ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX SOMMER 2006 AUSGABE 03 Herausgeber Michael K. Rasmussen Website www.velux.de/Architektur VELUX-Redaktionsteam Christine Bjørnager Lone Feifer Axel Friedland Jana Masatova Lotte Nielsen Torben Thyregod E-mail [email protected] Redaktionsteam Gesellschaft für Knowhow-Transfer Thomas Geuder Katja Pfeiffer Jakob Schoof Bildredaktion Torben Eskerod Adam Mørk Art Direction & Layout Stockholm Design Lab ® Kent Nyberg Sharon Hwang Cecilia Anefelt www.stockholmdesignlab.se Titelfoto Torben Eskerod Recherche und Textredaktion Gesellschaft für Knowhow-Transfer Auflage 90,000 Stück ISSN 1901-0982 Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe. © 2006 VELUX Gruppe ® VELUX und das VELUX Logo sind registrierte Markenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe. Porträt von Torben Eskerod Jeder Entwurf ist untrennbar mit dem Standort verbunden, für den er erdacht wird. Ein Gebäude passt sich nicht nur im Querschnitt an die vorhandene Topografie und in der Ausrichtung der Grundrisse an die Tageslichtverhältnisse an. Der Standort beeinflusst auch die Auswahl der Materialien, die sein Erscheinungsbild prägen werden: seine Textur. Wenn ein Architekt diese Aspekte in seiner Arbeit berücksichtigt und sich seiner Umwelt bewusst bleibt, werden die natürlichen Gegebenheiten zu Grundlagen einer Architektur, die sich nicht dem Zeitgeist oder momentanen Trends unterwirft. Jedes Projekt beginnt aufs Neue mit der Analyse dieser Grundlagen und der Rückbesinnung auf sie. Der Architekt muss eine Vorstellung davon besitzen, welche Art von Raum er schaffen will: Soll dieser eine unsichtbare Wirkung entfalten – soll er Ruhe ausstrahlen, Gefühle erzeugen? Oder soll er eher auf der sichtbaren Ebene auf den Betrachter einwirken – komplexer in der Nutzung, aber kraftvoller im Ausdruck? Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, in beiden Fällen werden neben der funktionalen Zweckbestimmung auch der Einsatz des Lichts und die Textur des Gebäudes das Ergebnis beeinflussen. Licht und Textur gehören untrennbar zusammen; sie bilden eine konzeptionelle Einheit. Der Lichteinfall in ein Gebäude hängt nicht zuletzt von der Materialauswahl ab und sollte diese daher mit bestimmen. Eine gute Auswahl – die auch einen erheblichen Einfluss auf die Textur des Gebäudes besitzt – kann die Wahrnehmung des architektonischen Raums stark beeinflussen. Wellenbewegungen in der Fassade, Lichtfugen im Boden oder punktuelle Beleuchtungselemente machen das Licht zu einem architektonischen Element, das die Textur des Gebäudes harmonisch ergänzt. Von Bedeutung ist aber nicht nur das Licht und dessen Vorhandensein in Gebäuden und auf Oberflächen. Es geht ebenso um das Fehlen von Licht, um Schatten. Obgleich Licht und Schatten so gegensätzlich sind, sollen sie eine gemeinsame Wirkung entfalten. Textur hängt jedoch nicht allein von der Beschaffenheit eines Materials ab. Auch Strukturen, Proportionen und die Ordnung der Elemente entscheiden über die Textur eines Körpers. Dieser ‚Körper‘ ist in der Architektur das Gebäude und die Anordnung seiner Elemente ist Ausdruck gesunden Menschenverstands. Lesen Sie mehr über die Architektur von Fernando Menis im Artikel ‚Megalithkreis in der Wüste’ ab Seite 14. Fernando Menis DISKURS VON FERNANDO MENIS 1 VELUX EDITORIAL WILLKOMMEN BEI DAYLIGHT & ARCHITECTURE DEM ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX SOMMER 2006 AUSGABE 03 1 2 3 4 8 14 32 38 42 48 56 63 68 72 Diskurs von Fernando Menis VELUX Editorial Inhalt Jetzt Mensch und Architektur Architektur und Webkunst Texturen Kongresszentrum ‚Magma’, Teneriffa Reflektionen Natürliche Oberflächen Licht Europas Scarborough, Yorkshire, England Tageslicht im Detail Licht und Material VELUX Einblicke Ein Kleid für besondere Anlässe VELUX Panorama Sonnenstube unterm Dach Monolith am Mühlenweiher Mit der Natur verwachsen VELUX im Dialog Schriften zur Architekturlehre Bücher Rezensionen Empfehlungen Vorschau In Zeiten digitalen Entwerfens widmen sich Architekten zunehmend der Aufgabe, wohlbekannten Materialien durch neue Arten der Oberflächenbearbeitung bislang ungeahnte Eigenschaften zu verleihen. Nach der zunehmenden Dematerialisierung und Abstraktion im Zuge der Moderne entdeckt die Architektur die Textur der Materialien als Eigenschaft wieder, mit der sich die Atmosphäre von Räumen und die ‚Aura‘ von Gegenständen beeinflussen lässt. Oberflächen gelten nicht länger nur als zweidimensional, sondern erhalten räumliche Tiefe und treten damit in ein umso engeres Wechselspiel mit Licht und Schatten. Wir freuen uns, Ihnen in dieser Ausgabe einen herausragenden Vertreter dieser Tendenz zu zeigen, das Kongresszentrum ‚MAGMA‘ in Teneriffa. Mit einer außergewöhnlich großen Vielfalt an Texturen aus einem einzigen Baumaterial haben die Architekten die massiven Außenwände ihres Gebäudes unter der südlichen Sonne zum Leben erweckt. Nach der zweiten Ausgabe von Daylight & Architecture, die sich mit der Frage befasste, wie ein Haus zu einem ‚Zuhause‘ wird und wie sich Prozesse und Produkte zu Lebensräumen formen, betrachten wir unsere physische Umgebung diesmal im Detail: Das Thema der aktuellen Ausgabe lautet ‚Texturen‘. Ständig werden im Bestreben, optimale Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre von Daylight & Architecture 03. INHALT JETZT 4 Die neue Kathedrale von Oakland und die Hauptverwaltung der Wasserwerke von Barcelona stehen ganz im Zeichen des Tageslichts. Jeroen Hoorn entwirft einen Pavillon aus Glasbrocken in Gabionen, Mario Bellini und Rudy Ricciotti einen zarten Glasschleier über dem Visconti-Hof des Louvre. Außerdem: die ‚Camera obscura‘ von Madrid, der Neubau der Handelskammer von Rafael de la Hoz. MENSCH UND ARCHITEKTUR ARCHITEKTUR UND WEBKUNST 8 2 Lebensräume zu schaffen, neue Wege gesucht und beschritten. Wir laden Sie ein, bekannte Materialien aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Wie funktioniert die Wärmedämmung eines Eisbären wirklich? Lässt sich Efeu als Fassadenmaterial verwenden? In Graz wirft das Bürogebäude von Innocad ein neues Licht auf das Bauen im historischen Kontext, indem es außen wie innen unverwechselbare und unterschiedliche Materialien und Texturen zeigt. Wir bei VELUX suchen den kontinuierlichen Dialog mit den Planern über Fortschritte in Architektur und Bauwesen. Die vorliegende Zeitschrift ist ein Beispiel; ein anderes ist unser Engagement bei der European Association of Architectural Education, EAAE. Seit 2001 ist VELUX Sponsor des EAAE-Preises ‚Schriften zur Architekturlehre‘. In seinem Beitrag für die Rubrik ‚VELUX im Dialog‘ befasst sich Per Olaf Fjeld mit dem Thema des letzten EAAE-Preises 2003-2005, ‚Neues Wissen‘. Für die aktuelle Ausgabe des Preises für die Jahre 2005 bis 2007 suchen die Auslober noch Texte zum Themenbereich ‚Darstellung in der Architektur, Kommunikation – Bedeutung – Visionen‘. Das Weben, eine der ältesten Kulturtechniken des Menschen, ist auch für die Architektur von herausragender Bedeutung. Das wusste schon der deutsche Architekt und Theoretiker Gottfried Semper (1805-1879). Wie sich Sempers Theorien der textilen Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt hat und welcher Zusammenhang zwischen Weben und Bauen heute besteht, untersucht Peter Blundell Jones in seinem Beitrag. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 TEXTUREN KONGRESZENTRUM ‘MAGMA’, TENERIFFA Im Wüstensand im Süden Teneriffas ist ein außergewöhnliches Kongresszentrum entstanden: MAGMA, das Werk des ortsansässigen Architekten Fernando Menis, besteht aus Betonkuben, die wie aus dem lavahaltigen Fels der Insel gehauen scheinen, und einem Wellendach aus Faserzementplatten. Ins Innere des Gebäudes gelangt das Licht durch schmale Fugen in Wänden und Dächern. 14 REFLEKTIONEN NATÜRLICHE OBERFLÄCHEN 32 Was haben das Straußenei, die Haselnussschale und das Eisbärenfell mit Architektur zu tun? Gar nicht so wenig, meint Dr. Udo Küppers, Wissenschaftler an der Universität Bremen. In seinem Beitrag untersucht er die Bionik natürlicher Oberflächen und zeigt ‚Erfindungen‘ der Natur auf, die zum Vobild auch für Bauteile in der Architektur werden könnten – oder schon geworden sind, wie im Beispiel der Transparenten Wärmedämmung. VELUX EINBLICKE EIN KLEID FÜR BESONDERE ANLÄSSE 48 Mit einer goldglänzenden Fassade aus Kupferschindeln machten die jungen Architekten Innocad ihr Wohn- und Geschäftshaus am Rande der Grazer Altstadt zum Blickfang mit überregionaler Wirkung. Das „Kleid für besondere Anlässe“ kommuniziert auf vielfältige Weise mit seiner Umgebung: Es greift die gelbe Farbe der benachbarten Altbauten auf und interpretiert zugleich das Logo der Architekten, die ihr Büro im Erdgeschoss bezogen haben. VELUX PANORAMA Einen Meter starke Natursteinmauern neben filigranen An- und Einbauten aus Stahl und Glas: Bei ihrem Umbau der Kotrč-Mühle zu einem Wohnhaus operiert die tschechische Architektin Lucie Kavanova mit gegensätzlichen Extremen. Außerdem: Das Seehotel am Neuklostersee, ein Ensemble aus Alt- und Neubauten in ländlicher Umgebung, wurde von Nalbach und Nalbach Architekten durch dichten Efeubewuchs in seiner Umgebung ‚verwurzelt‘. 56 3 JETZT Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Projekte und aktuelle Neuentwicklungen rund um das Thema Tageslicht. CHRIST THE LIGHT CATHEDRAL IN OAKLAND FOTO VON GERALD RATTO Bis Anfang 2008 soll die ‚Christ The Light Cathedral‘ in Oakland bei San Francisco fertig gestellt werden. Der Neubau von Craig Hartman vom Architekturbüro Skidmore, Owings & Merrill (SOM) ersetzt die historische St. Francis de Sales-Kathedrale, die 1989 durch ein Erdbeben zerstört wurde. Sein Name ‚Christ The Light Cathedral‘ geht auf das Dokument ‚Lumen Gentium‘ des Zweiten Vatikanischen Konzils aus den 60er Jahren zurück, das mit den Worten „Christus ist das Licht aller Völker“ beginnt. Hartman hat ihn zum Programm erhoben: „Es geht bei dieser Kathedrale, wie bei allen historischen Kathedralen, um die Betrachtung des Lichts als heilige Naturerscheinung – und um die poetische Beleuchtung von sakralen Räumen. Wir wollen das Licht nutzen, um die bescheidenen Baumaterialien – vor allem Holz, Beton und Glas – zu veredeln“, schreibt er. Wie zahlreiche Sakralbauten im pazifischen Raum wird die neue Kirche vorwiegend aus Holz erstellt. Die Innenwände ihres bis zu 40 Meter hohen Gewölbes haben die Form zweier Kugelschalen. Zwischen den gekrümmten Längsträgern werden lamellenartige Holzpaneele eingefügt, deren Neigung von unten nach oben immer flacher und die Wand damit immer lichtdurchlässiger wird. Die äußere Klimahülle der neuen Kathedrale bilden zwei konische Segmente aus Glas mit Keramikglasur, die im Abstand von einem bis drei Metern vor der Holzkonstruktion angebracht sind. Nachts strahlt das Licht aus dem Kirchenraum durch die Paneelkonstruktion, ins Freie. Das flache Dach des Kirchenschiffs, der ‚Oculus‘, und die Altarwand bestehen aus diagonalen Trägerrosten mit Aluminiumverkleidung. Die Paneele der Unterdecke sind gefaltet und lassen durch ihre Öffnungen gerichtetes Licht Richtung Altarwand fallen. 4 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 „Dies ist kein Turm, kein Wolkenkratzer im amerikanischen Sinn [...], eher eine flüssige Masse, die eben aus dem Erdboden hervorgequollen ist, ein Geysir, der unter ständigem, dosiertem Druck steht.“ Jean Nouvel TORRE AGBAR IN BARCELONA FOTO VON ROLAND HALBE Auch wenn man dies vielleicht annehmen möchte: Jean Nouvels neuer Büroturm in der katalanischen Hauptstadt erhielt seinen Namen keineswegs in Anlehnung an einen arabischen Herrscher. ,Agbar‘ ist nichts anderes als ein Akronym für ,Aguas de Barcelona‘, die städtischen Wasserwerke. Und als symbolische ,Fontäne‘ aus Glas, Licht und Luft möchten die Entwerfer das Bauwerk auch verstanden wissen. Die Barceloner sahen dies verständlicherweise anders: Seit Beginn der Bauarbeiten im Jahr 2002 begleiteten sie das Bauwerk mit teils amüsierten, teils brüskierten Kommentaren über dessen phallische Gesamtform. Die Parallelen zur „erotischen Gurke“ der SwissRe von Norman Foster sind unverkennbar und vielleicht sogar beabsichtigt. Anders als diese entfaltet Jean Nouvels Turm an der Avenida Diagonal jedoch ein Spiel aus Lichtreflexen in allen Farben des Regenbogens. Fassadenmodule aus lackiertem Aluminium-Wellblech in 25 Farben bilden die innere Fassadenschicht; außen davor angebrachte, unterschiedlich geneigte Glaslamellen in vier Transparenzgraden lassen den Turm im Sonnenlicht regelrecht ,Funken sprühen‘. Die Lichtstimmung in den Innenräumen wird maßgeblich von den kleinteiligen Fenstern bestimmt, die die gesamte Fassade unabhängig von der Geschossteilung wie ein abstraktes Pixelmuster überziehen. Ihr Licht vervielfältigt sich in den spiegelnden Geschossböden und Deckenpaneelen oder wird – wie im Eingangsbereich – von transluzenten Flächenvorhängen gedämpft. 5 FOTO VON MARGHERITA SPILUTTINI FOTO VON WILLEM VAN DET GLASGERÖLL IM DRAHTKORB Das Gebäude „konnte sich einfach keine Rückseite erlauben“, sagt Jeroen Hoorn über seinen Entwurf für einen neuen Schnellimbiss im Zentrum von Rotterdam. Der Autound Fußgängerverkehr der Autos und Fußgänger umströmt ihn von allen Seiten; nebenan liegen zudem die U-Bahn und ein belebter Skater-Park. Hoorn entwarf „eine solide kleine Kiste, die ,hip‘ genug ist für die Skater und gleichzeitig den robusten Stil der umliegenden Bürogebäude aus den 70er Jahren widerspiegelt“. Der Bauherr hatte eine Fassade aus Gabionen vorgeschlagen – eine Lösung, die er bereits aus der Landschaftsarchitektur kannte und die auch Herzog & de Meuron bei ihrem Weingut im Napa Valley angewandt hatten. Gemeinsam mit den Experten der Materialdatenbank Materia suchte Hoorn nach einer geeigneten Füllung für die Drahtkörbe. Seine Wahl fiel auf eine Mischung aus asphaltfarbenem Kalkstein und großen Glasbrocken, die die grobkör- 6 MUSEUM IM HELDENBERG nige Fassadenstruktur im Gegenlicht noch eindrucksvoller erscheinen lassen. Wie ,Lichtaugen‘ durchbrechen die Glaselemente die Außenwand und streuen das Sonnenlicht in den Innenraum. Die Klimahülle (und Insektenschutzbarriere: Gabionen sind bevorzugte Nistplätze für Ungeziefer aller Art) besteht aus raumhohen Glasscheiben mit Zedernholzrahmen auf der Innenseite der Gabionen. Nachts, so sagt Jeroen Hoorn, beginnt das Gebäude „wie ein Haufen heißer Kohlen zu glühen“. Sie stehen noch heute überall in Europa: Gedenkstätten, die den verblichenen Größen zerfallener Reiche huldigen. Der österreichische Vertreter dieser Gattung ist der ,Heldenberg‘, eine Art Walhalla der österreichischen Kaisertreuen, der ab 1849 im niederösterreichischen Kleinwetzdorf errichtet wurde. Mit dem dreiflügeligen, tempelähnlichen Bauwerk hatten die Stadtväter für 2005 Großes vor: Unter dem Titel ,Zeitreise Heldenberg‘ sollte eine neue Ausstellung samt zugehörigem Museum entstehen, die der Historie des Orts huldigt. Den Architektenwettbewerb für das neue Museum gewannen Peter Ebner und Franziska Ullmann aus Wien. Äußerlich besticht ihr Bauwerk durch extreme Zurückhaltung, ja es tritt überhaupt nur in Form eines auskragenden, langgestreckten Eingangsbauwerks aus Sichtbeton und Glas in Erscheinung. Der weitaus größte Teil der Ausstellungsflächen liegt unterirdisch, auf einer Ebene mit der Gruft D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 der verblichenen Militärgrößen. Und doch ist den Räumen nichts von dem Pathos des Altbaus zu eigen: Ebner und Ullmann entwarfen eine vielfach gefaltete Innenraumlandschaft ganz in Weiß, in der trotz ihrer Lage im Untergrund das Tageslicht eine Hauptrolle spielt. Stets fällt es indirekt durch Dachaufbauten, die die Oberfläche des Hügels durchstoßen, teils mittig in den Raum und teils als Streiflicht entlang der Außenwände. Das Licht geleitet den Besucher durch das Museum; im Zusammenspiel mit der ständig sich ändernden Raumhöhe und –breite definiert es Weg-Räume und Ort-Räume, also Zonen der Bewegung und des Verweilens. Bewusst verzichteten Ebner und Ullmann auf eine Unterteilung des Museums in unterschiedliche Kabinette. Sie gliedern den Ausstellungsrundgang lediglich durch subtile Faltungen der Decken, Wände und teilweise des Bodens, die während des Entwurfsprozesses an zahllosen Arbeitsmodellen erprobt wurden. „Der Visconti-Hof darf nicht verdeckt werden!“ begründen Mario Bellini und Rudy Ricciotti ihren Siegerentwurf im Wettbewerb um das neue Museum für islamische Kunst in Paris. Es wird im Visconti-Hof im Südflügel des Louvre entstehen, der mit seinen klassizistischen Sandsteinfassaden als einer der schönsten Innenhöfe im gesamten Komplex gilt. Um sein Ambiente nicht zu zerstören, schlagen die Architekten vor, das gesamte Raumprogramm des neuen Museums auf zwei Untergeschosse zu verteilen. Zum darüber liegenden Visconti-Hof wird der visuelle Kontakt durch Deckendurchbrüche hergestellt. Überdeckt werden die Ausstellungsflächen mit einer leichten Dachkonstruktion, die von nur vier filigranen Stahlstützen getragen wird. Das 80 Zentimeter hohe Raumtragwerk des Daches wird beidseitig mit einem Verbundwerkstoff verkleidet, dessen Oberfläche mit Tausenden kleiner Glaslinsen bestückt ist. Dieser ,Schleier’ schützt den darun- FOTO VON ROLAND HALBE FOTO VON RUDY RICIOTTI ARCHITECTES/STUDIO MARIO BELLINI EIN SCHLEIER FÜR DEN LOUVRE CAMERA OBSCURA ter liegenden Raum nicht nur vor der Witterung, er filtert auch das Licht und bricht es in seine Spektralfarben. Dadurch wird der Ausstellungsraum stets in ein diffuses und farblich intensives Licht getaucht, was nicht nur der Behaglichkeit der Besucher, sondern auch der Konservation der Exponate zu Gute kommen und die Künste des Islam stilvoll ins rechte Licht rücken soll. Das Wort ,Cámara’ bedeutet auf spanisch nicht nur ,Kammer’ oder ,Zimmer’, sondern auch ,Fotoapparat’. Aus dieser linguistischen und semantischen Verwandtschaft heraus erklärt Rafael de la Hoz seinen Entwurf für die neue Handelskammer der Region Madrid. Die ,Cámara de Comercio’ liegt auf einem schmalen Grundstück zwischen einer Ausfallstraße und der Autobahn; seitlich schließt sich eine Grünanlage an. Alle drei macht de la Hoz für den Besucher sichtbar, indem er das Gebäude – oder, in seiner Terminologie: die ,Kamera’ – über drei mehrgeschossige Glasfassaden nach außen öffnet. Zusätzlich fällt über ein Glasdach, das durch einen gewaltigen Trägerrost aus Stahlbeton getragen wird, Tageslicht auch ins zentrale Atrium. Hinter jeder der drei ,Linsen’ seiner Kamera platziert de la Hoz ein Objekt als ,Raum im Raum’: Im Westen, zur Autobahn hin, durchstößt ein geschlossener Metallkubus die Glasfassade. Im Süden, Richtung Park, ragt ein Glaskubus nach außen vor. Die eindrucksvollste Raumkomposition gelang dem Architekten jedoch im Osten: Ein Kubus aus Naturstein scheint wie von Geisterhand getragen im viergeschossigen Foyer zu schweben. Lediglich über eine schmale Brücke ist er vom Zentrum des Gebäudes aus zugänglich. Die Konstruktion wurde komplett vom Betontragwerk des Daches abgehängt; sie wirkt massiv, besteht jedoch aus einem Stahlskelett, das mit dünnen Alabasterscheiben verkleidet wurde. Im Inneren des Kubus herrscht tagsüber ein kontrastarmes Dämmerlicht, in dem die Struktur des Steins gut zur Geltung kommt. Nachts kehrt sich der Eindruck um: Aus dem eben noch grauen, unscheinbaren Natursteinkubus wird unvermittelt ein überdimensionaler Leuchtkörper, der durch die Glasfassade weit in die Landschaft hinaus strahlt. 7 Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur: Innenansichten einer wechselvollen Beziehung. FOTO VON GIOVANNI ANTICO MENSCH UND ARCHITEKTUR 1 ARCHITEKTUR UND WEBKUNST 8 Oben Die Tatami-Matte ist der wichtigste Einrichtungsgegenstand im traditionellen japanischen Wohnhaus und repräsentiert zugleich die wichtigste Maßeinheit in der altjapanischen Architektur. Ihre Länge (ken) variiert je nach Region zwischen 170 und 191 Zentimetern . Text von Peter Blundell Jones. In seinem Buch ,Die vier Elemente der Architektur’ identifiziert Gottfried Semper die Webkunst als eine der Grundlagen der Architektur. Bis heute hat das Weben (lateinisch texere) seine Bedeutung im Bauwesen erhalten – und sei es nur im metaphorischen Sinne, wie Peter Blundell Jones in seinem Beitrag schreibt. Er untersucht Mythos und Praxis des Webens in der menschlichen Kultur und geht der Faszination nach, die gewobene Oberflächen bis heute auf den Menschen ausüben. Schon im Entwurf seiner Theorie der vier Elemente in der Architektur zeigte sich Gottfried Semper von der Polychromie und den farbenprächtigen Ornamenten antiker Bauwerke beeindruckt. So widersprach er der weit verbreiteten These, der Ursprung der Architektur sei in der reinen Konstruktion, insbesondere im Mauerwerk zu finden. Intellektueller Hintergrund war die Debatte über die klassische Antike und deren mutmaßliche Ursprünge im alten Ägypten und Assyrien, teilweise auch mit chinesischen Einflüssen. Wissenschaften wie Archäologie und Anthropologie waren damals noch Neuland, die Mutmaßungen zu frühgeschichtlichen Ursprüngen somit reine Spekulation. Für Semper war die Feuerstelle Ausgangspunkt und somit erstes Grundelement des häuslichen Lebens. Zweites und drittes Element waren Boden und Dach: Während Lehm oder Mauerwerk als Basis des ersteren dienten, bildeten Zimmerarbeiten die Grundlage für zweiteres. Hieraus resultierte das vierte Element, dem er die größte Bedeutung beimaß: der Einfassung durch den Wandbereiter unter Rückgriff auf die Webkunst. Laut Semper sind Begrenzungsmauern ursprünglich auf ein Hindernis oder einen Teppich zurückzuführen und sollten daher diesem Ursprung als Bekleidung in würdiger Weise gerecht werden. Seine Sichtweise war nicht nur bahnbrechend für das Wiederaufleben farbiger Ornamentik, sondern erhob diese geradezu zur moralischen Pflicht; so regte er an, sich bei der Findung dekorativer Bezeichnungen von der Webkunst inspirieren zu lassen. Semper arbeitete zu einer Zeit, in der – um Ruskin zu zitieren – „die Ornamentik wichtigster Teil der Architektur war“. Bezeichnenderweise wurde Sempers Theorie im Postmodernismus aufgegriffen, als man erneut nach einer Begründung für aufwändige Verzierungstechniken suchte und das Interesse an altertümlichen Bauweisen erneut aufflammte. Sempers Plädoyer für die Verkleidung ist heutzutage kaum noch nachvollziehbar. Sicherlich würde er auch derzeit noch weltweit Beweise für seine Theorie finden, so zum Beispiel Zelte oder Behausungen wie die Maloca der Tukano im Regenwald des Amazonasgebietes, deren Rohholzrahmen mit Flechtgrasmatten verkleidet sind. Andererseits dient bei vielen Lehm- und Ziegelhäusern das Erdreich als primäres Mittel zur Errichtung dicker und solider Wände; in einigen Fällen wird mittels Wölbung der Wände sogar ein Dach geformt. Auch die Vorliebe der Neugotik für ausladende Torbögen findet sich oftmals wieder; bestes Beispiel hierfür ist die bekannte Behauptung Louis Kahns, dass der Ziegel Bogen sein wolle. Die primäre Bedeutung der Verkleidung scheint sich insbesondere in der ostasiatischen Architektur zu offenbaren: In China, Japan und Korea bestehen die Hauswände traditionell aus einer Art Bekleidung, die nach Errichtung der Grundstruktur in diversen Schichten aufgetragen werden kann. Bei genauerem Hinsehen hingegen ist die Verkleidung keinesfalls primäres Element: Die Primärkonstruktion besteht aus Zimmerwerk und Dachgebälk. Die schichtweise ineinandergreifenden Verbindungen der komplexen Holzdachstruktur bestimmen sowohl die äußere Rundform als auch die sorgfältig ausgearbeiteten Kanten (Abb. 3). Hier ist eindeutig der Zimmermann federführend, er genießt weitaus größeres Ansehen als der Maurer, der nur die Basis der Gebäude schafft. Das Bauwerk steht frei und offen auf seinen Säulen, bevor Trennund Außenwände eingesetzt werden; die Verkleidung ist daher sekundär. Zwischen der Wandverkleidung und der soliden Mauer aus Lehm oder Ziegeln ist streng zu unterscheiden. Letztere wird in China und Korea als äußere Begrenzungsmauer des Grundbesitzes benutzt. Ihre starke und solide Bauweise bietet Schutz vor Fremden und ansteckenden Krankheiten, während die eigentliche Gebäudewand – manchmal nicht mehr als ein Papierschirm – lediglich als Filter zwischen Haus und Hof oder Garten dient. Das heiße und feuchte Sommerklima erfordert eine stetige Belüftung; gleichzeitig aber bringt die Schichtung von Wandschirmen und Scheiben eine diskrete räumliche Trennung mit starker sozialer und ästhetischer Komponente mit sich. Jüngste Beispiele aus Japan belegen, dass diese Tradition vielerorts unvermindert vorherrscht. Bei der traditionellen japanischen Hausplanung steht die tatamiMatte (Abb. 1) im Mittelpunkt, eine archetypische Webdecke von der Größe eines Bettes, welche die zentrale Stelle im Haus einnimmt. Die papierverkleideten Gleitschirme oder shoji als vertikales Gegenstück hierzu erscheinen wie Webstoff, insbesondere wegen ihrer geometrischen Rastermuster und modularen Rahmen. Tief in der japanischen Architektur verwurzelt sind auch Bambuszäune. Ihre teils überaus feinen Details belegen die Behauptung Sempers, die Logik der Technik verleihe der Form ihre Identität. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 9 2 FOTO VON YOSHIO KOMATSU Die Sagopalme ist das wichtigste Material in der traditionellen Wohnarchitektur Papua-Neuguineas. Die tragenden Pfosten werden aus den Stämmen der Palme hergestellt, die Dächer und Wandausfachungen aus den Blättern und der Boden aus der Rinde der Bäume. die ursprünge der webkunst Die Kenntnis moderner Anthropologie hätte Sempers Überzeugung einerseits widerlegt, andererseits bestärkt. Die Feuerstelle, in nördlichen Gefilden nach wie vor von großer Wichtigkeit, spielt in wärmeren Klimazonen eine deutlich geringere Rolle. EineAusnahme bildet die Kultur der australischen Ureinwohner, in der sowohl das Feuer wie auch die Webkunst (in Form halbrunder Hütten aus Astwerk) eine zentrale Rolle spielen. Die Artefakte und Fertigkeiten der Australier lassen auf Webarten schließen, die vermutlich lange vor Erfindung des Webstuhls existierten, da Jäger und Sammler Schnüre benötigten. Sie benutzten sie, um Dinge zu verknüpfen, Schmuck und Kleidung zusammenzuhalten und sogar zur Herstellung zeremonieller Gegenstände. Lange bevor Schafe domestiziert, in Herden gehalten und geschoren wurden, wurden solche Schnüre aus Menschenhaar hergestellt. Australische Ureinwohner fertigten sogar Schuhe aus Flechtgras. Die Knotenkunst reicht weit in die Geschichte der Menschheit zurück und ist vermutlich weitaus älter als der zehntausend Jahre alte Landwirtschaftsbau; sie findet ihren Ursprung vor rund 100.000 Jahren, als auch die Sprache erfunden wurde. Hierfür waren räumliches Verständnis sowie eine gewisse Fingerfertigkeit vonnöten, mögen wir unsere Schnürsenkel heute auch in einem automatisierten Bewegungsablauf binden. Die verwobenen Muster keltischer Kunst mit ihren überund untereinanderliegenden Linien sind vermutlich an frühe Sticktechniken angelehnt; die in späteren Zeitaltern kunstvoll angelegten Blumengärten haben ihren Ursprung in türkischen Teppichen. All dies beweist, dass Semper durchaus wichtige Erkenntnisse gewonnen hatte. Ohne Zweifel hätte er einige der bald aufkommenden bildreichen Sagen um den Webstuhl zu schätzen gewusst. In ‚Conversations with Ogotemmeli‘, Marcel Griaules berühmtem Buch über die Dogon, spielt die Weberei eine besondere Rolle. Ihrer Auffassung nach stand die Weberei den Männern zu, während die Spinnerei Aufgabe der Frauen war. Die abwechselnd schwarzen und weißen Rechtecke eines Webteppiches sollen, so wird vermutet, eine von oben betrachtete in Feldern angelegte Ackerbaulandschaft symbolisieren. Somit reflektiert diese Webtechnik das Grundmuster des landwirtschaftlichen Anbaus mit Hilfe des Pfluges als Grundlage für jede Siedler- gemeinschaft; dieser verlieh der natürlichen Topographie erstmals eine künstliche Geometrie und wurde somit zu einem der wichtigsten Symbole der Zivilisation. Ähnlich wie beim Pflügen bilden Kett- und Schussfaden einen rechten Winkel. Die Verflechtung von Kett- und Schussfaden versinnbild-licht die eheliche Verbindung, das Zusammenkommen von Mann und Frau, wobei die unterschiedlichen Webtechniken verschiedene Aspekte der ursprünglichen Dogon-Mythologie widerspiegeln. Die aus Lehm gebauten Familienhäuser der Dogon zeigen auf den Fronten ein Raster aus Nischen zum Andenken an die Vorfahren (Abb. 4); das ideale Haus sollte zehn Reihen mit je acht Nischen aufweisen, die den Stammbaum der Familie zurück bis zum ersten Ehepaar repräsentieren. Dem gewebten Teppich kommt als Leichentuch seine größte Bedeutung zu, denn wenn der Leichnam darauf gebettet wird, „ist er Symbol für das Leben und die Auferstehung. Der Verstorbene wird wie ein Fötus im Mutterleib kurzzeitig darin eingewickelt, um erneut in das Netz der Lebenden und der sprießenden Felder Einkehr zu finden.“ 1 In vorwiegend mündlich überlieferten Kulturen wie derjenigen der Dogon gehörte die Erfindung des Webstuhls neben der Töpferkunst und der Eisenbearbeitung zu den wichtigsten technischen Errungenschaften. Mit diesen Techniken wurden nicht nur die essenziellen Artefakte der menschlichen Kultur hergestellt, sie übten vielmehr auch eine gewisse Magie aus: Grober Faserstoff wurde mit Hilfe praktischer Geometrie in ein schönes Stoff tuch umgewandelt. Die Techniken mythischen Ursprungs mussten weitergegeben und mündlich überliefert werden, ihr hoher Symbolwert ist daher kaum verwunderlich. So ist der Webstuhl zum Beispiel für die Kabylen in Algerien ein Kultursymbol und die Weberei hauptsächlich Frauensache. In seiner bekannten Strukturanalyse eines typischen Kabylen-Hauses bezeichnet Pierre Bourdieu den Webstuhl als erstes Zeichen der Kultur. Nach ihm ist die rückwärtige Hausmauer, die Webermauer, benannt; da dieser sich jedoch im Hausinneren und somit im überwiegend weiblichen Bereich befindet, ist er den Frauen zuzuordnen. Überwiegend in der dunklen Jahreszeit genutzt, gehört er im Sinne Bourdieu’scher Gegensätze zur dunklen, feuchten und weiblichen Seite. Die Bedeutung des Webstuhls für die Kabylen ist vor dem Hintergrund ihres Frauenbildes und der Beschützer- 10 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Ganz unten Fassade eines Wohnhauses der Dogon. Ebenso wie die Verflechtung von Kett- und Schussfäden im Glauben der Dogon die eheliche Verbindung von Mann und Frau versinnbildlicht, repräsentieren die Nischen neben dem Eingang den Stammbaum der Familie. Rechts Wandfüllung eines Fachwerkhauses. Auch sie wird als grobe Flechtwerk aus Zweigen hergestellt, verschwindet jedoch später hinter einer dicken Schicht Lehm, Stroh und Verputz. FOTO VON PETER BLUNDELL JONES Unten (oberes Bild) Das Gebälk eines altkoreanischen Tempels zeigt die hohe Kunst der Holzbearbeitung in den alten, ostasiatischen Kulturen. Skelettbauten wie dieser waren die Grundlage für die Entwicklung leichter, oftmals durchbrochener oder geflochtener, Außenwandverkleidungen. 5 FOTO VON JOSEF F. STUETER FOTO VON PETER BLUNDELL JONES und hinten, nach links und rechts oder nach oben und unten zurückzuführen sei.3 Dieser vorkartesianische Ansatz ist nicht nur erster Beleg für die drei Dimensionen der Architektur, sondern legt auch den Grundstein für die Choreografie, die Koordinierung menschlicher Bewegungen unter Berücksichtigung von Raum und Zeit. 3 4 rolle des Mannes zu sehen: „Er befindet sich vor der Webermauer mit Blickrichtung zur Tür, wo die junge Braut Platz nimmt… Wenn man weiß, dass das Mädchen zur Bewahrung seiner Jungfräulichkeit in Richtung Webermauer durch den Kettfaden treten muss, offenbart sich die magische Schutzfunktion… Für ihren zukünftigen Bräutigam spiegelt sich das gesamte Leben der Braut in den Positionen wider, die sie symbolisch gegenüber dem Webstuhl – als Sinnbild für den männlichen Schutz – einnimmt.“2 Das Durchschreiten des Webstuhls im Sinne einer symbolischen Schwelle gewinnt vor allem angesichts der Theorie Bourdieus an Bedeutung, dass die Geometrie körperlichen Ursprungs und somit auf die primären menschlichen Bewegungsabläufe nach vorne die spielregeln Der Begriff ,Produkt’, der heutzutage häufig missbräuchlich verwendet wird, bezeichnete ursprünglich einen Gegenstand, der ,produziert’ werden musste. Die von einem Webteppich oder Flechtkorb ausgehende Faszination mag auf deren sichtbar angelegte Konstruktion zurückzuführen sein. In seiner Anordnung der Materialien zeigt er nicht nur eine bestimmte Geometrie, sondern ermöglicht unterschiedliche Materialschichten, Farbwechsel usw. Variationen bei der Herstellung bieten dem Weber ornamentale Möglichkeiten, die zunächst willkürlich anmuten mögen, aber gewissen Spielregeln folgen müssen. So finden die Muster traditionell handgefertigter Teppiche ihre Grenzen in Fadenstärke, Stichart und einer begrenzten Auswahl an Farbstoffen. William Morris erkannte dies, als er versuchte, neben anderen Handwerken auch die Webkunst wieder aufleben zu lassen. Seiner Auffassung nach solle der Weber ‚Weberblumen’ und keine ‚Malerblumen’ schaffen, da das Produkt stets dem Material und der angewandten Technik gerecht werden müsse: „Füge nichts hinzu und schaffe nur das, was mit der Webkunst erreicht werden kann; das Werk möge in der Silhouette nach eigenem Gutdünken so fein wie möglich erscheinen, sollte aber einfach gefertigt sein. Mit dem Weberschiff lassen sich nicht beliebige Linien zeichnen, sondern vielmehr feine rechtwinklige Mosaikmuster bilden. Sofern der Künstler dies verinnerlicht und das Material nicht in unbefahrbare Wege zwingt, dürfte er der Bearbeitung von Webstoffen den größten Reiz abgewinnen.“4 In derselben Schrift spielt er auf eine persönliche Erfahrung an: „ ... noch möchte ich die Fertigkeit des Webers als stumpfsinnige Tätigkeit abtun, da er wirklich wertvolle Arbeit leistet: Von Tag zu Tag sieht er das Gewirk auf nahezu magische Weise wachsen und kann den Zeitpunkt erahnen, wenn es aus dem Rahmen genommen wird und seine wohldurchdachte Schönheit von der richtigen Seite offenbart.“ 11 Marcel Griaule, Conversations with Ogotemmeli, Oxford University Press 1966, S. 79 (franz. Original: Dieu d’eau, entretiens avec Ogotemmeli) 2 Pierre Bourdieu, Das Kabylenhaus oder Die verkehrte Welt, in seinem Buch Algeria 1960, S. 137. 3 Pierre Bourdieu, Der Körper als Geometer, in seinem Buch Abriss einer praktischen Theorie, Cambridge University Press 1976. 4 William Morris, Zur Webkunst, aus Die geringeren Künste des Lebens, 1882, zitiert in Christine Poulson (Hrsg.), William Morris on Art and Design, Sheffield Academic Press 1996, S. 79. . 1 webkunst in der architektur Abgesehen von der Herstellung von Stoffen für Bekleidungsartikel, Betten und Mobiliar findet sich die Webkunst in der traditionellen ländlichen Architektur in dreierlei Form wieder: bei der Schaffung von Hürden und Zäunen, in der Verwendung ähnlicher Techniken zur Füllung von Holzrahmen und bei der Errichtung von Strohdächern. Alte zusammengebundene Bretterzäune, die man heute nur noch in Freilichtmuseen sieht, zeugen insbesondere im Vergleich zu modernen Betonpfosten und Stacheldrähten von gewissem Charme; für ihre Herstellung war eine genaue Kenntnis von Art und Alter des verwendeten Holzes erforderlich. Die Wandfüllung eines Fachwerkbaus (Abb. 5), aus überkreuzenden horizontalen und vertikalen Elementen gefertigt, gewann ihre Stärke aus der Spannung der miteinander verbundenen Materialien, war jedoch anschließend durch den beidseitig angebrachten Verputz nicht weiter erkennbar. Die Webstruktur eines Strohdachs zeigt sich am besten rund um den First und an den Kanten, wo das Material besonders fest eingebunden werden und wetterfest sein muss. Die hierzu verwendeten Sicherungsschnüre sind oftmals sichtbar und fügen sich in die Ornamentik ein; durch die Feinbearbeitung der Formen wird dem Strohdach – ähnlich einem Haarschnitt – eine besondere Qualität verliehen. Angesichts des heutzutage allgemein nachlassenden Interesses an echter Handwerkskunst findet sich die Weberei im strikten Sinne in der modernen Architektur weitaus seltener wieder. Hier und da wird Korbgeflecht verwendet, wie jüngst bei den Balkonen eines Seminargebäudes von Lederer Ragnarsdóttir Oei in Stuttgart-Hohenheim; Widerstandsfähigkeit und Robustheit trotz ihrer Leichtigkeit stellt das Geflecht nach wie vor bei Körben von Heißluftballons unter Beweis. Eher jedoch als in der Realität findet sich die Webtechnik in grundlegenden Ideen wieder. Während Wagner und Loos die traditionelle Verkleidung im Sinne Sempers fortführten, nahm Frank Lloyd Wright häufig Bezug auf Kette und Schuss als Basis einer Planungsgeometrie, die verschiedene Materialien organisiert und einbindet. Die Architekten des Teams Ten, vor allem Josic Candilis und Woods, kreierten eine ganze Serie von Werken auf matten- oder tartanähnlichen Rasterplänen. Alvar Aalto kehrte beim Bau seiner Villa Mairea im Jahr 1937 zu geknüpften und geflochtenen Materialien aus Pflanzen zurück und schuf eine Reihe von Holzrasterstrukturen, insbesondere für raumbegrenzende Hängedecken. Josef Frank brillierte vor allem in seiner schwedischen Karriere nach 1934 durch sein Textildesign und verwendete Rattan und Rohrstock für Möbel. Versteht man den Begriff der Weberei weiter gefasst im Sinne perforierter oder durchlässiger Materialschichten wie bei den japanischen shoji oder dem verschleierten Gebälk der Fenster eines arabischen Harems, finden sich zahlreiche moderne Beispiele, einschließlich der von Egon Eiermann entwickelten mehrschichtige Fassaden, die in den Gebäuden Günter Behnischs noch verfeinert wurden. Einige dieser Schichten sind sichtbar, andere umgebungsbezogen. Es ist bereits eine Binsenweisheit, das Äußere eines Gebäudes mit Kleidung zu vergleichen: ein wasserabweisender Regenmantel, ein wärmender Pullover usw.. Perforierte Metallraster und –flächen, die einen visuellen Webeffekt vermitteln, ohne gewebt zu sein, wurden in den letzten Jahren vielfach eingesetzt, insbesondere von Jean Nouvel. Herzog und de Meuron gingen noch weiter und schufen Fassaden in überdimensionaler Nachbildung hürdenähnlicher Form. Bekanntes Beispiel hierfür ist ihr Stellwerk Auf dem Wolf von 1988-95 (Abb. 7); allerdings war dies nur ein Thema unter vielen in ihren Werken zur Neudefinition des Fassadencharakters unter bewusster Einbeziehung der Wirkung bestimmter Materialien. Kabelnetze und Gittergerüste, erstmals propagiert von Frei Otto in dem von ihm gegründeten Institut für Leichte Flächentragwerke (Abb. 8), ähneln einem Webstoff insofern, als sie nach dem Ketten-Schuss-Prinzip gefertigt und flexibel sind und von den Spannungskräften vorgegebene Formen aufweisen. Vor allem Kabelnetze erinnern an Spinnweben und führen uns vor Augen, dass die Spinne zwar der kleinste Weber in der Natur sein mag, aber dennoch ein hoch kompliziertes Gebilde von besonderer Schönheit produzieren kann und dabei eine Art Balletttanz vollführt. 12 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Peter Blundell Jones ist Professor für Architekturtheorie und -geschichte an der Universität von Sheffield. Er ist Autor zahlreicher Bücher, insbesondere über den deutschen Expressionismus, die skandinavische Moderne und die so genannte ‚Grazer Schule‘. Peter Blundell Jones ist Mitglied der internationalen Organisation der Architekturkritiker CICA und des Professional Publications Committee der RIBA sowie Redakteur der britischen Architekturzeitschrift Architectural Research Quarterly. Ganz unten links Bei ihrem Stellwerk in Basel (fertiggestellt 1998) interpretieren Herzog & de Meuron das Thema des Flechtens in freier Manier. Der asymmetrische Baukörper ist mit Kupferbändern umwickelt, die sich im Bereich der Fenster in die Horizontale drehen, um Licht ins Innere des Gebäudes zu lassen. Die direkte Sonneneinstrahlung wird durch die Lamellen jedoch ausgeblendet. Ganz unten rechts An Spinnweben und anderen natürlichen Geweben orientierte sich Frei Otto in seinen Entwürfen. Am Olympiadach in München (19681972 mit Günter Behnisch) ist die Struktur aus kreuzweise miteinander verbundenen Einzelseilen besonders gut ablesbar. FOTO VON WERNER HUTHMACHER Unten Edelstahlgewebe gehört zu den wiederkehrenden Texturen im Werk von Dominique Perrault. Das Velodrom in Berlin ist fast vollständig damit verkleidet. Lediglich eine knapp über mannshohe Glasfassade trennt die scheinbar schwebende, silbrige Scheibe vom Erdboden. FOTO VON JAIME TAUTIVA 7 FOTO VON JAKOB SCHOOF 6 8 13 TEXTUREN MEGALITHKREIS IN DER WÜSTE Kongresszentrum ‚MAGMA’, Teneriffa 14 Text von Jakob Schoof. Fotos von Torben Eskerod. Am südlichsten Rand Europas, inmitten der Urlaubsregion an Teneriffas Südostküste, hat Fernando Martin Menis vom spanischen Architekturbüro AMP ein Kongresszentrum von geradezu archaischer Monumentalität geschaffen. Mit Geduld und Ideenreichtum rang Menis den beiden Oberflächenmaterialien des Neubaus – Sichtbeton und Faserzementplatten – einen Reichtum an Formen und Texturen ab, die weithin ihresgleichen suchen. 15 16 Der Südosten der Insel Teneriffa ist unfruchtbares Land; eine Halbwüste im Windschatten des Vulkans Teide, mit 3718 Metern des höchsten Gipfels auf spanischem Territorium, die auch in ihrer spärlichen Vegetation eher die Nähe zu Nordafrika erahnen lässt als zum fernen spanischen Mutterland. Wäre nicht der florierende Tourismus, es gäbe wenig Anlass, hier größere menschliche Ansiedlungen zu vermuten – geschweige denn eines der wichtigsten öffentlichen Gebäude, die in den letzten Jahrzehnten auf der Insel errichtet wurden. Das insgesamt 30 Millionen Euro teure Projekt MAGMA war zunächst als reines Tagungszentrum geplant, wurde jedoch während der Planungsphase auch für den Theater- und Konzertbetrieb ausgelegt. Ein komplettes Bühnenhaus kam hinzu. Künftig sollen im Haus regelmäßig Konzerte des Orquestra Sinfonica de Tenerife stattfinden, das bislang meist in dem 2003 eröffneten, von Santiago Calatrava geplanten Auditorium der Inselhauptstadt Santa Cruz aufspielt. Nicht zuletzt seine verkehrsgünstige Lage soll MAGMA zu einem Kristallisationspunkt für die weitere wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von Süd-Teneriffa machen: Unmittelbar hinter dem Gebäude führt die Autobahn Richtung Santa Cruz vorbei. Der Bauplatz wurde teilweise aus dem Hang abgegraben; Richtung Meer bildet er eine erhöhte Plattform, zu der mehrere Rampen hinauf führen. Das oberhalb des Ortes Adeje gelegene Kongresszentrum tritt auf den ersten Blick als eigenartige Mischung aus international geprägtem Expressionismus und jener zeitlosen, steinernen Schwere in Erscheinung, welche gerade die jüngere spanische Architektur wieder für sich entdeckt hat. Fernando Menis ist sich dieser Doppeldeutigkeit seines Entwurfs durchaus bewusst. Er schreibt: „Aus der Ferne präsentiert sich das Gebäude als arrogante Konstruktion [!] mit expressiven, starken Formen, während es aus der Nähe betrachtet mit der Umgebung verschmilzt und ein Teil von ihr wird.“ In dem Bestreben, den ungewöhnlichen Neubau von Adeje in eine allgemein gebräuchliche Stilkategorie zu stecken, haben Kritiker diesen bereits mit der Architektur Frank Gehrys verglichen. Wie der Kalifornier in seinen besten Bauten, so spielt D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Seite 14-15 Niedrige, breite Rampen führen aus dem Ort Adeje hinauf auf den Vorplatz des Kongresszentrums. Hinter der Brüstung zeichnen sich rechts bereits die Konturen des flach geduckten Neubaus ab.. Links Die beiden Oberflächenmaterialien von MAGMA sind Sichtbeton und Faserzementschindeln. Die Stirnseiten der Betonwände wurden mit dem Presslufthammer bearbeitet, um sie wie verwittertes Eruptivgestein wirken zu lassen. Oben Gesamtansicht des Gebäudekomplexes vom Bergabhang oberhalb des Ortes aus. Sichtbar wird hier der Wechsel zwischen den wuchtigen Betonkernen und den wellenartig über sie hinweg gleitenden Faserzementdächern. 17 Die obere Konferenzetage lässt sich mittels verfahrbarer Trennwände in maximal 26 kleinere Räume unterteilen. Meist bleibt sie jedoch offen und macht dann – wie hier – das majestätisch geschwungene Dach, das sich in den Raumecken bis auf Fußbodenniveau herabsenkt, als Ganzes erlebbar. 18 19 Links Blick durch das Obergeschoss. Zur Beleuchtung dienen in die Decke eingelassene Halogenspots und schmale Lichtschlitze im Dach, durch die – stets auf indirektem Wege – Tageslicht in den Innenraum fällt. Rechts Die Haupttreppe ins Obergeschoss offenbart Fernando Menis‘ bildhauerische Qualitäten. Die Fassade des hinteren Büroriegels (rechts im Bild) zeigt ein Patchwork aus schalungsglatten und nachträglich gehämmerten Betonoberflächen. auch Menis in seinem Entwurf mit der Spannung zwischen massiven Kuben und wellenförmig dahinschwingenden Dachelementen. Indessen fehlt dem Kongresszentrum das himmelwärts Strebende der Gehry-Bauten; das Gebäude duckt sich flach in den Wüstensand und bleibt damit auf sympathische Weise erdverbunden. Menis vergleicht die massiven Betonkuben, die die Dächer tragen, mit Blöcken aus magmatischem Ergussgestein; die Wellendächer selbst symbolisieren für ihn „eine Flüssigkeit in Bewegung, die den Raum in jeder Richtung umschließt“. Tritt man näher an das Gebäude heran, so zerfällt die unruhige Gesamtform in Einzelelemente von beeindruckender Präsenz und spannungsreicher Haptik. Konsequent ließ Fernando Menis alle Betonteile so bearbeiten, dass sie wie roh bearbeitete, aus dem Steinbruch gehauene Blöcke wirken: Während die Seitenflächen eine schräg verlaufende Bretterschalung erhielten, die an die Arbeitsspuren einer gigantischen Säge erinnert, wurden die Stirnseiten nachträglich mit dem Presslufthammer aufgeraut. Als Dachkonstruktion dient Menis ein gewaltiger Trägerrost aus Stahl mit abge- 20 hängten, 45 Zentimeter hohen Stahlträgern, die die untere Deckenverkleidung tragen. Berechnung und Fertigung der unregelmäßigen, doppelt gekrümmten Dachflächen erfolgte mit der Software CATIA, die ursprünglich aus dem Flugzeugbau stammt und bereits bei vielen biomorphen Baukonstruktionen der vergangenen Jahre ihre Praxistauglichkeit bewiesen hat. Die Wellendächer sind innen- und außenseitig mit flexiblen Faserzementplatten verkleidet, die einander wie Schuppen überlappen. Selbst an den Stirnkanten, an denen Unter- und Oberseite des Dachs aneinander stoßen, verzichtete Menis auf jegliche Kantenbleche, um die makellos raue, „steinerne“ Optik des Bauwerks zu erhalten. Die Dachkanten erhielten so eine sägezahnartige Struktur, die gut zum Relief des behauenen Betons passt. Im Gebäudeinneren sind Belüftung, Elektroinstallation, Schalldämmung sowie die Führungsschienen für die Schallschutztrennwände im Dachinnenraum verborgen. Insgesamt zwölf, in etwa radial angeordnete Beton-Megalithen gliedern den Gebäudegrundriss, tragen die Last der Dächer und nehmen in ihrem Inneren Neben- D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 21 Ein wuchtiger, dreieckiger Balkon kragt aus dem Obergeschoss in das Auditorium vor. Ebenso wenig wie Gesteinslagen in der Natur verlaufen die Schalungsmuster an den Wänden genau waagerecht oder senkrecht; immer dominiert die Diagonale. Above The Tatami mat is the most important item of soft furniture in the traditional Japanese residence and, at the 22 23 räume wie WCs, Fluchttreppen, Büros und das Pressezentrum auf. Zwischen ihnen liegen die drei Zugänge zum Gebäude; selbst diese sind flach und werden von wuchtigen Balkonbrüstungen der Obergeschosse und auskragenden Dachflächen beschattet. Der Haupteingang führt vom Vorplatz ins Foyer und in die linkerhand angrenzende, öffentliche Cafeteria, die MAGMA auch an Tagen ohne Kongressbetrieb mit einem Minimum an Leben erfüllen soll. Ein zweiter Zugang führt von der Gebäuderückseite in den Verwaltungstrakt; ein dritter, der nur für Großveranstaltungen genutzt wird, direkt in das Auditorium. Wer das Innere von MAGMA betritt und dabei das Bild herkömmlicher Konferenzzentren mit ihrer Serienbau-Ästhetik, ihren modularen Stahl-Glas-Wänden und endlosen Rasterdecken in Erinnerung hat, kann eigentlich nur staunen über die Kunstfertigkeit, mit der Fernando Martin Menis den höhlenartigen Großräumen des Bauwerks nicht nur Atmosphäre, sondern auch eine Flexibilität verlieh, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht. Der 2350 m² große Mehrzwecksaal mit Bühne 24 im Erdgeschoss, in dem auch die Konzerte stattfinden, kann in bis zu neun kleinere Sitzungssäle unterteilt werden. Auch das Obergeschoss ist entweder als ein 1865 m² großer Sitzungssaal nutzbar oder in bis zu 26 kleinere Räume zu unterteilen. Garanten für diesen erstaunlichen Grad an räumlicher Variabilität sind schallgedämmte Schiebewände, die in den Nenbenraumzonen (Menis bezeichnet sie als „Garderobenfelsen“) geparkt werden. In der Eingangshalle offenbart sich die ganze archaische Wucht dieses Gebäudes, sie ist flach und breit und relativ dunkel; riesenhafte Hohlkastenträger aus Stahlbeton spannen quer durch die Halle, so niedrig, dass man teilweise meint, sie mit der Hand greifen zu können. In die Träger ist die Belüftung integriert, in die tief liegenden, schluchtengleichen Einschnitte zwischen ihnen die Beleuchtung. Auch hier unterstrich Menis die Masse des Betons, indem er die Unterseite der Betonträger schalungsrau beließ und ihre Seitenflächen nachträglich mit dem Presslufthammer bearbeiten ließ. Der seitlich anschließende Hauptsaal mit seiner weitgespannten Decke nimmt die volle D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Ein Konferenzraum in einem der Betonriegel. Mit den schmalen ‚grietas de luz‘ (Lichtschlitzen) in ihren meterdicken Decken und Außenwänden erzeugen sie einige der eindrucksvollsten Lichtstimmungen im ganzen Gebäude. Rechts Auch das große, zweigeschossige Auditorium ist durch Trennwände zu untergliedern – dunkle Fugen in Wänden und Decke deuten es an. Letztere wurde hier um einige Meter von der eigentlichen Haupttragkonstruktion des Daches abgehängt. Höhe des ansonsten zwei- bis viergeschossigen Bauwerks ein. Zahlreiche Nischen und Alkoven machen nicht nur das Begehen des Gebäudes zu einer wahren Entdeckungsreise, sondern ermöglichen auch viele unterschiedliche Nutzungsarten gleichzeitig – die Plenarsitzung und das Vier-AugenGespräch, den Frontalvortrag ebenso wie das informelle Tete-à-tete. Statt stromlinienförmig jeder erdenklichen Nutzung zu folgen, inspiriert das Bauwerk seinerseits zu Hunderten denkbarer Nutzungsarten. Seine in sich ruhende, geradezu stoische Architektur ist robust genug, mit den unterschiedlichsten Anforderungen fertig zu werden, und gleichzeitig ausdrucksstark genug, um auch ohne diese als autonome Bauskulptur zu bestehen. Nach bester Bildhauermanier geht Fernando Martin Menis in seinem Entwurf auch mit dem Tageslicht um. In Süd-Teneriffa, wo Tageshöchsttemperaturen von 40 Grad im Sommer die Regel sind, verbietet sich die großflächige, direkte Besonnung von Innenräumen. Menis lenkt das Tageslicht stets indirekt in die Räume und dann gezielt dorthin, wo es der Inszenierung der Volumen und Oberflächen dient. Schmale Schlitze in Wand und Dach (grietas de luz) und punktförmige, regelrechte „Lichtlöcher“ (agujeros de luz) sind die häufigsten Tageslichtöffnungen in seinem Entwurf. Besonders dramatisch ist der Raumeindruck im Pressezentrum im Obergeschoss, wo sich Hohlkastenträger aus Beton mit bandförmigen Oberlichtern abwechseln. Nachts ersetzen Halogenstrahler, die ebenfalls in den Deckenfugen angebracht wurden, das Tageslicht. Die Analogie zur Skulptur prägt indessen nicht nur das Endergebnis, sondern auch die Genese des Entwurfs: Die ersten Ideen zu MAGMA nahmen an einem kaum schuhkartongroßen Plastilinmodell Gestalt an. Größere Modelle aus Plastilin und Schaumstoff folgten, deren Maße später direkt in Konstruktionszeichnungen übertragen wurden. Wie die Arbeit eines Bildhauers war auch Menis’ Arbeitsrhythmus von der engen Verknüpfung zwischen Entwurf und Ausführung bestimmt: Die wenigsten Details lagen bei Baubeginn bereits fest, vieles wurde erst gezeichnet und noch mehr wurde verändert, als der Bau schon am Entstehen war. Das intensive Eintauchen des Architekten in den Bauprozess ist bei einem Bauwerk mit der geometrischen Komplexität und dem Variantenreichtum im Detail wie MAGMA vermutlich unabdingbar. Möglich war es nur, weil Fernando Martin Menis über ein eingeschworenes Baustellenteam verfügte, das ihm in die zahlreichen Verästelungen seines Entwurfs hinein nahezu bedingungslos folgte. 25 Links Farbe und Oberflächentexturen des Kongresszentrums wandeln sich im Laufe der Tageszeiten. Die Dachüberstände sind so berechnet, dass sie das Bauwerk bestmöglich vor der steilen Mittagssonne schützen. Rechts Detailansicht der Betonfassade. Dem Beton wurde Gesteinsmehl aus der Region beigemischt, um ihn farblich an die umliegenden Felsformationen anzupassen. 26 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 27 Längsschnitt Querschnitt Detailschnitt durch die EIngangsfassade Lageplan Grundriss Erdgeschoss Fakten Gebäudetyp Bauherr Architekten Standort Fertigstellung 28 Grundriss Obergeschoss Kongresszentrum mit Konzertsaal, Cafeteria und Büros Canarias Congress Bureau Tenerife Sur S.A. Artengo Menis Pastrana, Santa Cruz de Tenerife (Projektarchitekt: Fernando Martin Menis) Costa Adeje, Tenerife Herbst 2005 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Meine Heimat, die Kanarischen Inseln, hat meine Arbeit maßgeblich beeinflusst. Seine besondere geografischen Lage – weit entfernt von Europa und Amerika, aber nahe bei Afrika – macht das Archipel zu einem herausragenden kulturellen und wirtschaftlichen Bindeglied zwischen den drei Kontinenten. Ihr vulkanischer Ursprung und die vorherrschenden Lichtverhältnisse, Farben und Formen prägen den Charakter der vom Atlantik umgebenen Inseln. Dieses einzigartige natürliche Umfeld nimmt seinerseits Einfluss auf eine Architektur, die sich nicht dem Zeitgeist oder kurzfristigen Trends unterwirft. In meinen Entwürfen, die diese Einzigartigkeit zumindest ein Stück weit einfangen sollen, analysiere ich die für einen Baustandort charakteristischen Materialien. Ein Projekt teilweise vor Ort zu entwerfen, hat den Vorteil, dass Muster im Maßstab 1:1 hergestellt werden können, an denen sich Farbnuancen ändern oder unbekannte Texturen bestimmter Materialien entdecken lassen. Der Standort des zukünftigen Gebäudes wird so immer auch in das Projekt einbezogen. Denn von der Umgebung hängt es ab, welche Materialien zum Einsatz kommen. Unabhängig davon, welchen Grundriss der Bau hat, wie die Fassade aussehen wird oder welche Gebäudeaufteilung geplant ist, wähle ich für meine Architektur stets adäquate Materialien aus, die nicht nur ästhetisch überzeugen, sondern auch mit der Umgebung des Gebäudes harmonieren. Das Kunst- und Kongresszentrum MAGMA Arte&Congresos auf Teneriffa beispielsweise bringt eine fließende Linienführung zum Ausdruck, die sich vom Boden über die Wände bis hin zum wellenförmigen Dach fortsetzt, das über allem thront, und dem Gebäude einen in sich geschlossenen Ausdruck verleiht. Das dominierende Material ist Beton, da dieser gut mit dem Umland und der wüstenartigen Landschaft des Südens der Insel harmoniert. Um den Beton farblich noch stärker an die Landschaft anzupassen, wurde sprödes, für diese Gegend typisches Gestein beigemischt, das aus nahe gelegenen Steinbrüchen stammt und für den Ockerton verantwortlich ist. Die äußere Textur des Gebäudes ist eine Reminiszenz an die erodierende Landschaft des Südens; sie verleiht dem Gebäude zudem eine vom Tageslicht abhängige Dynamik. Das Licht unterstreicht somit außen die Textur des Gebäudes. Im Innenraum kommt dem Licht dagegen eine andere Aufgabe zu: In Kaskaden ergießt es sich über Boden und Wände und lässt dabei ein abwechslungsreiches Spiel von Licht und Schatten entstehen. Fernando Menis 29 30 31 REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseits der Alltagsarchitektur. FOTO (LINKS) AG HEYSER/UNI BREMEN. GEGENÜBER: PHOTOS 1, 3, 4 VON JAKOB SCHOOF, PHOTO 2 VON DR. UDO KÜPPERS NATÜRLICHE OBERFLÄCHEN Gegenüber Vier Beispiele äußerer natürlicher Oberflächen von Organismen: 1. farbenprächtiges schuppenartiges Gefieder eines Fasans. 2. lichtdurchlässige Samenhülle des Blasenschötchens. 3. multifunktionale menschliche Haut. 4. hydrophobe Blattoberfläche des Frauenschuh. 32 Text von Udo Küppers. Die Verpackungsbionik beschäftigt sich mit der Frage, welche technischen Erfindungen sich aus natürlichen Oberflächenstrukturen ableiten lassen. Schon in der Vergangenheit hat dieser Zweig der Wissenschaft große Fortschritte für das Bauwesen gebracht, zum Beispiel den selbstreinigenden „Lotos-Effekt“ für Farben und Putze, Metall- und Keramikoberflächen. Doch die Bionik natürlicher Oberflächen hält noch mehr Überraschungen für uns bereit, wie Dr. Udo Küppers in seinem Beitrag erläutert. Oberflächen sind Grenzflächen und als solche ein universelles Merkmal des Lebens. Man könnte auch sagen: Natürliche Oberflächen sind die Verpackungen des Lebens. Bereits als kleinstes dünnes Häutchen von wenigen Millionstel Zentimeter Dicke leistet die Oberfläche einer Doppelschicht von Fettstoffmolekülen mit zugehöriger Struktur Außerordentliches für die Energiegewinnung innerhalb eines Organismus. Die Oberfläche der mehrere Dezimeter dicken Borkenschicht eines Mammutbaums verteidigt den Organismus dagegen unmittelbar und in vorderster Position gegen vielfältige Wettereinflüsse, Feuer oder Tiere. Zwischen den kleinsten und größten Grenzflächen des Lebens spannt sich ein unüberschaubarer Reichtum an hoch spezialisierten Oberflächen, die die Evolution seit Jahrmillionen Schritt für Schritt verbessert. Im Inneren eines Organismus sind es zum Beispiel spezialisierte Zellverbünde (Organe), die sich durch Grenzen ziehende Oberflächen voneinander unterscheiden, aber miteinander kommunizieren. Gegenüber der Umwelt sind es die äußeren umhüllenden Oberflächen, zum Beispiel die menschliche Haut, die vielfältige multifunktionale Schutzaufgaben erfüllt. Es sind gerade diese äußeren Oberflächen, die wir Menschen vorrangig wahrnehmen. Verteilt auf alle Lebensbereiche unserer Erde erfüllen sie spezialisierte, für den Organismus überlebenswichtige Aufgaben. Schönheit und Funktionalität liegen bei natürlichen Oberflächen eng beieinander. Die Evolution hat es verstanden, beide Merkmale perfekt zu vereinen. Die Erkundung von Geheimnissen natürlichen Oberflächen ist unvollständig ohne einen Blick in die mikroskopische Tiefe der Schichten. Gerade in den Dimensionen von Mikrometer und Nanometer zeigen sich erst die wahren Erfolgsstrategien natürlicher Organismen und zugehöriger anorganischer Verbundmaterialien. Der Katalysator zwischen den natürlichen Oberflächen, die als Vorbilder für Oberflächen in Technik und Architektur dienen können und den funktionalen, technisch und architektonisch anwendungsreifen Analogieprodukten, ist die Bionik. Sie ist eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin die sich durch ihre Analogieforschung gut von anderen Disziplinen unterscheidet: 1 2 3 4 Bionik befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Prinzipien biologischer Systeme. Einer breiten interessierten Öffentlichkeit sind Produkte wie eine schmutzabweisende Fassadenfarbe oder eine Spezialfolie zur Minderung des Oberflächen-Reibungswiderstandes durch die Begriffe ,Lotus-Effekt‘ und ,Riblet-Effekt‘ bekannt. Detaillierte Untersuchungen an natürlichen Oberflächen des Lotusblattes und der Haihaut führten zu den bionischen zukunftsweisenden Techniklösungen. Es sind nur zwei von vielen herausragenden Ergebnissen bionischer Forschung und Entwicklung, die uns nicht nur die überlegene Technik der Natur deutlich vor Augen führt, sondern auch noch ganz nebenbei eine Jahrzehnte alte Lehrbuchweisheit über technische Oberflächen ,über den Haufen‘ wirft. Die Natur weiß das seit langem: nicht die noch so glatte, sondern die optimal strukturierte Oberfläche ist die sauberste. verpackungsbionik – entwicklungsmotor für zukunftsweisende technisch funktionale oberflächen Noch weitaus mehr als wie die von Menschen gestalteten Verpackungslösungen erfüllen natürliche Verpackungen eine Querschnittsaufgabe zum Schutz und Transport, zur Lagerung und Qualitätssicherung des verpackten Lebens. Wer natürliche Oberflächen von Organismen untersucht, stößt damit unweigerlich auch auf deren ,Verpackungsgeheimnisse‘. Die Verpackungsbionik hat sich inzwischen zu einem eigenständigen wachsenden Zukunftsfeld innerhalb der Wissenschaftsdiziplin Bionik etabliert. Sie analysiert systematisch die reichhaltige Formenvielfalt, die raffinierten Strukturverbünde und die systemisch ablaufenden Energie-, Material- und Informationsprozessen natürlicher ,Verpackungen‘ und damit auch natürlicher Oberflächen (Küppers 2006, 2004, 2003, Küppers/Tributsch 2002). Die folgenden Beispiele für zehn organismische Oberflächen und Organismen umhüllenden Oberflächen öffnen uns nur ein kleines Fenster in die phantastische und hochgradig effiziente Wunderwelt natürlicher Oberflächen: D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 33 FOTOS VON DR. UDO KÜPPERS, AUSSER NR 3, GETTY IMAGES 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial Eisbär schwarze Haut mit darüberliegendem Pelz aus transparenten lichtleitenden Haaren Orientierung, Tarnung, Wärmegewinnung durch Totalreflektion Transparente Wärmedämmung (Bauelemente bereits verfügbar) 2 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial Edelweiß weißer pelziger Belag transparent, wärmeisolierend Transparente Wärmedämmung 3 Organismus Oberfläche Funktionen Straußenküken den Organismus umgebende Eischale IR-Lichtreflektion, atmungsaktiv, bakterienresistent, formoptimal Formstabile, stützfreie und bruchfeste Raumumhüllung mit integrierten Versorgungsleitungen Bionisches Lösungspotenzial 4 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 5 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial Macadamia den Organismus umgebende Schale aus Zellulose, bräunlich gefleckte, kugelige Oberfläche extrem bruchfest, vermutlich durch speziell geformte Zellverbünde, optimales Oberflächen-Volumen-Verhältnis schwingungsdämpfende Trägerelemente, bruchfeste Dachkonstruktionen Haselnuss den Organismus umgebende Schale aus Zellulose, wellig, zylindrig-kugelige Oberfläche hoch bruchfest, integrierte NährstoffTransportröhrchen, perfekte Ausrichtung der Zellverbünde zum Schutz der wachsenden Nuss Formstabile stützfreie und bruchfeste Raumumhüllung, bruchfeste Dachkonstruktionen 6 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 7 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 8 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 9 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 10 Organismus Oberfläche Funktionen Bionisches Lösungspotenzial 34 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Mammutbaum bräunlich gefärbte, faserige, weiche und luftdurchflutete Borke, sehr leicht, stark tanninhaltig dadurch bakterienabweisend, hohe Wärmeisolationsfähigkeit, brandhemmend Neue umweltverträgliche Isolationsmaterialien für den Baubereich, feuerabweisende, brandhemmende Verbundschichten, bakterienhemmende Schutzfolie Geraniengewächs Wachshülle lichtdurchlässig, Vermeidung von Verdunstung, abriebfest ultraleichte tranparente Schutzhüllen, z. B. von Solarzellen, Fassadenelemente Speisezwiebel Multischicht-Verbundfolien optimales Oberflächen-VolumenVerhältnis, Temperaturregulator, hochgradig pilzresistent, transparent, wärmeisolierend, bakterienabweisend ultradünne, temperaturausgleichende Verbundschichten für aktive Regulation des Raumklimas, Anwendung für stationäre und mobile Raumumhüllungen Bläuling linienorientierte Mikro-/Nanostruktur, blau schimmernd Farberzeugung ohne Farbstoff Farbgebung beliebiger Art durch physikalische Effekte ohne zusätzlichen Farbstoff zusatz Knöterichgewächs grün spezielle raumsparende Faltungen, Stabilität großer Flächen mit EinPunkt-Befestigung Verpackung großen Flächen in kleinstem Volumen, flexible, lichtsammelnde und zugleich Schatten spendende funktionale Schutzhülle FOTO VON AG HEYSER, UNIVERSITY OF BREMEN FOTO VON ART WOLFE /STONE/GETTY IMAGES das straussenei – funktionale oberfläche mit schutz für werdendes leben Eier sind eine von vielen genialen Verpackungen der Natur, in denen Leben geschützt vor äußeren Störeinflüssen heranwächst. Dieses Leben muss durch die mineralische Schale von außen mit lebensnotwendigem Sauerstoff versorgt werden. Ausgeatmetes Kohlendioxid muss von innen nach außen entweichen können. Umwelteinflüsse wie starke UV-Sonnenstrahlen müssen an der Schalenoberfläche reflektiert werden. Ferner ist das Eindringen von Mikroorganismen durch die Schalenstruktur für das heranwachsende Straußenleben zu vermeiden. Schließlich muss die Schale mechanischen Stößen trotzen, also eine gewisse Bruchfestigkeit besitzen. Diese Merkmale machen die Schale des Straußeneis zu einer perfekt angepassten Verpackung im brütend heißen Lebensraum der afrikanischen Wüsten. Südafrikanische San (Buschmänner) leben seit mehreren Tausend Jahren in enger Verbundenheit mit der Natur, die sie für ihre Überlebenszwecke nutzen, ohne sie zu zerstören. Leere Straußeneihüllen sind für sie daher hervorragende Depots für Flüssigkeit. Brackwasser, ein Gemisch aus Süß- und Salzwasser, wird von den Jägern in die Eierschalen gefüllt, diese werden mit Lehmstopfen und Stammeszeichen verschlossen, markiert und vergraben. Nach der Rückkehr von wochenlangen Jagdausflügen in der Wüste ist das Wasser noch trinkbar. Der Grund hierin liegt im speziellen Aufbau der Eischale: Auf ein inneres Membrangewebe (Proteinnetz) folgt ein anorganischer, im Querschnitt säulenartig strukturierter Kalkschalenaufbau. Zur Umwelt schließt die Schale mit einer glatten kalzifizierten Außenschicht ab. Eine organische Außenhaut wie zum Beispiel bei der Tomate existiert beim Straußenei nicht. Da diese bakterienschützende Außenhaut fehlt, fungieren die Poren der Schale als antibakterieller Schutz: Sie besitzen Durchgangsstellen mit Durchmessern im Submikrometer-Bereich, was sie zwar luftdurchlässig, aber für Bakterien (Größe 1-2 Mikrometer) unpassierbar macht. Die Verpackungsbionik hat das Prinzip der Atmungsfähigkeit und Bakterienresistenz dieser biologischen Verpackung aufgegriffen. Eine Wasser abweisende, mit funktionskeramischen Stoffen beschichtete atmungsaktive Membran wurde nach dem Vorbild Straußenei hergestellt. Die gegenwärtig Ganz oben Schale eines Straußeneis. Mit dem bloßen Auge sind die kleinen Ein- und Ausgänge für den Gasaustausch auf der porzellanartigen Oberfläche gerade noch zu erkennen . Darunter Ein San aus der Kalahari trinkt aus einem Straußenei, das er als Wasservorratsbehälter beim Jagen nutzt. 35 Unten links Haltbarkeitstest von Lebensmitteln. Links: PVC-Folie (17), rechts: Bionikfolie (18). Unten rechts Die Aufnahme einer Haselnussschale unter dem Rasterelektronenmikroskop zeigt deutlich die integrierten Versorgungsleitungen. Prinzip der Lichtsammlung durch Eisbärhaare Eisbärhaare Lichtleitung durch Totalreflexion, Streuung u. Lumineszenz schwarze Eisbärhaut Transparente Wärmedämmung die haselnussschale – bruchfeste hülle mit integrierten versorgungsleitungen Die Haselnuss ist durch eine samtartig erscheinende Außenfläche ausgezeichnet, was sich in der besonderen Oberflächenstrukturierung widerspiegelt. Da es sich um die eigentliche Außenwand der Frucht handelt, ist die äußerste Schicht die reguläre Epidermis, aus der kurze Haare auswachsen können. Das erstaunliche Messergebnis eines Bruchbelastungstests zeigt, dass die Schale Punktbelastungen bis ca. 700 N verträgt. Sie liegt damit im unteren Mittelfeld zwischen einer Erdnussschale (100 N) und einer Macadamiaschale (3000 N) und weit abgeschlagen von einer Kokosnussschale (10000 N). Das Hineinsehen durch die sichtbare Schalenoberfläche in die Mikro- bis Nanometer großen Materialstrukturen gibt erste konkrete Hinweise auf die Geheimnisse von Materialfestigkeit, Dehnung und anderer Qualitätseigenschaften. 36 Licht mit energiereichem UV-Anteil Transparente Kapillarplatte Glasputz Mauerwerk Opake Wärmedämmung opake Isolationsschicht Mauerwerk Putz ht Lic ht Lic Transmission Reflexion Reflexion Innen Außen D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Transmission Innen Außen ZEICHNUNGEN VON DR. UDO KÜPPERS verwendeten bionischen Verpackungsfolien besteht aus allgemein gebräuchlichen Kunststoffen wie zum Beispiel PET, die durch ein spezielles Strahlungsverfahren Poren im Submikrometer- (Porendurchmesser 500 nm) bis Mikrometerbereich erhalten. Durch eine Oberflächenbehandlung mit nicht toxischen Nanopartikeln erhält die Folie danach ihre antibakterielle und selbstreinigende Wirkung. Diese Nanopartikel setzen sich sowohl auf der Oberfläche als auch an den Wänden der Poren fest, sodass zusätzlich eine antibakterielle „Tiefenwirkung“ entsteht. In einem ersten Praxisvergleichstest mit Standard-Verpackungsfolien aus PVC zeigte die Membran deutliche Vorteile bei der Vermeidung von Pilzbefall auf Lebensmitteln. Beispiele für weitere Anwendungen dieser bionisch entwickelten und strukturierten Oberfläche liegen in der Filtertechnik und im Bauwesen. Die Tatsache, dass diese besondere Oberflächenstruktur sowohl auf flexible als auch auf feste technische Oberflächen aufgebracht werden kann, bietet nicht zuletzt für die Architektur zahlreiche Ansatzpunkte, etwa bei der Vermeidung von Schimmel und Fäulnis in schlecht durchlüfteten Räumen. Denkbar wären zum Beispiel Wandelemente aus dünnen Verbundschichten, die biegefest und tragfest sind und zudem die entsprechenden Wirkungen der oben beschriebenen bionischen Folien aufweisen. Ganz unten Eisbärenhaare leiten das energiereiche UV-Licht durch Totalreflexion, Streuung und Lumineszenz an die schwarze Körperoberfläche des Bären weiter, wo es in Wärme umgewandelt wird (Mitte). Nach einem sehr ähnlichen Prinzip funktioniert die Transparente Wärmedämmung im Bauwesen (unten). Die makroskopische und mikroskopische Querschnittansicht der Haselnussschale zeigt deutlich die unterschiedlichen Zellformen und die eingebauten Transportkanälchen für die Versorgung mit Nährstoffen. Mit bloßem Augen sind diese innenliegenden Transportkanälchen als periphere Verstärkungslinien erkennbar. Die perfekt auf Bruchfestigkeit abgestimmten Zellverbünde mit integriertem Röhrchensystem macht die Haselnussschale zu einem interessanten Bionikobjekt für ingenieurtechnisch funktionale Bauelemente. Erste Modelle für biegesteife dünne Wandelemente mit eingebauten Versorgungsleitungen sind in Arbeit. das eisbärfell: lichtsammler und wärmespender Eisbären leben im hohen Norden unserer Erde, der Arktis. Ihr Fell ist weiß und passt sich daher der Umgebung perfekt an. Aber die Farbe ist nur ein evolutionäres Anpassungsmerkmal. Als Forscher die warmblütigen Eisbären mit Infrarot-Kameras (infrarotempfindliche Filme detektieren Wärme besonders gut) fotografieren und zählen wollten, erlebten sie eine Überraschung. Die entwickelten Filme zeigten keinen einzigen Eisbären, obwohl die Forscher sie doch mit eigenen Augen gesehen hatten. Erst ultraviolett (UV) empfindliche Filme zeigten nach ihrer Entwicklung die Eisbären als schwarze Punkte im weißen Eismeer. Das Fell des Eisbären, dessen Haare kleinen Röhrchen ähneln, sammelt das energiereiche ultraviolette Licht der Arktis, leitet es mit Hilfe verschiedener physikalischer Mechanismen durch die röhrchenförmigen Haare zur Körperoberfläche und wandelt es dort in Wärme um. Wenig von dieser Wärme geht nach außen verloren. Daher war es den Kameraleuten zuerst nicht möglich, die Eisbären über Wärmeabstrahlung zu sichten. Experimente, an denen auch der Autor beteiligt war, bestätigen diesen biologischen Mechanismus eines effizienten Schutzes gegen Wärmeverlust. In der Architektur ist ein ähnliches Prinzip der Umwandlung von Licht in Wärme bei der Transparenten Wärmedämmung (TWD) bekannt. Bauelemente, die dieses Prinzip nutzen besteht aus einer wärmeaufnehmenden, schwarzen Absorberschicht, mit einer darüber liegenden transparenten Kapillarplatte und einer äußeren, lichtdurchlässigen wetterfesten Schutzschicht. Gegenüber einer gleich dicken, opaken, also nicht transparenten Dämmschicht auf demselben Mau- erwerk kann Transparente Wärmedämmung bedeutend mehr Wärme durch das Mauerwerk ins Innere des Hauses leiten. Sie ist damit eine sehr wirksame, weil energiesparende Anwendung aus der Baubionik, die bereits seit einigen Jahren mit Erfolg eingesetzt wird. Literatur Küppers, U. (2006) Grenzflächen des Lebens – Die Natur als Verpackungskünstlerin, in: Faszination Bionik – Die Intelligenz der Schöpfung, Hrsg.: Blüchel/Malik Küppers, U. (2004) Architekten der Natur – Organismen als geniale Baumeisterund Ingenieure, in: Mensch + Architektur, Nr. 46/47, September 2004 Küppers, U. (2003) Grenzflächen des Lebens – bionische Nutzen für die Verpackungstechnik? in: Baier et. al (Hrsg.), Transparenz und Leichtigkeit, Symp., Universität Essen Küppers, U. und Tributsch, H. (2002) Bionik der Verpackung – Verpacktes Leben, verpackte Technik, Wiley VCH, Weinheim Dr.-Ing. Udo Küppers studierte Fertigungstechnik/Werkzeugmaschinen und promovierte an der TU Berlin mit einer experimentellen Arbeit über aerodynamische evolutionsstrategische Tragflügeloptimierung. Seit fünfzehn Jahren ist Dr. Udo Küppers in der angewandten Bionik-Forschung und –Entwicklung tätig. Seine Kernkompetenzen liegen in der Verpackungs-, Organisations- und Evolutionsbionik sowie der bionischen Dynamik. Udo Küppers hatte mehrere Lehraufträge zu Bionik an Fachhochschulen und Universitäten inne und ist Verfasser zahlreicher Fachveröffentlichungen sowie mehrerer Bücher und Patente. 37 38 54° 18’ 12” N, 0° 24’ 36” W 1981 39 Foto und Haiku von Michael Kenna Welle, Scarborough, Yorkshire, England. 1981 www.michaelkenna.net 40 Zum Himmel emporgereckt lächeln, vorüberziehend, zwei Meeresriesen in meine Kamera. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 41 TAGESLICHT IM DETAIL Genauer hingesehen: Wie Tageslicht in Gebäude gelangt FOTO VON VACLAV SEDY / CISA A. PALLADIO LICHT UND MATERIAL Oben Carlo Scarpa: Museo del Castelvecchio, Verona (1961–64) Licht schaff t Kontraste: Die Innenräume des Museums sind mit rauem ‚Stucco alla veneziana‘ verputzt. Scarpa verwendet ihn, um das Licht gleichmäßig und reflexionsfrei zu streuen und einen Kontrast zu den glatten, dunklen Sockeln der Exponate zu bilden. 42 Text von Marietta Millet. Licht und Material sind untrennbar miteinander verbunden, ja sie bedingen einander: Beide werden für das menschliche Auge erst sichtbar, wenn sie aufeinander treffen. Große Architekten haben sich in der Wahl ihrer Baumaterialien daher stets auch von den Lichtverhältnissen leiten lassen. Sie nutzten Licht, um Materialkontraste hervorzuheben, und setzten Materialien ein, die es ihnen erlaubten, eine ganz bestimmte Lichtverteilung im Raum herzustellen. licht und material bedingen einander. Für das Lichtverständnis in der Architektur kommt den Materialien eine wesentliche Bedeutung zu, da sie die Menge und Qualität des Lichts unmittelbar beeinflussen. Hierbei sind vor allem zwei Materialeigenschaften wichtig: Oberflächenbeschaffenheit und Farbe. Spiegelnde Materialien mit blanken Oberflächen reflektieren das Licht wie ein Spiegel, so dass reflektierte Bilder der Lichtquelle ,auf‘ der Fläche sichtbar sind. Matte Oberflächen wie Naturstein, Holz und Putz streuen das Licht gleichmäßig in alle Richtungen. Von den drei Eigenschaften einer Farbe - Farbton, Helligkeit und Intensität – ist die Helligkeit der Faktor, der die Menge des absorbierten bzw. reflektierten Lichts bestimmt. Eine weiße Wand reflektiert nahezu 82 Prozent des einfallenden Lichts, eine hellgelbe Wand etwa 78 Prozent und eine dunkelgrüne oder blaue Wand nur 7 Prozent. Farbige Flächen geben einen Teil ihres Farbtons an das reflektierte Licht ab. Ein Materialwechsel kann die Atmosphäre eines Raums und den Beleuchtungsgrad verändern. Ein dunkler Raum wird durch einen weißen Wandanstrich heller. Andererseits kann ein heller Raum durch Verringerung des Lichteinfalls oder mit Hilfe gedeckter Farben verdunkelt werden. In der Architektur bedient man sich häufig dieser Wirkung. So sind zum Beispiel die Innenflächen der Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp weiß gestrichen; wegen des geringen Tageslichteinfalls erscheinen sie aber in Schattierungen von hell- bis dunkelgrau. Im Zusammenspiel mit Licht rufen Materialien Emotionen hervor. Funkelndes Glas, glitzernde Goldmosaike und tiefdunkles Holz erzeugen eine emotionale Wirkung, die einerseits kulturell begründet ist und andererseits auf individueller Wahrnehmung beruht. In vielen Gegenden greift man vorzugsweise auf traditionelle Bauformen und regionaltypische Materialien zurück. Bestes Beispiel hierfür ist der von Carlo Scarpa favorisierte stucco alla veneziana. Dieser Stuck, in einem arbeitsintensiven Verfahren unter Nutzung spezieller Materialien aufgetragen, „gewinnt mit der Zeit ein weicheres und wässriges Aussehen von fantasieanregender Schönheit.“ 1 lichtfördernde materialien Die bewusste Hervorhebung von Materialien basiert auf der Wechselwirkung zwischen Licht und Material. Beson- dere Akzente setzen blanke Materialien durch die Reflexion einzelner Lichtpunkte. Die Oberflächenstruktur hebt sich unter Lichteinfall deutlich hervor, während bei lichtdurchlässigen Materialien die innere Struktur sichtbar wird. Dunkle Schatten werden durch lichtableitende Oberflächen bzw. durch lichtabsorbierendes Material erzeugt. In der von Patkau Architects geplanten Newton Library in Surrey bei Vancouver betont das Licht die Materialien, während diese wiederum das Licht und dessen Streuung begünstigen. „Weil das Licht in Vancouver unter dem im Winter häufig bewölktem Himmel sehr weich und relativ schwach ist, sind dunkles Holz und Beton wegen ihrer lichtabsorbierenden Eigenschaften kaum dazu geeignet, das natürliche Licht in die relativ tiefen Geschossebenen zu lenken“, so die Architekten. Im Bereich der hohen, abgeschrägten Glasfront auf der Nordseite, die genügend Licht zum Lesen einlässt, blieb die Deckenverkleidung aus Holz sichtbar. Der Kontrast zwischen den Materialien im Fensterbereich und dem Tageslicht darf nicht zu groß sein, um unangenehme Lichtverhältnisse zu vermeiden. Hier schwächen die sanften Sonnenstrahlen, die auf die die Unterseite der Decke treffen, nicht nur den Kontrast an den Kanten ab, sondern sorgen auch für gleichmäßige Helligkeit zwischen Fensterbereich und Raummitte. Etwa auf halbem Wege zwischen der Glasfront und dem niedrigen Mittelträger wurden weiß gestrichene Gipskartonplatten an der Decke angebracht, die das Tageslicht besser in die darunter liegenden Arbeitsbereiche reflektieren. Bei sämtlichen Materialien wurde vor allem der Zweckmäßigkeit Sorge getragen. Die schichtweise Anordnung der Materialien verdeutlicht die Rolle, die jedem einzelnen Material in der Gesamtkonstruktion zukommt. Normalerweise ist die Verglasung selbst kein wesentliches Raumelement. Spezielle Verglasungsmaterialien wie hauchdünne Steinplatten können aber durch Art und Weise ihrer Lichtdurchlässigkeit zum Blickfang werden. Unter dem Tonnengewölbe im Sitzungssaal des Museum of Contemporary Art (Arata Isozaki, 1981-86) in Los Angeles wurde Onyx zur Verglasung einer halbkreisförmigen Öffnung und der vier darunterliegenden Fenster verwendet. Der Onyx wurde bündig in die Deckenwölbung eingepasst und transportiert die einfallenden Lichtstrahlen entlang der schwarzen Betondecke. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 43 Wegen seiner Helligkeit zieht der Onyx im Raum besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die Materialstärke sorgt für einen blendfreien Lichteinfall durch die Fenster. Das Licht betont die Maserung des durchscheinenden Steins auf spektakuläre Weise und lässt ihn zum prägenden Charakteristikum des gesamten Raums werden. In dem sechs Stockwerke hohen Lichthof der Casa Batllo (Antonio Gaudi, 1904-06) in Barcelona konzipierte Gaudi die Keramikfliesen der Wandverkleidung bewusst als lichtmanipulierende Elemente. Durch Modulation von Farbton, Helligkeit und Struktur der Fliesen veränderte er die Menge und Qualität des Lichts sowohl im Lichthof als auch in den angrenzenden Räumen. Die Farben der Fliesen reichen von dunkelblau über hellere Blauschattierungen bis hin zu abgetöntem Weiß. Der dunkelblaue Farbton, durchsetzt mit helleren Fliesen, findet sich vor allem im oberen Bereich des Lichthofs unmittelbar unter der Dachverglasung. Hierdurch wird ein optischer ,Kühlungseffekt‘ erzeugt, der das Licht nahezu wie unter Wasser aussehen lässt. Der untere Bereich des Lichthofs ist mit hellen Fliesen verkleidet, hier und da durch mit dunkleren Fliesen durchsetzt. Dazwischen verändern sich die Farben graduell von dunklen bis hin zu hellen Farbtönen. Diese Verteilung der Farbfliesen sorgt für einen Ausgleich des Lichtabfalls innerhalb des Lichthofs und schafft eine gleichmäßige Beleuchtung. Dickere gemusterte Fliesen mit lichtreflektierenden Ecken sind auf der gesamten Länge zwischen den dünneren Fliesen eingestreut und erzeugen einen gewissen Glitzereffekt. Neben der Verwendung lichtmanipulierender Materialien sorgen die Form des Lichthofs (der sich nach oben erweitert) und die Fenster (die unten größer sind) für ausgewogene Lichtverhältnisse in allen Wohnungen. Zusätzlich wird das Licht im Lichthof durch Balkone beeinflusst, deren Böden aus Glasplatten als Oberlicht für die darunterliegenden Räume fungieren. Das Licht, das durch die Fenster zum Lichthof in die Apartments eindringt, ist daher gleichmäßiger als bei üblichen Konstruktionen dieser Art, wo die unteren Räume im Schatten liegen. Neben den Glasfenstern sorgen separate Belüftungsklappen (in geöffnetem Zustand) für zusätzliches Licht im Rauminneren. Doch auch den Materialien künstlicher Beleuchtungskörper kommt bei der Beleuchtung ein großer Wert zu. In der Kapelle der Wiederauferstehung (Erik Bryggmann, 1939-41, 1984 renoviert) auf dem Friedhof von Turku reflektieren die Messingleuchten das Tageslicht in einem kühlen Gelb. Beim Einschalten der Glühlampen nehmen sie dagegen eine warme und schimmernde Bernsteinfarbe an. Das Material und die feinen Formen der Leuchten sind sorgfältig auf die künstliche Beleuchtung abgestimmt. Die Leuchtenverkleidungen in Form vertikaler Blenden schimmern durch die wechselseitig erzeugten Lichtreflexionen. Die ,Krone‘ aus Messingringen an der Decke fängt das Licht ein. Die goldenen Lichtflecke verleihen der kühlen Innenatmosphäre eine gewisse Wärme und erzeugen feuerscheinähnliche Effekte. In der St. Henry‘s Church (Pitkänen, Laiho und Raunio, 1980) in Turku erhält das Material der Beleuchtungskörper unter Tageslicht ein völlig anderes Aussehen als bei künstlicher Beleuchtung. Bei Tageslicht, das durch große Fenster einströmt, wirken die Reflektoren der Leuchten nahezu durchscheinend, so dass die Ziegelmauern dahinter deutlich erkennbar sind. Bei künstlicher Beleuchtung werfen die nunmehr weiß erscheinenden Reflektoren das Licht auf die Kirchgänger zurück. Hierdurch wird die Sicht auf die dahinterliegende Wand verschleiert und ein warmer Lichtschein auf den nächstgelegenen Wandflächen erzeugt. Ähnlich einem Leinenvorhang bei Theatervorstellungen wechselt das Licht zwischen Betonung des Hintergrundes und Reflexion des Vordergrundes. 44 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 lichtdämpfende materialien Materialien können auch gezielt eingesetzt werden, um Lichteffekte abzuschwächen, verschiedenartige Materialien ähnlich aussehen oder das Licht gleichmäßig wirken zu lassen. Die shojiWandschirme in traditionellen japanischen Häusern streuen das einströmende Tageslicht sowohl bei sonnigem Wetter als auch bei bewölktem Himmel. Ähnlich einem Sonnenschirm wird das Licht zunächst durch die großen Überhangdächer gedämpft und somit eine gleichmäßige Abschattung der Innenräume erzielt. Die sorgfältige Gestaltung der Innenwände ist speziell auf die Lichtverhältnisse abgestimmt. In seinem Buch ,Lob des Schattens‘ widmet Junichiro Tanizaki dieser Verbindung zwischen Licht, Material und Kultur besondere Aufmerksamkeit und liefert eine Erklärung für 1. Patkau Architects: Newton Library, Surrey (1990) Material lenkt Licht: Gezielt setzen Patkau Architects bei ihrer Bibliothek auf weiße Decken und Wände aus Gipskarton, um das oftmals schwache und diffuse Tageslicht British Columbias tief ins Innere der Lesesäle zu leiten. 8. Willard T. Sears: Isabella Stewart Gardner Museum, Boston (1899–1901) Licht schaff t Ortsbezug: Die Loggia im Innenhof zitiert detailgetreu venezianische Vorbilder, und selbst der Verputz wurde nach venezianischer Rezeptur angemischt. Dennoch wirkt das Ergebnis auf das menschliche Auge nur dann überzeugend, wenn auch das Tageslicht der typisch venezianischen, silbrig-sanften Lichtstimmung entspricht. 5 7 FOTO VON KARI KOSKI FOTO VON MARIETTA MILLET 4 FOTO VON SAMULI SILTANEN 7. Dale Chilhuly: Niijima Floats (1992) Material transformiert Licht: Bei dieser Installation im Seattle Art Museum standen weniger die Glaskugeln selbst im Vordergrund als vielmehr die ständig wechselnden Lichtreflexionen, die sie auf den Raumoberflächen entstehen ließen. 2 6 FOTO VON MARIETTA MILLET 6. Interieur eines japanischen Wohnhauses Material nivelliert Lichtunterschiede: Traditionelle japanische Häuser zeichnen sich durch ihre weiten Dachüberstände und transluzenten ‚shoji‘Wände aus, die das Lichtniveau im Innenraum den ganzen Tag über gleichbleibend niedrig halten. FOTOS VON MARIETTA MILLET 3 FOTO VON MARIETTA MILLET 5. Pitkänen, Leiho und Raunio: Leuchten in St. Henry’s Church, Turku (1980) Licht verändert Materialien: Bei Tageslicht ist der Glasreflektor nahezu durchsichtig und gibt den Blick auf die dahinterliegende Ziegelwand frei. Nachts erstrahlt er im Licht der darunter angebrachten Lichtquelle als gelbliche, undurchsichtige Scheibe. 1 FOTO VON MARIETTA MILLET 4. Erik Bryggman: Auferstehungskapelle, Turku (1939–41) Material verändert Lichtstimmungen: Tagsüber reflektieren die Messingleuchten im Kirchenschiff das einfallende Tageslicht in einem stumpfen Gelbton. Abends und nachts erfüllen sie selbst die Kirche mit einem wesentlich wärmeren, goldgelben Licht. FOTO VON JAMES DOW / PATKAU ARCHITECTS 3. Antoni Gaudí: Casa Batllo, Barcelona (1904) Material zoniert Räume: Die Fliesenverkleidung des Innenhofs wird von oben nach unten zunehmend heller. Damit schaff t Gaudí einen Ausgleich für das sukzessive abnehmende Tageslichtniveau. FOTO VON KATSUAKI FURUDATE 2. Arata Isozaki: Museum of Contemporary Art, Los Angeles (1981–86) Licht veredelt Material: In den Gewölbefenstern seines Museumsbaus ließ Arata Isozaki statt Glas Onyxscheiben einsetzen. Das von außen gesehen eher stumpfe Material gibt erstrahlt im Gegenlicht zu voller Schönheit und lässt seine edle Maserung erkennen. 8 45 Gegenüber Louis Kahn: Kimbell Art Museum, Fort Worth (1966–72) Licht moduliert Materialkontraste: Die Wandoberflächen des Museums bestehen aus Travertin, die Gewölbe aus Sichtbeton. Je nach Richtung (direkt/indirekt) und Art des Lichts (Tageslicht/Kunstlicht) werden entweder die Materialunterschiede deutlich, oder die Mateialien gleichen sich einander an. FOTO VON ACHIM BEDNORZ/ BILDARCHIV MONHEIM Unten Le Corbusier: Notre Dame du Haut, Ronchamp (1950) Licht verändert Farbeindrücke: Hier lassen die unregelmäßig verteilten Fensteröffnungen die exorbitante Wandstärke des Kirchenbaus erkennen. Die eigentlich weiß verputzten Wandoberflächen werden im Gegenlicht nicht als solche wahrgenommen; sie erscheinen hell- bis dunkelgrau. 46 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 FOTO VON ROBERTO SCHEZEN/ESTO die traditionelle Vorliebe der Japaner für Schatten und sanftes, perfekte Ergänzung zur Lichtreaktion von Beton. Wenn sich gebrochenes Licht: das Licht – draußen oder drinnen – ändert, verschmelzen die „Wir gestalten unsere Wände in neutralen Farben, damit die Oberflächen der beiden Materialien miteinander. Zunächst traurigen, zerbrechlichen und ersterbenden Sonnenstrahlen erscheint das eine Material wärmer, dann das andere. Einmal in absoluter Ruhe versinken können. Während Vorratskam- erscheint das eine heller, dann das andere, das eine blank, das mer, Küche und Dielen häufig glatte Oberflächen aufweisen, andere matt, bevor der Eindruck wechselt. Manchmal sieht das sind die Wände des Wohnbereichs fast immer mit Lehm und eine, dann das andere Material gesprenkelter aus. Die Obereiner feinen Sandschicht verkleidet. Ein Kronleuchter würde flächen passen sich den veränderlichen Lichtverhältnissen an: hier die Schönheit des schwachen und zerbrechlichen Lichts Das wahre Material ist in diesem Fall das Licht. zerstören. Wir erfreuen uns am bloßen Anblick des sanften Schimmers verblassender Sonnenstrahlen beim Auftreffen auf „Meiner Meinung nach ist Licht ein Material wie jedes andere.“ eine düstere Wand, wo sie ihr letztes Leben aushauchen.“2 – James Turrell 5 Der in Venedig kultivierte ,lume materiale‘ (wörtlich: ,materielles Licht‘)3 lebt im Isabella Stewart Gardner Museum (Willard T. Sears, 1899-1901) in Boston, Massachusetts, wie- Marietta Millet ist emeritierte Professorin an der Fakultät für Architekder auf. Die Wände wurden in Anlehnung an die traditionelle tur der Universität Washington, wo sie Entwurfsseminare im Grund- und venezianische Stucktechnik bearbeitet und sind aus farbig Hauptstudium sowie Seminare zu Licht und Farbe, Tageslicht und künstimprägniertem Gips mit einem blassroten Anstrich gefertigt. licher Beleuchtung, klimabezogenem Design und Bautechnik leitete. Sie war Partnerin des Büros Loveland/Millet Lighting Consultants und ist AuZwar ist das Licht in Boston nicht mit dem Licht Venedigs torin des Buches Light Revealing Architecture, veröffentlicht 1996 von Van vergleichbar, aber an manchen Tagen kann der Schein das Nostrand Reinhold. Auge täuschen. Die Oberflächen scheinen dann zu glänzen, so dass das Licht und nicht das Material im Vordergrund steht. Dieser Text wurde mit der freundlichen Genehmigung von John Wiley & Sons, Inc., reproduziert aus dem Buch ‘Light Revealing Architecture’ von In ähnlicher Weise spielt bei,Niijima Floats‘, einer Installa- Marietta Millet, © 1996. tion aus Glaskugeln von Dale Chihuly (1992 im Seattle Art Museum), das vom Glas zurückgeworfene Licht die wichtigste Rolle. Nicht die Kugeln selbst, sondern vielmehr die von 1 Zambonini, Giuseppe: ‚ Notes for a Theory of Making in a Time of Necessity ‘, in : Perspecta 24, S. 3 -23. Erinnerungen von Eugejio de Luigi, einem ihnen auf den darunterliegenden Flächen erzeugten Lichtmulangjährigen Mitarbeiter Carlo Scarpas 2 ster stehen im Vordergrund. Tanizaki, Junichiro: ‚In Praise of Shadows‘, Newhaven 1977, S. 18 Louis Kahn erkannte sofort die natürliche Bedeutung des 3 Siehe auch Marco Frascari: ‘The Lume Materiale in the Architecture of Materials als Lichtreflektor: Seine Auswahl von Beton und 4 Venice,’ in: Perspecta Nr. 24, 1988 Interview mit Louis Kahn, von Marshall Meyers im Jahr 1972. Abgedruckt Travertin für den Bau des Kimbell Art Museum (1966-72) in Loud, Patricia Cummings: ‚ The Art Museums of Louis I. Kahn ‘, Duke beruht auf deren Oberflächenbeschaffenheit: „Travertin und University Press, Durham 1989 Beton harmonieren perfekt, weil sich beim Betonguss unwei- 5 Millin, Laura (Hrsg.): ‚ James Turrell: Four Light Installations‘, The Real Comet Press, Seattle 1982, S. 18 gerlich Unregelmäßigkeiten zeigen [...].“ Im Laufe der Zeit, so ist er überzeugt, vereinigen sich alle Materialien auf zufällige Weise; derweil obliege es dem Architekten, mit Hilfe sorgfältig abgestimmter Materialien wie Holz, Travertin und Beton eine Einheit zu schaffen‚ „ohne dass die Materialien einander ruinieren […] Auf die Auswahl kommt es an.“ 4 Ungeschliffener und unpolierter Travertin reagiert auf Licht in charakteristischer Weise und eignet sich daher als 47 VELUX EINBLICKE Architektur für den Menschen – Bauen mit VELUX. EIN KLEID FÜR BESONDERE ANLÄSSE Text von Katja Pfeiffer. Fotos von Paul Ott. Gold schimmert die Fassade des ‚Golden Nugget’ in Graz – ganz der Philosophie der jungen Architekten von Innocad entsprechend. Denn die vier Grazer entwarfen mit diesem Firmensitz nicht nur gebaute Corporate Identity, sondern auch ein Wohnhaus, das sich glanzvoll in seiner Umgebung aus Gründerzeitbauten präsentiert. 48 49 Links Scheinbar wahllos übereinander gestapelt sind die quadratischen Fensterflächen an der Straßenfassade. Sie repräsentieren das Logo der Architekten, das ebenfalls aus sieben Quadraten besteht und sich immer wieder zu neuen Mustern zusammensetzen lässt. Gegenüber Auch die Fassade der Hofseite präsentiert sich in goldfarbener Textur. Wie von einem feinen Hauch von Goldpuder oder Blütenpollen scheint das fast transparente, metallene Treppengeländer benetzt. Die Linie: Eine Einheit nach oben und dann nach links, weiter aufwärts, bis die Ebene, in der sie liegt, ihre Dimension verlässt, dem Grazer Himmel entgegen. Die Fassadenhaut ist nun Dach, gleichmäßig mit einem Netz aus goldfarbenem Kupfer überzogen. Die sieben Quadrate: Wie in einem Schiebepuzzle wechseln sie scheinbar den Standort; die goldenen Vorhänge hingegen folgen ihrem eigenen Spiel. Dem Puzzlemeister ist das gleich. Er führt sein Schieben fort, setzt die drei offenen Quadrate übereinander. Ein goldener Abschluss schmiegt sich an die Traufe des Nachbarhauses. Der leichte stählerne Balkon zieht sich wie selbstverständlich aus der Fassadenebene zurück. Das ‚Golden Nugget’ in der Grazbachgasse am Rande der Altstadt von Graz setzt Akzente – gleich einem in den letzten Sonnenstrahlen schimmerndes Abendkleid. Die äußere Textur ist in ein flächiges Netz aus goldglänzenden Kupferschindeln. Es verbindet die in Gelbtönen gestrichenen Nachbarbauten aus der Gründerzeit und schließt die Straßenfront zu einem homogenen Ganzen. Auch in der Staffelung der Gebäudekontur vermittelt der Neubau zwischen den 50 unterschiedlich hohen Nachbarn. Von außen nicht sichtbar ist das dazugehörige Hofgebäude, das aus dem 18. Jahrhundert stammt. Es wurde saniert und ebenfalls mit einem goldfarbenen Anstrich überzogen – symbolhaft ist hier die Bausubstanz durch eine ‚GoldSchicht’ für die Nachwelt konserviert. Begonnen hat die Zusammenarbeit der Architekten und Projektentwickler Andreas Reiter, Peter Schwaiger, Martin Lesjak und Bernd Steinhuber während eines Entwurfsseminars an der Grazer Uni. Hier hatten sie sich kennen und schätzten gelernt, bevor sie nach dem Diplom 1999 das Büro Innocad gründeten. Wie es der Zufall will, hatten sie sich schon während des Studiums unabhängig voneinander mit dem schmalen Baugrundstück des späteren ‚Golden Nugget’ befasst. Vier unterschiedliche Entwürfe sind damals entstanden. Heute verfolgen die jungen Architekten ein gemeinsames Prinzip. Einfach klingt das ‚Rezept’, das sie für ihr Logo entwickelten und das auf ein zentrales Möbel aus ihrem ehemaligen Büro zurückzuführen ist: Sieben goldene Quadrate – und unzählbare Möglichkeiten, sie miteinander zu kombinieren – bilden den Bausatz des Logos und seit Juni 2005 auch die in der Fassade verteilten Fensterflächen ihres neuen Firmensitzes, des ‚Golden Nugget’. Das ‚Golden Nugget’ ist das erste Haus, das die vier Architekten auf eigenes Risiko bauten – und wozu sie eigens die Projektentwicklungsgesellschaft 99 Plus gründeten. Zurzeit entstehen zwei weitere Häuser auf eigene Kosten. Ein mutiger Schritt sei das Unterfangen gewesen, geben die Jungunternehmer zu. Dass der Mut jedoch seine Früchte trägt, zeigt die breite Akzeptanz von ‚Golden Nugget’: Alle sieben Wohnungen waren bereits vor Fertigstellung verkauft, und die Stadt Graz lobte das Gebäude in höchsten Tönen: Auf dem „Kongress des internationalen Städteforums“ wurde es als „hervorragendes Beispiel für den Umgang mit neuer Architektur in historischen Städtebereichen“ vorgestellt. Das Büro von Innocad liegt im Erdgeschoss und im zweigeschossigen Hofgebäude, während eine offene Rampe in das Treppenhaus zur Erschließung der Wohnungen leitet. Die Corporate Identity der jungen Architekten setzt sich in der Gestaltung der Räume konsequent fort: Goldgestrichene Stehpulte, bedruckte oder hinterleuchtete D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 51 52 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Gegenüber und links Das historische Hofgebäude wurde innen durchgängig in Weiß gestaltet. Wirkungsvoll wird hier das Licht, das über die Dachflächen den Raum erhellt, auf dem neutralen Fond in Szene gesetzt. Wandelemente und Vorhänge unterstreichen gleichermaßen die Unternehmenspräsenz und den kommunikativen Charakter des zur Straße offenen Raumes. Vorherrschend sind in Gold gestrichene Deckenflächen und rauer Sichtbeton. Im Kontrast hierzu – Ruhezone nicht nur für das Auge – ist das Innere des Hofhauses durchweg weiß gestaltet. Weiße Decken, weiße Böden, selbst Leuchten und Vorhänge, die Gitter-Treppenstufen und die netzartigen Geländer bilden einen neutralen, fast irreal wirkenden Hintergrund. Weiß ist der homogene Fond, der das Licht durch das geneigte Dach auf Wand und Bodenflächen reflektiert und den Gedanken und ihren Urhebern Freiheit und Rückzugsmöglichkeiten lässt. In dieser Ruhe des vom Straßenlärm (und der Laufkundschaft) abgewandten Raumes finden interne Sit-ins statt, meditative Momente und kreative Pausen. Die Wohnungen hingegen folgen dem ‚goldenen’ Prinzip der offenen, der Straße zugewandten Flächen: Paarweise organisiert, werden sie über ein zentrale zweiläufige Treppe erschlossen, die ab dem ersten Obergeschoss aus der Baumasse als filigrane, fast schwerelos wirkende Konstruktion heraustritt. Netzartig ist das Geländer, wie in den Hofbüros, dünn und nackt die Bodenplatten und Balkonbrüstungen aus Sichtbeton, die sich kaum merklich vom goldfarbenen Metallüberzug der Fassade absetzen. Den krönenden Abschluss bildet das zweigeschossige Penthouse, das mit seiner großzügigen, sich über die gesamte Tiefe erstreckenden Dachterrasse den besten Blick über die Umgebung bereithält. Die Appartements sprechen eine Klientel an, die, so die Planer und Bauherren, den Wert der Architektur und die Tatsache zu schätzen weiß, „dass wir hier ungewöhnliche, gut geschnittene und flexible Wohnungen anbieten, die sonst am Markt nicht zu bekommen sind“ (Innocad in einem Gespräch mit dem Architekturkritiker Oliver Elser). Es sind genau die Menschen, zu denen die vier Architekten zu zählen sind und die sie selbst als „urbane Menschen“ bezeichnen: weltgewandt und jung, selbstbewusst und überdurchschnittlich gebildet. Auch wenn das Viertel, in dem das ‚Golden Nugget’ steht, unter Immobilienexperten nicht als Top-Lage gehandelt wird – am Rande des Weltkulturerbes Altstadt, in einer Zone, die bei den Grazern ‚Scherbenviertel’ heißt – für die Bewohner bedeutet es einen hohen Mehrwert: Transparenz und Offenheit durch raumhohe, durchgehende Fensterflächen auf der einen, bewusst der Öffentlichkeit zugewandten Seite suggerieren Kommunikation: Die Fassade ist Schaufenster, von außen wie von innen. Wer es, temporär oder für länger, weniger offen wünscht, wird sich der Vorhänge und/oder der flexiblen Raumteiler bedienen. Auch hier gilt: Edel sind Erscheinungsbild und Textur, Gold die vorherrschende Farbe. Wirkungsvoll ist der Kontrast zu den rauen Sichtbetonwänden und den weißen, individuell gestaltbaren Wand- und Deckenverschalungen, auf die der Nutzer durchaus ein „Blümchenmuster tapezieren“ darf, „wenn er möchte“ (Innocad). Das legen die jungen Architekten denjenigen nahe, die nicht ganz dem Charme des nackten Betons oder den goldenen Texturen der Vorhänge und Raumteiler erlegen sind. 53 NORTH ELEVATION SCALE 1/200 SOUTH ELEVATION SCALE 1/200 EAST ELEVATION SCALE 1,200 Nord- Süd- und Ostansicht 4TH FLOOR SCALE 1/200 3. Obergeschoss 1. Obergeschoss 4. Obergeschoss 5TH FLOOR SCALE 1/200 Erdgeschoss Fakten Standort Gebäudetyp Bauherr Architekten Fertigstellung 54 6TH FLOOR SCALE 1/200 3TH FLOOR SCALE 1/200 2. Obergeschoss 5. Obergeschoss Gegenüber Das ‚Golden Nugget’ integriert sich durch Farbgebung und Kubatur in die bestehende Baustruktur, ohne sich anzubiedern. Im Gegenteil: Die goldene Fassade besitzt Signalwirkung und stellt das Gebäude als einzigartig heraus. Grazbachgasse, Graz, Österreich Wohn- und Bürohaus 99 Plus Projektentwicklung und Bauträger GmbH Innocad Planung und Projektmanagement GmbH 2005 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 55 VELUX PANORAMA Architektur mit VELUX aus aller Welt. SONNENSTUBE UNTERM DACH ARCHITEKTURBÜRO IN LJUBLJANA Architekt Standort Fertigstellung Sanierung / Innenausbau Maechtig Vrhunc Arhitekti d.o.o., Ljubljana Tomaž Maechtig / Maechtig Vrhunc Arhitekti, Ljubljana Ljubljana, Slowenien 2004 FOTOS VONY BOR DOBRIN Fakten Gebäudetyp Bauherr 1 Die beiden jungen slowenischen Architekten Tomaž Maechtig und Ursa Vrhunc hatten bereits eine längere Suche nach einem geeigneten Standort für ihr neues Büro hinter sich, als sie auf das Jugendstilhaus in der Innenstadt von Ljubljana aufmerksam wurden. Das denkmalgeschützte Gebäude durfte äußerlich nicht angetastet werden, doch das heruntergekommene Dachgeschoss besaßt genug räumliche Qualität, um sich an die funktionalen und ästhetischen Erfordernisse des Architekturbüros anpassen zu lassen. Wie meistens, wenn Architekten ihr eigenes Büro planen, war auch Maechtig Vrhunc Arhitekti nicht nur an modernen, technisch ‚funktionierenden‘ Räumlichkeiten gelegen (so mussten zum Beispiel die Heizung, Elektro- und Datenleitungen komplett neu installiert werden), sondern auch an einer Büroatmosphäre, die das junge Architektenteam im Alltagsgeschäft zu Höchstleistungen anspornen sollte. Der Arbeitsweise von MVA entsprechend wurden die Räume so offen wie möglich angelegt. Ein begehbarer Wandschrank, der die Nebenräume wie Teeküche, Toilette und Lager aufnimmt, schmiegt sich an die Rückwand der Büroetage. Auf seiner von den Dachsparen abgehängten Decke entstand eine Galerie zum Ausruhen und als zusätzlicher Arbeitsraum. Neue Dachfenster auf zwei Ebenen belichten den bis auf einen graugrünen Teppichboden komplett in Weiß gehaltenen Büroraum. Mit Ausnahme der Schreibtischlampen sind alle künstlichen Lichtquellen, die für die häufigen Nachtschichten des Büros unabdingbar sind, in der ‘Wandschrank’-Zone untergebracht. Nach Sonnenuntergang überstrahlen sie das kühle Weiß von Wänden und Mobiliar mit einem warmen, gelblichen Schimmer. 2 1. Denkmalgeschützt, aber nicht mehr im besten Zustand: das Jugendstilgebäude in der Innenstadt von Ljubljana, in dem das Büro von Tomaž Maechtig und Ursa Vrhunc eine neue Wirkungsstätte fand. 56 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 2. Die Nebenräume sind in einem eingestellten Wand-SchrankElement im hinteren Bereich des Dachgeschosses untergebracht. Vom Dachträger bis zum Papierkorb dominiert die Farbe Weiß den Innenraum. Dachfenster sorgen für die gleichmäßige Belichtung aller Arbeitsplätze. MIT DER NATUR VERWACHSEN SEEHOTEL AM NEUKLOSTERSEE IN NAKENSTORF Fakten Gebäudetyp Standort Bauherr Architekten Fertigstellung Das Anwesen des Seehotels am Neuklostersee war in früherer Zeit ein klassischer Bauernhof. Nur zwei Autostunden von Hamburg und wenig mehr von Berlin entfernt, ist es ein Ort der Ruhe und Entspannung, direkt an einem Badesee in einem Naturschutzgebiet und umgeben von Wäldern, Blumenwiesen und Feldern, wo Gänse, Hunde, Schafe und Katzen ebenso zu Hause sind wie der Mensch. Die Kunstscheune sowie die zwei Hauptgebäude, das Steinhaus mit Restaurant und das Hotel, wurden 2004 durch eine archetypisch gestaltete Badescheune zur traditionellen, ortstypischen Anlage eines Dreiseithofes ergänzt. Mit viel Liebe zum Detail und mit alten Möbeln wurde in den Häusern der Bezug zur Zeit des Erbauers hergestellt. Neue, moderne Einrichtungen ergänzen die alte Bausubstanz auf harmonische Weise. Die Mischung als alten und neuen Elementen verleiht den Räumen einen eigenen Charme, der sich von Haus zu Haus unterscheidet. Das Steinhaus erhielt einen leicht mediterranen Charakter mit Buchenholzparkett und heiteren Farben sowie eine Einrichtung im modernen Landhausstil. Teppiche in Naturfarben prägen die Zimmer und geben zugleich den Farbton für die Wand vor. Die modernen Einbauschränke sind als Skulptur zu sehen und stehen konträr, wenngleich im Ergebnis harmonisch, zu den alten Tischen, mit denen die Zimmer möblichert wurden. Die Kunstscheune steht für Tagungen, Konzerte, Ausstellungen, Workshops und Veranstaltungen zur Verfügung. Ein aus alten französischen Klöstern stammender Terrakottaboden sowie Deckenbalken und eine Treppe aus Eiche verleihen den Räumen einen warmen, erdigen Charakter. Die Zimmer mit den vorgelagerten Wintergärten sind vom Tageslicht durchflutet. Auf der Ter- 58 Hotel Seestraße 1, Nakenstorf J. und G. Nalbach, Berlin Nalbach und Nalbach Architekten, Berlin 2004 rasse und im Wintergarten wurde einheitlicher, ortstypischer Feldstein verlegt, der den Bezug zwischen Innen und Aussen herstellt. Die Badescheune sollte möglichst archaisch wirken, was mit aufwendigen Details, unter anderem in der Hauptfassade, umgesetzt wurde. Diese besteht aus Cortenstahl-Trögen, die vorgezogene Efeuelemente aufnehmen. Die Alterungsprozesse der verwendeten Baumaterialien wurden bewusst eingesetzt, um den Neubau von Beginn an in das bestehende Ensemble einzubinden. Die Fensterläden liegen im geöffneten Zustand in der Leibung, um im geschlossenen Zustand bündig mit der Fassade abzuschliessen. Die Dachfenster befinden sich nahezu in der gleichen Ebene wie die Lärchenholzlattung, was die kubische Wirkung der Baukörper unterstützt. Vom Grundriss her ähnelt die Badescheune einem altrömischen Badehaus: die Nebenräume sind um die Schwimmhalle herum gruppiert, um den Wärmeverlust zu minimieren. Die Ausstattung stammt, wie bei den zwei anderen Häusern, aus der Umgebung des Hotels: Nussbaum zeigt sich am Fussboden sowie bei den Einbauten, Kalkstein wir in den Nassbereichen, die Wände sind mit Stroh-Lehmputz verkleidet, der der Oberfläche einen leicht unterschiedlich strukturiertem Glanz verleiht. Ein Strohballen als Couchtisch illustriert das Konzept der Symbiose zwischen Natur und modernen Einrichtungselementen. Natürliches und künstliches Licht ist bewusst als Gestaltungselement in den Häusern eingesetzt: Creolen-Leuchten mit Spiegelreflektor setzen Akzente auf Tische und Wände, während die Dachwohnfenster die Außenwelt nach innen bringen und den Zimmern ein wohnliches Ambiente verleihen. Detail 1 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 2. Das Seehotel bei Nacht – ein Monolith mit diaphaner, von innen heraus schimmernder Außenhaut. Über dem pflanzenumrankten Erdgeschoss erheben sich das Ober- und Dachgeschoss im einheitlichen Kleid aus Lärchenholzlatten. FOTOS VON STEFAN MÜLLER 1. Die Schwimmhalle wird durch grosszügige Fensterelemente aufgewertet. Details wie zum Beispiel die als Beistelltische verwendeten Baumstümpfe illustrieren das Konzept der Architekten, Natur und moderne Einrichtung zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. 2 59 MONOLITH AM MÜHLENWEIHER UMBAU DER KOTRČ-MÜHLE BEI LIPNICE Fakten Art des Gebäudes: Standort: Bauherr: Architektin: 1. Aus dem Panoramafenster im Wohnzimmer fällt der Blick über den neu angelegten Mühlenweiher. Das filigrane Balkongeländer wird von innen kaum als optische Barriere wahrgenommen. Umbau einer Mühle zum Wohnhaus bei Lipnice, Tschechien privat Lucie Kavánová, Prag 2. Ein Dachfenster erhellt den oberen Treppenabsatz. Der filigrane Innenausbau aus Stahl und Glas bildet einen markanten Kontrast zu den schweren, rauen Außenmauern. 3. An den massiven Steingiebeln der Mühle lässt sich das alte Mauerwerk kaum von den neu hinzugekommenen Partien im oberen Bereich unterscheiden. An die Stelle des auskragenden Ziegeldachs ist ein nahezu wandbündiges Blechdach getreten. Im Wald von Lipnice im böhmischmährischen Hügelland steht die KotrčMühle am Ufer eines neu angelegten Sees. Auf seiner Wasseroberfläche spiegeln sich nach den Worten der Architektin Lucie Kavanova nicht nur die Granitmauern des rund 170 Jahre alten Bauwerks, sondern „das ganze Tal und das Genius loci dieses Ortes“. Die Architektin aus Prag plante den Umbau der Mühle zu einem Wochenendhaus, das jedoch langfristig auch die Möglichkeit bieten soll, dort dauerhaft zu leben. Zum Ausgangszustand des Projektes schreibt sie: „Von der Ausstattung und der Einrichtung der Mühle blieb fast nichts erhalten. Das Wasser aus dem Mühlgraben wurde längst abgeleitet. Lediglich die morsche Welle, die aus den massiven Wänden der Mühle hervorragte, ließ erahnen, dass sich hier einmal ein Mühlrad befand.“ An dem massiven, etwa 9 x 8 Meter großen Bau wurden zunächst die Natursteingiebel, nach den Worten der Architektin ‚das Gesicht‘ des Gebäudes, aufgemauert. „Das Haus wurde dadurch etwas größer, damit es wenigstens ein bisschen mit den endlosen, hohen Wäldern der Umgebung mithalten kann.“ Die Giebel bestehen wie die meterdicken, alten Außenwände aus dem ortstypisch gemusterten Granit, mit, so Kavanova, „der schönsten Granitschattierung, die ich kenne“. Das Dach wurde anschließend ohne die ursprünglich ausladenden Dachüberstände neu eingedeckt. Verschiebbare Fensterläden aus Naturholz lockern die Fassaden auf. Ihre Entwerferin beschreibt deren Wirkung: „Geöffnet signalisieren sie nicht nur die Ankunft des Eigentümers, sondern las- 60 sen auch Leben ins Haus, wie die Farben der Natur in der Umgebung. Vor allem das Naturbild hinter dem großen Wohnzimmerfenster gleicht einem großen Fernsehschirm, auf dem eine Geschichte stundenlang verfolgt werden kann.“ Zum Innenraum bemerkt sie: „Das Hausinnere bildete ein dunkles Labyrinth kleiner Räume. Ein Haus muss jedoch geräumig sein, so wie die endlose Natur der Umgebung. Und das war auch der Grund dafür, dass wir es von allen nutzlosen Dingen befreiten und allein seine Substanz zum Ausdruck kommen ließen“. So weist der weitläufige Innenraum kaum Trennwände und Türen auf. Man betritt das Gebäude über Speiseraum und Küche, gelangt eine Etage darüber in ein Wohnzimmer mit Ofen und schließlich in Schlafzimmer und Bad im Dachgeschoss, welches durch Dachfenster belichtet wird. Im Keller befinden sich Weinlager und Technikraum. Stahlbetondecken stabilisieren das bereits rissige Gebäude, und hinter einer Vorsatzschale aus Gipskarton wurde eine zusätzliche Innendämmung angebracht. Die beim Umbau der Mühle verwendeten Konstruktionen sind der Art und Größe des Gebäudes entsprechend einfach. So wirkt zum Beispiel der filigrane Stahlbalkon, der das Wohnzimmer zum See hin erweitert, nahezu provisorisch. Einen unerwarteten Kontrast zum rustikalen Äußeren bilden die Innenräume: Hier sind alle Wände weiß verputzt, filigrane Stahl-Glastreppen führen in die Obergeschosse, und das Bad unter dem Dach ist lediglich durch eine Glastrennwand vom Schlafzimmer getrennt. 1 Querschnitt 2 GROUND FLOOR PLAN - KITCHEN FIRST FLOOR PLAN - LIVING ROOM SECOND FLOOR PLAN - BEDROOM & BATHROOM Grundrisse: Erdgeschoss – Küche; 1. Obergeschoss – Wohnzimmer; 2. Obergeschoss – Schlafzimmer und Bad D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 FOTOS VON LUCIE KAVANOVA 3 61 “Um bei dieser Projektstudie eine außergewöhnliche Tageslichtsituation zu schaffen, haben wir die Intelligenz eines Einzelproduktes von VELUX als Leitmotiv für die Visualisierung unseres Entwurfes eingesetzt.” Tageslicht-Impulse mit VELUX. Eine Idee von Hadi Teherani Entdecken Sie intelligente Ansätze für Tageslicht- und Energiekonzepte im Wohnungsbau. Die Fachvortragsreihe “Architektur im Dialog” thematisiert die automatische Regelung von Tageslicht und Klima im Gebäude. Wir unterstützen auch Sie bei der Entwicklung besonderer Ideen und Projekte. Zum Beispiel mit dem Klima Komfort System von VELUX für Ihre innovativen Konzepte im Bereich Home Automation. velux.de/architektur VELUX IM DIALOG Der EAAE-Preis: Leitlinien für das Architekturstudium SCHRIFTEN ZUR ARCHITEKTURLEHRE Text von Per Olaf Fjeld. Fotos von Jacob Boserup. Mit dem EAAE-Preis werden individuelle Beiträge und Schriften zur Architekturlehre ausgezeichnet, um die Qualität der Architektenausbildung in Europa zu fördern. Die von einem internationalen Fachgremium alle zwei Jahre verliehene Auszeichnung richtet die Aufmerksamkeit auf außergewöhnliche Veröffentlichungen. Der erstmals 1991 verliehene EAAE-Preis wird seit 2001 von VELUX finanziell unterstützt. Bei der Lektüre der 75 zum EAAE-Preis 20032005 eingereichten Artikel erkannte ich, wie wichtig dieser Wettbewerb für unsere gesamte Lehre ist. Er bildet die Grundlage für eine dringend erforderliche Diskussion über Inhalt und Richtung des Architekturstudiums. Zu leicht gerät in Vergessenheit, dass der Lehrstoff und die Art seiner Vermittlung direkten Einfluss auf unsere Baukultur nehmen. Abgesehen von einem grundlegenden Konsens über die Ergebnisse des Architekturstudiums weist die Architekturlehre in Europa und Nordamerika keine gemeinsame Zielsetzung auf. Jede Hochschule ist bestrebt, eine eigene Identität oder Richtung zu etablieren, um den unmittelbaren Anforderungen der Region, der Studenten sowie ihrer zukünftigen Arbeitgeber gerecht zu werden. Jede Hochschule verfolgt ihr eigenes Konzept in der Hoffnung, diese Anforderungen zu erfüllen und gleichzeitig auf wundersame Weise zukünftige Ansprüche vorherzusehen. Grundsätzlich offenbaren die Wettbewerbsbeiträge, dass wir sehr wenig voneinander wissen, sowohl hinsichtlich unserer Lehrmethode als auch der Lehrinhalte und ihrer Prio- ritäten. Von daher hat die EAAE die wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, die pädagogischen Methoden und Lehrstoffe der verschiedenen Mitgliedsinstitute zu sammeln und zu veröffentlichen, nicht nur als Katalog für die Studenten als Orientierungshilfe bei der Wahl einer geeigneten Hochschule, sondern auch als Diskussionsplattform. Wir wissen viel zu wenig über das Spektrum der Lehranstalten; aufgrund des Mangels an präzisen und rasch zugänglichen Informationen über andere Hochschulen preisen wir manche pädagogische Methoden und Theorien immer wieder als neu oder innovativ. Wir konzentrieren uns derart auf das „Neue und Innovative“, dass uns keine Zeit mehr für den Vergleich mit ähnlichen Methoden und Theorien in anderen Regionen oder Hochschulen bleibt. Hierzu kann die EAAE sicherlich einiges beitragen. Natürlich gibt es keine einfachen Antworten und kein Rezept für die Architekturlehre, aber es existiert zumindest ein grundsätzliches Bestreben zur kontinuierlichen Neuerung und Anpassung. Die Lehre erfordert kreatives Denken, intuitives Feingefühl und vor allem ein hohes Maß an Konzentration. Widmen wir uns beispielsweise dem Begriff ‚Wissen’ und seiner Verwendung in den verschiedenen Texten. In zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen wurde der Begriff ‚neues Wissen’ als isolierte bzw. separate Gesamtheit behandelt. ‚Altes’ oder ‚bestehendes’ Wissen ist Ausgangspunkt für die Entwicklung und das Verständnis ‚neuen’ Wissens. Ist das bestehende oder traditionelle Wissen wegen seines Alters von geringerer Bedeutung? Wenn dieses ‚alte Grundwissen’ aber nur noch von kurzer Lebensdauer ist, entsteht die Möglichkeit, es immer wieder als neu anzupreisen. Unsere Fixierung auf Erneuerung und Innovation verleiten uns dazu, die Prinzipien und Grundlagen, auf welchen das neue Wissen beruht, leichtfertig zu übergehen oder gar zu vergessen. Die sich schnell wandelnden Anforderungen unserer ergebnisorientierten Gesellschaft führen zur Priorisierung des Kurzzeitgedächtnisses. Ob und inwieweit dies kreativ und sinnvoll ist, sei allerdings dahingestellt. Die Veränderungen, welche die Architekturlehre im Hinblick auf Verständnis und Anwendung bestehenden Wissens erfährt, werden von den Teilnehmern mit gewisser D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 63 Skepsis betrachtet. Der von der Informationsgesellschaft erhobene Anspruch auf Präzision bei gleichzeitigem Fortschritt schlägt sich auch auf die Architektur nieder und schafft ein diffuses Verhältnis zur Kultur und zu Definitionen von kultureller Bedeutung. Auch hier genügt es nicht, nur nach vorne zu blicken; wir müssen auch konkrete Kenntnisse dessen haben, was wir hinter uns lassen. Die Computertechnologie als Mittel zur Verbreitung neuen Wissens ist von immensem Wert. In der Informationsgesellschaft kommt ihr zweifellos eine Kernfunktion zu. Wir sind zunehmend von Computern abhängig, um Informationen schnell zu verbreiten, welche die Architektur unterstützen und beeinflussen mögen. Nur wenige aber sind überzeugt, dass diese Instrumente und Werkzeuge weiterreichende Möglichkeiten bieten – mit anderen Worten: Diese Mittel sind nicht in der Lage, neue Inhalte zu bestimmen oder die zeitgenössische Architektur in eine bestimmte Richtung zu lenken. Abgesehen von direkten und spezifischen Problemlösungen trägt die Technologie nichts zur Bewusstseinsbildung bei. Die Grenzen der neuen Technologie stellen für Architekturtheorie und Praxis gleichermaßen eine Herausforderung dar, sofern Architektur mehr sein soll als reine Problemlösung. Damit ergibt sich die Frage nach der künftigen Rolle des Architekten und der Architekturlehre. Ist es unsere Aufgabe, die Suche nach und das Verständnis von Inhalten durch die Architektur zu unterstützen? Wenn ja, sind bisher übliche Fähigkeiten und 64 Kenntnisse innerhalb der von der Informationsgesellschaft auferlegten Grenzen für die Architekturlehre nicht ausreichend. Nur vereinzelte Beiträge haben die Bedeutung von Architektur und Baukultur als kontinuierlichem Spiegel unseres täglichen Lebens in Frage gestellt; die Mehrzahl der Artikel stellte die Wichtigkeit von Erscheinungsbild und Formfindung unter Rückgriff auf diverse konzeptionelle Ansätze in den Mittelpunkt. Der Baukunst und ihrer Beziehung zum menschlichen Verhalten sind kaum Grenzen gesetzt, abgesehen von solchen, die sich die Architektur selbst auferlegt. Im kommerziellen Interesse kann die Informationsgesellschaft diese Offenheit strategisch nutzen, um das verfügbare Wissen und Know-How einzugrenzen und zu beeinflussen. Kommerzielle und politische Interessen können sich nachhaltig auf die Architektur auswirken, so dass die Baukunst häufig von externen Motivationen beeinflusst wird und sich primär auf den Nutzungsaspekt konzentriert. Theorie und Forschung sind mittlerweile fester Bestandteil im Lehrplan der meisten Architekturhochschulen, um das Sachverständnis der Studenten zu fördern und die Schulungsinhalte weiterzuentwickeln. Ein erweiterter Denkansatz ist durchaus erkennbar, aber konnten wir diese veränderten Ansprüche an Forschung, Theorie und neue Technologie auch in gebaute Architektur umsetzen, oder dienen uns neue Technologien weiterhin nur zur virtuellen Darstellung realistischer Szenarien und dem prompten Zugriff auf Informationen? Ja und nein. In gewissem Maße hat die Erweiterung eine neue Debatte über die technologischen und formalen Aspekte der Architektur angeregt. Darin wurden jedoch keine einheitlichen Strategien und Rahmenbestimmungen für die Architekturlehre der Zukunft definiert. Weitere Punkte von merklichem Interesse sind die künftige Bedeutung des Zeichenateliers im Computerzeitalter und die Folgen entsprechender Änderungen und Neuerungen. Bemerkenswert ist, dass die Zeichenateliers vor Einführung der Computertechnik je nach Schule und Region unterschiedliche Funktionen hatten. Zwar waren Zeichenateliers in den meisten Schulen das Kernstück architektonischer Pädagogik, aber Struktur, Ausrichtung, Hierarchie, Studentenzahl und Erwartungen wichen teilweise beträchtlich voneinander ab. Daher können die Probleme und Lösungen bei Einbeziehung der Computertechnik in die Zeichenateliers von Schule zu Schule und Nation zu Nation geringfügig anders gelagert sein. Tatsächlich werden Skizzen nur noch selten angefertigt, Zeichnungen vielmehr maschinell erstellt; auf den Schreibtischen stapeln sich Modelle, und die wechselseitigen Beziehungen zwischen Studenten und Lehrkörper sowie zwischen den Studenten selbst mögen weniger impulsiv sein. Aber ebenso wie die ursprünglichen Zeichenateliers vor Erfindung des Computers in den Schulen unterschiedlich waren, weist auch heute die interne Struktur jedes Ateliers eigene Besonderheiten auf. Wir müssen ein besseres Verständnis dafür entwickeln, wie und warum sich die Zeichenlehre in den einzel- D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Ganz links Per Olaf Fjeld, Professor und ehemaliger Rektor der Architekturhochschule in Oslo, war Vorsitzender der Jury beim EAAE-Preis 2003-2005. Sein Resümee nach der Lektüre der 75 eingereichten Beiträge: „Das enorme Interesse an Architektur und Design, das uns täglich in den Medien begegnet, hat dazu beigetragen, die Architekturlehre von ihrem hohen Thron zu holen; es hat jedoch nicht den Druck verringert, Inhalt, Methodik und Ideologie der Ausbildung deutlich zu definieren.“ Die Jury des EAAE-Preises 2003-2005 bestand aus Per Olaf Fjeld (Vorsitzender), Peter Mackeith, Juhani Pallasmaa, Dagmar Richter und Alberto Perez Gomez. nen Schulen entwickelt hat. Die Erarbeitung eines Modellbauateliers, das Raum bietet für eine neue Offenheit – sowohl bezogen auf den Arbeitsprozess als auch auf die Beziehungen zwischen den Studenten sowie zwischen Studenten und Lehrkörper – ist wichtig für die weitere Existenz des Zeichenateliers. Die Architekturlehre wird mit etlichen Hürden und Neuerungen konfrontiert. Unter Rückgriff auf aktuelle Technologien durchläuft sie einen kontinuierlichen Modernisierungsprozess, um mit dem Tempo der Informationsgesellschaft Schritt zu halten. Der optimistische Glaube aber, dass Technologie über unsere gebaute Umwelt die Lebensqualität erhöhen könne, ist zumindest teilweise gedämpft. Dem Umgang des Architekten mit der Computertechnologie steht die Fähigkeit der Maschinen gegenüber, Objekte bzw. geplante Objekte grenzenlos zu bearbeiten. Wichtiger Gegenstand der Architektur aber sind der Raum, seine Nutzung und das Verständnis von Raum auf allen Ebenen. Leider lassen sich die räumlichen Kapazitäten und Begriffe des Computers nicht mit sämtlichen Ebenen des Raumverständnisses in der Architektur vereinbaren. Die Maschine vermag zwar Raumkonzepte schnell und problemlos darzustellen, wir aber bringen unser hart erarbeitetes und lebenslanges Raumverständnis mit ein, und dies nicht nur im körperlichen, sondern auch im sozialen und psychologischen Sinne. Die Architekturlehre hat daher oftmals mit entsprechenden Schwierigkeiten und konfusen Problemen zu kämpfen. Die Balance zwischen Virtualität und Realität und deren Ineinandergreifen auf vielen Ebenen stellen eine große Herausforderung für den modernen Architekturlehrplan dar. Die Zeit, die für Verständnis und Bedienung komplexer Computersysteme aufgewandt wird, und die der Architektur selbst gewidmete Zeit liegen sozusagen in akademischem Clinch. Einige Beiträge beschäftigen sich mit der Lücke zwischen Architekturlehre und Berufspraxis. Natürlich sind modernste Computertechnologie und entsprechendes Fachwissen angesichts der ständigen Entwicklung neuer Materialien für den Beruf unerlässlich. Ist aber jeder Teil dieses komplexen „Baupakets“ für die Architektenausbildung von gleichem Interesse? Auf welche kurz- und langfristigen Fähigkeiten und Kenntnisse wird Wert gelegt, und welches ausgewogene Verhältnis kommt den Studenten am ehesten zugute? Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Schulen ähnlich wie ein Architekturbüro zu führen und in den Zeichenateliers reale Gebäude für echte Kunden zu planen, so dass alle Student(inn)en vor ihrem Studienabschluss wenigstens ein kleines Gebäude oder einen Raum im Maßstab 1:1 errichtet haben. Ein Praktikum für die Dauer zumindest eines Semesters wird in mehreren Beiträgen befürwortet. Dieser Wunsch ist uns hinlänglich bekannt und wird wohl auch künftig geäußert werden, eine entsprechende allgemeingültige Vereinbarung ist jedoch noch in weiter Ferne. Jedes Land und jede Schule trifft hierzu eigene Entscheidungen und verfolgt eigene Prinzipien. Grundthema anderer Beiträge ist das mangelhafte oder fehlende Verständnis zwischen diesen beiden Bereichen. Auch zukünftig werden die Lehrkörper im besten Interesse der Studenten gezwungen sein, das Dilemma zwischen einer Lehre zur langfristigen Förderung des Berufsstands und einer direkt auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts ausgerichteten Ausbildung zu lösen. Ein gewisser Konsens besteht darüber, dass sich die Inhalte der Architekturlehre derzeit in notwendigem Wandel befinden. Erstaunlicherweise beschäftigen sich nur wenige der eingesandten Artikel mit den dringlichsten Herausforderungen, denen sich die Architektur der Zukunft stellen muss: Hierzu gehören ökologische Aspekte, Schaffung von Wohnraum für Bedürftige und Obdachlose sowie die Nutzung von Materialien und Energiequellen angesichts der ständig steigenden Weltbevölkerung. Obgleich wir heutzutage zunehmend mit realen und internen Problemen konfrontiert werden, sind diese nur selten Gegenstand unseres neuen Wissens und noch viel weniger Ursprung für neue Erkenntnisse und Innovationen. So schenken viele Architekturschulen diesen entscheidenden Grundproblemen merkwürdigerweise nur geringe Aufmerksamkeit. Die ‘Informationsgesellschaft’ bietet nicht zwangsläufig eine Orientierungshilfe für die Architekturlehre; ebensowenig ist sie abhängig von einer bestimmten Kultur oder Glaubensrichtung. Ein Artikel führt uns unsere Neigung vor Augen, die Schwie- 65 rigkeiten kreativen Schaffens zu vergessen, ja diesen Akt als selbstverständlich anzusehen in dem Glauben, Informationen und Know-How könnten die Kreativität ersetzen. Ebenso werden Theorie und kulturelle Einflüsse gerne miteinander vermischt. Häufiger Kritikpunkt ist zudem, dass viele Architekturschulen die realen Aspekte der Architektur mit gewisser Distanz und Abstraktion lehren, wodurch ein tieferes und umfassenderes Verständnis des architektonischen Raums erschwert wird. Statt des Verständnisses von realem Raum, Material und Volumen stehen dort virtuelle Räume, Materialien und Volumen im Mittelpunkt. Diese Entwicklung ist ebenso interessant wie bedauerlich. Des Weiteren müssen wir uns der komplexen Natur der Architektursprache bewusst sein, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich behaupte, dass in den 75 Beiträgen die Sprache und ihre Struktur häufig weitaus komplizierter als der Inhalt sind. Natürlich ist es wichtig, den Inhalt der Architekturlehre auszuweiten und unterschiedlichste akademische Bereiche einzubeziehen; dementsprechend muss auch unser Vokabular erweitert werden. Genauso aber gilt es zu bedenken, dass die Architektur trotz aller virtuellen Möglichkeiten noch immer bodenständig und vor allem ein Beruf ist. Dieser hat in den letzten 50 Jahren bedeutende Veränderungen erfahren. Nie zuvor waren Architekten derart auf Überlegungen und Interpretationen der Gelehrten und Forscher angewiesen. Daher ist es unabdingbar, unsere Gedanken klar und präzise sowie allgemein verständ- 66 lich zu formulieren. In einer Zeit, in der immer mehr Architekturstudenten promovieren, ist die architektonische Forschung populärer als je zuvor. Diese Forschung unterliegt keiner klaren und allgemeinen Definition: Unter enormem Energieaufwand produzieren wir zahllose Schriften in dem Bereich, den wir als ‚Architektur’ bezeichnen. Aber bringt das die Architektur tatsächlich voran? Ich hoffe ja, denn wenn irgendwelche Architektenforen hierzu einen Beitrag leisten können, dann jene, die Architekten und Institutionen zusammenführen, um über die Architekturlehre ins Gespräch zu kommen und zu diskutieren. Ich bin daher sehr stolz, an diesem Wettbewerb beteiligt zu sein, da seine Beiträge eine wichtige und essenzielle Diskussionsgrundlage schaffen. Das enorme Interesse an Architektur und Design, das uns täglich in Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen und in bebilderten Ratgebern begegnet, hat dazu beigetragen, die Architekturlehre von ihrem hohen Thron zu holen; es hat jedoch nicht den Druck verringert, Inhalt, Methodik und Ideologie der Ausbildung deutlich zu definieren. EAAE Die EAAE ist eine internationale und gemeinnützige Vereinigung zur Förderung des Ideen- und Personalaustauschs im Bereich architektonischer Ausbildung und Forschung. Ziel der EAAE ist die Verbesserung von Basiswissen und Qualität der Entwurfslehre in Architektur und Städtebau. Seit ihrer Gründung im Jahr 1975 ist die EAAE eine angesehene Institution zur Förderung der europäischen Architekturlehre mit wesentlicher Funktion bei der Beratung von Architekturdozenten und staatlichen Organen. Die EAAE zählt über 100 aktive Mitgliedsschulen in Europa von den Kanarischen Inseln bis zum Ural und repräsentiert nahezu 5.000 eingeschriebene Fakultätsangehörige sowie mehr als 100.000 Architekturstudenten (vom Grundstudium bis zur Promotion). Die Vereinigung unterhält weltweite Verbindungsmitgliedschaften. Die EAAE richtet zahlreiche Konferenzen, Workshops und Sommerkurse für junge Lehrbeauftragte zu wichtigen Themen aus, deren Inhalte veröffentlicht und verbreitet werden. Zudem verleiht die Vereinigung Auszeichnungen und Preise. Weitere Informationen sind auf der EAAE-Homepage (www.eaae.be) zu finden. Per Olaf Fjeld, Professor und ehemaliger Rektor der Architekturhochschule in Oslo, begann seine Karriere als Architekt im Jahr 1973 in den Büros des norwegischen Architekten Sverre Fehn. 2003 war er Gastprofessor an der Architekturfakultät der Universität Arizona. Seit 2001 ist er Vorstandsmitglied der European Association of Architectural Education (EAAE), zu deren Präsidenten er kürzlich gewählt wurde. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 European Association for Architectural Education Association Européenne pour l’Enseignement de l’Architecture WWW.EAAE.BE WRITINGS IN ARCHITECTURAL EDUCATION Representation in Architecture Communication – Meaning – Visions At the present the tools of the architect are in the midst of an accelerated process of development and change. New technology has opened up for a greater design complexity and spatial variation. The digital working process offers a capacity of 2D and 3D visualisation that simply was not possible half a century ago. This new mode of communication has changed architectural representation at every level. One may argue that this will change architecture, but in what way? What, then, is representation in architecture today? Does representation have its own architectural content and agenda, and what impact will this have on architectural education? The EAAE Prize is open to all members of the teaching staff of the EAAE member schools of architecture, or individual members of the EAAE. Download the prize invitation and registration form: www.eaae.be or contact the Organising Committee v/ [email protected] The deadline for contributions is October 12, 2006 EAAE PRIZE 2005-2007 sponsored by BÜCHER REZENSIONEN Zum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, vorgestellt von D&A. BROKEN GLASS Glas in Kunst und Architektur Herausgeber: Wolfgang Becker Wienand Verlag 2005 ISBN 3-87909-875-1 ‚Broken Glass‘ ist der Katalog einer Ausstellung, die im Herbst 2005 in dem von Wiel Arets sanierten, ehemaligen Kaufhaus Schunck (dem so genannten ‚Glaspalast‘) in Heerlen stattfand. Thema des Buchs ist die Bedeutung des Glases in jedem erdenklichen kulturellen Kontext – in der Skulptur, der Glasmalerei, der Architektur, Literatur, Musik und im Film. Kunst- und Architekturhistoriker, Literaturwissenschaftler und eine Filmmusikerin haben Texte zu ‚Broken Glass‘ beigetragen; als Prolog dient jedoch eine Mitschrift aus dem Film ‚Slow Glass‘ von John Smith, in dem ein Londonder Glaser über die Geschichte und Herstellung von Glas räsonniert. Er erinnert daran, dass Glas, obzwar scheinbar fest, eine Flüssigkeit ist, dass wir aber zu schnell leben, um dem Fließen des Glases zusehen zu können. Beinahe ein Drittel des Buches nimmt der Beitrag von Wolfgang Becker über ‚Kunst und Glas‘ ein, in dem 68 uns der Verfasser in die Welt der GlasSkulpturen und Glas-Installationen entführt. Kenntnisreich kommentiert Becker Werke von Marcel Duchamp, Gerhard Richter, Mario Merz, Joseph Beuys und vielen anderen modernen und zeitgenössischen Künstlern und schließt mit dem Fazit: „..[es] scheinen aber die Werke zu überwiegen, in denen die Autoren die Wirklichkeitsbrechungen, die Täuschungen, die Illusionen zu zeigen versuchen, die an das Glas gekoppelt sind.“ Wesentlich stärker auf das Handwerk der Glasverarbeitung geht Iris Nestler in ihrem Kapitel über Glasmalerei und ‚Studioglass‘ – die Kunst, kleine Skulpturen und Gefäße aus Glas zu fertigen – ein, während der Aachener Architekturhistoriker Manfred Speidel einige – gebaute wie erdachte – Meilensteine der Glasarchitektur Revue passieren lässt: Joseph Paxtons Glaspalast in London, Walter Gropius’ FagusWerke in Alfeld, Mies van der Rohes Hochhausentwürfe für Berlin sowie die Phantasien der ‚Gläsernen Kette‘ um Paul Scheerbart und Bruno Taut. Auch wenn die meisten Essays ihr Themengebiet nur ausschnittsweise behandeln, überzeugt ‚Broken Glass‘ durch die in ihm enthaltene Vielfalt der Blickwinkel. Selten wurde Glas innerhalb eines Buchs so vielseitig dargestellt. Deutlich wird im Buch jedoch auch, dass wirklich überzeugende, disziplinübergreifende Arbeit mit Glas – selbst zwischen Architektur und Bildender Kunst – noch immer selten ist. Ob es daran liegt, dass Glas in unserer Kultur zuletzt ganz überwiegend durch die Business- und High-Tech-Architektur besetzt war? Zumindest ansatzweise könnte ‚Broken Glass‘ hier dazu beitragen, die Sinnlichkeit des Werkstoffs wieder zu entdecken. CONCRETE ARCHITECTURE Autorin: Catherine Croft Laurence King Publishing 2005 ISBN 1-85669-364-3 Beton war und ist ein kontrovers diskutiertes Material in der Architektur. In den jüngsten Jahren scheint es indessen, als sei der vermutlich vielseitigste (und eben deshalb in der Vergangenheit oft gedankenlos verwendete) Baustoff der Moderne salonfähig geworden, ja, als gelte es regelrecht als schick, sich mit Bauten und Objekten aus Beton zu umgeben. Neue Betonmischungen, die immer glattere Oberflächen und immer schlankere Bauteile möglich machen, haben ihren Teil zur Popularität jenes Materials beigetragen, von dem Frank Lloyd Wright noch 1928 schrieb: „Es fällt nicht leicht, in diesem Konglomerat einen hohen ästhetischen Wert zu erkennen, da es ein Amalgam ist ... Der Zement, das Bindemittel, ist an sich charakterlos. Das Endergebnis ist für gewöhnlich im besten Fall ein künstlicher Stein und im schlimmsten Fall ein versteinerter Sandhaufen.“ Nicht nur Wright änderte seine Einstellung zum Beton später. Auch die Autorin Catherine Croft, Direktorin der Twentieth Century Society, bezeichnet ihr Buch gleich im ersten Satz als ‚Hommage an den Beton‘. Sie beginnt diese mit einem ausführlichen Essay über die Geschichte des Betons, in dem sie nie allein die Entwicklung der Betontechnik und –konstruktionen in den Vordergrund stellt, sondern stets auch auf dessen kulturelle Bedeutung eingeht. Auch in den folgenden vier typologisch gegliederten Kapiteln mit insgesamt 44 Projektdarstellungen (Wohnen, Arbeiten, Spiel und Landschaft) gewährt die D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 Autorin neben einer Beschreibung der Bauwerke stets auch Einblicke in die Entwurfsphilosophie der jeweiligen Architekten. Dass Beton in unserer gebauten Umwelt keineswegs nur für den reinen Hochbau bedeutsam ist, verdeutlichen die Beispiele aus dem letzten Kapitel, die sich zwischen Landschaftsarchitektur und Land Art, unterirdischen Friedhofskomplexen und städtischer Platzgestaltung bewegen. Selbstverständlich ließe sich die Betrachtung noch wesentlich weiter, etwa in den Bereich des Ingenieurbaus, ausdehnen, doch auch in seiner jetzigen Form dokumentiert der von faszinierenden Farbfotos illustrierte Bildband eindrücklich die funktionale und gestalterische Vielfalt des Betons. Vor 100 Jahren hatte William Lethaby noch geschrieben, man möge ihn zwar verwenden, doch in ‚zivilisierten Gebäuden‘mit Marmor, Goldmosaik oder Farbe verdecken. Vor 50 Jahren forderte Louis Kahn, ein Betonbauwerk sollte jeden Schritt seiner Herstellung ablesbar machen. Heute nimmt die Betonarchitektur die gesamte Bandbreite zwischen beiden Extrema ein; starre Dogmen scheinen abgeschaff t und es der Kreativität jedes Einzelnen überlassen, das Beste aus dem Konglomerat aus Sand, Kies, Zement und Wasser sowie einem zunehmenden Anteil chemischer Zusatzstoffe zu machen. Und vermutlich ist es gerade die daraus resultierende Vielfalt, die dem Beton zu seiner gegenwärtigen Popularität verholfen hat. DIE KUNST DER HOLZARCHITEKTUR Autor: Will Pryce E. A. Seemann Verlag 2005 ISBN 3-86502-122-0 (Englische Ausgabe: Buildings in Wood Rizzoli Publishers ISBN 0847827461) Holz gehört zu den ältesten Baustoffen der Menschheit – und galt doch stets als minderwertig, dem Stein unterlegen auf Grund seiner kürzeren Lebensdauer, geringeren Festigkeit und leichten Brennbarkeit. Möglicherweise deshalb standen selbst Meisterwerke der Holzarchitektur wie Norwegens Stabkirchen oder die Tempel der Verbotenen Stadt stets im Schatten der großen Steinbauten der Architekturgeschichte. Erstmals – zumindest behauptet dies der Verlag – hat nun Will Pryce eine umfassende Geschichte der Holzarchitektur in aller Welt verfasst. Sein Buch ist in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich: Pryce ist nicht nur Architekt und ausgewiesener Kenner des historischen und aktuellen Holzbaus, sondern auch ein begnadeter Fotograf. ‚Die Kunst der Holzarchitektur‘ stammt vom Titelbild bis zur letzten Fußnote aus einer Hand, und man kommt nicht umhin, dieser Einzelleistung Respekt zu zollen. Insbesondere die Fotos, die selbst im doppelseitigen Format von 30x48 Zentimetern kaum an Brillanz und Schärfe verlieren, machen das Buch zu einem Lesevergnügen. Mit Ausnahme von Afrika und Südamerika hat Pryce alle Weltregionen bereist, um Holzbauwerke zu fotografieren. Einen Anspruch auf Vollständigkeit stellt er mit seinem Buch indessen nicht, wie er gleich im Vorwort schreibt. Statt chronologisch oder typologisch vorzugehen, nähert er sich der Architekturgeschichte anhand von Fallbeispielen an, in denen er neben den Eigenheiten des jeweiligen Bauwerks immer auch die kulturell-geografischen Rahmenbedingungen ihres Entstehens erläutert. Und auch Pryces Exkurs zur zeitgenössischen Holzarchitektur, in denen er unter anderem Bauten von Jarmund&Vigsnaes, Thomas Herzog, Bruce Goff und Richard Leplastrier zeigt, wirkt wie eine organische Fortführung der vorangegangenen Kapitel. Einzig die eine oder andere Konstruktionszeichnung vermisst der aufmerksame Leser bisweilen, wenn Pryce Details mit Worten zu erklären sucht, die im Bild besser darzustellen gewesen wären. Eindrucksvoll zeigt ‚Die Kunst der Holzarchitektur‘ die Vielfalt der Formen und Oberflächentexturen, die die zumeist anonymen Baumeister vergangener Jahrhunderte mit dem Werkstoff Holz schufen. Doch Pryce erwähnt auch, wie die Holzarchitektur buchstäblich die Welt verändert hat. Kaum vorstellbar ist heute beispielsweise noch, dass das Wort ‚Holland‘ seine Urspünge eigentlich in ‚Holtland‘ (Holzland) hat. Aufgabe zukünftiger Holzarchitektur wird es daher sein, eine Balance zu finden zwischen dem Abbau von Ressourcen und deren Regenerationsfähigkeit – denn auch ‚nachwachsende‘ Rohstoffe gehen irgendwann zur Neige. JØRN UTZON LOGBOOK Volume II: Bagsværd Edition Bløndal ISBN 87-91567-07-6 2002 publizierte der dänische Verleger Torsten Bløndal ein bemerkenswertes Buch: die Monografie ‚Utzon‘, verfasst von Richard Weston, mehr als 500 Seiten stark und einige Kilo schwer – womöglich das definitive Buch über den größten dänischen Architekten der vergangenen 50 Jahre. Doch wer meinte, damit sei eigentlich alles gesagt und geschrieben, sieht sich getäuscht: Nur drei Jahre später lässt das kleine dänische Verlagshaus drei „Logbücher“ zu einzelnen Gebäuden oder Gebäudetypen folgen, an deren Erstellung der inzwischen fast 90-jährige Utzon selbst mitgewirkt hat. Band zwei porträtiert auf knapp 170 Seiten das wohl wichtigste Bauwerk des Pritzker-Preisträgers in Dänemark, die Bagsværd-Kirche im Nordwesten Kopenhagens. 1969 bis 1976 erbaut, zeigt sie Utzon auf der Höhe seiner Schaffenskraft – „eine ungeheuer einfache und direkte Architektur, die dem Gebäude einen Ausdruck der Ganzheitlichkeit verleiht“, wie Utzon selbst in einem Gespräch mit dem Herausgeber Torsten Bløndal anmerkt. Zu lesen ist dies auf Seite 117, und bis hierhin gibt es mit Ausnahme des Inhaltsverzeichnisses erst einmal gar nichts zu lesen – noch nicht einmal Seitenzahlen. Ganz bewusst setzen Bløndal und Utzon in ihrem Buch auf die Aussagekraft der Bilder und Zeichnungen. Sie illustrieren die Kunstfertigkeit, mit der Utzon auch banalste Industrieprodukte zu Bauwerken voller Poesie verband und den Besuchern seiner Kirche „die Sicherheit, etwas über dem Kopf zu haben, das gebaut und nicht nur entworfen wurde“ vermittelte, wie er später über die Bagsvaerd-Kirche schrieb. Jede Einzelheit des Bauwerks entwarf Utzon selbst, er importierte die Fliesen für die Handläufe persönlich aus Mallorca und legte selbst die Einschlagtiefe der Nägel an den Kirchenmöbeln genau fest. Die gleiche Detailversessenheit spiegelt auch der zweite Teil des Buches wider, in dem die am Bau Beteiligten – Utzon selbst, sein Sohn und damaliger Assistent Jan, der Bauingenieur Godtfred Jensen sowie der Pfarrer der Bagsværd-Kirche, Svend Simonsen – ihre Erinnerungen mit teils bewundernswerter Genauigkeit aufgezeichnet haben. Drei Analysen ‚externer’ Fachleute schließen den Band ab: Bo Mortensen beschreibt die Akustik der Kirche, der Utzon-Biograph Richard Weston spekuliert über mögliche Vorbilder und Inspirationsquellen Utzons, und Martin Schwartz analysiert die laut Utzon „wichtigste Sache in dieser Kirche“: das Licht. Ebenso viel wie über sein Bauwerk sagt das ‚Logbuch’ über Jørn Utzon selbst aus: es porträtiert ihn als Vertreter einer orts- und menschenbezogenen Moderne, aber auch als Vertreter einer Architektengeneration, die ihre Aufgabe noch in der totalen Kontrolle über ein Projekt – in allen Leistungsphasen und allen Details – begriff. Von Detailzeichnungen abgesehen, die Utzon ohnehin eher spärlich anfertigte, ist die Bagsværd-Kirche in diesem Logbuch lückenlos dokumentiert, so dass Utzons Schlusswort in seinem Gespräch mit Torsten Bløndal zugleich als Resümee des gesamten Buchs zu lesen ist: “Ich glaube, dass das, was ich Ihnen jetzt über die Kirche erzählt habe – angefangen von den ersten Ideen bis zu den Details – alles da ist. Wir haben nichts mehr, über das wir sprechen müssten.” 69 BÜCHER EMPFEHLUNGEN Architekten empfehlen ihre Lieblingsbücher in D&A. 1 Much Untertrifaller 2 Chris Leung 3 Piergiorgio Robino 1 1 MUCH UNTERTRIFALLER EMPFIEHLT Richard Serra – Dirk’s Pod Steidl Verlag ISBN 3-86521-089-9 Dirk’s Pod, eine der größten Dauerinstallationen des amerikanischen Bildhauers Rirchard Serra, wurde im Mai 2004 auf dem Campus der Novartis AG in Basel errichtet. Zur Enthüllung dieser Großskulptur ist im Göttinger Steidl Verlag ein 128 Seiten starkes Begleitbuch erschienen. Es enthält neben Textbeiträgen von Daniel Vasella, Silke von Berswordt-Wallrabe und Richard Serra selbst zahlreiche Fotografien von Nic Tenwiggenhorn sowie von Dirk Reinartz. Der 2004 verstorbene Reinartz, ein langjähriger Freund und Weggefährte Serras, hat den langwierigen Herstellungsprozess der zehn Stelen festgehalten, die Fotos der Endmontage und der fertigen Skulptur stammen von Nic Tenwiggenhorn. 70 2 3 Cruelty and Utopia Cities and Landscapes of Latin America Jean Francois Lejeune (Hrsg.) Princeton Architetural Press ISBN 1-56898-489-8 Carlo Mollino Architecture as Autobiography Thames & Hudson ISBN 0-500-28583-7 Su Mangiarotti – architettura design scultura Abitare Segesta ISBN 88-86116-45-4 Diese Sammlung illustrierter Essays beschreibt die Geschichte jener ,anderen‘ amerikanischen Metropolen wie Buenos Aires oder Mexico City. Ausgewiesene Kenner, unter ihnen Carlos Fuentes, stellen die einzelnen Städte vor; sie beschreiben die Entwicklung der Armengebiete ebenso wie die Meisterwerke lateinamerikanischer Architekten von Luis Barragàn bis Lina Bo Bardi. Begleitet werden die Texte durch Abbildungen, die die Realität Lateinamerikas meist künstlerisch interpretieren. Ebenfalls abgedruckt ist eine überarbeitete Übersetzung der ,Leyes de las Indias‘ von 1573, die zahlreiche Maßgaben zum Städtebau enthielten und daher die Form der spanischen Kolonialstädte entscheidend beeinflussten. Carlo Mollino (1905 – 1973, Turin) war einer der originellsten und zugleich rätselhaftesten Architekten und Künstler des 20. Jahrhunderts. Seiner nonkonformistischen Haltung wegen wurde er von den Kritikern zumeist geschmäht. In seinem Werk, das Gebäude, Innenräume und Möbel, aber auch Fotografien, Schriftstücke und Bühnenbilder umfasst, vereinte er Einflusse des Futurismus und des Surrealismus. Die bei Thames & Hudson erschienene Monografie hat sich auf die Inneneinrichtungen und Möbelentwürfe Mollinos konzentriert: 80 Meisterstücke seiner oftmals eher Skulpturen gleichenden Meisterwerke werden hier durch selten veröffentlichte Dokumente und Fotos dokumentiert. Der 1921 in Mailand geborene Architekt Angelo Mangiarotti zählt zu den wichtigsten Protagonisten der italienischen Architekturszene. Doch der in der Reihe ,SU‘ erschiene Band verzichtet darauf, ein Gesamtwerk des viel geachteten Architekten und Stadtplaners wiederzugeben. 40 teilweise unbekannte Arbeiten aus Architektur, Design und Skulptur werden in historischem wie aktuellen Bildern, Plänen, Skizzen und Texten präsentiert. 70 Prozent dieses Materials blieb bis dato unveröffentlicht. Ein weiterer Anreiz für den Leser bietet der dem Buch beigelegte Aufsatz über die ‚Konstruktiven Systeme in der Architektur‘. Mangiarotti selbst hat ihn grafisch gestaltet. D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03 2 CHRIS LEUNG EMPFIEHLT Architecture in the Digital Age: Design and Manufacturing Hugh Leach, Branko Kolarevic Spon Press (UK) ISBN 0-4152-7820-1 Das 320 Seiten starke Buch bietet einen umfassenden Einblick in den Status Quo der digitalen Architektur – und spannt dabei den Bogen von den Ursprüngen bis zur gegenwärtigen Situation: Wo werden computergestützte Mittel in der Architektur eingesetzt und welchen Einfluss haben sie? Wie können sie zukünftig sinnvoll verwendet werden? Chris Leung: „… Die Verfügbarkeit von CAM (Computer Aider Software) und kleinformatigen CNC-Werkzeugen hat die Kluft zwischen Nachdenken über einem Entwurf und dessen Umsetzung geschlossen. Das Buch hebt die Erwartungshaltung mit Berichten über Einzelpersonen und Büros, die auf innovative Weise mit diesen Werkzeugen arbeiten.“ 3 PIERGIORGIO ROBINO EMPFIEHLT Dynamische Tageslichtarchitektur Helmut Köster Birkhäuser ISBN 3-7643-6729-6 Technologie des ökologischen Bauens Klaus Daniels Birkhäuser ISBN 3-7643-6131-X Computer-Aided Manufacture in Architecture – The Pursuit of Novelty Nick Callicott Architectural Press ISBN 0-7506-4647-0 ‚Dynamische Tageslichtarchitektur‘ wendet sich an Architekten, Lichtplaner, Baumphysiker und Klimaingenieure. Denn Helmut Köster geht es um ein nur gemeinsam erreichbares Ziel: die sinnvolle Integration von Tageslicht und Solarenergie im Gebäude. Chris Leung: „ Jahrelang habe ich nach einem solchen Buch gesucht, das eine sorgfältige technische Beschreibung des Tages- und Sonnenlichts bietet. [...] Jedesmal, wenn man denkt, dass der Autor seine Argumentation zu Ende geführt hat, entdeckt man einen neuen Blickwinkel auf die Frage, wie sich Räume effizient und natürlich aus jener kostenlosen Quelle beleuchten lassen, die uns die Natur zur Verfügung stellt: der Sonne.“ Auf 302 Seiten finden sich in dem auf Deutsch und Englisch erschienen Buch ‚Grundlagen und Maßnahmen, Beispiele und Ideen‘ (so der Klappentext) zum Thema Ökologisches Bauen. Chris Leung: „Als wir am Wettbewerb um die Aga Khan-Universität teilnahmen, war dieses Buch für uns eine wichtige Ideenquelle zum ökologischen Bauen. Seitdem haben seine wunderschön präsentierten und klaren Diagramme uns zu vielen Diskussionen um die Potenziale umweltfreundlicher Technologien und Szenarien angeregt. Das Buch war und ist in unserem Büro ein Brückenschlag, um mit aufgeklärten Ingenieuren ins Gespräch zu kommen.“ Unvoreingenommen und leicht verständlich, doch um so detaillierter führt Nick Callicott die Leser seines Buchs in die Geheimnisse des Computer Aided Manufacturing und seiner Anwendungen in der Architektur ein. Chris Leung: „Dies ist eines meiner Lieblingsbücher, nicht zuletzt deswegen, weil es mich in viele der RapidPrototyping Techniken eingeführt hat, die Designern zur Verfügung stehen, und ich deswegen immer vertrauter damit werde. Wichtiger noch für mich ist jedoch die Art des Einsatzes dieser Mittel, die dieses Buch vertritt.“ Zaha Hadid: Architecture Hatje Cantz ISBN 3-7757-1364-6 The Snow Show Lance Fung (Hrsg.) Thames & Hudson ISBN 0500238197 Archilab Radical Experiments in Global Architecture Frédéric Migayrou Thames & Hudson ISBN 0500283125 Das Buch entstand 2003 anlässlich einer Zaha-Hadid-Ausstellung im Wiener Museum für Angewandte Kunst. Unter den zahlreichen derzeit erhältlichen Hadid-Büchern war es das erste, das (so der Verlag) ‚die neuesten Projekte der Künstlerin‘ dokumentiert. Gezeigt werden unter anderem der Rosenthal Center for Contemporary Art in Cincinnati, die Nationalbibliothek in Montréal und die Bühnenbilder für die Welttournee der Pet Shop Boys 2000. Mehrere, bislang meist unveröffentlichte, Malereien und Grafiken der Londoner Architektin runden den Band ab. Zum zweiten Mal begeisterte während der Olympischen Winterspiele 2006 die ‚Snow Show‘ Touristen aus aller Welt. Sie ist der Folge-Event der ersten ‚Snow Show‘ 2004 in Lappland, die Lance Fung in seinem Buch vorstellt. Die 17 Kunstwerke, an denen je ein Architekt und ein Künstler gemeinsam arbeiteten, werden in mehr als 250 Fotos , zahlreichen Zeichnungen und in von den Entwerfern verfassten Projekttexten dokumentiert. Zu sehen ist dabei nicht nur das Endergebnis, sondern auch die teils komplizierte Entstehungsgeschichte der vergänglichen Kunstwerke. Frédéric Migayrou, Direktor der Architekturabteilug des Centre Pompidou, stellt in diesem Buch 60 der innovativsten jungen Architekturbüros der Welt vor. Ihre Antworten auf die Fragen, wie wir morgen und übermorgen wohnen und arbeiten werden, überraschen immer wieder aufs Neue. Detaillierte Büroprofile, mehr als 2000 Abbildungen und Texte führender Architekturhistoriker und –kritiker machen den 528 Seiten starken Band zu einer reichhaltigen Inspirationsquelle in Sachen Architekturentwurf und –visualisierung. MVRDV: KM3 Excursions on Capacity Actar ISBN 8495951851 1998 machten MVRDV mit dem Mega-Wälzer FARMAX auf sich aufmerksam. Nun legen die Architektur-Avantgardisten mit “KM3” einen zweiten, 1200 Seiten starken Band vor. Thema des Buchs ist die Neuerfindung der europäischen Stadt – vorexerziert am Beispiel je dreier Entwürfe für Amsterdam und Rotterdam. Wie in vielen ihrer bisherigen Entwürfe gehen MVRDV dabei von einer unkonventionellern Stapelung von (Stadt-)Landschaften aus, die den Flächenverbrauch in den eng besiedelten Niederlanden eindämmen soll. 71 DAYLIGHT & ARCHITECTURE AUSGABE 04 HERBST 2006 LICHT PHOTO VON DAVID SUNDBERG, ESTO Dichroic Light Field, New York, USA – von James Carpenter A 72 D&A SOMMER 2006 AUSGABE 03