellen, die für die häufigen Nachtschichten des Büros
unabdingbar sind, in der ‘Wandschrank’-Zone untergebracht. Nach
Sonnenuntergang überstrahlen sie
das kühle Weiß von Wänden und Mobiliar mit einem warmen, gelblichen
Schimmer.
2
1. Denkmalgeschützt, aber nicht
mehr im besten Zustand: das
Jugendstilgebäude in der Innenstadt von Ljubljana, in dem das
Büro von Tomaž Maechtig und
Ursa Vrhunc eine neue Wirkungsstätte fand.
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D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
2. Die Nebenräume sind in einem
eingestellten Wand-SchrankElement im hinteren Bereich des
Dachgeschosses untergebracht.
Vom Dachträger bis zum
Papierkorb dominiert die Farbe
Weiß den Innenraum. Dachfenster sorgen für die gleichmäßige
Belichtung aller Arbeitsplätze.
MIT DER NATUR VERWACHSEN
SEEHOTEL AM NEUKLOSTERSEE
IN NAKENSTORF
Fakten
Gebäudetyp
Standort
Bauherr
Architekten
Fertigstellung
Das Anwesen des Seehotels am Neuklostersee war in früherer Zeit ein
klassischer Bauernhof. Nur zwei Autostunden von Hamburg und wenig
mehr von Berlin entfernt, ist es ein
Ort der Ruhe und Entspannung, direkt an einem Badesee in einem Naturschutzgebiet und umgeben von
Wäldern, Blumenwiesen und Feldern, wo Gänse, Hunde, Schafe und
Katzen ebenso zu Hause sind wie
der Mensch.
Die Kunstscheune sowie die
zwei Hauptgebäude, das Steinhaus
mit Restaurant und das Hotel, wurden 2004 durch eine archetypisch
gestaltete Badescheune zur traditionellen, ortstypischen Anlage eines
Dreiseithofes ergänzt. Mit viel Liebe
zum Detail und mit alten Möbeln
wurde in den Häusern der Bezug zur
Zeit des Erbauers hergestellt. Neue,
moderne Einrichtungen ergänzen die
alte Bausubstanz auf harmonische
Weise. Die Mischung als alten und
neuen Elementen verleiht den Räumen einen eigenen Charme, der sich
von Haus zu Haus unterscheidet.
Das Steinhaus erhielt einen
leicht mediterranen Charakter mit
Buchenholzparkett und heiteren
Farben sowie eine Einrichtung im
modernen Landhausstil. Teppiche
in Naturfarben prägen die Zimmer
und geben zugleich den Farbton für
die Wand vor. Die modernen Einbauschränke sind als Skulptur zu sehen
und stehen konträr, wenngleich im
Ergebnis harmonisch, zu den alten
Tischen, mit denen die Zimmer möblichert wurden.
Die Kunstscheune steht für Tagungen, Konzerte, Ausstellungen,
Workshops und Veranstaltungen
zur Verfügung. Ein aus alten französischen Klöstern stammender Terrakottaboden sowie Deckenbalken
und eine Treppe aus Eiche verleihen
den Räumen einen warmen, erdigen
Charakter. Die Zimmer mit den vorgelagerten Wintergärten sind vom
Tageslicht durchflutet. Auf der Ter-
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Hotel
Seestraße 1, Nakenstorf
J. und G. Nalbach, Berlin
Nalbach und Nalbach Architekten,
Berlin
2004
rasse und im Wintergarten wurde
einheitlicher, ortstypischer Feldstein verlegt, der den Bezug zwischen Innen und Aussen herstellt.
Die Badescheune sollte möglichst archaisch wirken, was mit aufwendigen Details, unter anderem in
der Hauptfassade, umgesetzt wurde.
Diese besteht aus Cortenstahl-Trögen, die vorgezogene Efeuelemente
aufnehmen. Die Alterungsprozesse
der verwendeten Baumaterialien
wurden bewusst eingesetzt, um den
Neubau von Beginn an in das bestehende Ensemble einzubinden. Die
Fensterläden liegen im geöffneten
Zustand in der Leibung, um im geschlossenen Zustand bündig mit der
Fassade abzuschliessen. Die Dachfenster befinden sich nahezu in der
gleichen Ebene wie die Lärchenholzlattung, was die kubische Wirkung
der Baukörper unterstützt.
Vom Grundriss her ähnelt die Badescheune einem altrömischen Badehaus: die Nebenräume sind um
die Schwimmhalle herum gruppiert,
um den Wärmeverlust zu minimieren.
Die Ausstattung stammt, wie bei
den zwei anderen Häusern, aus der
Umgebung des Hotels: Nussbaum
zeigt sich am Fussboden sowie bei
den Einbauten, Kalkstein wir in den
Nassbereichen, die Wände sind mit
Stroh-Lehmputz verkleidet, der der
Oberfläche einen leicht unterschiedlich strukturiertem Glanz verleiht.
Ein Strohballen als Couchtisch
illustriert das Konzept der Symbiose zwischen Natur und modernen
Einrichtungselementen. Natürliches
und künstliches Licht ist bewusst als
Gestaltungselement in den Häusern
eingesetzt: Creolen-Leuchten mit
Spiegelreflektor setzen Akzente
auf Tische und Wände, während die
Dachwohnfenster die Außenwelt
nach innen bringen und den Zimmern
ein wohnliches Ambiente verleihen.
Detail
1
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
2. Das Seehotel bei Nacht – ein
Monolith mit diaphaner, von
innen heraus schimmernder
Außenhaut. Über dem pflanzenumrankten Erdgeschoss
erheben sich das Ober- und Dachgeschoss im einheitlichen Kleid
aus Lärchenholzlatten.
FOTOS VON STEFAN MÜLLER
1. Die Schwimmhalle wird durch
grosszügige Fensterelemente
aufgewertet. Details wie zum
Beispiel die als Beistelltische
verwendeten Baumstümpfe
illustrieren das Konzept der
Architekten, Natur und moderne
Einrichtung zu einer Einheit verschmelzen zu lassen.
2
59
MONOLITH AM MÜHLENWEIHER
UMBAU DER KOTRČ-MÜHLE BEI LIPNICE
Fakten
Art des Gebäudes:
Standort:
Bauherr:
Architektin:
1. Aus dem Panoramafenster im
Wohnzimmer fällt der Blick über
den neu angelegten Mühlenweiher. Das filigrane Balkongeländer
wird von innen kaum als optische
Barriere wahrgenommen.
Umbau einer Mühle zum Wohnhaus
bei Lipnice, Tschechien
privat
Lucie Kavánová, Prag
2. Ein Dachfenster erhellt den
oberen Treppenabsatz. Der filigrane Innenausbau aus Stahl
und Glas bildet einen markanten
Kontrast zu den schweren, rauen
Außenmauern.
3. An den massiven Steingiebeln der Mühle lässt sich das alte
Mauerwerk kaum von den neu
hinzugekommenen Partien im
oberen Bereich unterscheiden.
An die Stelle des auskragenden
Ziegeldachs ist ein nahezu wandbündiges Blechdach getreten.
Im Wald von Lipnice im böhmischmährischen Hügelland steht die KotrčMühle am Ufer eines neu angelegten
Sees. Auf seiner Wasseroberfläche
spiegeln sich nach den Worten der
Architektin Lucie Kavanova nicht nur
die Granitmauern des rund 170 Jahre
alten Bauwerks, sondern „das ganze
Tal und das Genius loci dieses Ortes“.
Die Architektin aus Prag plante den
Umbau der Mühle zu einem Wochenendhaus, das jedoch langfristig auch
die Möglichkeit bieten soll, dort dauerhaft zu leben. Zum Ausgangszustand des Projektes schreibt sie: „Von
der Ausstattung und der Einrichtung
der Mühle blieb fast nichts erhalten.
Das Wasser aus dem Mühlgraben
wurde längst abgeleitet. Lediglich
die morsche Welle, die aus den massiven Wänden der Mühle hervorragte,
ließ erahnen, dass sich hier einmal ein
Mühlrad befand.“
An dem massiven, etwa 9 x 8
Meter großen Bau wurden zunächst
die Natursteingiebel, nach den Worten der Architektin ‚das Gesicht‘ des
Gebäudes, aufgemauert. „Das Haus
wurde dadurch etwas größer, damit
es wenigstens ein bisschen mit den
endlosen, hohen Wäldern der Umgebung mithalten kann.“ Die Giebel
bestehen wie die meterdicken, alten
Außenwände aus dem ortstypisch
gemusterten Granit, mit, so Kavanova, „der schönsten Granitschattierung, die ich kenne“. Das Dach wurde
anschließend ohne die ursprünglich ausladenden Dachüberstände
neu eingedeckt. Verschiebbare Fensterläden aus Naturholz lockern die
Fassaden auf. Ihre Entwerferin beschreibt deren Wirkung: „Geöffnet
signalisieren sie nicht nur die Ankunft des Eigentümers, sondern las-
60
sen auch Leben ins Haus, wie die
Farben der Natur in der Umgebung.
Vor allem das Naturbild hinter dem
großen Wohnzimmerfenster gleicht
einem großen Fernsehschirm, auf
dem eine Geschichte stundenlang
verfolgt werden kann.“
Zum Innenraum bemerkt sie: „Das
Hausinnere bildete ein dunkles Labyrinth kleiner Räume. Ein Haus muss
jedoch geräumig sein, so wie die endlose Natur der Umgebung. Und das
war auch der Grund dafür, dass wir
es von allen nutzlosen Dingen befreiten und allein seine Substanz zum
Ausdruck kommen ließen“. So weist
der weitläufige Innenraum kaum
Trennwände und Türen auf. Man betritt das Gebäude über Speiseraum
und Küche, gelangt eine Etage darüber in ein Wohnzimmer mit Ofen
und schließlich in Schlafzimmer und
Bad im Dachgeschoss, welches durch
Dachfenster belichtet wird. Im Keller
befinden sich Weinlager und Technikraum.
Stahlbetondecken stabilisieren
das bereits rissige Gebäude, und
hinter einer Vorsatzschale aus Gipskarton wurde eine zusätzliche Innendämmung angebracht. Die beim
Umbau der Mühle verwendeten Konstruktionen sind der Art und Größe
des Gebäudes entsprechend einfach.
So wirkt zum Beispiel der filigrane
Stahlbalkon, der das Wohnzimmer
zum See hin erweitert, nahezu provisorisch. Einen unerwarteten Kontrast
zum rustikalen Äußeren bilden die Innenräume: Hier sind alle Wände weiß
verputzt, filigrane Stahl-Glastreppen führen in die Obergeschosse,
und das Bad unter dem Dach ist lediglich durch eine Glastrennwand
vom Schlafzimmer getrennt.
1
Querschnitt
2
GROUND FLOOR PLAN - KITCHEN
FIRST FLOOR PLAN - LIVING ROOM
SECOND FLOOR PLAN - BEDROOM & BATHROOM
Grundrisse: Erdgeschoss – Küche; 1. Obergeschoss – Wohnzimmer;
2. Obergeschoss – Schlafzimmer und Bad
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
FOTOS VON LUCIE KAVANOVA
3
61
“Um bei dieser Projektstudie
eine außergewöhnliche Tageslichtsituation zu schaffen,
haben wir die Intelligenz eines
Einzelproduktes von VELUX als
Leitmotiv für die Visualisierung
unseres Entwurfes eingesetzt.”
Tageslicht-Impulse mit VELUX.
Eine Idee von Hadi Teherani
Entdecken Sie intelligente Ansätze für Tageslicht- und Energiekonzepte im Wohnungsbau. Die Fachvortragsreihe “Architektur im Dialog” thematisiert die automatische Regelung von Tageslicht und
Klima im Gebäude. Wir unterstützen auch Sie bei der Entwicklung besonderer Ideen und Projekte.
Zum Beispiel mit dem Klima Komfort System von VELUX für Ihre innovativen Konzepte im Bereich
Home Automation.
velux.de/architektur
VELUX IM DIALOG
Der EAAE-Preis: Leitlinien
für das Architekturstudium
SCHRIFTEN ZUR
ARCHITEKTURLEHRE
Text von Per Olaf Fjeld.
Fotos von Jacob Boserup.
Mit dem EAAE-Preis werden individuelle Beiträge und
Schriften zur Architekturlehre ausgezeichnet, um die
Qualität der Architektenausbildung in Europa zu
fördern. Die von einem internationalen Fachgremium
alle zwei Jahre verliehene Auszeichnung richtet die
Aufmerksamkeit auf außergewöhnliche Veröffentlichungen. Der erstmals 1991 verliehene EAAE-Preis
wird seit 2001 von VELUX finanziell unterstützt.
Bei der Lektüre der 75 zum EAAE-Preis 20032005 eingereichten Artikel erkannte ich,
wie wichtig dieser Wettbewerb für unsere
gesamte Lehre ist. Er bildet die Grundlage
für eine dringend erforderliche Diskussion
über Inhalt und Richtung des Architekturstudiums. Zu leicht gerät in Vergessenheit,
dass der Lehrstoff und die Art seiner Vermittlung direkten Einfluss auf unsere Baukultur nehmen.
Abgesehen von einem grundlegenden
Konsens über die Ergebnisse des Architekturstudiums weist die Architekturlehre in
Europa und Nordamerika keine gemeinsame Zielsetzung auf. Jede Hochschule ist
bestrebt, eine eigene Identität oder Richtung
zu etablieren, um den unmittelbaren Anforderungen der Region, der Studenten sowie ihrer
zukünftigen Arbeitgeber gerecht zu werden.
Jede Hochschule verfolgt ihr eigenes Konzept in der Hoffnung, diese Anforderungen
zu erfüllen und gleichzeitig auf wundersame
Weise zukünftige Ansprüche vorherzusehen.
Grundsätzlich offenbaren die Wettbewerbsbeiträge, dass wir sehr wenig voneinander
wissen, sowohl hinsichtlich unserer Lehrmethode als auch der Lehrinhalte und ihrer Prio-
ritäten. Von daher hat die EAAE die wichtige
und verantwortungsvolle Aufgabe, die pädagogischen Methoden und Lehrstoffe der verschiedenen Mitgliedsinstitute zu sammeln
und zu veröffentlichen, nicht nur als Katalog für die Studenten als Orientierungshilfe
bei der Wahl einer geeigneten Hochschule,
sondern auch als Diskussionsplattform. Wir
wissen viel zu wenig über das Spektrum der
Lehranstalten; aufgrund des Mangels an präzisen und rasch zugänglichen Informationen
über andere Hochschulen preisen wir manche pädagogische Methoden und Theorien
immer wieder als neu oder innovativ. Wir
konzentrieren uns derart auf das „Neue und
Innovative“, dass uns keine Zeit mehr für den
Vergleich mit ähnlichen Methoden und Theorien in anderen Regionen oder Hochschulen bleibt. Hierzu kann die EAAE sicherlich
einiges beitragen.
Natürlich gibt es keine einfachen Antworten und kein Rezept für die Architekturlehre,
aber es existiert zumindest ein grundsätzliches Bestreben zur kontinuierlichen Neuerung und Anpassung. Die Lehre erfordert
kreatives Denken, intuitives Feingefühl und
vor allem ein hohes Maß an Konzentration.
Widmen wir uns beispielsweise dem Begriff
‚Wissen’ und seiner Verwendung in den verschiedenen Texten. In zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen wurde der Begriff ‚neues
Wissen’ als isolierte bzw. separate Gesamtheit behandelt. ‚Altes’ oder ‚bestehendes’
Wissen ist Ausgangspunkt für die Entwicklung und das Verständnis ‚neuen’ Wissens.
Ist das bestehende oder traditionelle Wissen
wegen seines Alters von geringerer Bedeutung? Wenn dieses ‚alte Grundwissen’ aber
nur noch von kurzer Lebensdauer ist, entsteht die Möglichkeit, es immer wieder als
neu anzupreisen. Unsere Fixierung auf Erneuerung und Innovation verleiten uns dazu, die
Prinzipien und Grundlagen, auf welchen das
neue Wissen beruht, leichtfertig zu übergehen oder gar zu vergessen. Die sich schnell
wandelnden Anforderungen unserer ergebnisorientierten Gesellschaft führen zur Priorisierung des Kurzzeitgedächtnisses. Ob
und inwieweit dies kreativ und sinnvoll ist,
sei allerdings dahingestellt.
Die Veränderungen, welche die Architekturlehre im Hinblick auf Verständnis und
Anwendung bestehenden Wissens erfährt,
werden von den Teilnehmern mit gewisser
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
63
Skepsis betrachtet. Der von der Informationsgesellschaft erhobene Anspruch auf Präzision
bei gleichzeitigem Fortschritt schlägt sich
auch auf die Architektur nieder und schafft
ein diffuses Verhältnis zur Kultur und zu Definitionen von kultureller Bedeutung. Auch hier
genügt es nicht, nur nach vorne zu blicken;
wir müssen auch konkrete Kenntnisse dessen haben, was wir hinter uns lassen.
Die Computertechnologie als Mittel zur
Verbreitung neuen Wissens ist von immensem Wert. In der Informationsgesellschaft
kommt ihr zweifellos eine Kernfunktion zu.
Wir sind zunehmend von Computern abhängig, um Informationen schnell zu verbreiten, welche die Architektur unterstützen
und beeinflussen mögen. Nur wenige aber
sind überzeugt, dass diese Instrumente und
Werkzeuge weiterreichende Möglichkeiten
bieten – mit anderen Worten: Diese Mittel
sind nicht in der Lage, neue Inhalte zu bestimmen oder die zeitgenössische Architektur in
eine bestimmte Richtung zu lenken. Abgesehen von direkten und spezifischen Problemlösungen trägt die Technologie nichts zur
Bewusstseinsbildung bei.
Die Grenzen der neuen Technologie stellen für Architekturtheorie und Praxis gleichermaßen eine Herausforderung dar, sofern
Architektur mehr sein soll als reine Problemlösung. Damit ergibt sich die Frage nach der
künftigen Rolle des Architekten und der
Architekturlehre. Ist es unsere Aufgabe, die
Suche nach und das Verständnis von Inhalten durch die Architektur zu unterstützen?
Wenn ja, sind bisher übliche Fähigkeiten und
64
Kenntnisse innerhalb der von der Informationsgesellschaft auferlegten Grenzen für
die Architekturlehre nicht ausreichend. Nur
vereinzelte Beiträge haben die Bedeutung
von Architektur und Baukultur als kontinuierlichem Spiegel unseres täglichen Lebens
in Frage gestellt; die Mehrzahl der Artikel
stellte die Wichtigkeit von Erscheinungsbild und Formfindung unter Rückgriff auf
diverse konzeptionelle Ansätze in den Mittelpunkt. Der Baukunst und ihrer Beziehung
zum menschlichen Verhalten sind kaum Grenzen gesetzt, abgesehen von solchen, die sich
die Architektur selbst auferlegt. Im kommerziellen Interesse kann die Informationsgesellschaft diese Offenheit strategisch nutzen, um
das verfügbare Wissen und Know-How einzugrenzen und zu beeinflussen. Kommerzielle
und politische Interessen können sich nachhaltig auf die Architektur auswirken, so dass
die Baukunst häufig von externen Motivationen beeinflusst wird und sich primär auf den
Nutzungsaspekt konzentriert.
Theorie und Forschung sind mittlerweile
fester Bestandteil im Lehrplan der meisten
Architekturhochschulen, um das Sachverständnis der Studenten zu fördern und die
Schulungsinhalte weiterzuentwickeln. Ein
erweiterter Denkansatz ist durchaus erkennbar, aber konnten wir diese veränderten
Ansprüche an Forschung, Theorie und neue
Technologie auch in gebaute Architektur
umsetzen, oder dienen uns neue Technologien weiterhin nur zur virtuellen Darstellung
realistischer Szenarien und dem prompten
Zugriff auf Informationen? Ja und nein. In
gewissem Maße hat die Erweiterung eine
neue Debatte über die technologischen und
formalen Aspekte der Architektur angeregt.
Darin wurden jedoch keine einheitlichen Strategien und Rahmenbestimmungen für die
Architekturlehre der Zukunft definiert.
Weitere Punkte von merklichem Interesse sind die künftige Bedeutung des Zeichenateliers im Computerzeitalter und die
Folgen entsprechender Änderungen und
Neuerungen. Bemerkenswert ist, dass die
Zeichenateliers vor Einführung der Computertechnik je nach Schule und Region unterschiedliche Funktionen hatten. Zwar waren
Zeichenateliers in den meisten Schulen das
Kernstück architektonischer Pädagogik, aber
Struktur, Ausrichtung, Hierarchie, Studentenzahl und Erwartungen wichen teilweise
beträchtlich voneinander ab. Daher können
die Probleme und Lösungen bei Einbeziehung
der Computertechnik in die Zeichenateliers
von Schule zu Schule und Nation zu Nation
geringfügig anders gelagert sein. Tatsächlich
werden Skizzen nur noch selten angefertigt,
Zeichnungen vielmehr maschinell erstellt; auf
den Schreibtischen stapeln sich Modelle, und
die wechselseitigen Beziehungen zwischen
Studenten und Lehrkörper sowie zwischen
den Studenten selbst mögen weniger impulsiv sein. Aber ebenso wie die ursprünglichen
Zeichenateliers vor Erfindung des Computers
in den Schulen unterschiedlich waren, weist
auch heute die interne Struktur jedes Ateliers
eigene Besonderheiten auf. Wir müssen ein
besseres Verständnis dafür entwickeln, wie
und warum sich die Zeichenlehre in den einzel-
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Ganz links Per Olaf Fjeld, Professor und ehemaliger Rektor
der Architekturhochschule in
Oslo, war Vorsitzender der Jury
beim EAAE-Preis 2003-2005.
Sein Resümee nach der Lektüre
der 75 eingereichten Beiträge:
„Das enorme Interesse an Architektur und Design, das uns täglich in den Medien begegnet, hat
dazu beigetragen, die Architekturlehre von ihrem hohen Thron
zu holen; es hat jedoch nicht den
Druck verringert, Inhalt, Methodik und Ideologie der Ausbildung
deutlich zu definieren.“
Die Jury des EAAE-Preises
2003-2005 bestand aus Per
Olaf Fjeld (Vorsitzender), Peter
Mackeith, Juhani Pallasmaa,
Dagmar Richter und Alberto
Perez Gomez.
nen Schulen entwickelt hat. Die Erarbeitung
eines Modellbauateliers, das Raum bietet für
eine neue Offenheit – sowohl bezogen auf den
Arbeitsprozess als auch auf die Beziehungen
zwischen den Studenten sowie zwischen Studenten und Lehrkörper – ist wichtig für die
weitere Existenz des Zeichenateliers.
Die Architekturlehre wird mit etlichen
Hürden und Neuerungen konfrontiert. Unter
Rückgriff auf aktuelle Technologien durchläuft sie einen kontinuierlichen Modernisierungsprozess, um mit dem Tempo der
Informationsgesellschaft Schritt zu halten.
Der optimistische Glaube aber, dass Technologie über unsere gebaute Umwelt die
Lebensqualität erhöhen könne, ist zumindest teilweise gedämpft. Dem Umgang des
Architekten mit der Computertechnologie
steht die Fähigkeit der Maschinen gegenüber,
Objekte bzw. geplante Objekte grenzenlos zu
bearbeiten. Wichtiger Gegenstand der Architektur aber sind der Raum, seine Nutzung und
das Verständnis von Raum auf allen Ebenen.
Leider lassen sich die räumlichen Kapazitäten
und Begriffe des Computers nicht mit sämtlichen Ebenen des Raumverständnisses in der
Architektur vereinbaren. Die Maschine vermag zwar Raumkonzepte schnell und problemlos darzustellen, wir aber bringen unser
hart erarbeitetes und lebenslanges Raumverständnis mit ein, und dies nicht nur im
körperlichen, sondern auch im sozialen und
psychologischen Sinne. Die Architekturlehre hat daher oftmals mit entsprechenden
Schwierigkeiten und konfusen Problemen zu
kämpfen. Die Balance zwischen Virtualität
und Realität und deren Ineinandergreifen auf
vielen Ebenen stellen eine große Herausforderung für den modernen Architekturlehrplan dar. Die Zeit, die für Verständnis und
Bedienung komplexer Computersysteme
aufgewandt wird, und die der Architektur
selbst gewidmete Zeit liegen sozusagen in
akademischem Clinch.
Einige Beiträge beschäftigen sich mit
der Lücke zwischen Architekturlehre und
Berufspraxis. Natürlich sind modernste
Computertechnologie und entsprechendes
Fachwissen angesichts der ständigen Entwicklung neuer Materialien für den Beruf
unerlässlich. Ist aber jeder Teil dieses komplexen „Baupakets“ für die Architektenausbildung von gleichem Interesse? Auf welche
kurz- und langfristigen Fähigkeiten und
Kenntnisse wird Wert gelegt, und welches
ausgewogene Verhältnis kommt den Studenten am ehesten zugute? Teilweise wird
die Auffassung vertreten, die Schulen ähnlich wie ein Architekturbüro zu führen und in
den Zeichenateliers reale Gebäude für echte
Kunden zu planen, so dass alle Student(inn)en
vor ihrem Studienabschluss wenigstens ein
kleines Gebäude oder einen Raum im Maßstab 1:1 errichtet haben. Ein Praktikum für
die Dauer zumindest eines Semesters wird
in mehreren Beiträgen befürwortet. Dieser
Wunsch ist uns hinlänglich bekannt und wird
wohl auch künftig geäußert werden, eine
entsprechende allgemeingültige Vereinbarung ist jedoch noch in weiter Ferne. Jedes
Land und jede Schule trifft hierzu eigene Entscheidungen und verfolgt eigene Prinzipien.
Grundthema anderer Beiträge ist das mangelhafte oder fehlende Verständnis zwischen
diesen beiden Bereichen. Auch zukünftig
werden die Lehrkörper im besten Interesse
der Studenten gezwungen sein, das Dilemma
zwischen einer Lehre zur langfristigen Förderung des Berufsstands und einer direkt auf
die Anforderungen des Arbeitsmarkts ausgerichteten Ausbildung zu lösen.
Ein gewisser Konsens besteht darüber,
dass sich die Inhalte der Architekturlehre
derzeit in notwendigem Wandel befinden.
Erstaunlicherweise beschäftigen sich nur
wenige der eingesandten Artikel mit den
dringlichsten Herausforderungen, denen
sich die Architektur der Zukunft stellen
muss: Hierzu gehören ökologische Aspekte,
Schaffung von Wohnraum für Bedürftige
und Obdachlose sowie die Nutzung von
Materialien und Energiequellen angesichts
der ständig steigenden Weltbevölkerung.
Obgleich wir heutzutage zunehmend mit
realen und internen Problemen konfrontiert
werden, sind diese nur selten Gegenstand
unseres neuen Wissens und noch viel weniger
Ursprung für neue Erkenntnisse und Innovationen. So schenken viele Architekturschulen diesen entscheidenden Grundproblemen
merkwürdigerweise nur geringe Aufmerksamkeit.
Die ‘Informationsgesellschaft’ bietet nicht zwangsläufig eine Orientierungshilfe für die Architekturlehre; ebensowenig
ist sie abhängig von einer bestimmten Kultur oder Glaubensrichtung. Ein Artikel führt
uns unsere Neigung vor Augen, die Schwie-
65
rigkeiten kreativen Schaffens zu vergessen,
ja diesen Akt als selbstverständlich anzusehen in dem Glauben, Informationen und
Know-How könnten die Kreativität ersetzen.
Ebenso werden Theorie und kulturelle Einflüsse gerne miteinander vermischt. Häufiger
Kritikpunkt ist zudem, dass viele Architekturschulen die realen Aspekte der Architektur
mit gewisser Distanz und Abstraktion lehren, wodurch ein tieferes und umfassenderes
Verständnis des architektonischen Raums
erschwert wird. Statt des Verständnisses
von realem Raum, Material und Volumen
stehen dort virtuelle Räume, Materialien und
Volumen im Mittelpunkt. Diese Entwicklung
ist ebenso interessant wie bedauerlich.
Des Weiteren müssen wir uns der komplexen Natur der Architektursprache bewusst
sein, die sich in den letzten Jahren entwickelt
hat. Ich behaupte, dass in den 75 Beiträgen
die Sprache und ihre Struktur häufig weitaus
komplizierter als der Inhalt sind. Natürlich ist
es wichtig, den Inhalt der Architekturlehre
auszuweiten und unterschiedlichste akademische Bereiche einzubeziehen; dementsprechend muss auch unser Vokabular erweitert
werden. Genauso aber gilt es zu bedenken,
dass die Architektur trotz aller virtuellen
Möglichkeiten noch immer bodenständig und
vor allem ein Beruf ist. Dieser hat in den letzten 50 Jahren bedeutende Veränderungen
erfahren. Nie zuvor waren Architekten derart auf Überlegungen und Interpretationen
der Gelehrten und Forscher angewiesen.
Daher ist es unabdingbar, unsere Gedanken
klar und präzise sowie allgemein verständ-
66
lich zu formulieren. In einer Zeit, in der immer
mehr Architekturstudenten promovieren, ist
die architektonische Forschung populärer
als je zuvor. Diese Forschung unterliegt keiner klaren und allgemeinen Definition: Unter
enormem Energieaufwand produzieren wir
zahllose Schriften in dem Bereich, den wir
als ‚Architektur’ bezeichnen. Aber bringt das
die Architektur tatsächlich voran? Ich hoffe
ja, denn wenn irgendwelche Architektenforen hierzu einen Beitrag leisten können,
dann jene, die Architekten und Institutionen
zusammenführen, um über die Architekturlehre ins Gespräch zu kommen und zu diskutieren. Ich bin daher sehr stolz, an diesem
Wettbewerb beteiligt zu sein, da seine Beiträge eine wichtige und essenzielle Diskussionsgrundlage schaffen. Das enorme Interesse
an Architektur und Design, das uns täglich in
Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen und in
bebilderten Ratgebern begegnet, hat dazu
beigetragen, die Architekturlehre von ihrem
hohen Thron zu holen; es hat jedoch nicht den
Druck verringert, Inhalt, Methodik und Ideologie der Ausbildung deutlich zu definieren.
EAAE
Die EAAE ist eine internationale und gemeinnützige Vereinigung zur Förderung des Ideen- und
Personalaustauschs im Bereich architektonischer
Ausbildung und Forschung. Ziel der EAAE ist die
Verbesserung von Basiswissen und Qualität der
Entwurfslehre in Architektur und Städtebau. Seit
ihrer Gründung im Jahr 1975 ist die EAAE eine
angesehene Institution zur Förderung der europäischen Architekturlehre mit wesentlicher Funktion bei der Beratung von Architekturdozenten und
staatlichen Organen. Die EAAE zählt über 100
aktive Mitgliedsschulen in Europa von den Kanarischen Inseln bis zum Ural und repräsentiert nahezu 5.000 eingeschriebene Fakultätsangehörige
sowie mehr als 100.000 Architekturstudenten
(vom Grundstudium bis zur Promotion). Die Vereinigung unterhält weltweite Verbindungsmitgliedschaften. Die EAAE richtet zahlreiche Konferenzen,
Workshops und Sommerkurse für junge Lehrbeauftragte zu wichtigen Themen aus, deren Inhalte
veröffentlicht und verbreitet werden. Zudem verleiht die Vereinigung Auszeichnungen und Preise.
Weitere Informationen sind auf der EAAE-Homepage (www.eaae.be) zu finden.
Per Olaf Fjeld, Professor und ehemaliger Rektor der Architekturhochschule in Oslo, begann
seine Karriere als Architekt im Jahr 1973 in den
Büros des norwegischen Architekten Sverre Fehn.
2003 war er Gastprofessor an der Architekturfakultät der Universität Arizona. Seit 2001 ist er
Vorstandsmitglied der European Association of
Architectural Education (EAAE), zu deren Präsidenten er kürzlich gewählt wurde.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
European Association for Architectural Education
Association Européenne pour l’Enseignement de l’Architecture
WWW.EAAE.BE
WRITINGS IN ARCHITECTURAL EDUCATION
Representation in Architecture
Communication – Meaning – Visions
At the present the tools of the architect are in the midst of an
accelerated process of development and change. New technology
has opened up for a greater design complexity and spatial variation.
The digital working process offers a capacity of 2D and 3D
visualisation that simply was not possible half a century ago.
This new mode of communication has changed architectural
representation at every level. One may argue that this will change
architecture, but in what way? What, then, is representation in
architecture today? Does representation have its own architectural
content and agenda, and what impact will this have on architectural
education?
The EAAE Prize is open to all members of the teaching staff of the
EAAE member schools of architecture, or individual members of
the EAAE.
Download the prize invitation and registration form: www.eaae.be
or contact the Organising Committee v/ [email protected]
The deadline for contributions is October 12, 2006
EAAE PRIZE
2005-2007
sponsored by
BÜCHER
REZENSIONEN
Zum Weiterlesen:
Aktuelle Bücher,
vorgestellt von D&A.
BROKEN GLASS
Glas in Kunst und Architektur
Herausgeber: Wolfgang Becker
Wienand Verlag 2005
ISBN 3-87909-875-1
‚Broken Glass‘ ist der Katalog einer
Ausstellung, die im Herbst 2005 in
dem von Wiel Arets sanierten, ehemaligen Kaufhaus Schunck (dem so
genannten ‚Glaspalast‘) in Heerlen
stattfand. Thema des Buchs ist die
Bedeutung des Glases in jedem erdenklichen kulturellen Kontext – in
der Skulptur, der Glasmalerei, der
Architektur, Literatur, Musik und im
Film. Kunst- und Architekturhistoriker, Literaturwissenschaftler und
eine Filmmusikerin haben Texte zu
‚Broken Glass‘ beigetragen; als Prolog
dient jedoch eine Mitschrift aus dem
Film ‚Slow Glass‘ von John Smith, in
dem ein Londonder Glaser über die Geschichte und Herstellung von Glas räsonniert. Er erinnert daran, dass Glas,
obzwar scheinbar fest, eine Flüssigkeit ist, dass wir aber zu schnell leben,
um dem Fließen des Glases zusehen
zu können.
Beinahe ein Drittel des Buches
nimmt der Beitrag von Wolfgang Becker über ‚Kunst und Glas‘ ein, in dem
68
uns der Verfasser in die Welt der GlasSkulpturen und Glas-Installationen
entführt. Kenntnisreich kommentiert
Becker Werke von Marcel Duchamp,
Gerhard Richter, Mario Merz, Joseph
Beuys und vielen anderen modernen
und zeitgenössischen Künstlern und
schließt mit dem Fazit: „..[es] scheinen aber die Werke zu überwiegen, in
denen die Autoren die Wirklichkeitsbrechungen, die Täuschungen, die Illusionen zu zeigen versuchen, die an
das Glas gekoppelt sind.“ Wesentlich stärker auf das Handwerk der
Glasverarbeitung geht Iris Nestler in
ihrem Kapitel über Glasmalerei und
‚Studioglass‘ – die Kunst, kleine Skulpturen und Gefäße aus Glas zu fertigen
– ein, während der Aachener Architekturhistoriker Manfred Speidel einige –
gebaute wie erdachte – Meilensteine
der Glasarchitektur Revue passieren
lässt: Joseph Paxtons Glaspalast
in London, Walter Gropius’ FagusWerke in Alfeld, Mies van der Rohes
Hochhausentwürfe für Berlin sowie
die Phantasien der ‚Gläsernen Kette‘
um Paul Scheerbart und Bruno Taut.
Auch wenn die meisten Essays ihr
Themengebiet nur ausschnittsweise
behandeln, überzeugt ‚Broken Glass‘
durch die in ihm enthaltene Vielfalt
der Blickwinkel. Selten wurde Glas
innerhalb eines Buchs so vielseitig
dargestellt. Deutlich wird im Buch
jedoch auch, dass wirklich überzeugende, disziplinübergreifende Arbeit
mit Glas – selbst zwischen Architektur und Bildender Kunst – noch immer
selten ist. Ob es daran liegt, dass Glas
in unserer Kultur zuletzt ganz überwiegend durch die Business- und
High-Tech-Architektur besetzt war?
Zumindest ansatzweise könnte ‚Broken Glass‘ hier dazu beitragen, die
Sinnlichkeit des Werkstoffs wieder
zu entdecken.
CONCRETE
ARCHITECTURE
Autorin: Catherine Croft
Laurence King Publishing 2005
ISBN 1-85669-364-3
Beton war und ist ein kontrovers diskutiertes Material in der Architektur. In den jüngsten Jahren scheint
es indessen, als sei der vermutlich
vielseitigste (und eben deshalb in
der Vergangenheit oft gedankenlos
verwendete) Baustoff der Moderne
salonfähig geworden, ja, als gelte es
regelrecht als schick, sich mit Bauten und Objekten aus Beton zu umgeben. Neue Betonmischungen, die
immer glattere Oberflächen und
immer schlankere Bauteile möglich
machen, haben ihren Teil zur Popularität jenes Materials beigetragen,
von dem Frank Lloyd Wright noch
1928 schrieb: „Es fällt nicht leicht, in
diesem Konglomerat einen hohen ästhetischen Wert zu erkennen, da es
ein Amalgam ist ... Der Zement, das
Bindemittel, ist an sich charakterlos.
Das Endergebnis ist für gewöhnlich
im besten Fall ein künstlicher Stein
und im schlimmsten Fall ein versteinerter Sandhaufen.“
Nicht nur Wright änderte seine
Einstellung zum Beton später. Auch
die Autorin Catherine Croft, Direktorin der Twentieth Century Society, bezeichnet ihr Buch gleich im
ersten Satz als ‚Hommage an den
Beton‘. Sie beginnt diese mit einem
ausführlichen Essay über die Geschichte des Betons, in dem sie nie
allein die Entwicklung der Betontechnik und –konstruktionen in den
Vordergrund stellt, sondern stets
auch auf dessen kulturelle Bedeutung eingeht. Auch in den folgenden
vier typologisch gegliederten Kapiteln mit insgesamt 44 Projektdarstellungen (Wohnen, Arbeiten,
Spiel und Landschaft) gewährt die
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Autorin neben einer Beschreibung
der Bauwerke stets auch Einblicke
in die Entwurfsphilosophie der jeweiligen Architekten. Dass Beton in
unserer gebauten Umwelt keineswegs nur für den reinen Hochbau
bedeutsam ist, verdeutlichen die
Beispiele aus dem letzten Kapitel,
die sich zwischen Landschaftsarchitektur und Land Art, unterirdischen
Friedhofskomplexen und städtischer Platzgestaltung bewegen.
Selbstverständlich ließe sich die
Betrachtung noch wesentlich weiter, etwa in den Bereich des Ingenieurbaus, ausdehnen, doch auch in
seiner jetzigen Form dokumentiert
der von faszinierenden Farbfotos
illustrierte Bildband eindrücklich
die funktionale und gestalterische
Vielfalt des Betons. Vor 100 Jahren hatte William Lethaby noch
geschrieben, man möge ihn zwar
verwenden, doch in ‚zivilisierten
Gebäuden‘mit Marmor, Goldmosaik
oder Farbe verdecken. Vor 50 Jahren forderte Louis Kahn, ein Betonbauwerk sollte jeden Schritt seiner
Herstellung ablesbar machen. Heute
nimmt die Betonarchitektur die gesamte Bandbreite zwischen beiden
Extrema ein; starre Dogmen scheinen abgeschaff t und es der Kreativität jedes Einzelnen überlassen,
das Beste aus dem Konglomerat
aus Sand, Kies, Zement und Wasser
sowie einem zunehmenden Anteil
chemischer Zusatzstoffe zu machen.
Und vermutlich ist es gerade die daraus resultierende Vielfalt, die dem
Beton zu seiner gegenwärtigen Popularität verholfen hat.
DIE KUNST DER
HOLZARCHITEKTUR
Autor: Will Pryce
E. A. Seemann Verlag 2005
ISBN 3-86502-122-0
(Englische Ausgabe:
Buildings in Wood
Rizzoli Publishers
ISBN 0847827461)
Holz gehört zu den ältesten Baustoffen der Menschheit – und galt
doch stets als minderwertig, dem
Stein unterlegen auf Grund seiner
kürzeren Lebensdauer, geringeren
Festigkeit und leichten Brennbarkeit.
Möglicherweise deshalb standen
selbst Meisterwerke der Holzarchitektur wie Norwegens Stabkirchen
oder die Tempel der Verbotenen
Stadt stets im Schatten der großen
Steinbauten der Architekturgeschichte. Erstmals – zumindest behauptet dies der Verlag – hat nun Will
Pryce eine umfassende Geschichte
der Holzarchitektur in aller Welt verfasst. Sein Buch ist in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich: Pryce ist
nicht nur Architekt und ausgewiesener Kenner des historischen und
aktuellen Holzbaus, sondern auch ein
begnadeter Fotograf. ‚Die Kunst der
Holzarchitektur‘ stammt vom Titelbild bis zur letzten Fußnote aus einer
Hand, und man kommt nicht umhin,
dieser Einzelleistung Respekt zu
zollen. Insbesondere die Fotos, die
selbst im doppelseitigen Format von
30x48 Zentimetern kaum an Brillanz und Schärfe verlieren, machen
das Buch zu einem Lesevergnügen.
Mit Ausnahme von Afrika und Südamerika hat Pryce alle Weltregionen
bereist, um Holzbauwerke zu fotografieren. Einen Anspruch auf Vollständigkeit stellt er mit seinem Buch
indessen nicht, wie er gleich im Vorwort schreibt. Statt chronologisch
oder typologisch vorzugehen, nähert
er sich der Architekturgeschichte anhand von Fallbeispielen an, in denen
er neben den Eigenheiten des jeweiligen Bauwerks immer auch die
kulturell-geografischen Rahmenbedingungen ihres Entstehens erläutert. Und auch Pryces Exkurs zur
zeitgenössischen Holzarchitektur, in
denen er unter anderem Bauten von
Jarmund&Vigsnaes, Thomas Herzog,
Bruce Goff und Richard Leplastrier
zeigt, wirkt wie eine organische
Fortführung der vorangegangenen
Kapitel. Einzig die eine oder andere
Konstruktionszeichnung vermisst
der aufmerksame Leser bisweilen,
wenn Pryce Details mit Worten zu
erklären sucht, die im Bild besser darzustellen gewesen wären.
Eindrucksvoll zeigt ‚Die Kunst
der Holzarchitektur‘ die Vielfalt der
Formen und Oberflächentexturen,
die die zumeist anonymen Baumeister vergangener Jahrhunderte mit
dem Werkstoff Holz schufen. Doch
Pryce erwähnt auch, wie die Holzarchitektur buchstäblich die Welt
verändert hat. Kaum vorstellbar ist
heute beispielsweise noch, dass das
Wort ‚Holland‘ seine Urspünge eigentlich in ‚Holtland‘ (Holzland) hat.
Aufgabe zukünftiger Holzarchitektur wird es daher sein, eine Balance
zu finden zwischen dem Abbau
von Ressourcen und deren Regenerationsfähigkeit – denn auch
‚nachwachsende‘ Rohstoffe gehen
irgendwann zur Neige.
JØRN UTZON
LOGBOOK
Volume II: Bagsværd
Edition Bløndal
ISBN 87-91567-07-6
2002 publizierte der dänische Verleger Torsten Bløndal ein bemerkenswertes Buch: die Monografie ‚Utzon‘,
verfasst von Richard Weston, mehr
als 500 Seiten stark und einige Kilo
schwer – womöglich das definitive
Buch über den größten dänischen
Architekten der vergangenen 50
Jahre. Doch wer meinte, damit sei eigentlich alles gesagt und geschrieben, sieht sich getäuscht: Nur drei
Jahre später lässt das kleine dänische Verlagshaus drei „Logbücher“
zu einzelnen Gebäuden oder Gebäudetypen folgen, an deren Erstellung der inzwischen fast 90-jährige
Utzon selbst mitgewirkt hat. Band
zwei porträtiert auf knapp 170 Seiten das wohl wichtigste Bauwerk
des Pritzker-Preisträgers in Dänemark, die Bagsværd-Kirche im Nordwesten Kopenhagens. 1969 bis 1976
erbaut, zeigt sie Utzon auf der Höhe
seiner Schaffenskraft – „eine ungeheuer einfache und direkte Architektur, die dem Gebäude einen
Ausdruck der Ganzheitlichkeit verleiht“, wie Utzon selbst in einem Gespräch mit dem Herausgeber Torsten
Bløndal anmerkt. Zu lesen ist dies auf
Seite 117, und bis hierhin gibt es mit
Ausnahme des Inhaltsverzeichnisses
erst einmal gar nichts zu lesen – noch
nicht einmal Seitenzahlen. Ganz bewusst setzen Bløndal und Utzon in
ihrem Buch auf die Aussagekraft
der Bilder und Zeichnungen. Sie illustrieren die Kunstfertigkeit, mit
der Utzon auch banalste Industrieprodukte zu Bauwerken voller Poesie
verband und den Besuchern seiner
Kirche „die Sicherheit, etwas über
dem Kopf zu haben, das gebaut und
nicht nur entworfen wurde“ vermittelte, wie er später über die Bagsvaerd-Kirche schrieb. Jede Einzelheit
des Bauwerks entwarf Utzon selbst,
er importierte die Fliesen für die
Handläufe persönlich aus Mallorca
und legte selbst die Einschlagtiefe
der Nägel an den Kirchenmöbeln
genau fest. Die gleiche Detailversessenheit spiegelt auch der zweite
Teil des Buches wider, in dem die am
Bau Beteiligten – Utzon selbst, sein
Sohn und damaliger Assistent Jan,
der Bauingenieur Godtfred Jensen
sowie der Pfarrer der Bagsværd-Kirche, Svend Simonsen – ihre Erinnerungen mit teils bewundernswerter
Genauigkeit aufgezeichnet haben.
Drei Analysen ‚externer’ Fachleute
schließen den Band ab: Bo Mortensen beschreibt die Akustik der Kirche,
der Utzon-Biograph Richard Weston
spekuliert über mögliche Vorbilder
und Inspirationsquellen Utzons, und
Martin Schwartz analysiert die laut
Utzon „wichtigste Sache in dieser
Kirche“: das Licht.
Ebenso viel wie über sein Bauwerk sagt das ‚Logbuch’ über Jørn
Utzon selbst aus: es porträtiert ihn
als Vertreter einer orts- und menschenbezogenen Moderne, aber auch
als Vertreter einer Architektengeneration, die ihre Aufgabe noch in der
totalen Kontrolle über ein Projekt –
in allen Leistungsphasen und allen
Details – begriff. Von Detailzeichnungen abgesehen, die Utzon ohnehin eher spärlich anfertigte, ist die
Bagsværd-Kirche in diesem Logbuch
lückenlos dokumentiert, so dass Utzons Schlusswort in seinem Gespräch mit Torsten Bløndal zugleich
als Resümee des gesamten Buchs zu
lesen ist: “Ich glaube, dass das, was
ich Ihnen jetzt über die Kirche erzählt
habe – angefangen von den ersten
Ideen bis zu den Details – alles da ist.
Wir haben nichts mehr, über das wir
sprechen müssten.”
69
BÜCHER
EMPFEHLUNGEN
Architekten empfehlen ihre
Lieblingsbücher in D&A.
1 Much Untertrifaller
2 Chris Leung
3 Piergiorgio Robino
1
1 MUCH
UNTERTRIFALLER
EMPFIEHLT
Richard Serra – Dirk’s Pod
Steidl Verlag
ISBN 3-86521-089-9
Dirk’s Pod, eine der größten Dauerinstallationen des amerikanischen
Bildhauers Rirchard Serra, wurde
im Mai 2004 auf dem Campus der
Novartis AG in Basel errichtet. Zur
Enthüllung dieser Großskulptur ist
im Göttinger Steidl Verlag ein 128
Seiten starkes Begleitbuch erschienen. Es enthält neben Textbeiträgen
von Daniel Vasella, Silke von Berswordt-Wallrabe und Richard Serra
selbst zahlreiche Fotografien von Nic
Tenwiggenhorn sowie von Dirk Reinartz. Der 2004 verstorbene Reinartz,
ein langjähriger Freund und Weggefährte Serras, hat den langwierigen
Herstellungsprozess der zehn Stelen
festgehalten, die Fotos der Endmontage und der fertigen Skulptur stammen von Nic Tenwiggenhorn.
70
2
3
Cruelty and Utopia
Cities and Landscapes
of Latin America
Jean Francois
Lejeune (Hrsg.)
Princeton Architetural Press
ISBN 1-56898-489-8
Carlo Mollino
Architecture as Autobiography
Thames & Hudson
ISBN 0-500-28583-7
Su Mangiarotti –
architettura design scultura
Abitare Segesta
ISBN 88-86116-45-4
Diese Sammlung illustrierter Essays
beschreibt die Geschichte jener ,anderen‘ amerikanischen Metropolen wie
Buenos Aires oder Mexico City. Ausgewiesene Kenner, unter ihnen Carlos
Fuentes, stellen die einzelnen Städte
vor; sie beschreiben die Entwicklung
der Armengebiete ebenso wie die Meisterwerke lateinamerikanischer Architekten von Luis Barragàn bis Lina
Bo Bardi. Begleitet werden die Texte
durch Abbildungen, die die Realität
Lateinamerikas meist künstlerisch
interpretieren. Ebenfalls abgedruckt
ist eine überarbeitete Übersetzung
der ,Leyes de las Indias‘ von 1573, die
zahlreiche Maßgaben zum Städtebau
enthielten und daher die Form der spanischen Kolonialstädte entscheidend
beeinflussten.
Carlo Mollino (1905 – 1973, Turin)
war einer der originellsten und zugleich rätselhaftesten Architekten
und Künstler des 20. Jahrhunderts.
Seiner nonkonformistischen Haltung wegen wurde er von den Kritikern zumeist geschmäht. In seinem
Werk, das Gebäude, Innenräume
und Möbel, aber auch Fotografien,
Schriftstücke und Bühnenbilder umfasst, vereinte er Einflusse des Futurismus und des Surrealismus. Die
bei Thames & Hudson erschienene
Monografie hat sich auf die Inneneinrichtungen und Möbelentwürfe
Mollinos konzentriert: 80 Meisterstücke seiner oftmals eher Skulpturen gleichenden Meisterwerke
werden hier durch selten veröffentlichte Dokumente und Fotos dokumentiert.
Der 1921 in Mailand geborene Architekt Angelo Mangiarotti zählt zu den
wichtigsten Protagonisten der italienischen Architekturszene. Doch
der in der Reihe ,SU‘ erschiene Band
verzichtet darauf, ein Gesamtwerk
des viel geachteten Architekten und
Stadtplaners wiederzugeben. 40
teilweise unbekannte Arbeiten aus
Architektur, Design und Skulptur
werden in historischem wie aktuellen
Bildern, Plänen, Skizzen und Texten
präsentiert. 70 Prozent dieses Materials blieb bis dato unveröffentlicht.
Ein weiterer Anreiz für den Leser bietet der dem Buch beigelegte Aufsatz
über die ‚Konstruktiven Systeme in
der Architektur‘. Mangiarotti selbst
hat ihn grafisch gestaltet.
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
2 CHRIS LEUNG
EMPFIEHLT
Architecture in the Digital Age:
Design and Manufacturing
Hugh Leach, Branko Kolarevic
Spon Press (UK)
ISBN 0-4152-7820-1
Das 320 Seiten starke Buch bietet
einen umfassenden Einblick in den
Status Quo der digitalen Architektur
– und spannt dabei den Bogen von den
Ursprüngen bis zur gegenwärtigen
Situation: Wo werden computergestützte Mittel in der Architektur eingesetzt und welchen Einfluss haben
sie? Wie können sie zukünftig sinnvoll verwendet werden? Chris Leung:
„… Die Verfügbarkeit von CAM (Computer Aider Software) und kleinformatigen CNC-Werkzeugen hat die
Kluft zwischen Nachdenken über
einem Entwurf und dessen Umsetzung geschlossen. Das Buch hebt
die Erwartungshaltung mit Berichten über Einzelpersonen und Büros,
die auf innovative Weise mit diesen
Werkzeugen arbeiten.“
3 PIERGIORGIO ROBINO
EMPFIEHLT
Dynamische
Tageslichtarchitektur
Helmut Köster
Birkhäuser
ISBN 3-7643-6729-6
Technologie des
ökologischen Bauens
Klaus Daniels
Birkhäuser
ISBN 3-7643-6131-X
Computer-Aided Manufacture
in Architecture – The Pursuit
of Novelty
Nick Callicott
Architectural Press
ISBN 0-7506-4647-0
‚Dynamische Tageslichtarchitektur‘
wendet sich an Architekten, Lichtplaner, Baumphysiker und Klimaingenieure. Denn Helmut Köster geht
es um ein nur gemeinsam erreichbares Ziel: die sinnvolle Integration
von Tageslicht und Solarenergie im
Gebäude. Chris Leung: „ Jahrelang
habe ich nach einem solchen Buch
gesucht, das eine sorgfältige technische Beschreibung des Tages- und
Sonnenlichts bietet. [...] Jedesmal,
wenn man denkt, dass der Autor
seine Argumentation zu Ende geführt hat, entdeckt man einen neuen
Blickwinkel auf die Frage, wie sich
Räume effizient und natürlich aus
jener kostenlosen Quelle beleuchten lassen, die uns die Natur zur Verfügung stellt: der Sonne.“
Auf 302 Seiten finden sich in dem
auf Deutsch und Englisch erschienen
Buch ‚Grundlagen und Maßnahmen,
Beispiele und Ideen‘ (so der Klappentext) zum Thema Ökologisches
Bauen. Chris Leung: „Als wir am
Wettbewerb um die Aga Khan-Universität teilnahmen, war dieses Buch
für uns eine wichtige Ideenquelle
zum ökologischen Bauen. Seitdem
haben seine wunderschön präsentierten und klaren Diagramme uns
zu vielen Diskussionen um die Potenziale umweltfreundlicher Technologien und Szenarien angeregt.
Das Buch war und ist in unserem
Büro ein Brückenschlag, um mit aufgeklärten Ingenieuren ins Gespräch
zu kommen.“
Unvoreingenommen und leicht verständlich, doch um so detaillierter
führt Nick Callicott die Leser seines
Buchs in die Geheimnisse des Computer Aided Manufacturing und seiner
Anwendungen in der Architektur ein.
Chris Leung: „Dies ist eines meiner
Lieblingsbücher, nicht zuletzt deswegen, weil es mich in viele der RapidPrototyping Techniken eingeführt
hat, die Designern zur Verfügung
stehen, und ich deswegen immer vertrauter damit werde. Wichtiger noch
für mich ist jedoch die Art des Einsatzes dieser Mittel, die dieses Buch
vertritt.“
Zaha Hadid: Architecture
Hatje Cantz
ISBN 3-7757-1364-6
The Snow Show
Lance Fung (Hrsg.)
Thames & Hudson
ISBN 0500238197
Archilab
Radical Experiments
in Global Architecture
Frédéric Migayrou
Thames & Hudson
ISBN 0500283125
Das Buch entstand 2003 anlässlich
einer Zaha-Hadid-Ausstellung im
Wiener Museum für Angewandte
Kunst. Unter den zahlreichen derzeit erhältlichen Hadid-Büchern
war es das erste, das (so der Verlag)
‚die neuesten Projekte der Künstlerin‘
dokumentiert. Gezeigt werden unter
anderem der Rosenthal Center for
Contemporary Art in Cincinnati, die
Nationalbibliothek in Montréal und
die Bühnenbilder für die Welttournee der Pet Shop Boys 2000. Mehrere, bislang meist unveröffentlichte,
Malereien und Grafiken der Londoner Architektin runden den Band ab.
Zum zweiten Mal begeisterte während der Olympischen Winterspiele
2006 die ‚Snow Show‘ Touristen aus
aller Welt. Sie ist der Folge-Event der
ersten ‚Snow Show‘ 2004 in Lappland, die Lance Fung in seinem Buch
vorstellt. Die 17 Kunstwerke, an
denen je ein Architekt und ein Künstler gemeinsam arbeiteten, werden
in mehr als 250 Fotos , zahlreichen
Zeichnungen und in von den Entwerfern verfassten Projekttexten dokumentiert. Zu sehen ist dabei nicht nur
das Endergebnis, sondern auch die
teils komplizierte Entstehungsgeschichte der vergänglichen Kunstwerke.
Frédéric Migayrou, Direktor der Architekturabteilug des Centre Pompidou, stellt in diesem Buch 60 der
innovativsten jungen Architekturbüros der Welt vor. Ihre Antworten
auf die Fragen, wie wir morgen und
übermorgen wohnen und arbeiten
werden, überraschen immer wieder aufs Neue. Detaillierte Büroprofile, mehr als 2000 Abbildungen und
Texte führender Architekturhistoriker und –kritiker machen den 528
Seiten starken Band zu einer reichhaltigen Inspirationsquelle in Sachen
Architekturentwurf und –visualisierung.
MVRDV: KM3
Excursions on Capacity
Actar
ISBN 8495951851
1998 machten MVRDV mit dem
Mega-Wälzer FARMAX auf sich
aufmerksam. Nun legen die Architektur-Avantgardisten mit “KM3”
einen zweiten, 1200 Seiten starken
Band vor. Thema des Buchs ist die
Neuerfindung der europäischen
Stadt – vorexerziert am Beispiel je
dreier Entwürfe für Amsterdam und
Rotterdam. Wie in vielen ihrer bisherigen Entwürfe gehen MVRDV dabei
von einer unkonventionellern Stapelung von (Stadt-)Landschaften aus,
die den Flächenverbrauch in den
eng besiedelten Niederlanden eindämmen soll.
71
DAYLIGHT &
ARCHITECTURE
AUSGABE 04
HERBST 2006
LICHT
PHOTO VON DAVID SUNDBERG, ESTO
Dichroic Light Field,
New York, USA –
von James Carpenter
A
72
D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03
Herunterladen