1 Gesunde Kinder aus brüchigen Bindungen Unterstützende Netzwerke oder störungsspezifische Fallstricke bei Borderline-Struktur Fachtagung 9. November 2016 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung Dipl.-Psych. Livia Koller St. Gregor Jugendhilfe Augsburg Kindersprechstunde im BKH Augsburg 2 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung: Borderline-Persönlichkeitsstörung Die Bezeichnung „Borderline" bedeutet „Grenzlinie“ früher: „border line group“ (A. Stern, 1938): Übergangsbereich von neurotischen und psychotischen Störungen, da man bei den betroffenen Patienten Symptome aus beiden Bereichen identifizierte Otto Kernberg (1975): spezielle Persönlichkeitsstruktur „Borderline-Persönlichkeits-Organisation“ heute: Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), Borderline Personality Disorder (BPD), "emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline Typs" , Borderline Syndrom (BS) 3 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Menschen mit einer Borderline-Störung zu erkennen ist schwierig, weil: B.-Persönlichkeiten auf zufällige Bekannte normal wirken Jede B.-Persönlichkeit ein einzigartiges Bündel von Symptomen aufweist B.-Persönlichkeiten sich verschiedenen Leuten gegenüber unterschiedlich verhalten B.-Persönlichkeiten nach außen hin unterschiedliche Fassaden zur Schau stellen B.-Persönlichkeiten in einer strukturierten Umgebung und in bestimmten Rollen gut funktionieren = Heterogenes Störungsbild 4 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Was ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung? Emotionsregulationsstörung Menschen mit einer Borderline-Störung werden häufig von schmerzhaften Gefühlen überflutet. Diagnostisches Leitsymptom: Einschießende, starke innere Anspannung, die als äußerst aversiv erlebt wird und keiner klaren, handlungsweisenden Emotion zuzuordnen ist. 5 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Was ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung? Menschen mit einer Borderline-Störung haben Probleme mit diesen unerträglichen Spannungsgefühlen umzugehen sie brauchen länger, um von extremen Gefühlen wieder zu einer neutralen emotionalen Ausgangslage zurückzukehren Selbstschädigende Verhaltensweisen sind oft der verzweifelte Versuch, mit den schmerzhaften Gefühlen umzugehen 6 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Störung der Affektregulation bei BPS 1. extrem niedrige Reizschwelle für interne oder externe emotionsinduzierende Ereignisse Hohes Erregungsniveau und verzögerte Rückbildung auf Ausgangsniveau 2. die unterschiedlichen Emotionen werden oft nicht differenziert wahrgenommen, sondern als extrem quälende, diffuse Spannungszustände erlebt Selbstverletzungen reduzieren diese (Senken Cortisolspiegel, der bei Anspannungszuständen erhöht ist) 7 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Unterschiede im Erregungsablauf Spannung 70% Borderline-Störung 30% Kontrollgruppe Zeit (Sendera 2010) 8 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Entstehungsmodell der BPS 9 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Entstehung der BPS: Die Bio-Soziale Theorie Die emotionale Sensitivität ist angeboren (biologischer Faktor) Menschen mit einer BPS reagieren sensibler auf gefühlsmäßige Reize; Gefühle sind stärker ausgeprägt und werden intensiver erlebt Genetische Belastung Das soziale Umfeld hat einen bedeutenden Einfluss (sozialer Faktor) Sehr belastende oder traumatisierende Einflüsse (Gewalt, Missbrauch); ungünstige frühkindliche Bindungserfahrungen (keine sichere und feinfühlige Bindungsperson) Ungünstige Umweltfaktoren 10 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Umfeld, das das Risiko zur Entwicklung einer BPS erhöht Invalidierendes Umfeld (M. Linehan): = Umgebung, in der das Kind und seine Gefühle nicht respektiert werden (Unberechenbare, unangemessen heftige Reaktionen auf Äußerungen des Kindes , d.h. kindl. Emotionen werden fehlerhaft wahrgenommen und interpretiert nicht bestätigt, sondern bestraft oder negiert, d.h. nicht validiert) Zwei Arten von Familien (M. Cierpka): „chaotisch-instabile Familien“: häufig sehr impulsive, emotionale Szenen und Streitigkeiten, Eltern neigen zu Alkohol- oder Drogenkonsum „vernachlässigende und emotional missbrauchende Familien“: Eltern zeigen ihrem Kind gegenüber wenig Gefühle, gehen nicht auf seine Bedürfnisse ein, vernachlässigen es und lassen es allein 11 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Neurobiologie: Hirnorganische Veränderungen bei BPS strukturelle und funktionelle Veränderungen in zentralen, frontallimbischen Gehirnregionen Amygdala (Emotionszentrale) degeneriert (verkleinert, aber stärker erregbar) Hippocamus (Informationsverarbeitung, Gedächtnisorganisation) Volumen verkleinert Präfrontale Hirnstrukturen (stehen in Verbindung zum limb. System) unterentwickelt Veränderungen in diesen Hirnregionen können dazu beitragen, dass man stärker auf emotionale Reize reagiert und Gefühle schlechter regulieren und verarbeiten kann! 12 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Kurzschlussreaktionen bei BPS In Hochstresssituationen (und durch Triggerauslöser) : Nicht der normale Weg der Erregungsleitung über das Großhirn und Hippocampus, sondern direkt (sog. Kurzschluss) vom Thalamus zur Amygdala, dort wird ein unspezifisches Panikgefühl erzeugt , das nicht zugeordnet werden kann; die kognitive Kontrolle fällt aus, der Verstand wird umgangen (ursprünglich: Überlebensstrategie) 13 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Kriterien der Borderline-Persönlichkeisstörung Klassifikation nach DSM-V (2013) Mindestens 5 der folgenden 9 Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Starkes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. 2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. 3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. 14 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbst-schädigenden Bereichen (z. B. Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essanfälle). 5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. 6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). 15 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 7. Chronische Gefühle von Leere. 8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). 9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. 16 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Klassifikation nach ICD-10 (WHO) F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung F60.30 Impulsiver Typ Mindestens 3 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. deutliche Tendenz, unerwartete und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln 2. deutliche Tendenz zu Streitigkeiten und Konflikten mit anderen 3. Neigung zu Ausbrüchen von Wut und Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens 4. Schwierigkeit in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden 5. Unbeständige und launische Stimmung 17 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Klassifikation nach ICD-10 (WHO) F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung F60.31 Borderline-Typ Mindestens 3 der F60.30 Kriterien müssen erfüllt sein und zusätzlich mindestens 2 der folgenden Eigenschaften: 1. Störungen bzgl. Selbstbild und der inneren Präferenzen 2. Neigung, sich auf intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen 3. Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden 4. Wiederholt Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung 5. Anhaltende Gefühle von Leere 18 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Trias der Borderline-Persönlichkeitsstörung Persönlichkeitsstörung, die durch Impulsivität und Instabilität in den Bereichen Zwischenmenschliche Beziehungen Stimmung Selbstbild gekennzeichnet ist 19 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Daten zu Borderline (Bohus 2001, Weiss 1996) Prävalenz in der erwachsenen Gesamtbevölkerung: zwischen 2% (DSM IV) und 6% (Bohus) aber keine gesicherten Zahlen! Kommt in allen sozialen Schichten vor Ca. 70% Frauen Bei männlichen Patienten etwas andere Symptomatik : häufig mehr aggressives Verhalten (20% aller Gefängnisinsassen) In psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung: 50% Beginn der Störung im frühen Erwachsenenalter Die Borderline-Symptomatik schwächt sich mit zunehmendem Alter ab („Aging out“) oder verlagert sich zu anderen Störungsbildern Lediglich 20% leben in einer Partnerschaft, 13% sind verheiratet 5% haben keinen Schulabschluss; 28% sind berufstätig 20 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Komorbidität / Zusätzliche psychiatrische Störungen bei BPS Depressive Erkrankungen (ca. 96 Prozent) Angststörungen (80 Prozent) Dissoziative Störungen (65 Prozent) Schlafstörungen (70 Prozent) Störungen des Essverhaltens (45 Prozent) Posttraumatische Belastungsstörung (70 Prozent) Substanzmissbrauch (64 Prozent) Somatoforme Störungen (58 Prozent) (Sendera 2010) 21 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Typische Kennzeichen der BPS Bindungsmuster: häufig unsicher-ambivalente und unsicher- desorganisierte Bindung (Beziehungssehnsucht und Verschmelzungswünsche bei gleichzeitiger Wut und Ärger auf die Bindungsperson widersprüchliches Verhalten) Fehlende Mentalisierungsfähigkeit (Fehlende Fähigkeit, die eigene psychische Verfassung zu reflektieren und die Perspektive des anderen einzunehmen, mangelnde Empathie für Gefühle, Bedürfnisse, Ziele anderer Personen) Häufige Abwehrmechanismen: Projektion und Spaltung Projektion (Eigene Konflikte, Ängste, Aggressionen werden in der eigenen Person verleugnet und stellvertretend bei anderen „erkannt“ und bei ihnen kritisiert und thematisiert) und projektive Identifikation (andere übernimmt aggr. Anteile) Spaltung (Integration versch. Gefühle und Kognitionen nicht möglich Wechsel von Idealisierung und Entwertung; Einteilung in gut und böse) 22 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Borderline-typische Bindung zu Bezugspersonen (Spiegelungszwang) Sei verzweifelt, einsam, ängstlich und voll Schmerz, damit ich mich in dir erkennen kann. Sei wie ich! M. Rösel Sei stark, stabil und liebevoll. Mach, dass es mir gut geht. Sei nicht wie ich! Die Bezugsperson kann nur enttäuschen Double-Bind-Kommunikation (Chaos, Irritation, Hilflosigkeit) 23 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Ressourcen und Fähigkeiten der Menschen mit Borderline-Störung Starke Sensitivität und großes Einfühlungsvermögen, wenn es anderen Menschen schlecht geht Gutes Gespür für zwischenmenschliche Prozesse große emotionale Offenheit und Spontaneität Besondere Fähigkeiten, Beziehungen einzugehen, zu gestalten, Hilfsbereitschaft Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn Fähigkeiten, sich Hilfe und Unterstützung zu holen Können lernen, ihr impulsiv-destruktives Verhalten zu kontrollieren 24 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Behandlung der BPS Medikamentöse Behandlung nur symptomorientiert (Antidepressiva, Neuroleptika) oder für Notfallsituation Psychoedukation: Wissensvermittlung über Störungsbild Psychotherapie galt lange Zeit als schwierig, da häufige Therapieabbrüche, aber Stabilisierung durch stützende Psychotherapie erfolgreich (Skills-Training!) Wirksamkeit nachgewiesen für: Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach M. Linehan: Vermittlung von Fertigkeiten zur Stresstoleranz, Spannungsreduktion, sozialen Kompetenz und inneren Achtsamkeit ; Bearbeitung belastender Lebensereignisse/Traumata ; Umsetzten des Erlernten in Lebensalltag Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) nach Fonagy & Target: Emotionen von sich und anderen besser wahrnehmen lernen 25 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Was brauchen Menschen mit einer Borderline-Störung? Auf Gefühlsebene: Gefühle wahrnehmen, Verständnis für ihre Gefühle verschaffen, ihnen helfen, diese Gefühle anzunehmen, sie sozial verträglich auszudrücken, sie zu regulieren, sie auszuhalten, zu reflektieren Auf Beziehungsebene: zuverlässige Beziehung anbieten, sie neue Beziehungserfahrungen machen lassen, manipulatives Verhalten ansprechen und reflektieren Auf Strukturebene: Struktur vorgeben, helfen, eigene Strukturen aufzubauen (soziale, tagesrhythmisierende und auch intrapsychische Strukturen) 26 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Wie erleben Kinder ihre Borderline-Mütter? „es war immer alles spontan, nicht nachvollziehbar und wir sind ständig umgezogen“ Impulsivität, Unberechenbarkeit „sie ist Achterbahn gefahren, auf und ab“ emotionale Instabilität „sie kann nicht allein sein“ „Sie hatte ständig neue Männer und mit denen immer viel gestritten “ instabile zwischenmenschliche Beziehungen „sie war von jetzt auf gleich fürchterlich aggressiv“ „sie hat zum Frühstück Wodka getrunken“ Suchtverhalten Angst vor dem Verlassenwerden SVV zur Spannungsreduktion unkontrollierte Wut, Mangelnde Affektregulation „wenn sie sich geschnitten hat, war sie voll entspannt, davor war sie voll zornig“ 27 Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Grundsätzlich gilt: So wie mit mir – als Kind – umgegangen wurde, so gehe ich – heute – mit mir um; so verleite ich andere, mit mir umzugehen – so gehe ich mit meinen Kindern um. 28 Dipl.-Psych. Livia Koller Bilderbuch zur Erklärung der Borderline -Störung für Kinder ab 5 Jahren 09.11.2016 29 LITERATUR Dipl.-Psych. Livia Koller 09.11.2016 Sendera, A. u. Sendera, M. : Borderline- die andere Art zu fühlen. Beziehungen verstehen und leben, Springer 2010 Bohus, M: Borderline-Störung Hogrefe 2002 Bohus, M.. Reicherzer, M: Ratgeber Borderline Störung: Informationen für Betroffene und Angehörige Hogrefe 2012 Buck-Hortskotte, Renneberg, Rosenbach: Mütter mit Borderline Persönlichkeitsstörung Das Trainingsmanual „Borderline und Mutter sein“ Beltz 2015 Lawson, Ch.: Borderline-Mütter und ihre Kinder Edition Psychosozial 2006 Rösel, M.: Mit zerbrochenen Flügeln: Kinder in Borderline-Beziehungen Starks-Sture Verlag 2011