Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod

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Reader zur 6. Fachtagung Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod
30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Inhalt
Einleitung …..……..…………………………………………………………………………………………………………………………………..4
Grußwort des Hessischen Ministeriums für Arbeit, Familie und Gesundheit
Staatssekretärin Petra Müller-Klepper ……………….……………………………………………………………………………………5
Eingangsstatements
Oberlandeskirchenrat Dr. Eberhard Schwarz,
Diakonisches Werk in Kurhessen-Waldeck, Kassel ….……………………………………………………………………………..12
Pfarrer Martin Schöppe, stellvertr. Dechant des
Dekanats Kassel-Hofgeismar (Bistum Fulda) ………………………………………………………………………………………….15
Hat das Sterben noch eine Zukunft? - Veränderungen des Sterbens
in der postmodernen Gesellschaft
Professor Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Friesenheim …..…………………………………………………………………………17
ARBEITSGRUPPEN
Komplexe Dilemmata bei Entscheidungsprozessen am Lebensende
AG 1: Vernetzungssysteme im ambulanten Bereich
Friedhelm Menzel, Diakonisches Werk Hessen-Nassau, Frankfurt ………….……………………………………………..30
AG 2: Ethikberatung in der stationären Altenhilfe - Vorstellung des Frankfurter Ethik-Projektes
Timo Sauer M.A., Universitätsklinikum Frankfurt a. Main /
Bernd Trost, "Franziska Schervier" Altenhilfe gGmbH, Frankfurt ……………………………………………………………40
AG 3: Ethikvisite - ein erster Türöffner für ethische Fragestellungen? - Konzept der
Ethikvisite für Aus- und Fortbildung
Walter Ulrich, Evangelisches Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH, Darmstadt /
Dr. Frank Hofmann, Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel……….…………………………………………………….60
AG 4: Ethische Entscheidungen in der Betreuungspraxis
Dr. Arnd T. May, Recklinghausen /
Brunhilde Ackermann, Betreuungsbehörde der Stadt Kassel ………..………………………………………………………63
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Ethikberatung konkret: Was heißt "Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung
an der Grenze zwischen Leben und Tod"?
Dr. theol. Kurt W. Schmidt, Zentrum für Ethik in der Medizin am Markus-Krankenhaus,
Frankfurt a. Main ……………………….………………………………………………………………………………………………………….80
Ethische Probleme in der Altenhilfe
Dr. Gisela Bockenheimer-Lucius, Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik
der Medizin, Universitätsklinikum Frankfurt a. Main …….……………………………………………………………………….90
Ethikberatung – Nicht nur im Krankenhaus
Aufbau von analogen Netzwerkstrukturen in Organisationen der Kirchen und der Wohlfahrtspflege
Podiumsdiskussion mit Statements
Brunhilde Ackermann ……………..…………………………………………………………………………………………………………..102
Ltd. Pfarrerin Barbara Heller, Evangelische Altenhilfe e.V., Hofgeismar ……………………………………………….107
Gisela Bockenheimer-Lucius …………….………………………………………………………………………………………………….112
Resümee und Perspektiven
Helga Steen-Helms, Hessisches Ministerium für Arbeit,
Familie und Gesundheit, Wiesbaden………………….………………………………………………………………………………..115
Pfarrer Sven Pernak, Diakonisches Werk in Kurhessen-Waldeck, Kassel ………………………………….…………..119
Peter Kraft, Caritasverband für die Diözese Mainz e.V. ….…………………………………………………………………….121
Anhang
Tagungsprogramm ……………..….………………………………………………………………………………………………………….125
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Einleitung
Dem großen Interesse an den Vorträgen und Materialien zur 6. Fachtagung „Entscheidungen an der Grenze
zwischen Leben und Tod – Hilfestellung und Entlastung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung“ in der Evangelischen Akademie Hofgeismar soll mit dieser Dokumentation nachgekommen werden.
Die Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist eine Zusammenstellung des von
Referenten und Beteiligten hierfür zur Verfügung gestellten Materials, für das die betreffenden Personen
auch die redaktionelle Verantwortung tragen.
Eveline Valtink
Direktorin
Ev. Akademie Hofgeismar
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Grußwort des Hessischen Ministeriums für Arbeit,
Familie und Gesundheit
Staatssekretärin Petra Müller-Klepper
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Grußwort zur Fachtagung „Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod“ am 30. November
und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie in Hofgeismar
Der Umgang mit dem Lebensende ist Gradmesser für die Humanität einer Gesellschaft und deren Durchdringung mit christlicher Ethik. Welche Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen?
„Für den Tod ist in unserer Gesellschaft kein Platz. Sie verlangt Jugend, Mobilität und Dynamik. Dies widerspricht dem, was Trauer bedeutet – Schweigen und Weinen.“ Treffend hat Eugen Brysch, Geschäftsführer
der Deutschen Hospiz Stiftung, in einem Gespräch mit diesen Worten die gegenwärtige gesellschaftliche
Realität beschrieben.
Tradierte Formen und Rituale, die für die Bewältigung von Todesfällen wichtig sind und sich durch die
Jahrtausende entwickelt haben, werden abgeschafft. Der Glaube spielt bei vielen nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Sterben und Tod gehören nicht mehr zu den Alltagserfahrungen der Menschen.
Die konkrete Situation trifft dann oft unvorbereitet. Unser Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist geprägt durch Verleugnung, Unsicherheit bis hin zu der Unfähigkeit, Menschen in ihren letzten Lebenstagen emotional zu begleiten.
Die Gesellschaft muss wieder begreifen lernen, dass die menschliche Existenz den Abschied in sich trägt.
Unser Denken und Handeln muss sich ändern, um Sterbenden den Abschied zu erleichtern, aber auch um
Schmerz und Trauer über den Verlust zu ertragen können. Es ist hohe Zeit für eine gesellschaftliche Umkehr, eine Enttabuisierung und offene Auseinandersetzung mit diesem existentiellen Themenbereich. Nur
dann ist Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug möglich, ein Sterben, das sich an den Bedürfnissen
und Wünschen des Betroffenen ausrichtet, ein Sterben in Würde.
Die individuelle Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen irdischen Lebens und das Treffen der
Entscheidungen für den ganz persönlichen Fall durch den Betroffenen ist die eine Seite der Medaille des
Handlungsbedarfs. Die andere Seite betrifft die Berufsgruppen und Institutionen, die an den Entscheidungsprozessen über Leben und Tod beteiligt sind. Bedingt durch den Fortschritt in der Medizin ist auch
hier eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit den Fragen des Sterbens in Würde und mit der Sinnhaftigkeit therapeutischen Handelns notwendig.
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Ich bin dankbar, dass Sie sich dem stellen, dass Sie hierzu aktiv ihren Beitrag leisten. Ihre Teilnahme an dieser Fachtagung dokumentiert dies. Ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen der Hessischen Landesregierung. Die heutige Veranstaltung ist bereits die 6. Fachtagung, die in der bewährten Kooperation zwischen
dem Hessischen Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit, den Evangelischen Kirchen und Diakonischen Werken in Hessen und Nassau sowie in Kurhessen-Waldeck, der Katholischer Kirche und der HessenCaritas konzipiert wurde.
Die Fachtagungen finden im Wechsel jeweils in Nord- und Südhessen statt. Nachdem die letzte Fachtagung
im Haus am Maiberg in Heppenheim durchgeführt wurde, freue ich mich, dass wir in diesem Jahr wieder
hier in der Evangelischen Akademie in Hofgeismar zu Gast sein dürfen. Für die bewährte Zusammenarbeit
und Gastfreundlichkeit möchte ich Ihnen, Frau Valtink, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, herzlich danken.
Wie bereits in den letzten Jahren erfolgreich praktiziert, wurden auch für diese Fachtagung von den einzelnen Kooperationspartnern Experten für eine Arbeitsgruppe benannt, die vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Fachwissens und ihrer praktischen Erfahrungen das Veranstaltungsprogramm gemeinsam mit meinem Haus erarbeitet haben. Wie mir berichtet wurde, hat diese Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichsten Berufsgruppen äußerst effektiv und kooperativ zusammengearbeitet. Für
dieses Engagement und den damit verbundenen Zeitaufwand möchte ich den Beteiligten meinen ausdrücklichen Dank aussprechen.
Die Fachtagungen der letzten Jahre beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit dem Bereich der Integration
von Menschen in den Arbeitsmarkt. Mit der heutigen Veranstaltung wird eine völlig andere Fragestellung
aufgegriffen. Es geht um die hoch aktuelle und elementare Thematik des Entscheidungsprozesses über
Leben und Tod.
Der Ausspruch eines mir unbekannten Verfassers bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Die Fortschritte der Medizin sind ungeheuer, man ist sich seines Todes nicht mehr sicher“. Die Erfolge der Medizin können nicht nur das Leben verlängern, sondern auch das Sterben – damit aber auch das Leiden.
Allein schon vor diesem Hintergrund sehen Bürgerinnen und Bürger immer mehr die Notwendigkeit, vorausschauend zu denken und Vorsorge zu treffen. Der Eintritt des Todes wird nicht mehr als schicksalhaft
erfahren, sondern ist Gegenstand menschlicher Entscheidung. Damit sind neue Fragen und eine neue Dimension der Verantwortung angesprochen.
Zu der alten Frage nach dem leichten oder schweren Tod stellen sich sind unter den Bedingungen der modernen Medizin neue Fragen:
•
Werde ich Schmerzen erleiden müssen?
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•
Werde ich einsam sterben oder im Kreis von Angehörigen oder Freunden?
•
Was wird mit mir in der Zeit vor dem Tod?
•
Wird mir geholfen werden bis zuletzt?
•
Werde ich anderen lästig sein, wenn mein Leben zu Ende geht?
•
Werde ich noch behandelt werden, wenn jede Hoffnung auf Leben längst vergangen ist?
•
Wird mein Wille respektiert?
•
Wird jemand anderes über mein Ende entscheiden?
•
Werde ich Maschinen ausgeliefert sein?
•
Können mein Arzt und meine Angehörigen meine Würde im Sterben wahren?
- Wie kann ich jetzt eine Entscheidung für eine Situation treffen, die ich mir nicht vorstellen kann? Werde
ich in dieser Situation nicht anders fühlen und denken als jetzt?
Es ist nicht Aufgabe des Staates und der Politik, Antworten auf die letzten Fragen menschlicher Existenz zu
geben. Aufgabe des Staates ist es aber, die Bedingungen und Chancen für menschenwürdiges Leben und
Sterben zu schaffen - für ein Gesundheitssystem, das die Fortschritte der Medizin bis hin zur Minimierung
des Schmerzes allen Mitgliedern der Gesellschaft eröffnet, sowie eine Ordnung, die auch den hilflosesten
Mitgliedern der Gesellschaft den Schutz der Rechtsordnung bis zuletzt garantiert.
Der Gedanke einer angemessenen Sterbebegleitung muss in allen Institutionen und im ambulanten Bereich
integriert und umgesetzt werden. Ambulante Initiativen, Hospize und Palliativstationen begleiten würdevoll und mildern das Leid. Wir sind hier in Hessen auf einem guten Weg, haben ein flächendeckendes Netz
an Versorgungsangeboten für unheilbar kranke und sterbende Menschen aufgebaut. Es wird aktuell ausgebaut und ergänzt durch die Möglichkeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Hessen ist
das erste Bundesland, in dem die Finanzierung der so genannten spezialisierten ambulanten Palliativversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine entsprechende Vereinbarung mit
den Krankenkassen gesichert ist.
Eine gute Sterbebegleitung gepaart mit einer umfassenden palliativen Versorgung kann der Angst vor einem langen Sterbeprozess, vor Schmerzen und Hilflosigkeit wirksam begegnen und ein menschenwürdiges
Leben bis zuletzt ermöglichen. Sterbehilfe dagegen wäre kein Akt der Humanität, sondern eine ethische
und moralische Kapitulation der Gesellschaft.
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Ein wesentliches Element des Sterbens in Würde ist die Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen bis zuletzt. Nach jahrelangem Ringen um eine gesetzliche Regelung über die Wirksamkeit und Bedeu-
tung von Patientenverfügung hat der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes am 1. September 2009 explizit die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen geregelt und
zugleich eine Pflicht zur Beachtung der Behandlungswünsche bzw. der mutmaßlichen Wünsche des Betroffenen festgeschrieben.
Die praktische Umsetzung dieser neuen Regelungen stellt sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch die an
diesen Entscheidungsprozessen beteiligten Berufsgruppen vor großen Herausforderungen. Die nunmehr
konkreten Anforderungen an die Konkretheit der Patientenverfügung erfordern sorgfältige Klärungs- und
Beratungsprozesse. Speziell die Klärung des Patientenwillens - bzw. seines mutmaßlichen Willens - und die
Entscheidung über Behandlungsmaßnahmen stellen in der Regel eine sehr belastende und konfliktreiche
Tätigkeit für die beteiligten Berufsgruppen dar. Angesprochen sind insbesondere Ärzte, Pflegepersonen,
Seelsorger, Betreuungsrichter, Mitarbeiter von Sozialdiensten und gesetzliche Betreuer, auf deren Menschlichkeit, professionelles Können und Engagement es in diesen schweren Situationen maßgeblich ankommt.
Vor diesem Hintergrund wird eine zentrale Fragestellung im Focus dieser zweitägigen Fachtagung stehen:
Durch welche Maßnahmen können die an diesen Entscheidungsprozessen beteiligten Berufsgruppen Unterstützung, Hilfestellung und Entlastung erhalten?
Sie werden etwas erfahren über bereits entwickelte Methoden und Konzepte der Ethikberatung und anderer hilfreicher Kommunikationsstrukturen. Die Fachtagung bietet Ihnen aber auch den Raum, sich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Professionen über konkrete Unterstützungsmöglichkeiten unter
Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten und Strukturen auszutauschen.
Aus Ihrem beruflichen Alltag wissen Sie sicherlich viel besser als ich, dass das „Aufeinander zugehen“ und
einen interdisziplinären Dialog zu führen sich in der konkreten Berufspraxis nicht immer so unproblematisch darstellt, wie es zunächst erscheint. Die Akzeptanz, Wertschätzung und das gegenseitige Verstehen
der unterschiedlichen Berufsgruppen und Institutionen kann nicht selbst verständlicherweise vorausgesetzt werden.
Erschwerend ist auch der Zeitfaktor – bei Entscheidungen über Leben und Tod bleibt häufig nicht viel Zeit
für aufwändige Abstimmungsprozesse. Um unter diesen schwerwiegenden Bedingungen tragfähige Entscheidungen treffen zu können, ist eine wertschätzende und strukturierte Kommunikation aller beteiligten
Akteure erforderlich. Wenn dies gelingt, kann die Last gemeinsam getragen werden und der Gefahr von
Überforderung und „Ausgebrannt sein“ vorgebeugt werden.
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Um mit der elementaren Frage von Leben und Tod im Interesse und zum Wohl der betroffenen Menschen,
ihren Angehörigen und der beteiligten Berufsgruppen verantwortungsvoll umgehen zu können, werden
neue Formen der Kooperation und Vernetzung zukünftig an Bedeutung gewinnen und sich zu einem Qualitätsmerkmal professioneller Berufstätigkeit entwickeln.
Ich wünsche Ihnen für die beiden Veranstaltungstage einen intensiven Diskussionsprozess mit Kolleginnen
und Kollegen unterschiedlicher Berufsgruppen und hoffe, dass Sie viele neue Impulse für Ihre Berufspraxis
erhalten. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren Einsatz, für Ihr segensreiches Wirken und wünsche Ihnen
viel Kraft, Gesundheit und Gottes Segen bei der weiteren Arbeit.
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Eingangsstatements
Oberlandeskirchenrat Dr. Eberhard Schwarz
Pfarrer Martin Schöppe
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Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod
Hilfestellung und Entlastung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung
6. Fachtagung des HMAFG in Kooperation mit den Evangelischen Kirchen und Diakonischen Werken in
Hessen, Katholischer Kirche und Hessen-Caritas, Evangelischer Akademie Hofgeismar vom Montag, 30.
November bis Dienstag, 01. Dezember 2009 in Hofgeismar
Eingangsstatement von OLKR Dr. Eberhard Schwarz,
Landespfarrer für Diakonie der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck
Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes in Kurhessen-Waldeck e.V.
Frau Staatssekretärin Müller-Klepper,
Frau Steen-Helms, meine sehr verehrten Damen und Herrn,
als Kurhesse freue ich mich besonders, Sie zur 6. Fachtagung des Hessischen Ministeriums für Arbeit, Familie und Gesundheit hier in Hofgeismar in den Räumlichkeiten unserer Evangelischen Akademie und ihrem
parkähnlichen Umfeld zu begrüßen. Ich tue dies aber nicht nur als Kurhesse, sondern für die vier evangelischen Partner der Vorbereitungsgruppe, also die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck sowie ihre beiden Diakonischen Werke. Wir sind dankbar für diese
Zusammenarbeit von Sozialministerium, den katholischen Geschwistern und uns. Die Reihe der bisherigen
Fachtagungen kann sich sehen lassen und ich bin zuversichtlich, dass die mittlerweile bewährte Kooperation auch in den nächsten Jahren fortgesetzt wird. An gemeinsamen Themen mangelt es wahrlich nicht!
Vom Kirchenjahr her haben wir Volkstrauertag, Buß- und Bettag und Totensonntag begangen, haben gestern den 1. Advent gefeiert: aus der Dunkelheit zum Licht – vom Tod zum Leben! Dies mag dafür stehen,
was die Kirchen und ihre Diakonie neben anderem in die zur Debatte stehenden Fragen einbringen können: dass menschliches Leben und Sterben von Gott umfangen sind, dass Menschen, die an der Grenze
zwischen Leben und Tod sich befinden, sich in der Hand dessen geborgen wissen können, dem sie ihr Leben verdanken. Und dass diese Gewissheit der mitgehenden Treue Gottes auch einfließen darf und wohl
auch sollte in all die Gespräche, Überlegungen, Einstellungen derer, die Menschen auf diesem Wegstück
begegnen und begleiten.
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Nun hat sich in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten das Sterben, der Weg vom Leben zum Tod
sehr verändert. Davon wird vermute ich Herr Professor Gronemeyer nachher berichten, dessen Buch
„Sterben in Deutschland. Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können“
(2008) ich im Sommer mit großem Gewinn, auch mit einigem Erschrecken gelesen habe, manche Passagen
mittlerweile zum wiederholten Male. Die dort von ihm beschriebene Tendenz eines zunehmenden
medikalisierten und professionalisierten/institutionalisierten sowie ökonomisierten Sterbens bis hin zu der
Vorstellung, dass künftig Sterbehilfe, aktive bzw. gewerbsmäßige als Dienstleistung angeboten werden
könnte, macht u.a. die Brisanz des Themas und die damit gestellte Aufgabe deutlich: welche Antworten
wollen wir, welche Antworten soll unsere Gesellschaft geben, wie wollen wir mit Sterben und Tod umgehen, welche Sterbekultur schwebt uns vor?
Ganz deutlich ist dabei, dass angesichts der Ausdifferenzierung der Prozesse, angesichts enorm zugenommener medizinischer Möglichkeiten und der damit verbundenen Ambivalenzen, auch angesichts sich wandelnder Einstellungen zu Sterben und Tod in unserer Gesellschaft nicht nur auf den Kranken und Sterbenden neue Fragestellungen zukommen sondern auch auf die, die ihn begleiten, mit ihm zu tun haben in ihren jeweiligen Kontexten. Und dies sind oftmals deutlich mehr Bezugspersonen als in früheren Zeiten. Es
bedarf des Zusammenwirkens aller Akteure zum Wohle des Betroffenen, der allein die Koordination nicht
leisten kann.
Allerdings muss sichergestellt sein, dass er oder sie soweit irgend möglich in die anstehenden Entscheidungsprozesse eingebunden wird und nicht über ihn gehandelt und entschieden wird. Hier kommt die Patientenverfügung ins Spiel, aber auch die Angehörigen bzw. Betreuer.
Wie wollen wir mit Sterben und Tod umgehen, welche Sterbekultur schwebt uns vor?
Die Herausforderung angesichts in Gang befindlicher Veränderungsprozesse möchte ich so formulieren:
Wir müssen an einer gesellschaftlichen Kultur arbeiten, in der Solidarität mit Kranken und Sterbenden
selbstverständlich ist und die die Einsamkeit des Sterbens lindert.
An einer Kultur, in der Menschen es zulassen können, abhängig und pflegebedürftig zu sein. An einer Kultur, deren Menschenbild sich nicht nur über Vitalität, Erfolg und Gesundheit definiert, sondern Altern,
Nachlassen der Kräfte, Leiden, Schmerzen und Sterben integriert. An einer Kultur, die sich ein würdiges
Leben und Sterben von alten und kranken Menschen etwas kosten lässt.
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Vielleicht kann diese Tagung einen Beitrag dazu leisten indem sie die unterschiedlichen Akteure zusammenführt, den Netzwerkgedanken stark macht, Modelle vorstellt, die anstehenden Probleme benennt und
nach Lösungen sucht. Wenn uns dies in den zwei Tagen gelingt, wäre das viel und gut.
So wünsche ich Ihnen einen guten Aufenthalt hier in Hofgeismar und vor allem eine anregende Tagung!
Ich danke Ihnen.
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30. November und 1. Dezember 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Eingangsstatement zur Fachtagung
„Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod Hilfestellung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung“
am 30. November 2009 in der evangelischen Akademie Hofgeismar
von Pfarrer Martin Schöppe, Bistum Fulda
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es gibt Situationen in denen treffen wir gerne Entscheidungen. Vornehmlich ist das in solchen Situationen
der Fall, wo wir nichts oder wenig zu verlieren aber viel zu gewinnen haben. Entscheidungen werden dort
schwierig wo sie uns aufgrund unseres Berufes oder Amtes aufgetragen sind, oder wo wir gezwungen werden Entscheidungen zu treffen, für die wir vielleicht noch gar nicht bereit sind. Entscheidungen begleiten
unser tägliches Leben. Das ist eine ebenso evidente wie herausfordernde Feststellung. Dabei sind Entscheidungen nicht nur von fachlichen oder rationalen Gründen getragen, sondern auch von spontanen,
emotionalen oder zufälligen Beweggründen beeinflusst. Ziele, Wertmaßstäbe aber auch religiöse Grundprägungen und Glaubensüberzeugungen spielen dabei eine Rolle. In jedem Fall kann eine Entscheidung
aber nur dort so genannt werden, wo sie eine bewusste Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten darstellt.
Die heutige Tagung stellt sich aus verschiedenen Perspektiven den Entscheidungen an der Grenze zwischen
Leben und Tod und zwar im Hinblick auf eine bestmögliche Hilfestellung für die betroffenen Menschen.
Dabei hat sich aber nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung der medizinischen Möglichkeiten in den letzten Jahrzehnten viel getan, auch die Einstellung der Menschen selbst hat sich deutlich gewandelt. Ein kleines Beispiel mag das verdeutlichen. Seit Rainer Maria Rilkes Protest gegen den anonymen Krankenhaustod
verstand man unter einem „eigenen Tod“ das persönlich und bewusst angenommene Sterben. Heute soll
mit dem Begriff des „eigenen Todes“ häufig das Recht postuliert werden, Art, Zeitpunkt und Umstände des
eigenen Sterbens zu bestimmen und sich dazu der Mithilfe der Ärzte oder des medizinischen Pflegepersonals zu vergewissern.
Aus christlicher Sicht wird es bei den Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod vor allem
darum gehen, dem Sterbenden Raum für seinen eigenen Tod zu geben im Sinne einer menschlich und medizinisch umfassenden Sterbebegleitung. Dabei ist die Sinnhaftigkeit der Annahme des eigenen Todes keine spezifisch christliche Perspektive, sondern nach dem von Wittgenstein gebrauchten Wort der Tod ist
sicher, sein Zeitpunkt aber unsicher, eine allgemein menschliche Erkenntnis.
Die Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod sind nicht nur Fragen im Blick auf das Ende des
Lebens, sondern vor allem Fragen im Hinblick auf die Vollendung des Lebens. In meiner seelsorglichen Praxis erfahre ich wie viele Menschen intuitiv begreifen, dass die Art ihres Sterbens sehr viel darüber aussagt
wie sie das Leben begreifen und wie sehr sie sich ein schmerzfreies Sterben wünschen, das Abschied nehmen möglich werden lässt. Ebenso sagt auch der Umgang unserer Gesellschaft mit dem sterbenden Menschen sehr viel über ihre humane Qualität aus.
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In Wort und Tat Jesu Christi waren Leben und Tod aufs Engste verbunden. Dabei förderte der Glaube an
ein ewiges Leben keine Weltflucht sondern war und ist bis heute integraler Bestandteil einer zutiefst humanen Lebensweise. Aus meiner Erfahrung wird von den Menschen im Hinblick auf das medizinische Personal eine professionelle Leistung erwartet aber eben keine „Gottheit in Weiß“, die den Tod gar nicht auf
der Rechnung hat. Gerade weil unsere Gesellschaft eine so große Distanz zu Sterben und Tod aufgebaut
hat ist die Dankbarkeit der Menschen umso größer wo einfühlsam und ineinandergreifend von den Handelnden und Behandelnden dieses thematisiert wird. Überall wo zwischenmenschliche Begegnung und
Austausch über die Fragen an der Grenze zwischen Leben und Tod entstehen kann wird das von den Menschen schon selbst als Hilfestellung erlebt und wertgeschätzt. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung ist deshalb technisch geboten, menschlich notwendig und seelsorglich ein Segen für die betroffenen Menschen!
Der medizinische Betrieb und der einzelne Mensch in seiner Not scheinen es manchmal schwer miteinander zu haben. Aber es bleibt trotzdem richtig: die medizinischen Möglichkeiten auch am Ende des Lebens
sind ein Segen für uns alle. Die Dankbarkeit über menschlich eingesetzte Technik kann man in vielen Gesichtern in unseren Krankenhäusern und Einrichtungen ablesen. Aus christlicher Sicht ist es eine treffende
Assoziation, wenn einem der vier Evangelisten, Lukas, zugeschrieben wird, dass er von Beruf Arzt gewesen
sei. Er hätte einem Wort von Albert Schweitzer, dessen Namen das Oberstufengymnasium hier in Hofgeismar trägt, sicher zugestimmt: Die Wissenschaft richtig verstanden, heilt den Menschen von seinem Stolz,
denn sie zeigt ihm seine Grenzen.
Sehr geehrte Damen und Herren, gerne wünsche ich der Tagung seitens der katholischen Kirche einen guten Verlauf und Danke zugleich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Hat das Sterben noch Zukunft?
Professor Dr. Reimer Gronemeyer/Andreas Heller
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Andreas Heller/Reimer Gronemeyer
Stirbt die Hospizbewegung am eigenen Erfolg?
Ein Zwischenruf
Die Hospizbewegung ist erfolgreich. Wo sonst trifft man heute so viele Menschen guten Willens wie im
Tätigkeitsfeld Hospizarbeit und palliative Versorgung? Allein in Deutschland sind 80 000 Freiwillige in die
Hospizarbeit eingebunden. Manchmal sieht es fast so aus, als würden sich die Nachdenklichen und Unangepassten, die der Beschleunigungs- und Konkurrenzgesellschaft überdrüssig sind, in diese hospizliche
Gegenwelt retten. Dort haben die lebenswichtigen Fragen nach Würde und Menschlichkeit, nach Mitleidenschaft und Mitverantwortung, nach Liebe und Freundschaft, nach der Spiritualität und dem „Danach“
offenbar noch einen Platz. Im Sterben und mit den Sterbenden – so hofft man - tritt das Leben noch einmal
aus dem Schatten eines konsumistischen und oberflächlichen Dahinlebens. Viele scheinen zu ahnen, dass
das Sterben der letzte „heilige Ort“ ist, den wir noch haben, weil sich dieser Lebensabschnitt der dummdreisten Oberflächlichkeit, die unser Leben üblicherweise prägt, entzieht,
Die Hospizbewegung ist auf den Weg gekommen als der Versuch, neue Räume zu schaffen, in denen ein
würdiges Sterben möglich ist – durch ambulante oder stationäre Unterstützung. Der wichtigste Impuls der
Hospizbewegung ist ihre Sozialität gewesen: Das Sterben wollte sie herausholen aus einer rein medizinischpflegerischen Versorgung, die zudem schwere Mängel aufwies: Tabuisierung des Themas Tod, Abschieben
ins Badezimmer, Ausschluss der Angehörigen etc.
Heute sind diese Räume, die durch die Hospizbewegung geschaffen worden sind, als soziale Räume aufs
Höchste gefährdet: „Sterben“ selbst ist so gefährdet wie der Urwald am Amazonas. Das Lebensende wird
gegenwärtig zum Adressaten eines planungs- und kontrollbesessenen Projekts. Die Menschen wurden in
den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, „Lebensplanung“ zu betreiben, nun tritt eine Art „Sterbeplanung“
hinzu. Die Patientenverfügung ist das vielleicht anschaulichste Beispiel dafür, dass wir neuerdings unter
den Druck geraten, uns planend in eine Situation hineinzuversetzen, in der wir dement oder krebskrank
sind. Und dann sollen wir sagen, welche Entscheidungen in dieser Situation getroffen werden sollen. Neben der Patientenverfügung ist die Debatte um „Sterbehilfe“ ein deutliches Zeichen für die beginnende
Projektierung des Sterbens: Der moderne Mensch, bis in die Zehenspitzen von seiner Individualität und
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Autonomie überzeugt, kann es sich nicht mehr vorstellen, dass der Tod „kommt“, sondern er muss ihn in
seine eigene Verfügungsgewalt zu bekommen versuchen.
Das „Eigene Sterben“ ist bedroht: Wenn man im Urwald-Bild bleiben will, könnte man sagen: Das Eigene,
das früher in einer Fülle von Ritualen erkennbar war, wird abgeholzt. Und so wie im Amazonasbecken öde
Agrarsteppen an die Stelle der Vielfalt treten, so tritt an die Stelle des eigenen Sterbens ein in professionelle Dienstleistungen eingeschnürtes Ableben. Angstfrei, schmerzfrei, pharmakologisch und spirituell narkotisiert.
Die Hospizbewegung ist in der Gefahr, diesem Prozess selbst auf den Leim zu gehen. Sie scheint sich oft
selbst nicht zu trauen: Statt mit Selbstbewusstsein darauf zu bestehen, dass die soziale Einbettung der
Sterbenden die wichtigste Voraussetzung für ein würdiges Sterben ist, lässt sie sich auf das Stühlchen der
Ehrenamtlichen am Bett setzen, die dem medizinisch-pflegerischen Tun selbstverständlich die Priorität
einräumt. Statt davon auszugehen, dass sie das Eigentliche hütet, buhlt sie immer mehr um die Anerkennung durch die Palliativmedizin. Dass die Hospizler auch professionell handeln, dass sie auch ausgebildet
sind, wird zum wichtigsten Argument in der Debatte. Die Hospizbewegung macht sich selbst zum clerus
minor, zu den Laienbrüdern, neben den wahren medizinischen und pflegerischen Priestern. Damit besteht
die Gefahr, dass die Hospizbewegung selbst es ist, die der Medikalisierung, Institutionalisierung und
Ökonomisierung des Lebensendes den Weg freimacht.
•
Medikalisiert, weil Hospize künftig von Ärzten geleitet werden sollen, was den Sieg der Palliativmedizin über die Hospizbewegung endgültig machen würde.
•
Institutionalisiert, weil jeder – ob ambulant oder stationär - zum potenziellen Kunden palliativer
Angebote werden soll. Palliative Care will gerade „flächendeckend“ werden. Wer noch unbetreut
stirbt wird zum Sonderling.
•
Ökonomisiert, weil die Sterbekosten künftig genau kalkuliert werden. Sterben war zu teuer geworden, soll künftig durch palliative Angebote betriebswirtschaftlich besser kalkulierbar werden.
Summa summarum: Die Hospizbewegung ist in der Gefahr, ein Teil jenes Prozesses zu werden, der das
Sterben zur Planungsaufgabe werden lässt. Sie ist aufgebrochen, um aus dem Ägypten eines kalten und
seelenlosen Krankenhaussterbens auszuziehen und kommt nun nicht etwa im gelobten Land einer würdigen Sterbekultur an, sondern findet sich plötzlich als Teil eines Managementprojektes, das „Sterben“ heißt,
wieder.
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Die Hospizbewegung ist zu erfolgreich. Und sie droht an diesem eigenen Erfolg zu Grunde zu gehen. In
spätestens zehn Jahren wird sie gestorben sein, wenn sie die Richtung nicht ändert oder sie wird so in die
Palliativmedizin inkorporiert sein, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkennt.
Die Totengräber der Hospizbewegung sind schon am Werk und sie kommen vorzüglich aus den eigenen
Reihen - und wissen nicht, was sie tun. Die Hospizbewegung ist in der Gefahr, bürokratisch stillgelegt zu
werden, ihre Vitalität wird gerade gezähmt durch Regelfinanzierungen. Die Glut des Charismas erstickt in
Qualitätskontrollen. Flächendeckend, bettendeckend werden die Standards für Lebensqualität vorgegeben,
die Milligrammdosen Schmerzmittel ausgerechnet. Die Pathways für ein künftiges standardisiertes, gleichgeschaltetes Sterben sind schon einprogrammiert. Auf den Bildschirmmasken lassen sich die Versorgungsverläufe mit den Verrechnungsdaten leichthändig bedienen.
Die Hospizbewegung hat sich unter dem von ihr empfundenen Professionalisierungsdruck das ganze Vokabular und die Vorgehensweise moderner Sozialtechnologien angeeignet. Auch weil sie immer mehr Distanz
zur Bürgerbewegung bekommen hat und immer mehr an Geldtöpfen hängt: Geldgeber wollen wissen, wo
ihr Geld bleibt und wie es verwendet wird. Und auch die „Kunden“ haben ein Recht auf Vergleichbarkeit,
auf Überprüfung der geleisteten Dienste, auf Transparenz und Preis-Leistungsverhältnisse. Aber wenn man
EDV-gestützte Pflegedokumentationen anlegt und anlegen muss, dann ist die Gefahr,
•
dass der Patient mehr über Daten beobachtet wird als über den unmittelbaren körperlichseelischen Kontakt: Qualitätsstandards werden erst generalisiert und dann auf den Einzelfall appliziert;
•
dass nur zählt, was auch gezählt werden kann. Menschen sind aber in ihrer Geschichte und in dem
ihnen Eigenen nicht in Zahlen fassbar;
•
dass das Biographische, der soziale Hintergrund des Lebens und sein Verlauf in einer Fußnote verschwindet, in den Masken der Computerprogramme. Man kann ja nicht fassen, ob ein Mensch
Hoffnung hat und woraus er sie nährt. Wenn jemand infolge der Chemotherapie des Lebens müde
wird, dann wird ihm ein Fatigue-Syndrom diagnostiziert, das dann medikalisiert werden kann. Der
Einsatz von Antidepressiva hilft im nächsten Schritt, die Folgen chemischer Eingriffe in den Organismus zu nivellieren.
Schon ziehen sich gerade die Engagiertesten zurück, weil sie in den Debatten, die geführt werden, nichts
mehr erkennen von jenen Motiven, die sie anfangs beflügelten. Ehemalige Pioniere degenerieren zu Lobbyisten in Sachen Sterben und Tod. Die Gefahr droht, dass Sterbeverwalter, Thanatokraten, die Regie über-
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nehmen. In den Gesundheitsämtern und Behörden beginnen sich die Beamten des Sterbens verwaltungstechnisch anzunehmen (Erwogen wird in Deutschland, dass die Gesundheitsämter die Kontrolle über die
Vergabe der Gelder für ambulante palliative Dienste übernehmen: Irgendjemand muss ja definieren, wer
ein palliativer Patient ist, für den man eben eine begrenzte Zeit lang Geld ausgibt).
Ein Blick zurück ist notwendig: Die Vision des Anfangs war eindeutig. Das Ziel der Hospizbewegung bestand
darin, Menschen ein Sterben in Würde und Individualität zu ermöglichen (to die in dignity and character).
Das war eine eindeutige Opposition gegen die Hospitalisierung des Sterbens. In den Krankenhäusern wusste man mit Komatösen und Austherapierten nichts anzufangen, sie wurden irgendwo abgestellt. Es war ja
nichts mehr zu machen. Sterbende hatten im Krankenhaus, das Heilung versprach, eigentlich nichts zu suchen. Das hat sich geändert. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat im Rückblick auf ihr Lebenswerk gesagt, sie sei stolz darauf, den Tod von der Toilette geholt zu haben.
Die Hospizbewegung war ja zu Beginn eine gesellschafts- und medizinkritische Kraft. Sie übte berechtigte
Kritik an der atemlosen intensivmedizinischen Lebensverlängerungsideologie. Es gab und gibt hier oft immer noch kein Innehalten. Die Frage, was passiert, wenn alles nichts nutzt, durfte nicht gestellt werden.
Die systematische Verleugnung des Sterbens ließ den Tod tatsächlich als peinliches Missgeschick, als eine
Art Betriebsstörung, als statistischen Ausreißer in den Forschungsreihen der Medizin erscheinen. Ein Zwischenfall eben.
Der Hospizbewegung gelang es erfolgreich, Sterben und Tod und Trauer aus dem nebulösen und peinlichen
Umschweigen in die gesellschaftliche Öffentlichkeit zu stellen. Das Dethematisierte wird thematisiert, Unaussprechliches ausgesprochen, Gefühle wurden denkbar, Gedanken fühlbar.
Der andere Pol, der durch die Hospizbewegung angestoßenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
mit dem Sterben, entwickelte sich in der Abgrenzung zu den Gesellschaften in Europa, die auf Euthanasie
als eine Möglichkeit gesetzt haben. Bei den Befürwortern der Euthanasie hatten sich Menschen organisiert, die nicht zuletzt auf dem Hintergrund der rasanten Erfolgsgeschichte der Intensiv- und Transplantationsmedizin, der technikintensiven Apparatemedizin, den Verlust von Würde und Menschlichkeit beklagten
und die Entmündigung durch den Paternalismus der Medizin. Im Widerspruch dazu forderten sie die Freiheit für ein selbstbestimmtes Sterben, die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Man suchte nach Wegen,
ein als menschenunwürdig betrachtetes Leben würdig, d.h. selbst oder mit fremder Hilfe zu beenden. Bis
heute führt die Euthanasiebewegung zu politischen Bemühungen in Europa, die aktive Sterbehilfe zu entkriminalisieren. Erst jüngst titelte der Stern in bewusster visueller und textlicher Anlehnung an die 1972
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erschienene Titelgeschichte „Wir haben abgetrieben“, die bekanntlich zu einer Novellierung des §218
führte: „In Würde sterben. Zwölf schwer kranke Menschen erzählen, weshalb sie dafür ins Ausland fahren
müssen. Sie fragen: Warum wird Sterbehilfe in Deutschland nicht erlaubt?“ (Stern Nr. 48 vom23.11.2006).
Die Diskussion hat erst begonnen. Es mehren sich die Anzeichen, dass in ein paar Jahren die Euthanasie als
ein Dienstleistungsangebot in vielen Ländern Einzug gehalten haben wird. Man kann dann wählen, weil das
marktgesellschaftliche Muster ohnehin unser Leben bestimmt. Man kann ja sowieso immer und alles wählen. Das Lebensmuster, die Partner, die Kinder, ihre Zahl und ihr Geschlecht, den Beruf, den Wohnort. Warum sollte man nicht auch die Art und Weise seines Lebensendes wählen? Das Grundelement unserer Existenz ist die Wahl zwischen Angeboten, und diese Wahlmöglichkeit will sich nun auch im Bereich „Lebensende“ durchsetzen. Der „flexible Mensch“ von dem Richard Sennett spricht, steht unablässig unter dem
Zwang, sein Leben zu gestalten, nun also auch sein Ende. Der Segen der Freiheit hat sich in den Fluch des
Gestaltungszwangs gewandelt. Die monadenhafte und fensterlose Autonomie, die ins unerträgliche gesteigerte Zumutung der Selbstbestimmung, kehrt sich um in die Überforderung, Alles unablässig selbst entscheiden zu müssen, sogar das Lebensende.
Die nächste Generation beobachtet die Älteren übrigens genau. Die Finanzbuchhalter im Gesundheitsbereich und Krankenhausökonomen rechnen vor, wie teuer man ist, wie kostspielig die letzten Wochen und
Monate für das System sind. Immer lauter kann man einen Singsang hören, der darauf hinausläuft, dass
man sich als überflüssig empfinden soll, wenn man nicht mehr leistungsfähig ist und sich bitte selbst als
Sparopfer auf den Altar legen möge, und dann eigenhändig den Wunsch nach Selbstabschaffung zu formulieren.
Der Europarat hat die Euthanasiediskussion schon drei Mal auf die Tagesordnung gesetzt und drei Mal
wurde die Debatte abgesetzt: Man befürchtete, dass die Bereitschaft, Euthanasie europaweit zuzulassen,
schnell eine Mehrheit finden werde. Bisher kann man eher eine Zustimmung in den Ländern protestantisch-calvinistischen Ursprungs erkennen, während in den katholisch geprägten Regionen wie in Bayern
und Österreich, die Hospizbewegung starken Zuspruch hat und die Ablehnung der Euthanasie konstitutiv
ist.
Die Erfolgsgeschichte der Hospizidee ist angesiedelt zwischen diesen beiden Polen, zwischen dem Eintreten
für sterbende Menschen und ihre Angehörigen und der Kritik an Verhältnissen, die menschwürdiges Sterben unmöglich machen. Der Bau eigener Häuser, der stationären Hospize, war ja letztlich das skeptisch-
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resignative Signal, dass in den herkömmlichen Organisationen ein "gutes Sterben“ wohl nicht möglich sei.
Architektur gewordene Kritik am Status Quo. Auf der anderen Seite wurde der aktiven Euthanasie in der
Hospizbewegung immer eine klare Absage erteilt. Das war das Credo der Hospizbewegung.
Zunächst hat sich die Hospizbewegung die Kritikfähigkeit abkaufen lassen. Der Vorgang erinnert an die Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Schuster. Der Schuster sitzt bei seiner Arbeit im Keller und
singt den ganzen Tag vor sich hin, heiter und vergnügt. Das stört den Reichen beim Geldzählen. Er bietet
dem Schuster an, gegen eine große Summe Geldes auf sein Singen zu verzichten. Der Schuster tut es, wird
unglücklich und gibt schließlich dem Reichen das Geld zurück.
Die Hospizbewegung hat die Kritikfähigkeit, die Freiheit und Unabhängigkeit, das eindeutige Eintreten für
die Schwachen und Lobbylosen weitgehend preisgegeben, fasziniert von der Möglichkeit, im Festsaal der
Macht mit am Tisch zu sitzen und im Schweinwerferlicht der Öffentlichkeit Erfolg und Ansehen zu haben.
Endlich wird gesetzlich und finanzpolitisch honoriert, was bis dato nicht in den gängigen Währungseinheiten der Gesellschaft verrechenbar war. Der Kapitalismus als Religion der Moderne (Walter Benjamin) hat
auch die Hospizbewegung erreicht und droht sie aufzufressen. Natürlich nicht im Sinne der Selbstbereicherung, aber im Sinne des Aufbaus starker Organisationen und einflussreicher Lobbys, kurz der Unterwerfung
unter den mainstream
Das Ziel der Hospizbewegung hat sich still und heimlich, im Grunde unheimlich, verändert. Heute sind als
Ziele der Hospizbewegung ein Sterben mit Lebensqualität und in Schmerzfreiheit ausgewiesen. Damit besteht die Gefahr, dass die Hospizbewegung endgültig in die prestige- und finanzstarke Dynamik der Medizin und Pharmaindustrie gerät. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz, der Dachverband der deutschen
Hospizbewegung, setzt sich seit Jahren u.a. für die Förderung der Palliativmedizin ein. Darunter leidet die
Aufmerksamkeit für die Palliativpflege und die palliative Seelsorge. Das wird ihr aber von Seiten der Ärzteschaft nicht gedankt. Auf der medizinischen Seite ist die Absicht klar: Es geht um die Integration der
Hospizbewegung in die Schuldmedizin (so der langjährige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin). Dieser Inhalationsvorgang, diese tödliche Umarmung, ist im Gange.
Das neue Fach im Kanon der medizinischen Fakultäten, die Palliativmedizin, mobilisiert nicht nur Stiftungsgelder und Lehrstühle, Forschungsmittel und Karrierewege, es definiert auch neu, um was es im Sterben
geht und kann mit Unterstützung rechnen. Die Mutation der Hospizidee in das gegebene Wissenschaftssystem der Gesellschaft ist schon geglückt.
Seit 40 Jahren gibt es nämlich keine Bemühungen, die
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Hospizarbeit in eigener Weise akademisch zu verorten. Die Hospizbewegung gerät in die Versuchung, die
moderne Ratlosigkeit im Umgang mit Sterben und Tod kurzerhand in technische und sozialtechnische Fragen umzuwandeln, um so der Ratlosigkeit zu entkommen. Begriffe, die neuerdings in diesem Umfeld – der
Versorgung am Ende des Lebens - auftauchen, lassen die Gefahr ahnen: Da ist mancherorts heute ebenso
vom „Sterbemanagement“ die Rede wie von „qualitätskontrolliertem Sterben“, von Symptom- und
Schmerzkontrolle, von „total pain management“ usw. Man muss vermuten, dass, wer so redet, seine eige-
nen Ängste in technischen Abläufen zum Schweigen bringen möchte. Sterben die Patienten qualitätskontrolliert, als Teil eines Forschungs- und Betreuungsprojektes, kann man beruhigt konstatieren, dass sie
noch einen Nutzen für das Allgemeinwohl gebracht haben, für die Zukunft der Menschheit. Die männlich
dominierte Palliativmedizin ist ein Teil der Hochleistungmedizin, sie braucht die Anerkennung der schuldmedizinischen Kollegen, sie betreibt Standespolitik. Eine Hospizbewegung, die diese Dynamik nicht kritisch
betrachtet, gibt sich selber auf. Die Themenführerschaft ist ihr verlorengegangen, jetzt ist körperliche
Schmerzfreiheit das wichtigste Ziel im Sterben. Jahrhundertelang hatten Menschen am Ende des Lebens
andere Themen und Sorgen als total pain management. Schmerzen waren weniger wichtig als die Erschütterung über die begrenzte Lebenszeit, oder angesichts der bewegenden Fragen: Was ist mit den Menschen, die ich zurücklasse? Wie geht es mit mir weiter?
Die Ökonomisierung des Sterbens hat verschiedene Facetten. Zunächst geht es darum, die Dienstleistungen im Sinne der Hospizbewegung zu refinanzieren. Dazu wurde in der Vergangenheit ein bemerkenswerter Lobbyismus an den Tag gelegt. Politik funktioniert eben so, dass man in Berlin ist, dass man die Spiele
der Macht und die Einflussnahme für die zweifelsfrei gute Sache nutzt. Dass man bei Gesetzesvorlagen die
entsprechenden Parteien „informiert“ und antichambriert.
Die Hospizbewegung lebt ursprünglich aus einer zutiefst demokratischen Vorstellung. Würdiges Sterben ist
keine Geldfrage, darf nichts damit zu tun haben, ob jemand reich oder arm ist. Über Spenden, viel Phantasie und Einsatz, in einem unvorstellbaren großen zivilgesellschaftlichen Engagement gelang es, Gelder zu
mobilisieren, um jedem Menschen ein gutes Sterben zu ermöglichen. Diese Revolution wird jetzt gestoppt
und konterkariert. Grundlage sind nun die Beitragssätze der Krankenkasse. Die Gefahr ist, dass daraus ein
Sterben in verschiedenen Klassen folgt. Die Luxusklasse des Sterbens haben im Augenblick die Kinder gebucht.
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Leider sterben auch immer wieder Kinder. Von den etwa 80.000 Menschen, die jährlich in Österreich sterben, sind es etwa 0,1 Prozent. Zahlen bedeuten hier nichts. Schrecklich die Schicksale, die emotionalen und
sozialen Beben, die das Sterben eines Kindes auslösen kann. Einige dieser Kinder sterben langsam und
vorhersehbar an Krebserkrankungen, andere an unheilbaren Stoffwechselerkrankungen. Das Entsetzliche
und gleichzeitig Erschütternde ist, dass diese Kinder sterben, obwohl sie scheinbar nicht gelebt haben. Sie
sind die Zukurzgekommenen, jedenfalls aus der Sicht der anderen. Kann ein Kind lebenssatt sterben? Oder
teilen uns manche leidenden Kinder mit: Ich kann nicht leben? Und wäre diese Mitteilung zu respektieren?
Seit den Anfängen der Hospizbewegung wird immer wieder beobachtet und berichtet, dass Kinder eine
Größe und Reife in ihrem frühen Sterben entwickeln können, die tief beeindruckt. Es gibt auch das Gegenteil. Und darüber hinaus zerbrechen Ehen am Sterben der Kinder, Geschwister werden krank, Mütter fühlen sich schuldig, Familien verstummen und ersticken im Leid oder in der Atemlosigkeit des Davonlaufens,
meistens der Väter. Dies ist eine Frage an Freunde, Nachbarn und Ehrenamtliche aller Provenienz, die mit
dem Satz: Einer trage des anderen Last“ etwas anfangen können. Es geht darum, sich mit der Last der anderen zu belasten und seine eigene Belastbarkeit zu spüren, seine eigene Fähigkeit zum Mitzufühlen und
zur Mitleidenschaft, zum Verschenken von Zeit zu erfahren. Manchmal reicht es schon, einfache Unterstützungen, kleine Alltagshilfen anzubieten.
Ein führender deutscher Onkologe (Pädiater an einer Universitätsklinik) sagte neulich: „Das Schwere ist oft,
dass die Kinder gehen wollen, loslassen können, keine weitere Therapie wünschen und die Eltern und wir
Ärzte halten dagegen. Wir Erwachsenen verbünden uns gegen die Kinder, mit dem Argument, ihnen helfen
zu wollen, die eigentlich eine andere Hilfe brauchen als Operationen, Chemotherapien, Strahlentherapien,
von denen sie müde und mürbe geworden sind.“
Eine bemerkenswerte Einsicht. Was brauchen Kinder? Brauchen sie Hospize? Es gibt sie und es wird sie
geben, überausgestattet, mit der Gefahr behaftet, kleine Legoländer, konsumistische Spielzeugparadiese
zu werden. Es wiederholt sich das Elend der Kinderzimmer im Hospiz: Kinderzimmer, die ja heute im Allgemeinen wie Plastikmüllhalden aussehen. Und das Elend kehrt im Hospiz wieder und gibt sich als Teilhabe
am Leben aus. Spielzeuggeschäfte ausgeleert in Kinder- Sterbeparadiesen, in denen es alles gibt, was Erwachsene glauben, dass es ein sterbendes Kind glücklich machen könnte. Wer wäre nicht bereit zu spenden, für diese armen kranken Kinder?
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Aber: Der Spendenmarkt ist begrenzt. Es wird gesamtgesellschaftlich nicht beliebig viel gespendet. Spenden hat eine Logik. Das wissen diejenigen fundraiser, die auf das Herbeischaffen von Geld spezialisiert sind.
Für ein zweijähriges sterbenskrankes, kahlköpfiges Kinder lässt sich leichter werben und Geld mobilisieren
als für eine alte, kranke, verwirrte, arme und einsame Frau, die in einem Pflegeheim ihrem Ende entgegen
dämmert. Die Alten sind nicht nur schon sozial gestorben, sie werden auch noch einmal ökonomisch ausgegrenzt, finanziell verachtet.
Braucht es Häuser, die von prominenten Schirmherrinnen, eröffnet werden, für viele Millionen gut ausgestattete Schmuckstücke. die in der Gefahr sind, zu Sterbegefängnisse für die Geschwister zu werden, die
lernen müssen, ihre Ferien dort zu verbringen, weil die Schwester oder der Bruder sterben? Werden da die
Geschwister in „Sterbehaft“ genommen? Welches Kind, kann sich dem sozialen und emotionalen Sog des
Sterbens entziehen?
Gegenwärtig rückt die Tatsache immer mehr ins Blickfeld, dass das Sterben in den entwickelten Industriegesellschaften teuer ist. Menschen in ihrer letzten Lebensphase verursachen hohe medizinische Aufwendungen.
In einem Interview im „Standard“, Wien, das Bert Ehgartner mit dem Gesundheitsökonomen Christian Köck
von der Universität Witten Herdecke geführt hat (22.1.2007), ist noch die Scheu davor zu spüren, die Spardiskussion mit der Frage zu verknüpfen, was denn noch lebenswert ist. (Und dahinter taucht natürlich geradezu zwangsläufig die Frage nach dem „lebensunwerten“ Leben auf.).
„Die letzten Tage auf der Intensivstation, wenn der Arzt schon weiß, dass ein Patient nicht überleben wird
und die Patienten schon selbst nicht mehr wollen: da ist enormes Sparpotenzial drin. Das ist eine ganz
dramatische, schwierige Situation, speziell für ein Land wie Österreich, weil es hier um die Frage eines lebenswerten Lebens geht. Trotzdem muss man die Diskussion führen.“ (Seite 20). Das betriebswirtschaftliche Kalkül verschafft sich gerade Zutritt in die Räume, in denen gestorben wird. Die Sterbenden sind ein
Kostenfaktor in der Systembilanz und dieser Kostenfaktor wird immer deutlicher, um nicht zu sagen:
schamloser benannt. Und die Hospizbewegung muss diese Frage mit wachen Augen verfolgen.
Die Gesundheitsreform, die in Deutschland im April 2007 in Kraft tritt, spricht im Hauptsatz von den medizinischen und pflegerischen Leistungen für Sterbende, die nun in ambulanten palliativen Diensten organisiert und bezahlt werden. Im Nebensatz ist von den ehrenamtlichen Diensten die Rede, die auch weiterhin
erbracht werden sollen, kostenfrei oder kostengünstig, aber im Vorhof der medizinisch-pflegerischen Tä-
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tigkeit. Das zeigt die Richtung an. Erstens: Am Sterben wird künftig gespart. Zweitens: Die Ehrenamtlichen
dürfen eine unscheinbare Nebenrolle spielen, weil sie kostenmindernd wirken.
Hippokrates wusste noch, dass der Arzt sich zurückziehen muss, wenn die Anzeichen des Todes zu erkennen waren, sein Rückzug ermöglicht den Auftritt und Zutritt der Familie und Freunde. Wir haben heute
Bilder entwickelt, dass das Sterben nicht sein darf, der Tod hinausgeschoben werden muss, wir tun uns
schwer zu sagen und zu entscheiden: Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe genug Zeit für mich gehabt und
jetzt habe ich Zeit für andere. Wir warten immer darauf, dass noch etwas kommt. Die unersättliche Lebensgier, an der wir alle teilhaben, macht es schwer, dem Ende mündig und würdig entgegenzusehen.
Die Hospizbewegung ist eigentümlich defensiv. Sie bemüht sich um die Anerkennung durch die Palliativmedizin, imitiert die Standardsüchtigkeit der Medizin und ist sich zugleich nicht bewusst, wie unabdingbar sie
künftig zur Stütze der Gesellschaft werden kann, die nach dem Sozialstaat und nach der staatlichen Daseinsfürsorge kommt. Wenn sie sich damit begnügt, so etwas zu sein wie der clerus minor (der untergeordnete Laienorden) der Palliativmedizin, dann hat sie sich aufgegeben und sie wird in einigen Jahren verschwunden sein oder nur noch dem Namen nach existieren.
Sie muss – will sie überleben - viel stärker das zivilgesellschaftliche Element betonen, sollte es wagen, darüber nachzudenken, wie Gemeinschaftlichkeit und Sozialität aussehen in einer Gesellschaft, die immer
radikaler neoliberal wird und die Risiken des Lebens in das Private zurückverlagert. Zwar ist es wichtig, gegen diesen Versuch der Reprivatisierung der Risiken zu opponieren, aber zugleich gälte es, über den Tellerrand staatlicher Daseinsfürsorge hinauszusehen. Die ungeheure Chance, die darin liegt, mit der
Hospizbewegung von den Rändern der Gesellschaft her – und Sterben ist die exemplarische Randlage –
eine neue Kultur des Helfens zu entwickeln und zu verwirklichen: die wäre wahrzunehmen.
Unser Morgen, erst recht unser Lebensende lässt sich nicht planen, kalkulieren oder rechtlich definieren
und endgültig klären. Das hat Bert Brecht in wunderbare Worte gefasst:
„Ja, mach nur einen Plan, sei ein großes Licht. Und mach dann noch ´nen zweiten Plan. Geh´n tun sie beide
nicht.“1 Unsere Zukunft ist unvorhersehbar und sie lässt sich nicht durch Willenserklärungen für den Fall,
dass wir Möglichkeiten verlieren (durch Demenz, durch ein Wachkoma) planen. Wir brauchen einen Men1
Bertold Brecht: Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens, in: Die Dreigroschenoper, Frankfurt 1968, S. 77.
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schen, der uns kennt, achtet, versteht und in der Lage ist auf neue Situationen, veränderte Rahmenbedingungen, dieses liebend-freundschaftliche Kennen anzuwenden und durchzusetzen. (Ch. Student)
Wir müssen uns riskieren, müssen jetzt Nähe, Vertrauen, Liebe und Freundschaft leben, und was vielleicht schwerer ist - auch annehmen: Die Dinge, die wichtig sind, müssen mit den anderen teilbar sein,
die ich zuerst lieb habe und mit denen ich dann sprechen will.
Dieses Mitteilen braucht einen Rahmen, ist ein convivium, braucht Brot, Wein, eine Suppe, etc. den Austausch und das Teilen, das Mitteilen und ist offen für Dritte.
„Auf diese Weise kann man das Wachsen einer offenen Gruppe befördern, die als Einzelne von der Treue
zueinander bewegt sind und die es wagen, an der Treue auch dann festzuhalten, wenn der andere zu einer
Last wird“ So hat es Ivan Illich formuliert.2
So fing die Hospizbewegung einmal an. Gibt es ein Zurück in die Zukunft?
2
Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft, München: Beck 2006 174f.
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Komplexe Dilemmata bei Entscheidungsprozessen
am Lebensende
Hilfe und Unterstützung durch Kooperation und Vernetzung
Arbeitsgruppen
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Vernetzungssysteme im ambulanten Bereich
Friedhelm Menzel
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Ethikberatung in der stationären Altenhilfe
Vorstellung des Frankfurter Ethik-Projektes
Timo Sauer / Martin Trost
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Ethikvisite – Ein erster Türöffner für ethische Fragestellungen?
Konzept der Ethikvisite für Aus- und Fortbildung
Walter Ulrich / Dr. Frank Hofmann
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Ethische Entscheidungen in der Betreuungspraxis
Dr. Arnd T. May / Brunhilde Ackermann
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Ethische Entscheidungen in der Betreuungstätigkeit
Einleitung
Die Tätigkeit im Betreuungswesen ist geprägt von Entscheidungen für Menschen, die diese Entscheidungen
aktuell selbst nicht mehr treffen können. Der Betreuer muss die Wünsche des Betreuten berücksichtigen,
soweit sie seinem Wohl nicht zuwiderlaufen. Betreuer müssen sich mit ihren eigenen Wertvorstellungen
auseinandersetzen und Kompetenzen in ethischem Argumentieren besitzen.
Grundzüge des Betreuungsrechts
Das staatliche Verfahren der Betreuung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches unter Aufsicht des Betreuungsgerichts enthält als zentrale Vorschrift im Betreuungsrecht die Bestimmung des § 1896 I 1 BGB:
„Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“ Die Grundsätze der Erforderlichkeit und Subsidiarität nach § 1896 II 2 BGB sind prägendes Merkmal des Betreuungsrechts3. Nach dem
Subsidiaritätsgrundsatz in § 1896 I, II BGB entfällt die Bestellung eines Betreuers, wenn andere, ebenso
gute, Hilfen vorhanden sind oder der Betroffene selbst durch eine Vorsorgevollmacht vorgesorgt hat. Diese
„ebenso guten“ Hilfen entfalten stets nur solange Wirkung, wie der Rechtsverkehr „vollmachtloses Handeln der freiwilligen Helfer akzeptiert“4. Die Einrichtung einer Betreuung ist nachrangig. Das Betreuungsgericht stellt die Notwendigkeit einer Betreuung fest
Der Betreuer als Interessenvertreter des Betreuten muss die individuelle Sichtweise des Betreuten unter
Berücksichtigung der Lebensumstände und dessen grundsätzlichen Wünschen und Werten respektieren.
Paragraph 1901 III 3 BGB fordert, dass der Betreuer wichtige Angelegenheiten mit dem Betreuten bespricht, bevor er sie erledigt, sofern dies dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderläuft. Durch dieses ausführliche Gespräch kann das individuelle Wertesystem und das Konzept des Guten ermittelt werden und
als Grundlage für zukünftige Behandlungsentscheidungen und andere Entscheidungen dienen. Besprechen
3
Vgl. Langenfeld A: Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patiententestament nach dem neuen Betreuungsrecht
1994
4
Schmidt G, In: Schmidt G, Böcker F, Bayerlein R, Mattern C, Schüler M: Betreuungsrecht in der Praxis 1999, § 1 Das
Verfahren in Betreuungssachen, Rdnr. 16
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bedeutet ein Informieren des Betreuten über den Stand der Angelegenheiten, die möglichen Maßnahmen
und Absichten des Betreuers, sowie ein Gespräch mit dem Betreuten mit dem Ziel, seine Vorstellungen,
Wünsche und Werte zu ermitteln
Neben den verfügbaren Fachkenntnissen muss ein Betreuer auch über Weisheit und Klugheit verfügen,
die über die Sachebene hinausgeht. Diese Klugheit umfasst Erkenntnis und die Entschlossenheit zur Umsetzung des erkannten Richtigen. Neben der Klugheit muss der Betreuer eine gewisse Treffsicherheit
und Intuition entwickeln. Neben der Sachkompetenz muss ein Betreuer über Selbstkompetenz5 verfügen.
Autonomie und Fremdbestimmung
„Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Menschen“6 – so beginnt der Abschlussbericht vom 10. Juni
2004 der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesministeriums der Justiz. Das
auch am Ende des Lebens geltende Selbstbestimmungsrecht schützt Menschen vor Fremdbestimmung.
Spätestens seit der Aufklärung kommt der Selbstbestimmung des Menschen eine zentrale Bedeutung zu.
Immanuel Kant hatte Selbstbestimmung in einer langen Traditionslinie erstmals 1784 programmatisch
verwendet und zugleich Autonomie zum Grundbegriff philosophischen Denkens erhoben. Das Prinzip der
Selbstbestimmung ist der Freiheitsidee der Philosophie der Aufklärung verbunden. Das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland erklärt zu Beginn in Artikel 1 die Würde des Menschen als unantastbar und
erweitert dies in Artikel 2, welcher die freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt.
Autonomie ist die Fundamentalausstattung und Verfasstheit des Menschen. Selbstbestimmung stellt die
aktive Manifestation der Autonomie dar. Selbstbestimmung ist die Fähigkeit des Menschen nach eigener
Einsicht zu handeln. Ein autonomer Mensch kann selbstbestimmt handeln, muss es aber nicht.
Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kommt im Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung (informed
consent) zum Ausdruck. Für ein gelungenes Arzt-Patient Verhältnis ist die Einwilligungsfähigkeit des Patienten erforderlich. Der einwilligungsfähige Patient ist Gesprächspartner für die Aufklärung vor einer medizi-
5
Vgl. Oberloskamp H, Schmidt-Koddenberg A, Zieris E: Hauptamtliche Betreuer und Sachverständige. Ausbildungs-
bzw. Anforderungsprofil im neuen Betreuungsrecht 1992, 123
6
Bundesministerium der Justiz (2004), S. 6
65
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nischen Versorgung. Dabei steht es dem Patienten zu, dem Therapievorschlag zuzustimmen oder die Einwilligung in die Therapie zu versagen. Die ärztliche Fürsorge hat ihre Grenze an der Ablehnung einer Behandlung durch den einwilligungsfähigen Patienten. Das Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung als Ausdruck der Selbstbestimmung des Patienten garantiert auch unkonventionelle Wertentscheidungen des
einwilligungsfähigen Menschen. Die individuelle Bewertung einer Entscheidung als vernünftig oder unvernünftig geschieht vor dem Hintergrund der persönlichen Wertvorstellungen.
Für die Vornahme eines Eingriffs, Untersuchung oder weiterer medizinischer Behandlungen ist dazu die
Einwilligung des entscheidungsfähigen Patienten erforderlich. In der Situation der Äußerungsunfähigkeit
fehlt dem behandelnden Arzt ein Ansprechpartner. Wenn rechtsverbindliche Erklärungen oder Entscheidungen gefordert sind, können weder der Ehepartner noch der Lebenspartner und auch nicht die Kinder
den einwilligungsunfähigen Patienten vertreten. Der Patient kann für diesen Fall Vorsorge treffen durch die
Erteilung einer Vorsorgevollmacht oder die Erstellung einer Betreuungsverfügung.
Ethische Begründungsansätze
Die Eingriffe in „natürliche“ Prozesse mit bislang unbekannten Gestaltungsmöglichkeiten führen zur Frage, ob alles Mögliche auch erlaubt sein sollte. Der Philosoph Hans Jonas erinnerte 1984 an das „Prinzip
Verantwortung“. Die Verwendung des Begriffs der Bioethik zur Kennzeichnung der in diesem Zusammenhang nötigen Bemühungen ist in Deutschland nicht einheitlich, da teilweise damit utilitaristische
Positionen verbunden werden. Bioethik versteht sich als Auseinandersetzung mit moralischen Fragestellungen der Biowissenschaften mit dem besonderen Fokus auf Biomedizin, Biotechnologie und Ökologie.
Der Fokus auf menschlichen Eingriffen und Eingriffsmöglichkeiten in Lebensprozesse weitet die Perspektive auf Lebenswissenschaften und tierethische Fragen hin aus. Die Abgrenzungen bleiben unscharf. Die
Begriffswahl einer biomedizinischen Ethik impliziert einen besonderen Schwerpunkt medizinethischer
Fragen.
Medizinethik wiederum ist nicht allein Arztethik, wobei ein Blick auf das Selbstverständnis ärztlichen
Handelns die Bedeutung des traditionellen Rollenverständnisses für die Gegenwart verdeutlicht. Zur
Patientenversorgung gehören nicht allein medizinische Experten, sondern auch pflegerisch Tätige, Seelsorger, Sozialarbeiter und weitere Experten. Ärzten kommt in diesem Kontext die Rolle der Interpretation der Beschwerden und Symptome des Kranken und der Vorschlag für weitere Diagnostik und Therapieverfahren zu.
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Die Patientenethik nimmt Abwägungen zwischen Lebensqualität und Gesundheitsrisiko vor. Das Modell
der Verantwortungspartnerschaft bildet die Klammer für Compliance und Selbstverantwortung und fordert Informationsrechte und –pflichten, die Beteiligung an Präventionsmaßnahmen und Solidarität.
Medizinethik beschreibt keine Sonderethik, sondern eine Ethik vielfältiger besonderer Situationen. Diese
„angewandte Ethik“ oder im eigentlichen Sinne „medizinische Ethik“ kann aber nur teilweise als philosophische Disziplin bezeichnet werden. Medizinethik wird als ethische Reflexion auf bestimmte Themen
im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem verstanden. Der Gegenstandsbereich der Medizinethik
übersteigt die ärztliche Perspektive auf Wertfragen im medizinischen Handeln und umfasst Fragen des
Gesundheitswesens. Medizinisches Handeln besitzt Komponenten der Reflexion zu weltanschaulichem,
politischem, moralischem und ökonomischem Bewusstsein. Konzepte des Krankheitsbegriffs mit der
Ausdifferenzierung in individuelle, am Gemeinwesen oder am medizinisch-professionellen Handeln orientierte Ansätze müssen auf ihre Auswirkungen auf die Selbstbestimmung des Patienten überprüft werden.
Eine solche umfassende Sichtweise findet sich in einschlägigen Stellungnahmen bestätigt. Für Klaus
Steigleder sind Gegenstände der Medizinethik „die Medizin als Wissenschaft und Praxis sowie insgesamt
die gesellschaftlichen Maßnahmen und Vorkehrungen, Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen,
Krankheiten vorzubeugen, Verletzte und Kranke zu versorgen sowie Schmerzen zu lindern“7.
Als Voraussetzungen für die gegenwärtige „westliche“ Medizinethik führt Bettina Schöne-Seifert an: 1.
Verfügbarkeit zunehmend vieler medizinischer Eingriffsmöglichkeiten, 2. wachsende Pluralität der Lebensstile und Moralauffassungen innerhalb der Gesellschaften, 3. Verlust moralischer Autorität und
Unanfechtbarkeit von Ärzten und Forschern allein kraft ihrer Profession8.
Der Beruf des Arztes ist durch Handeln und Aktion geprägt, nicht durch Zuschauen und Kontemplation.
Aktives Handeln ist durchgängiges Muster der Arztethik in allen Kulturen und wird als solches auch von
Patienten und medizinischen Laien erwartet und nachgefragt. Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbereitschaft, auch bis hin zur Selbstaufopferung, wird in Tugendkatalogen für Ärzte gefordert und durch historische Beispiele vorbildlicher Ärzte dokumentiert. Ärztliches Handeln aber ist nicht blinder Aktionismus,
nicht Handeln um des Handelns willen, sondern gebunden an den Heil- und Hilfsauftrag zum Wohle des
7
Steigleder, Klaus: Moral, Ethik, Medizinethik, in: Schulz, Stefan; Steigleder, Klaus, Fangerau Heiner, Paul, Norbert (Hg.): Geschichte, Theorie
und Ethik der Medizin, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 24
8
Schöne-Seifert, Bettina: Medizinethik, in: Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre
theoretische Fundierung, 2. Auflage 2005, Stuttgart: Kröner, 693
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Patienten, dessen, der sich ihm anvertraut hat oder für den er Verantwortung übernommen hat.
Das sich durch die Arzttraditionen aller Kulturen hinziehende Grundprinzip des aegroti salus suprema lex,
der Orientierung am Wohl des Patienten gibt dem ärztlichen Handeln das primäre Ziel vor; es ist absolutes
Gebot und schließt andere Primärziele aus. Ärzte sollen ihre medizinischen Kenntnisse nicht zum Töten
oder Foltern ausnutzen. Die professionelle Zufügung von Schmerzen, die Entwicklung von Foltermethoden
und deren Überwachung fällt in allen Arztkulturen unter absolutes Verbot. Auch das Töten ungeborenen
oder sterbenskranken Lebens ist in den meisten Kulturen unter dieses absolute Unterlassungsgebot gestellt.
Innerhalb dieses Rahmens von aktivem Handeln und Grenzen dieses Handelns erst entsteht die Spannung
zwischen Behandlungsgebot und Behandlungsverzicht als Konflikt in der ärztlichen Intervention. Die Ziele
des Handelns können und müssen unterschiedlich sein, situativ angesichts des Krankheitsgeschehens und
angesichts des Wunsch- und Wertbildes des Patienten. Sowohl Handeln als auch Unterlassen müssen verantwortet werden.
Die neuere Arztethik orientiert sich in der Beantwortung der Frage nach dem Umfang und den Grenzen des
Behandlungsgebots mit Recht am Wert- und Lebensbild des Patienten, nicht am Imperativ des Möglichen;
Ausnahmen gelten für die Vitalindikation der Lebensrettung, in der keine Zeit für die Ermittlung des Patientenwunsches gegeben ist, oder bei unklarer Informationslage über Inhalt und Umfang des zu bestimmenden „Wohl“ des Patienten, - in dubio pro vita. Wurde traditionell das Wohl des Patienten paternalistisch
vom behandelnden Arzt festgestellt und entsprechend behandelt, so ist es heute zur Qualitätsnorm ärztlicher Ethik geworden, dieses Wohl aus dem Wunsch oder Interesse des Patienten abzuleiten oder zumindest Handeln und Tun nicht gegen das Wunsch- und Wertbild des Patienten zu bestimmen, - salus ex
voluntate suprema lex, Bestimmung des Wohls aus dem individuellen Wunsch- und Wertprofil des Patienten als oberstes Gebot.
Es wird zwischen Moral und Ethik unterschieden. Unter Moral versteht man die moralischen Normen, Prinzipien oder Werte und moralischen Dispositionen, Haltungen oder Charakterzüge, die wir als richtig und
wichtig anerkennen bzw. die in einer Gesellschaft gelten.
Ethik ist die theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen der Moral. Ethik lässt sich dann verstehen als
eine Theorie der Moral. Sie ist eine philosophische oder auch theologische (theologische Ethik) Disziplin.
Als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich unter anderem mit der theoretischen Reflexion der gelebten
Moral.
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Für Vertreter einer deontologische Ethik sind bestimmte Handlungen um ihrer selbst willen und kategorisch verboten, also intrinsisch falsch.
Konsequentionalistische Ethiken erkennen als einzige richtig- oder falsch-machende Eigenschaft von Handlungen deren kausale Folgen für alle direkt oder indirekt von dieser Handlung Betroffenen an. Um Theorien
dieses Typs vollständig zu machen, muss das Grundtheorem immer noch durch eine Theorie der relevanten
guten und schlechten Folgen (im klassischen Utilitarismus: Freude und Leid) und durch eine Verrechnungsanweisung (im klassischen Utilitarismus: Maximierung der interpersonellen Nutzensumme) ergänzt werden.
Im der persönlichen Entscheidungsverhalten kommt meist ein situativ unterschiedliches Abwägen vor, in
welches dann unterschiedliche ethische Begründungsansätze einfließen. Für diese Konfliktbewältigungsstrategien sind die vier Prinzipien von Beauchamp/Childress oft von hoher Plausibilität.
Individuelle Konzepte gelingenden Lebens und deren medizinrechtliche Ausprägung
Der Paradigmenwechsel im Arzt-Patienten-Verhältnis kommt in dem Anerkenntnis des Vetorechts des
Patienten gegen einem Therapievorschlag des Arztes am deutlichsten zum Ausdruck. So wohlmeinend
und von der Sinnhaftigkeit des Therapievorschlages überzeugt ein Arzt sein mag, so entbindet ihn das
nicht von der Notwendigkeit des Einholens der Zustimmung des Patienten, wenn die Therapie nicht als
Körperverletzung bewertet werden soll.
Ausdruck der Selbstbestimmung des Patienten ist die Notwendigkeit zur Zustimmung, Einwilligung zu
einem Therapieangebot nach erfolgter Aufklärung. Die zwangsweise Durchführung von medizinischen
Experimenten ohne Aufklärung und/oder Zustimmung des Patienten hat den Blick für die Notwendigkeit
der Zustimmung zu einem Therapieangebot geschärft.
Medizinethische Prinzipien mittlerer Reichweite zur Positionsbestimmung
Ethische Theorien reflektieren Entscheidungen von Akteuren. Im Bereich der Bio- und Medizinethik sind
eine Reihe von Ansätzen der Strukturierung und Lösung ethischer Probleme in der Diskussion. Es hat sich
keine klassische Theorie der Moralphilosophie durchsetzen können und angesichts des gesellschaftlichen
Wertepluralismus wird häufig auf die Notwendigkeit der Vielfalt von Begründungsansätzen hingewiesen.
69
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In Wahrnehmung der unterschiedlichen Begründungsansätze für Medizinethik stellen die beiden amerikanischen Medizinethiker Tom L. Beauchamp und James F. Childress erstmalig 1979 vier Prinzipien mittlerer Reichweite vor, die als normative Leitgedanken von vielen Menschen geteilt werden, obwohl sich
diese auf eine einzige Moraltheorie nicht einigen werden können.
Die Prinzipien mittlerer Reichweite 1. Respekt vor Selbstbestimmung (autonomy), 2. Nicht-Schaden
(nonmaleficence, primum nil nocere), 3. Gutes tun (beneficence, bonum facere, Hilfsgebot) und
4. Gerechtigkeit (justice)9 nach Beauchamp / Childress sind mit dem Begriff „Georgetown-Mantra“ nach
der von Jesuiten 1789 gegründeten katholischen Georgetown University in Washington D.C., USA gekennzeichnet worden, da Beauchamp / Childress zur Zeit der Veröffentlichung in Washington lehrten
und die vier Prinzipien die medizinethische Diskussion dominierten.
Die vier Prinzipien von Beauchamp / Childress stellen den ersten Versuch einer systematischen Analyse
jener Prinzipien dar, die das breite Spektrum der Entscheidungen in der Biomedizin abdecken können
sollen10. Respekt vor der Selbstbestimmung, Nichtschadensgebot, Gutes tun und Gerechtigkeit spiegeln
die angeblich universalistischen Prinzipien wider. Beauchamp / Childress kombinieren mit ihren vier
Prinzipien die „common morality“, eine Moralität, die von allen rational moralisch reflektierenden Menschen geteilt wird, und medizinische Tradition zu einem kohärenten Paket11. „Common morality“ bindet
jeden zu jeder Zeit und basiert auf einer universalistischen, kulturübergreifenden Basis12 durch den
Rückgriff auf transnationale Menschenrechte13. Die Prinzipien sind auf der einen Seite „prima facie“ generell bindend, aber auch „Gegenstand der Überprüfung“14. Die Prinzipien unterliegen einer individuellen Prüfung, sie stehen je nach Fall auch zur Disposition. Es findet so eine Verschiebung der Moralität
von einem imperativen Moralverständnis von prinzipiellen Vorgaben zu intersubjektiven Setzungen
statt. Die normative Bindung der medizinethischen Prinzipien an das Wohl des Patienten (salus aegroti
suprema lex) und Selbstbestimmungsrecht des Patienten (voluntas aegroti suprema lex) besteht in der
Binnenperspektive ärztlichen Handelns. In der konkreten Entscheidungssituation muss eine gegenstandsbezogene Abwägung der vier Prinzipien vorgenommen werden, wofür detaillierte Fragelisten und
Strukturinstrumente wie der „Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis“ (1988) oder die
„Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechungen“ vorgestellt wurden.
9
Vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 2001, 12-13
10
Vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 1979, xi
11
Vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 2001, 23
12
Vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 2001, 397
13
Vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 2001, 407
14
Übersetzung des Verfassers: „subject to revision“; vgl. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics 1994, 105
70
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Vor dem Hintergrund pluraler Begründungskonzepte ist das Konzept der medizinethischen Prinzipien
mittlerer Reichweite konsensorientiert und auf den konkreten Einzelfall bezogen. Die weder nur induktiv
noch deduktiv gewonnenen Prinzipien mittlerer Reichweite entfalten für H. Tristram Engelhardt ihre
Relevanz vor allem in einer bestimmten Gesellschaftsform und können die Trennlinie verschiedener Visionen oder unterschiedlicher moralischer Ansichten nicht überbrücken15.
Ethikberatung
Zur Orientierung im Meer der pluralistischen Wertvorstellungen sind neben Fahrrinnen und Leuchttürmen
durch Leitlinien und andere normative Vorgaben in manchen Situationen Lotsen sinnvoll, die sich mit zerfließendem Treibsand moralischer Intuitionen, definitorischen Klippen, begriffsinhärenten Untiefen und
argumentativen Nebelkerzen auskennen.
Zur Ethikberatung in einem diskursiven Verständigungs- und Klärungsprozess kann ein Klinisches EthikKomitee (KEK) fallbezogen eine erhellende Lotsenfunktion haben, die dem Entscheidungsträger die unterschiedlichen Dimensionen darstellen und ihm die Entscheidung und Verantwortung belassen.
Eine strukturierende Funktion bei unterschiedlichen Meinungen und Intuitionen nimmt der Bochumer
Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis von 1988 wahr. Darin wird ausdrücklich die medizinischwissenschaftliche und die medizinisch-ethische Befunderhebung in zwei ersten Schritten nebeneinander
gestellt, weil es (a) für die klinische Befunderhebung bereits eingeübte und gesicherte Modelle und Verfahren gibt, (b) die medizinisch-ethische Befunderhebung sich an dem methodischen Vorbild der klinischen Befunderhebung in Präzision und Sorgfalt orientieren kann, und (c) weil sehr häufig entweder die
klinische Diagnostik oder die ethische Diagnostik in kritischen Fällen zu kurz kommen können. Erst in
einem dritten Schritt werden die Erhebungen aus dem „Blutbild“, dem „Röntgenbild“ und dem
„Wertbild“ zusammengeführt und nach Optionen für eine individualisierte und patientenorientierte Behandlung gefragt.
Konkrete Anwendung: Patientenverfügungen
Nach § 1901 a Absatz 1 Satz 1 BGB (Patientenverfügungen) ist eine Patientenverfügung ein Schriftstück,
in dem ein einwilligungsfähiger Volljähriger festgelegt hat, „ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Fest15
Vgl. Engelhardt HT: The Foundations of Bioethics 1996, 58
71
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legung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung)“.
Die Patientenverfügung muss gem. § 126 BGB schriftlich abgefasst sein und muss eigenhändig unterschrieben werden.
Eine Patientenverfügung gilt bezogen auf die mögliche Reichweite nach § 1901a Absatz 3 BGB unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Patienten.
In der Entscheidungssituation prüft nach § 1901 a Absatz 1 Satz 1 BGB der gesetzliche Betreuer, ob die
Festlegungen der Patientenverfügung auf die „aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen“. Für
den Bevollmächtigten gilt diese Regelung entsprechend.
In der Anwendungssituation einer Patientenverfügung ist zur Umsetzung ein legitimierter Stellvertreter
erforderlich. Diese Person prüft, ob die Patientenverfügung auf „die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation“ (§ 1901 a Absatz 1 BGB) zutrifft. Wenn diese Prüfung keine Willensänderungen ergeben hat und
die „Paßgenauigkeit“ festgestellt wurde, ist ein legitimierter Stellvertreter zur Umsetzung der Patientenverfügung verpflichtet und hat „dem Willen Ausdruck und Geltung zu verschaffen“.
Der Betreuer bzw. der Bevollmächtigte prüfen, 1. ob die vorliegende Patientenverfügung auf die aktuelle
Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, 2. ob sie für diese Situation eine Entscheidung über die anstehende ärztliche Maßnahme enthält und 3. ob sie noch dem Willen des Patienten entspricht.16 Bei der
Prüfung der Patientenverfügung ist nach Ansicht der Initiatoren des Gesetzes einerseits die Aktualität
des Willens zu überprüfen und auch nach Anhaltspunkten zu forschen, ob „die Patientenverfügung durch
äußeren Druck oder aufgrund eines Irrtums zustande gekommen ist“.17 Die Prüfung der Passgenauigkeit
soll alle Gesichtspunkte umfassen, die sich aus der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen ergeben.
Eine in der rechtspolitischen Debatte besonders intensiv diskutierte Phase ist die Situation einer Demenzerkrankung. Bei der Prüfung der Passgenauigkeit und damit der Anwendbarkeit einer Patientenverfügung soll auch das aktuelle Verhalten des einwilligungsunfähigen Menschen beobachtet und überprüft
werden. Dabei sollen konkreten Anhaltspunkte wie z.B. situativ spontanes Verhalten des Patienten gegenüber vorzunehmenden oder zu unterlassenden ärztlichen Maßnahmen anders berücksichtigt werden
als unwillkürliche, rein körperliche Reflexe.
16
17
Vgl. Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008, Bundestagsdrucksache 16/8442, 14 rechte Spalte.
Vgl. Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008, Bundestagsdrucksache 16/8442, 8 rechte Spalte.
72
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Konkrete Formulierungen
Patientenverfügungen müssen, um als solche anerkannt zu werden, auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Nicht als Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Absatz 1 Satz 1 BGB
gelten „allgemeine Richtlinien für eine künftige Behandlung“.
Einer Formulierung wie „Wenn ich einmal dement bin, will ich keine lebenserhaltenden Maßnahmen“
mangelt es an einer hinreichend konkreten Behandlungsentscheidung in einer speziellen Krankheitssituation. Damit haben die Initiatoren des Gesetzes einen „offensichtlich lebensfrohen Demenzkranken“
kommentiert, bei dem das Verhalten in der Krankheitsphase mit der verfassten Patientenverfügung
nicht übereinstimmte.18 Derartige allgemeine Äußerungen sollen als Indiz in die Ermittlung des mutmaßlichen Willens eingebracht werden.
Eine Patientenverfügung im Sinne des §1901 a Absatz 1 BGB ist als Entscheidung über die Einwilligung
oder Nichteinwilligung in eine bestimmte, „noch nicht unmittelbar bevorstehende“ ärztliche Maßnahme
zu unterscheiden von Entscheidungen des einwilligungsfähigen Betroffenen, die sich auf unmittelbar
bevorstehende, „also konkret und zeitnah durchzuführende ärztliche Maßnahmen beziehen.“
Verbindlichkeit
Die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung war bis zur Beschlussfassung des Deutschen Bundestages
im Juni 2009 strittig. Das Gesetz hat dazu nun Klarheit geschaffen.
Für die Situation, dass keine Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Absatz 1 BGB vorliegt, ist der
mutmaßliche Wille anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln (§ 1901 a Absatz 2 Satz 2 BGB). Konkretisiert wird dies durch einen jedoch nicht abschließend angeführten Katalog der zu berücksichtigenden Äußerungen oder Wertvorstellungen, denn es sind nach § 1901 a Absatz 2 Satz 3 BGB „insbesondere
frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige
persönliche Wertvorstellungen des Betreuten“ zu ermitteln und zu betrachten. Ein Verweis auf allgemeine Wertvorstellungen, wie sie noch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 13.09.1994
18
Vgl. Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008, Bundestagsdrucksache 16/8442, 15 linke Spalte.
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vorsah, findet sich im Gesetz vom 29.07.200919 nicht. Somit ist der mutmaßliche Wille anhand von individuellen, personenbezogenen Informationen zu ermitteln.
In der Abstufung der Willenserklärungen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit wird nach der Gesetzesänderung zum 01.09.2009 nun unterschieden in:
1. Patientenverfügungen (§ 1901 a Absatz 1 BGB),
2. Behandlungswünsche (§ 1901 Absatz 3 BGB) und
3. mutmaßlicher Wille (§ 1901 a Absatz 1 BGB).
Entscheidungsfindung
Der Feststellung des Patientenwillens geht die Indikationsstellung des behandelnden Arztes voraus. Das
Therapieziel kann sich während der Behandlung durchaus ändern und für die Bundesärztekammer gehört es nach den 2004 überarbeiteten „Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ zur „Aufgabe des Arztes …, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen.“ Die Bundesärztekammer stellt weiterhin fest, dass die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung daher nicht unter allen Umständen besteht und es Situationen gibt, „in denen
sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten
sein können“20.
Als Therapieziele können gelten die Heilung des Patienten, eine Lebensverlängerung oder die Verbesserung oder Erhaltung von Lebensqualität. Eine Maßnahme ohne Nutzen oder nur mit einem unrealistisch
niedrigem Wahrscheinlichkeitspotential für einen Nutzen für den Patienten ist medizinisch nicht indiziert. Ein Angebot einer medizinisch möglichen Option, der es bereits zum Zeitpunkt des Anbietens an
einer Erfolgsaussicht mangelt, ist Zeichen einer am Machbarkeitsideal ausgerichteten HighTechMedizin.
Deklaratorisch ist im Gesetz der Hinweis auf die Rolle des Arztes im Zusammenhang mit der Feststellung
des Patientenwillens gemäß § 1901 b BGB, denn die Feststellung und Prüfung der medizinischen Indikation der ärztlichen Maßnahmen „im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten“ (§
19
20
3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.07.2009, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009, Teil I Nr. 48, 2286-2287.
Bundesärztekammer: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, In: Bundesärztekammer (Hg.): Sterben in Würde, Grundsätze und Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte 2008, 7-11 = Bundesärztekammer: Grundsätze der
Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung Deutsches Ärzteblatt 2004, 1298.
74
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1901 b Absatz 1 Satz 1 BGB) liegt unstrittig im Verantwortungsbereich des behandelnden Arztes und an
erster Stelle.
Weiterhin klarstellend ist der Hinweis auf das gemeinsam stattfindende Gespräch als „dialogischer Prozess“ zwischen dem behandelnden Arzt mit dem Betreuer bzw. dem Bevollmächtigten unter „Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach
§ 1901a zu treffende Entscheidung“ (§ 1901 b Absatz 1 Satz 2 BGB) als Entscheidungsgrundlage.
In besonderen Situationen ist das Betreuungsgericht bei der Umsetzung der Wünsche eines Patienten
(Patientenverfügung gem. § 1901 a Absatz 1 BGB, Behandlungswünsche gem.
§ 1901 Absatz 3 BGB und mutmaßlicher Wille gem. § 1901 a Absatz 2 BGB) einzubeziehen. Eine Einwilligung (§ 1904 Absatz 1 BGB) oder eine Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung (§ 1904 Absatz 2 BGB) in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen
Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der
einwilligungsunfähige Mensch auf Grund der Maßnahme (§ 1904 Absatz 1 BGB) bzw. auf Grund des
Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme (§ 1904 Absatz 2 BGB) stirbt oder einen schweren und
länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Das betreuungsgerichtliche Genehmigungsverfahren ist im Fall des § 1904 Absatz 1 BGB entbehrlich, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (§
1904 Absatz 1 Satz 2 BGB).
Nicht erforderlich ist gemäß § 1904 Absatz 4 BGB die Einschaltung des Betreuungsgerichts, wenn „zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901 a festgestellten Willen des Betreuten entspricht.“
Beteiligung von Angehörigen und Vertrauenspersonen
Bei der Feststellung des Patientenwillens soll „nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen
des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung
möglich ist“ (§ 1901 b Absatz 2 BGB).
75
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Der Personenkreis der Vertrauenspersonen leitet sich nicht nach dem Verwandtschaftsgrad ab. Zu „sonstigen Vertrauenspersonen“ können im Einzelfall auch Pflegende zählen21 und die „Einbeziehung beispielsweise von Pflegekindern, Pflegeeltern oder Lebensgefährten, aber auch engen Freunden oder Seelsorgern“22 wird ermöglicht.
Die Beteiligung von nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen bei der Feststellung des Patientenwillens gemäß § 1901 a BGB „durch die Gelegenheit zur Äußerung“ erfolgt, wenn damit keine erhebliche Verzögerung verbunden ist.
Die Einbeziehung weiterer Personen bei der Klärung des Patientenwillens durch den behandelnden Arzt
und den Stellvertreter legt die Konstruktion eines gemeinsamen Gesprächs aller Beteiligten nahe, was in
anderen Gesetzesvorschlägen als „beratendes Konzil“ bezeichnet wurde. Die Durchführung einer EthikFallberatung ist methodisch eine konkrete Ausprägung der Möglichkeit zur Äußerung durch weitere Beteiligte im Sinne des § 1901 b Absatz 2 BGB. Sollten die nahen Angehörigen oder sonstigen Vertrauenspersonen den Eindruck gewinnen, dass die Feststellung des Patientenwillens zu beanstanden ist, so steht
ihnen der reguläre Beschwerdeweg beim Betreuungsgericht offen. Eine eigene Verfahrensregel für diesen speziellen Fall wurde nicht normiert.
Widerruf einer Patientenverfügung
Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden (§ 1901 a Absatz 1 Satz 3 BGB). Situativ spontanes Verhalten kann je nach Formulierung in der Patientenverfügung als Widerruf gelten.
Dies sieht der Gesetzgeber jedoch nicht bei „unwillkürlichen, rein körperlichen Reflexen“23.
Umsetzung einer Patientenverfügung außerhalb des Betreuungsrechts
21
22
23
Deutscher Bundestag, Rechtsausschuss: Beschlussfassung und Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf der Abgeordneten Stünker u.a. (Bundestagsdrucksache 16/8442) Bundestagsdrucksache 16/13314 vom 08.06.2009, 20.
Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008 Bundestagsdrucksache 16/8442, 16 linke Spalte.
Vgl. Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008, Bundestagsdrucksache 16/8442, 15 linke Spalte.
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Patientenverfügungen bedürfen in der Anwendungssituation eines Stellvertreters, welcher dem Willen
des Patienten „Ausdruck und Geltung“ zu verschaffen hat. Die Geltung einer Patientenverfügung auch
ohne Bestellung eines Betreuers wird aus den Voraussetzungen der Betreuerbestellung abgeleitet, da
nach § 1896 Absatz 2 Satz 1 BGB ein Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden darf, in denen die
Betreuung erforderlich ist. Bei einer auf die Anwendungssituation genau passenden Patientenverfügung
wird die Notwendigkeit der Betreuerbestellung in der Literatur teilweise verneint24. Für diese Auslegung
spricht die Begründung des verabschiedeten Gesetzes, denn der behandelnde Arzt soll mit Verweis auf
bestehendes Medizinrecht im Rahmen seiner Verantwortung prüfen, „ob und welchen Behandlungswillen der Patient geäußert hat, ob er eine Entscheidung über die anstehende Behandlung getroffen hat
oder ob es dafür der Entscheidung des Betreuers oder Bevollmächtigten bedarf“25. Damit greift die Patientenverfügung auch ohne einen Stellvertreter auf den behandelnden Arzt durch und ist entscheidungsleitend.
Im Sinne der arbeitsteiligen Arzt-Patienten Beziehung sollte die Phase der stellvertretenden Entscheidung für den Patienten durch den Arzt nicht länger als nötig dauern und ein gesetzlicher Betreuer wird
regelmäßig mehr Zeit und Möglichkeiten zur Überprüfung und Ermittlung des Patientenwillens haben.
Somit empfiehlt sich wie bislang die zeitige Information des Betreuungsgerichts zur Überprüfung der
Betreuungsnotwendigkeit.
Fazit
Betreuer sind mit eigenen Wertvorstellungen im beruflichen Alltag konfrontiert. Dazu müssen sich Betreuer ihren ethischen Überzeugungen bewusst sein und sich diese bewusst machen. Es könnte sein,
dass die eigenen Wertvorstellungen von denen der Betreuten abweichen.
Für den Betreuungsalltag haben sich die Prinzipien mittlerer Reichweite nach Beauchamp/Childress als
flexibel und alltagstauglich herausgestellt.
24
Vgl. Borasio, Gian Domenico; Heßler, Hans-Joachim; Wiesing, Urban: Patientenverfügungsgesetz. Umsetzung in der klini-
schen Praxis, Deutsches Ärzteblatt 2009, 1954
25
Vgl. Stünker, Joachim; Kauch, Michael; Jochimsen, Lukrezia; Montag, Jerzy: Entwurf eines 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes vom 06.03.2008, Bundestagsdrucksache 16/8442, 15 linke Spalte.
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Die Gesetzgebung zu Patientenverfügungen fordert nicht nur von Einrichtungen im Gesundheitswesen
die strukturierte Auseinandersetzung mit den Wünschen und Werten des Patienten oder des Bewohners, sondern auch die Beschäftigung des Betreuers mit den Patientenwünschen. Der Betreuer wurde in
seiner Entscheidungskompetenz durch das Gesetz bestätigt und muss sich dieser Aufgabe differenziert
stellen.
Die nun im Gesetz nicht begrenzte Reichweite von Patientenverfügungen ist Ausdruck einer Abwägung,
die grundsätzlich von der verantwortungsvollen Ausübung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgeht. Der Aspekt der Fürsorge ist gleichermaßen im Gesetz verankert, da in der Anwendungssituation
der Stellvertreter die Paßgenauigkeit der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Entscheidungssituation überprüfen muss.
Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Patientenwillen führt im Team zu einem transparenten
Umgang mit diesen Patientenwünschen und wird moralische Konflikte in Akutsituationen verringern
können.
Ein planvolles Umgehen mit Patientenverfügungen setzt Kompetenz in rechtlichen Fragen voraus und
Sensibilität für ethische Fragen der Selbstbestimmung, wenn es um die konkrete Auslegung von Patientenverfügungen geht.
***
Dr. Arnd T. May ist Medizinethiker. Er war Mitglied der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ des Bundesministeriums der Justiz (2003-2004) und hat am beschlossenen Gesetzentwurf mitgewirkt. Dr. May ist Wissenschaftler am Universitätsklinikum Aachen und in Recklinghausen bei EthikZentrum.de - Zentrum für Angewandte Ethik tätig.
Brunhilde Ackermann ist Leiterin der Betreuungsbehörde der Stadt Kassel und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Hess. Betreuungsstellen. Im Vormundschaftsgerichtstag e.V. ist sie als stellvertretende
Vorsitzende aktiv.
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Ethikberatung konkret: Was heißt „Hilfestellung bei
der Entscheidungsfindung an der Grenze zwischen
Leben und Tod“?
Dr. theol. Kurt W. Schmidt
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Ethische Probleme in der Altenhilfe
Dr. Gisela Bockenheimer-Lucius
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Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod
Evangelische Akademie Hofgeismar
30. November 2009 bis 1. Dezember 2009
Ethische Probleme in der Altenhilfe
Gisela Bockenheimer-Lucius, Frankfurt am Main
Ethische Probleme in der Altenhilfe stellen sich in vielfältiger Weise und in sehr unterschiedlichen Lebensabschnitten und Lebensbereichen eines alten Menschen. Das Spektrum der dringlichen Fragen zum Bild
vom Alter und vom Umgang mit dem alten Menschen bis bin zur Pflege und zu Sterben und Tod des hochbetagten Menschen fordert zudem viele wissenschaftliche Disziplinen heraus. Auch der engere Blick auf
Fragen zu Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit, aber auch zu Autonomie und Selbstbestimmtheit in der
Altenhilfe kann nur unter Einbeziehung vieler fachlicher Perspektiven, wie z.B. der Altenpflege, der Krankenpflege, der Sozialarbeit, der Seelsorge, der Geriatrie und Gerontologie u.v.a., weiterführende Einsichten
bringen.
Mein Beitrag soll daher einen Aspekt der Altenhilfe herausgreifen: In welcher Form stellen sich ethische
Fragen im Rahmen der Altenhilfe in der stationären Langzeitpflege?
In Frankfurt am Main wurden die konkrete Befassung mit ethischen Fragen im Altenpflegeheim und die
Initiative zur Etablierung von Ethikberatung durch ein Projekt ausgelöst, das sich der Optimierung der pflegerischen und medizinischen Versorgung von Altenheimbewohnern durch die Formulierung konkreter
Handlungsempfehlungen widmete, um der inadäquaten bzw. missbräuchlichen Verwendung von Psychopharmaka entgegen zu wirken.26 Die Diskussion der Konflikte ließ schnell erkennen, dass für derartige
Probleme in Altenpflegheimen das passende Forum fehlt. Eine eigene Untersuchung in den Pflegeheimen
26
Das gemeinsame Projekt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, des Senckenbergischen Instituts für Geschichte und
Ethik der Medizin und des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht in Zusammenarbeit mit dem Franziska
Schervier Altenpflegeheim wurde von der BHF-BANK-Stiftung, Frankfurt/M. gefördert. Vgl. dazu Pantel, J.; BockenheimerLucius, G.; Ebsen, I.; Müller, R.; Hustedt, P.; Diehm, A. (2006) Psychopharmaka im Altenpflegeheim – Eine interdisziplinäre
Untersuchung unter Berücksichtigung gerontopsychiatrischer, ethischer und juristischer Aspekte. Frankfurter Schriften zur
Gesundheitspolitik und zum Gesundheitsrecht (Bd. 3). Peter Lang, Frankfurt am Main.
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der Stadt Frankfurt am Main bestätigte den ersten Eindruck27 und führte 2006 und 2008 zur Etablierung
zweier Ethikkomitees für die Altenpflegeheime der Stadt.28 Auf der Basis dieser theoretischen wie praktischen Erfahrungen möchte ich die folgenden Aspekte vorstellen.
Handlungsfeld Altenpflegeheim
Die Wahrnehmung ethischer Grundsatzfragen oder Konflikte (wie auch das Ziel der Etablierung von Ethikberatung) im Altenpflegeheim sind durch die spezifischen Merkmale der Einrichtung vorgegeben. Das zunehmende Bewusstsein, dass pflegerisches Handeln immer auch mit individuellen Wertvorstellungen verbunden ist, dass es der moralischen und rechtlichen Rechtfertigung bedarf und dementsprechend ein zutiefst ethisches Geschehen darstellt, hat auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass das Altenpflegeheim
als Institution mit moralischen Verpflichtungen und moralischer Wirkung wahrgenommen wird29 und ein
Bedarf an Ethikberatung entstanden ist.30
Im Altenpflegeheim sind es vor allem die Probleme in der Alltagsroutine, die beständige ethische Herausforderungen darstellen. Arthur Caplan hat diese Probleme mit der Bezeichnung „nitty-gritty“ versehen,31
27
Vgl. Bockenheimer-Lucius, G; Sappa, S. (2009) Eine Untersuchung zum Bedarf an Ethikberatung in der stationären Altenhilfe.
In: Vollmann, J.; Schildmann, J; Simon, A. (Hrsg.) Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York.
28
Unsere Projekte zur Gründung der Ethikkomitees wurden in den Jahren 2007-2008 von der BHF-Bank Stiftung Frankfurt am
Main gefördert. Das inzwischen entstandene Netzwerk ist Teil des Frankfurter Programms »Würde im Alter« der Stadt Frankfurt
am Main und wird seit Dezember 2008 aus dessen Mitteln gefördert.
29
So heißt es in dem einschlägigen Handbook for Nursing Home Ethics Comittees: „Nursing homes are entities with moral obli-
gations.” Siehe: Hoffman, D.E.; Boyle, P; Levenson, S.A. (1995) Handbook for Nursing Home Ethics Comittees. American Association of Homes and Services for the Aging,Washington, p xxi.
30
Beispielsweise hat die Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes im Januar 2008 eine Fachtagung durchgeführt zu
Thema Ethikkomitee und ethische Fallbesprechung in Einrichtungen und Diensten der katholischen Altenhilfe. Im März 2009
haben Landesbischof Dr. Johannes Friedrich (München) und Diakoniepräsident Dr. Ludwig Markert (Nürnberg) für die Evangelisch Lutherische Landeskirche in Bayern und das Diakonische Werk Bayern auf die Bedeutung von ethischer Kompetenz in Einrichtungen der Altenhilfe aufmerksam gemacht und für die Zukunft Ethikberatung in allen diakonischen und kirchlichen Einrichtungen der Altenpflege als integralen Bestandteil des Gesamtkonzepts gefordert ([email protected], 2009). Im Juni 2009
hat die Malteser Trägergesellschaft eine Broschüre zur Ethikberatung in der stationären Altenhilfe herausgegeben (Malteser Trägergesellschaft (2009) Organisierte Verantwortung für ein Altern in Würde – Ethikberatung in der stationären Altenhilfe, Bonn).
31
Caplan, A.L. (1990) The Morality of the Mundane: Ethical Issues Arising in the Daily Life of Nursing Home Residents. In:
Kane, R.A.; Caplan, A.L. (Eds.) Everyday ethics: Resolving Dilemmas in Nursing Home Life. New York, pp. 37- 50.
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d.h. es sind oftmals „Kinkerlitzchen“, eine Mischung aus praktischen Alltagsfragen im Zusammenleben aller
Heimbewohner und aus mehr oder weniger bedeutungsvollen pflegerischen Aktivitäten, die den meisten
Kummer verursachen und die meisten Konflikte hervorrufen. Sie erwachsen jedoch aus grundsätzlichen
Problemen, die für die Betroffenen mit der Übersiedelung in ein Altenpflegeheim entstehen. Zwischen den
Pflegenden und allen anderen Personen, die die Einrichtung „Pflegeheim“ repräsentieren, sowie den
Heimbewohnern und ihren Angehörigen entwickeln sich hochkomplexe Beziehungen. Probleme der Freiwilligkeit bei Entscheidungen und Handlungsabläufen, der Privatheit in einem Raum mit erheblich eingeschränkter Privatsphäre und der Selbstbestimmtheit angesichts vielfältiger fremdbestimmter Anforderungen in einer Einrichtung mit potentiell erheblichem Zwangscharakter stellen die moralischen Herausforderungen dar, die nach ethischer Reflexion verlangen.
Probleme der Freiwilligkeit
Für viele Bewohner eines Altenpflegeheims gilt, dass sie mehr oder weniger unfreiwillig in das Heim einziehen und damit die eigene Wohnung und die unabhängige Lebensgestaltung aufgeben mussten. Viele erleben dies als einen Zwang, der tiefe Depression oder Resignation und Perspektivlosigkeit hervorruft.32 Der
Umzug in ein Pflegeheim ist zudem nicht selten mit einem Ortswechsel verbunden, der den Wechsel des
Hausarztes nach sich ziehen muss. Dies reißt den alten Menschen nicht nur aus der vertrauten Beziehung
zu seinem bisherigen Arzt heraus, sondern verlangt von ihm einen erheblichen Vertrauensvorschuss beim
Aufbau einer unvermeidbar notwendigen neuen Arzt-Patienten-Beziehung. Aber auch die jahrzehntelang
bewährten freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Netze können auf diese Weise zerrissen und Besuche unmöglich gemacht werden. Umso mehr sind Heimbewohner auf Zuwendung und Kommunikation
angewiesen. Gelegentlich darf daran erinnert werden, dass TEILNAHME und ALTENHEIM ein Anagramm
darstellen!
Zu diesem oftmals harten Lebenseinschnitt kommt die unvermeidbare Auseinandersetzung mit dem Altern
und dem Lebensende hinzu: Das Loslassen eines vertrauten Lebens, Akzeptanz von Abhängigkeit und Gebrechlichkeit, persönliches Erleben von Würde und Würdeverlust, Angst und Vertrauen, Verzweiflung und
32
Allerdings gibt es auch viele Heimbewohner, die die Betreuung und Sorglosigkeit im alltäglichen Ablauf, die Entlastung von
allen organisatorischen Fragen und die regelmäßigen Angebote zur Strukturierung des Alltags und zur Unterhaltung sehr positiv
erleben!
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Hoffnung, Einsamkeit und gemeinschaftliches Teilen, Aufbegehren und Demut, Schuldgefühle, Unbearbeitetes, Unerreichtes, Unausgesöhntheit, Sterbenmüssen und Sterbenkönnen müssen in einen neuen Lebensentwurf für die voraussichtlich letzte Wohnstätte integriert werden. Diese Gefühle, die den Alltag der
alten Menschen prägen, machen deutlich, wie wesentlich bei der ethischen Reflexion das Bewusstmachen
und die Berücksichtigung von Emotionalität ist, wie sehr Kontextsensibilität verlangt ist.
Ein hoher Anteil der Heimbewohner ist in seinen sensorischen, funktionellen und kognitiven Fähigkeiten
erheblich eingeschränkt, und viele Heimbewohner sind vor allem aufgrund von Demenzerkrankungen unterschiedlicher Genese nicht mehr einwilligungsfähig. Dennoch äußern sie durch Gestik und Mimik in recht
differenzierter Weise ihre Freude, ihre Vorlieben, ihre Ängste und ihren Unwillen. Damit zeigen sie aber
oftmals auch ihre Einwilligung in eine therapeutische oder pflegerische Maßnahmen oder ihre (manchmal
heftige) Ablehnung. Diese außerordentlich schwer zu interpretierenden Willensäußerungen sind eine erhebliche Herausforderung für alle, die für den betroffenen Menschen entscheiden und handeln müssen. Es
besteht aber Konsens, dass ein derartiger „natürlicher Wille“ – unabhängig von allen damit verbundenen
Interpretationsproblemen – nicht einfach ignoriert werden darf. Dies gilt in besonderer Weise für alle
Maßnahmen, die Zwangscharakter haben. Eingeschränkte Mobilität, Verringerung der kognitiven Funktionen, große Hilfsbedürftigkeit des älteren Menschen, aber auch organisatorische Abläufe in Altenpflegeeinrichtungen sind oftmals Auslöser für freiheitsbeschränkende Maßnahmen und ein Abgleiten in pflegerische
Gewalt.33
Für die Pflegenden wie die behandelnden Ärzte ist der Umgang mit diesen alten Menschen dadurch in besonderer Weise belastet, dass die oft schwerst pflegebedürftigen Heimbewohner chronisch krank sind,
zumeist Multimorbidität jeden Heilerfolg relativiert und Gefühle von Versagen und Trauer auftauchen.
Einschränkungen der Vertraulichkeit und Privatheit
33
Vgl. u.a. die ausführlichen Abhandlungen bei B. Eicken et al. (Eicken, B. von; Ernst, E.; Zenz, G. (1990) Fürsorglicher Zwang.
Freiheitsbeschränkung und Heilbehandlung in Einrichtungen für psychisch kranke, für geistig behinderte und für alte Menschen.
Rechtstatsachenforschung Köln) sowie bei G.Walther (Walther, G. (2007) Freiheitsentziehende Maßnahmen in Altenpflegeheimen - rechtliche Grundlagen und Alternativen der Pflege. Ethik in der Medizin 19: 289-300).
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Viele Heimbewohner empfinden im Altenpflegeheim eine eklatante Abhängigkeit. Die Tagesabläufe sind
wesentlich von Funktionalität und Routine bestimmt, und die Bedürfnisse der Gemeinschaft haben nicht
selten Vorrang vor Bedürfnissen nach Individualität und Privatheit. Verhaltenskontrollen durch die Personen des Heims, aber auch durch die Mitbewohner sind zudem mit Machtgefälle verbunden. Der Soziologe
Erving Goffman hat auch das Altenpflegeheim in das Modell der von ihm beschriebenen „Totalen Institution“ aufgenommen.34 Dabei sind vor allem zwei Aspekte wichtig: 1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Totale Institutionen sind soziale
Zwitter, einerseits Wohn- und Lebensgemeinschaft, andererseits formale Organisation. Nun verstehen die
Pflegenden sich inzwischen längst als Helfer und „Anwälte“ des Heimbewohners und nicht als Bewacher
und Überwacher. Zudem besteht heutzutage eine sehr offene Beziehung zwischen der Binnenwelt des
Pflegeheims und der Außenwelt der Angehörigen, Freunde und Betreuer, was bei der Alltagsgestaltung
ausdrücklich Berücksichtigung findet. Das Altenpflegeheim hat sich also seit Goffmans Zeiten erheblich
verändert.35 Aber dennoch wird immer wieder auszubalancieren sein, welche Regeln für das Gemeinschaftsleben unverzichtbar sind, wie weit Kontrolle gehen darf. Die Pflegenden müssen beständig die Balance halten zwischen ihrem Respekt vor der Autonomie des Einzelnen und ihren Fürsorgepflichten für das
Wohlergehen aller. Das beinhaltet, dass Beziehungen zu anderen/Freizeit, Haben sie genug Raum, Freundschaften und Kontakte zu pflegen? Haben sie die Möglichkeit, Menschen, die sie nicht so mögen, aus dem
Weg zu gehen? eingeschränkt oder ist die Strukturierung des Tagesablaufs eher angenehm? Haben Sie Einfluss darauf, wann und wohin sie außerhalb des Heims gehen? Haben Sie Rückzugsmöglichkeiten, Orte, wo
sie mal ganz ungestört bleiben können? Fühlen Sie sich in ihrem Zimmer ungestört?
Einen anderen Aspekt der gefährdeten Privatheit stellt die Fülle von dokumentierten medizinischen und
persönlichen Daten dar, über die das Heim verfügt, und auch Biographiearbeit ist zugleich Verlust von In-
34
Goffman, E. (1961) Asylums. New York.
35
Vgl. dazu u.a. Foldes, S.S. (1990) Life in an Institution: A Sociological and Anthropological View, In: Kane, R.A.; Caplan,
A.L. (Eds.) Everyday ethics: Resolving Dilemmas in Nursing Home Life. New York, pp 21-36. sowie Heinzelmann, M. (2004)
Das Altenheim – immer noch eine »Totale Institution«? Eine Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime, Diss., Göttingen .
95
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timität. Dementsprechend muss jede Konsultation in einem Ethik-Komitee uneingeschränkte Vertraulichkeit bieten, absolute Schweigepflicht gilt unverzichtbar für alle Mitglieder.36
Autonomie und Selbstbestimmtheit des alten Menschen als oberstes Ziel
Heimbewohnerinnen und -bewohner übergeben einen Teil ihrer Selbstbestimmtheit in die Hände der Angehörigen und Pflegenden, die damit treuhänderische Verantwortung übernehmen. Die Frankfurter Neurologin, Uta Meyding-Lamadé, hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der Medizin zu den zehn Pflichtbestandteilen der Anamnese bei älteren Menschen neben Fragen nach Ernährung, Mobilität, Kontinenz,
Schlaf, Hören und Sehen, Kognition und Medikamenteneinnahme auch Fragen zu den Ziele und Wertvorstellungen des alten Menschen gehören.37 Dies gilt in gleicher Weise für die Pflegenden im Altenpflegeheim, die für vielfältige Entscheidungen immer wieder bedenken müssen: „Was sind die Wünsche, Interessen, Wertvorstellungen dieses individuellen Heimbewohners?“
Oftmals ist es für die Pflegenden schwer, aber von großer praktischer Bedeutung, die Entscheidungs- und
Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen vor allem für einfache Alltagsverrichtungen richtig einschätzen zu
können. Wie grundlegend wichtig der Respekt vor der Autonomie und Selbstbestimmtheit des alten Menschen ist, hebt ein Hinweis im schon zitierten Handbook for Nursing Home Ethics hervor, wo es heißt, dass
das Ethikkomitee grundsätzlich solange davon ausgehen muss, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, Entscheidungen zu treffen, bis das Gegenteil bewiesen ist.38
Zur Unterstützung der Pflegenden haben wir im Ethikkomitee des Franziska Schervier Altenpflegeheims in
Frankfurt am Main einen Leitfaden zur Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit für Alltagsverrichtungen
entwickelt, der noch in der Erprobung ist. In der Zielsetzung heißt es: „Im Altenpflegeheim gibt es unter
den Pflegenden ebenso wie unter den verschiedenen weiteren Berufsgruppen und / oder den Angehörigen
immer wieder unterschiedliche Vorstellungen von Selbstbestimmung und Würde eines Heimbewohners
oder einer Heimbewohnerin. Angehörige oder an der Betreuung beteiligte Berufsgruppen übergehen nicht
36
In den USA enthält The Omnibus Budget Reconciliation Act (1987) ausdrücklich eine Liste von Regeln, die Privatheit und
Vertraulichkeit gewährleisten müssen, u.a. medizinische Behandlung, Briefe und Telefongespräche, Familienbesuche etc. Vgl.
Hoffman et al. (Fußnote 4), p. 148.
37
Vortrag im Rahmen des Geriatrie-Forums 2008 „Umgang mit verwirrten älteren Menschen“, 13.Februar 2008.
38
Hoffman et al. (Fußnote 4), p. 208.
96
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selten aufgrund ihres Fürsorgebedürfnisses oder aus Haftungsgründen den Willen des betroffenen alten
Menschen. Im pflegerischen Alltag kommt es deshalb zu Konflikten, bei denen der Grad der Einwilligungsfähigkeit des Bewohners / der Bewohnerin eine wichtige Rolle spielt. Angehörige und gesetzliche Betreuer
erwarten beispielsweise eine regelmäßig durchgeführte Körperpflege – nicht selten jedoch trotz der unmissverständlichen Ablehnung durch den Betroffenen. Gleiches gilt für ärztliche Anordnungen wie z.B.
Mobilisieren oder Medikamenteneinnahme.
Im pflegerischen Alltag tauchen daher mit Blick auf die Einwilligungsfähigkeit Probleme auf, wenn die Pflegenden unsicher sind, weil der Heimbewohner / die Heimbewohnerin sich bei alltäglichen Verrichtungen
so verhält,
• als könne er/sie bei einfachen Fragen Wahlmöglichkeiten nicht nutzen,
• Informationen nicht wirklich verstehen,
• verstandene Informationen nicht auf die eigene Situation realitätsbezogen nutzen,
• die angebotenen Handlungen nicht in Übereinstimmung mit seiner Persönlichkeit, seinen persönlichen
Interessen in seiner Entscheidung in Einklang bringen,
• er/sie diese Entscheidungsunsicherheiten bzw. –unfähigkeiten jedoch nicht regelmäßig zeigt,
• und je nach Tagesbefinden klare oder fragliche Zeichen von Einwilligungsfähigkeit erkennen lässt.
Deshalb ist es das Ziel der Leitlinie, die Einwilligungsfähigkeit eines Heimbewohners / einer Heimbewohnerin bei Alltagsverrichtungen einschätzen zu können, um gleichermaßen dem Recht des alten Menschen auf
Autonomie und dem eigenen Anspruch der Pflegenden auf Respektierung dieser Autonomie gerecht zu
werden.“
Ein häufig auftretendes Problem sind Entscheidungen für oder gegen medizinische Maßnahmen und für
oder gegen eine Krankenhauseinweisung. Für den individuellen Heimbewohner, der nun auch als Patient
bezeichnet werden muss, wird es bei der Frage nach Behandlungsmaßnahmen nicht nur um seine Lebenszeit, sondern auch um die ihm verbleibende Lebensqualität gehen. Seine Selbstbestimmtheit als Ausdruck
seiner Autonomie muss ernst genommen werden und darf nicht in den Hintergrund geraten. Vor allem der
mögliche Verlust von Selbständigkeit und Kommunikationsfähigkeit ist für viele Menschen belastend und
bedrohlich. Die zugrunde liegende Erkrankung, aber eben auch das Alter, Vorerkrankungen und der Zeitpunkt bis zur Einleitung einer Reanimation spielen beispielsweise bei einem Kreislaufstillstand eine wesentliche Rolle für das Überleben. Der behandelnde Arzt wird neben der Prognose mit Blick auf die Lebenszeit
mit dem alten Menschen oder mit Angehörigen und Pflegenden auch über die Möglichkeiten einer Wiederherstellung bzw. einer Lebenssituation beraten müssen, die der individuellen Belastbarkeit des Erkrank-
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ten gerecht wird. Für alle Beteiligten muss dann oftmals die besondere Unsicherheit einer Prognose ausgehalten werden.
Nicht selten kommt es bei derartigen Entscheidungen zu hochemotionalen Auseinandersetzungen über die
Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit einer Maßnahme. Dabei darf nie außer Acht bleiben, dass professionelle
Entscheidungen nur scheinbar wertfrei sind und professionelle Erfahrungen nicht zweifelsfrei auf jeden
Menschen zutreffen. Auch innerhalb des Teams der behandelnden Ärzte besteht bezüglich einer medizinischen Indikation oftmals kein Konsens. Die Durchführung einer Tracheotomie, der Einsatz einer Dialyse,
das Anlegen einer PEG-Sonde zur künstlichen Ernährung sind immer wieder Streitpunkte zwischen den
Fachärzten verschiedener Disziplinen, aber auch innerhalb eines Stationsteams. Gleiches gilt für die Pflegenden, die je nach professionellen Schwerpunkten in der Krankenpflege oder Altenpflege unterschiedliche Notwendigkeiten zur Behandlung oder Behandlungsbegrenzung sehen. Der Braunschweiger Internist
Klaus Gahl hat zu recht angemahnt, dass die Notwendigkeit einer Begründung des Handelns die Beachtung
des grundlegenden Unterschieds von Müssen, Sollen, Dürfen und Können erfordert: „Warum und woraufhin müssen, sollen, dürfen, können und wollen wir als Ärzte, Sachwalter des Kranken, Mitglieder einer Solidargemeinschaft und einer soziokulturellen Wertewelt jetzt und hier für wen (für den Kranken oder für
wen sonst?) was tun?“39 Auch die Angehörigen sind oft auf schmerzhafte Weise mit der Frage konfrontiert, ob sie eine medizinische oder pflegerische Maßnahme tatsächlich für den betroffenen alten Menschen wollen, ob es seinem Willen entspricht oder ob eigene Gefühle des Verlustes, der Angst, der Schuld
oder der Hilflosigkeit ihre Entscheidungen bestimmen.
Die Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung auf der Basis des Patientenwillens zeigen sich täglich bei der
Indikation zur künstlichen Ernährung über eine PEG-Sonde. Hier spitzen sich immer wieder Konnotationen
von „Verhungern- und Verdursten lassen“ zu der Frage zu, ob nicht berechtigte Zweifel an einer Indikation
zur PEG-Sonde bestehen, was zum Wohl des Heimbewohners beiträgt und was ihm möglicherweise eher
schadet, wie die jeweiligen Werturteile der Entscheidenden aussehen und für wen die Sonde eigentlich
gelegt wird: für den betroffenen alten Heimbewohner, für die Pflegende, für die Angehörigen, für den
Arzt? Und was vor allem hat oder hätte der alte Mensch selbst gewollt? Auch die Stellungnahme des Medi-
39
Gahl, K. (2005) Indikation – zur Begründungsstruktur ärztlichen Handelns. Deutsche Medizinische Wochenschrift 130: 1155-
1158.
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zinischen Dienstes der Spritzenverbände der Krankenkassen (MDS)40 hat bei aller Wertschätzung der Untersuchung zur Ernährungssituation und Flüssigkietsversorgung alter Menschen zu einem kritischen Kommentar geführt, der zu Recht betont, dass die Reduktion von Hunger und Durst im Alter und im Sterben mit
Nicht-essen-wollen im Einzelfall ganz in Ordnung sein kann: Wer keinen Hunger (mehr) hat, kann auch
nicht an Hunger leiden. Wenn man die Autonomie des Menschen auch im Alter respektieren will, dann
muss man beachten, dass Nicht-essen-wollen als Ausdruck eines langsamen Abschieds vom Leben oder
von beginnender Todesnähe und die Ablehnung von Nahrung als letzte verbliebene Möglichkeit der
Selbstbehauptung in einem Pflegeheim verständlich sein kann.41
Organisationsethische Aspekte im Altenpflegeheim
Die oben dargestellte Wahrnehmung des Altenpflegeheims als Institution mit moralischen Verpflichtungen
und moralischer Wirkung beinhaltet auch, diese Einrichtungen als lernende Organisationen zu verstehen.
Organisationsethische Fragen nach Verantwortung und Entscheidungsprozessen führen zur Frage nach
Modellen und Strukturen und nach Planung, Implementierung und Evaluation von Ethikberatung. So können Altenpflegheime sich auch als Orte verstehen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Fürsorglichkeit und Mitgefühl zu zeigen, aber auch den Respekt vor der Autonomie und Selbstbestimmtheit
des anvertrauten Menschen jederzeit zu wahren.
Auf der Basis der Sensibilisierung für ethische Fragen, der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Werten und der geübten Argumentation kann im Gespräch mit dem alten Menschen und seinen Angehörigen,
aber auch im Team aus Pflegenden, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten und Seelsorgern und im Austausch
mit den behandelnden Ärzten Sicherheit und Entlastung in der Entscheidungsfindung entstehen.
Schlussbemerkung
40
Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V (MDS) (Hrsg.) (2003) Grundsatzstellungnahme. Ernährung
und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen. Abschlussbericht Projektgruppe P 39, Essen.
41
Heubel, F. (2007) Lebt der Mensch vom Brot allein? Kritische Anmerkungen der Arbeitsgruppe Pflege und Ethik in der Aka-
demie für Ethik in der Medizin zur Grundsatzstellungnahme Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Ethik in der Medizin 19:55-56.
99
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Bei allen Überlegungen darf allerdings nicht vergessen werden, dass der alte und so oft schwerst pflegebedürftige Mensch zur Gruppe der besonders vulnerablen Menschen gehört. Die Gefahr einer Altersdiskriminierung ist – nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Probleme – immer gegeben, denn bei allen lebenserhaltenden Maßnahmen schneidet der alte Mensch im Durchschnitt schlechter ab als der jüngere. Weniger
gewonnene Lebensjahre, weniger Gewinn an Lebensjahren in guter Lebensqualität und die Berücksichtigung der indirekten Kosten und des indirekten Nutzens begünstigen jüngere Patienten.42
Dennoch muss vor allen Überlegungen zu medizinischen Maßnahmen des Lebenserhalts ein Fazit stehen,
das der Freiburger Arzt und Medizinhistoriker Eduard Seidler einmal mit Blick auf das Bedürfnis nach Gesundheit gezogen hat: „Der Mensch will primär weniger wissen, was er alles machen soll, um gesund zu
bleiben, er will vor allem erfahren, wozu er gesund sein soll. Ein solches Gesundheitsverständnis meint
nicht die ausschließliche Bereitstellung eines optimierten Gesundheitswesens, sondern verlangt vor allem
nach einer menschengerechten sinnstiftenden Lebenswelt, um deretwillen es sich lohnt, gesund zu bleiben.“43
Gleiches gilt für das Altwerden! Die ethischen Herausforderungen im Altenpflegheim entstehen aus dem
Bedürfnis des Heimbewohners nach einem würdigen Alter und damit nach einem sinnstiftenden letzten
Aufenthalt, damit er erfahren kann, wozu es gut ist, alt zu werden. Es soll nicht verschwiegen werden, dass
damit immer Gratwanderungen verbunden sind zwischen Freiheit und Fürsorge, zwischen Schutz und
Zwang, zwischen Schulden und Zumuten, zwischen Zuviel und Zuwenig, aber dieser Herausforderung müssen sich alle stellen.
42
Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen bei Marckmann, G. (Hrsg.) (2003) Gesundheitsversorgung im Alter: zwischen ethi-
scher Verpflichtung und ökonomischem Zwang. Schattauer, Stuttgart.
43
Seidler, E. (1991) Wozu will der Mensch gesund sein? Festrede anlässlich der 125-Jahrfeier von Goedecke und Parke-Davis am
04. 10. 91.
100
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Ethikberatung – nicht nur im Krankenhaus
Aufbau von analogen Netzwerkstrukturen in Organisationen der Kirchen
und der Wohlfahrtpflege
Statements
Brunhilde Ackermann
Barbara Heller
Dr. Gisela Bockenheimer-Lucius
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Die Betreuungsbehörde und
das Gesetz zur Patientenverfügung
Betreuungsbehörden wurden 1992, mit dem Inkrafttreten des Betreuungsrechts, in allen Landkreisen und
kreisfreien Städten eingerichtet.
Sie ermittelt im Auftrag des Betreuungsgerichts den tatsächlichen rechtlichen Betreuungsbedarf, macht
Vorschläge zu örtlich verfügbaren und geeigneten anderen „betreuungsvermeidenden“ Hilfen und schlägt
einen geeigneten Betreuer vor. Sie trägt dafür Sorge, dass eine ausreichende Zahl an ehrenamtlichen Betreuern gewonnen wird und geeignete berufliche Betreuer zur Verfügung stehen. Sie schult und unterstützt die Betreuer.
Einen besonderen Stellenwert hat die Aufgabe der Information, der Beratung und Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern zu allen Angelegenheiten des Betreuungsrechts. Besonders in den letzten Jahren hat
die Nachfrage nach Vorsorgevollmachten und, verbunden damit, nach Patientenverfügungen erheblich
zugenommen.
Durch das nunmehr in Kraft getretenen Gesetz zur Patientenverfügung ist ein erheblicher Anstieg an Beratungsbedarf zu verzeichnen.
Das Gesetz trat als 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts zum 1. September 2009 in Kraft. und
normierte damit überwiegend die bisherige Rechtsprechung.
Gesetzliche Regelungen:
Die §§ 1901a und 1901b BGB sollen gemäß ihres Wortlautes nach dem Willen des Gesetzgebers den Bürgerinnen und Bürgern Rechtsklarheit und Rechtssicherheit im Umgang mit der Patientenverfügung geben:
§ 1901 a Patientenverfügung
(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der
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Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der
Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die
aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter
Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage
einer Patientenverfügung darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
(5) Die Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte entsprechend.
§ 1901 b Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens
(1) Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die
Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung
des Patientenwillens als Grundlage
für die nach § 1901a zu treffende Entscheidung.
(2) Bei der Feststellung des Patientenwillens nach § 1901a Absatz 1 oder der Behandlungswünsche oder des
mutmaßlichen Willens nach § 1901a Absatz 2 soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen
des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung
gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten für Bevollmächtigte entsprechend.“
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Falls Arzt und Vertreter unterschiedliche Auffassung darüber haben, welche Entscheidung dem Willen des
Betroffenen entspricht, ist eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einzuholen. Damit soll der Wille des
Betroffenen geschützt werden.
Mit der gesetzlichen Regelung des Umgangs mit der Patientenverfügung musste somit auch der § 1904
BGB über die gerichtliche Genehmigung von ärztlichen Maßnahmen neu gefasst werden.
§ 1904 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen
(1) Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder
einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr
besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden,
wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.
(2) Die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des
Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass
der Betreute auf Grund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren
und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet.
(3) Die Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist zu erteilen, wenn die Einwilligung, die Nichteinwilligung
oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht.
(4) Eine Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf
der Einwilligung dem nach § 1901a festgestellten
Willen des Betreuten entspricht.
(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für einen Bevollmächtigten. Er kann in eine der in
Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 2 genannten Maßnahmen nur einwilligen, nicht einwilligen oder die Einwilligung widerrufen, wenn die Vollmacht diese Maßnahmen ausdrücklich
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umfasst und schriftlich erteilt ist.“
Mit dem Gesetz zur Patientenverfügung will der Gesetzgeber allen Beteiligten mehr Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit im Umgang mit Patientenverfügungen geben. Mit einer Patientenverfügung kann nunmehr verbindlich zum Ausdruck gebracht werden, ob und welche medizinischen Maßnahmen die Betroffenen bei konkret beschriebenen Krankheitszuständen wünschen oder ablehnen.
Die Regelungen sollen sicherstellen, dass bei jeder Behandlungsentscheidung der Patientenwille in jeder
Lebensphase zu beachten ist. Dabei ist die Beachtung des Patientenwillens weder an hohe bürokratische
Anforderungen noch an Art oder Stadium einer Krankheit geknüpft. Künftig bindet jede schriftliche Patientenverfügung, die der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation entspricht, alle Beteiligten.
Kann der Patient sich selbst nicht mehr äußern und liegt eine Patientenverfügung vor, muss der Betreuer
oder Bevollmächtigte sorgfältig prüfen, ob er darin für die anstehende Situation bereits eine Behandlungsentscheidung getroffen hat. Ist das der Fall, hat der Vertreter diesem Willen Ausdruck und Geltung zu verschaffen.
Maßstab der Entscheidung ist immer der festgestellte Wille des Patienten. Zu seiner sorgfältigen Ermittlung ist das Gespräch zwischen Arzt und Angehörigen, Bevollmächtigtem oder Betreuer von entscheidender Bedeutung. Wenn es keine Patientenverfügung gibt oder wenn sie nicht genau auf die konkrete Lebens- und Behandlungssituation passt, muss der Betreuer oder Bevollmächtigte unter Einbeziehung von
nahen Angehörigen und Vertrauenspersonen den behandlungsbezogenen mutmaßlichen Willen des Betroffenen ermitteln und im Sinne des Kranken entscheiden, ob eine bestimmte Behandlung erfolgen soll
oder nicht.
Die Entscheidung über die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme, sofern es kein Notfall ist, muss im
Dialog zwischen Arzt und Vertretern des Patienten vorbereitet werden. Der behandelnde Arzt prüft, was
medizinisch indiziert ist und erörtert die Maßnahmen mit dem Betreuer oder Bevollmächtigten.
Falls Arzt und gesetzlicher Vertreter unterschiedliche Auffassungen darüber haben, welche Entscheidung
dem Willen des Betroffenen entspricht, ist eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einzuholen. Auch
Dritte können beim Betreuungsgericht eine Überprüfung anregen, um dem Schutz des Betroffenen nachzukommen, wenn sie befürchten, dass Vertreter nicht im Sinne des Betroffenen entscheiden.
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Der Widerruf einer Patientenverfügung ist grundsätzlich an keine Form gebunden. Ist es im Einzelfall nicht
möglich, den Behandlungswillen eines entscheidungsunfähigen Patienten festzustellen, zieht das Gesetz
vor, entsprechend dem Wohl des Patienten zu entscheiden und dabei dem Schutz seines Lebens Vorrang
einzuräumen.
Die aktive Sterbehilfe ist weiterhin verboten und strafbar.
Die Betreuungsbehörde der Stadt Kassel informiert regelmäßig in öffentlichen Veranstaltungen zu dem
Themenbereich, Vorsorgevollmacht und Patientenverfügungen im Kontext des Betreuungsrechts.
Die Termine im 1. Halbjahr 2010 sind:
27. Januar 2010 um 10.30 Uhr
17. März 2010 um 10.30 Uhr
9. Juni 2010 um 18.30 Uhr.
Die Betreuungsbehörde bietet außerdem Einzelberatungen zu dem Thema nach Vereinbarung an und stellt
Referenten für Gruppenveranstaltungen.
Kontaktadresse:
Magistrat Stadt Kassel / Betreuungsbehörde
Obere Königsstr. 8, Rathaus,
34 117 Kassel
Geschäftszimmer: Tel. (0561) 787 5010
[email protected]
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Resümee und Perspektiven
Helga Steen-Helms
Pfarrer Sven Pernak
Peter Kraft
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Helga Steen-Helms
Fachtagung „Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod –
Hilfestellung und Entlastung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung“ vom 30. November bis zum 1. Dezember 2009
Resümee von Frau Helga Steen-Helms, Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit
Um ein Resümee von dieser zweitägigen Fachtagung zu ziehen, möchte ich zunächst einen kurzen Blick
zurückwerfen und der Frage nachgehen:
„Welche Ziele haben wir mit dieser Veranstaltung verfolgt – sind diese Zielsetzungen erreicht worden?“
Mittlerweile ist es üblich, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende einer Veranstaltung im Rahmen
eines Evaluationsbogens hierzu befragt werden. Das wird die Evangelische Akademie auch heute noch tun
– vorab möchte ich kurz berichten, was ich im Rahmen der Fachbeiträge, während der Arbeitsgruppenphase und in den Pausen beobachtet und wahrgenommen habe.
Meines Erachtens haben Sie alle sehr intensiv die Zeit für einen fachlichen und persönlichen Austausch
genutzt. Besonders gefreut hat mich, dass in den Arbeitsgruppen unterschiedlichste Berufsgruppen vertreten waren und ihre jeweiligen fachlichen Probleme und Einschätzungen eingebracht haben.
In der Vorbereitungsphase dieser Fachtagung waren sich die Kooperationspartner schnell einig, dass es
sich bei der Thematik zur Entscheidungsfindung zwischen Leben und Tod um eine elementare und hochaktuelle Fragestellung handelt, die sowohl für kirchliche als auch nichtkirchliche Institutionen von zentraler
Bedeutung ist. Darüber hinaus sollte die Veranstaltung den mit dieser Thematik befassten Berufsgruppen
die Möglichkeit zu einem interdisziplinären Dialog bieten und auch Anreize zur Schaffung neuer örtlicher
Vernetzungsstrukturen vermitteln.
Gerade weil der Alltag in fast allen Berufsbereichen zunehmend geprägt ist von Zeit- und Termindruck bieten Veranstaltungen wie diese eine Chance zum Innehalten, zum Reflektieren, zur Überprüfung und gegebenenfalls auch zur Korrektur von eingefahrenen Verhaltensmustern und Verfahrensweisen.
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Bei der Gesamtbetrachtung des Tagungsverlaufs haben sich drei zentrale Kernpunkte herauskristallisiert,
die für diese Thematik von besonderer Bedeutung sind
• der betroffene Mensch,
• die Institution mit ihrem jeweiligen Dienstleistungsangebot und
• der Faktor „Zeit“.
Bei Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod steht der betroffene Mensch im Zentrum des
Geschehens. Seine Würde und sein Wohl muss der Maßstab allen Handelns sein.
Das Sterben ist ein elementarer Bestandteil des menschlichen Daseins. Der Mensch als soziales Wesen ist
eingebettet in ein wie auch immer gestaltetes soziales Umfeld und geprägt von religiösen und kulturellen
Werten und Haltungen. Das Sterben ist ein nicht kalkulierbarer Prozess und in der Regel mit einem
Höchstmaß an Emotionen, Ängsten und Unsicherheiten verbunden.
In einem Text von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1929 kommt dies treffend zum Ausdruck:
„Befürchtung
Werde ich sterben können –? Manchmal fürchte ich, ich werde es nicht können.
Da denke ich so: wie wirst du dich dabei aufführen? Ah, nicht die Haltung – nicht das an der Mauer, der Ruf
»Es lebe ... « nun irgendetwas, während man selber stirbt; nicht die Minute vor dem Gasangriff, die Hosen
voller Mut und das heldenhaft verzerrte Angesicht dem Feinde zugewandt ... nicht so. Nein, einfach der
sinnlose Vorgang im Bett. Müdigkeit, Schmerzen und nun eben das. Wirst du es können?
Zum Beispiel, ich habe jahrelang nicht richtig niesen können. Ich habe geniest wie ein kleiner Hund, der den
Schluckauf hat. Und, verzeihen Sie, bis zu meinem achtundzwanzigsten Jahre konnte ich nicht aufstoßen –
da lernte ich Karlchen kennen, einen alten Korpsstudenten, und der hat es mir beigebracht. Wer aber wird
mir das mit dem Sterben beibringen?
Ja, ich habe es gesehen. Ich habe eine Hinrichtung gesehen, und ich habe Kranke sterben sehn – es schien,
dass sie sich sehr damit plagten, es zu tun. Wie aber, wenn ich mich nun dabei so dumm anstelle, dass es
nichts wird? Es wäre doch immerhin denkbar.
»Keine Sorge, guter Mann. Es wird sich auf Sie herabsenken, das Schwere – Sie haben eine falsche Vorstellung vom Tode. Es wird ... « Spricht da jemand aus Erfahrung? Dies ist die wahrste aller Demokratien, die
Demokratie des Todes. Daher die ungeheure Überlegenheit der Priester, die so tun, als seien sie alle schon
hundertmal gestorben, als hätten sie ihre Nachrichten von drüben – und nun spielen sie unter den Lebenden
Botschafter des Todes.
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Vielleicht wird es nicht so schwer sein. Ein Arzt wird mir helfen, zu sterben. Und wenn ich nicht gar zu große
Schmerzen habe, werde ich verlegen und bescheiden lächeln: »Bitte, entschuldigen Sie ... es ist das erste
Mal ... «“
Berufsgruppen, die mit sterbenden Menschen konfrontiert sind, wissen in der Regel um die Ängste und
Verunsicherungen der Betroffenen. Sie sind gefordert, im Rahmen ihrer jeweiligen Institutionen menschenwürdige und individuell ausgerichtete Formen der Begleitung und Unterstützung zu ermöglichen.
Dass sich diese Ansprüche in der beruflichen Praxis nicht immer im gewünschten Maße umsetzen lassen,
wurde im Verlaufe dieser Fachtagung häufig hervorgehoben.
Die an Entscheidungsprozessen zwischen Leben und Tod beteiligten Institutionen sind -wie alle anderen
Institutionen auch- geprägt von ihren jeweiligen Trägerstrukturen und von ökonomischen Anforderungen,
die in der Regel eine hocheffiziente Erbringung von Dienstleistungen beinhaltet.
Dabei spielt der Faktor „Zeit“ eine zentrale Rolle. Für die Begleitung sterbender Menschen sind angemessene Zeitressourcen unerlässlich – im institutionellen Rahmen ist „Zeit“ aber knapp und teuer.
Um in diesem Spannungsfeld sowohl dem betroffenen Menschen als auch der Mitarbeiterschaft gerecht zu
werden, sollten alle kirchlichen und nichtkirchlichen Träger und Verbände unterstützende und entlastende
Maßnahmen wie zum Beispiel die hier vorgestellten Modelle von Ethikberatung und interdisziplinärer Vernetzung nutzen.
Wir benötigen eine institutionalisierte „Ethik der Achtsamkeit“, die geprägt ist von Anteilnahme, Versorgung, Mitmenschlichkeit und Verantwortung. Dies schließt nicht nur die Sorge für andere, sondern auch
die Selbstsorge mit ein.
Unverzichtbar für die Zukunft wird aber auch die verstärkte Nutzung von Ressourcen im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements und anderer sozialer Unterstützungsformen sein.
Aufgrund des demographischen Wandels wird es zukünftig immer mehr ältere Menschen geben, die keine
familiären Bindungen haben und auf soziale Kontakte und Unterstützungen im Gemeinwesen angewiesen
sind.
Freiwilliges Engagement stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft und bringt zusätzliche Lebensqualität
in den Alltag. Dass Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen hierzu bereit sind, zeigt u. a. die Entwicklung in der Hospizbewegung.
Im Rahmen dieser Fachtagung haben wir keine Lösungsstrategien für die vielschichtigen gesellschaftspolitischen Problemlagen entwickeln können.
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Ich hoffe aber, dass Sie neue Impulse und Denkanstöße für ihre berufliche Praxis mitnehmen und es Ihnen
vor Ort gelingt, Verbesserungen für die Ihnen anvertrauten Menschen und für ihre eigene berufliche Zufriedenheit einzuführen.
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Tagung „Entscheidungen an der Grenze zwischen Leben und Tod“
Zusammenfassung der Tagung für das Diakonische Werk Kurhessen-Waldeck durch Pfarrer Sven Pernak,
Assistent des Landespfarrers
Sehr geehrte Damen und Herren,
in den Vorreden wurden bereits die wichtigsten Punkte dankenswerter Weise genannt, so dass ich mich
auf einige wenige Anmerkungen beschränken möchte.
Ich denke, dies war eine Tagung, die wiederum vor Augen geführt hat, wie wichtig die enge Kooperation
und Abstimmung der einzelnen beteiligten Gruppen ist. In diesen eineinhalb Tagen ist deutlich geworden,
dass es hier bereits sehr gute Ansätze gibt, allerdings der Bedarf besonders bei einem Wechsel der Zuständigkeiten weiterhin sehr hoch ist. Hier sei zum Beispiel nur die Entlassung aus einem Krankenhaus und die
Übernahme durch einen ambulanten Dienst genannt.
Gestatten sie mir darüber hinaus vier Punkte anzusprechen, die aus meiner Sicht am Ende dieser Tagung
wichtig sind:
Neben allen Fachdiskursen geht es um eine Humanisierung der gesellschaftlichen Kultur im Hinblick auf
Tod und Sterben. Für die Menschen, die in ihrer Arbeit mit Sterbenden zu tun haben bedeutet dies durch
Aus- und Fortbildung die Heranbildung einer Sensibilität und ethischen Hermeneutik, die Schaffung eines
Gehöres für den persönlichen Umgang des einzelnen Menschen mit seinem Sterben, seinem Tod. Dazu
gehört ein Bewusstsein der sozialen Herkunft und der „historischen“ Erlebnisse. Wir haben es bereits heute und in naher Zukunft verstärkt mit Menschen zu tun, die zu einem Großteil die Ereignisse des Zweiten
Weltkrieges als Kinder erlebt haben. Dass heißt in einer Lebensphase, in der kaum Bewältigungsstrategien
zur Verfügung stehen, kam Tod und Sterben sprichwörtlich wie aus heiterem Himmel über diese Menschen. Über diese Erlebnisse wurde danach fast durchgängig geschwiegen. Nun sollen diese Menschen sich
mit ihrem eigenen Sterben intensiv auseinandersetzen? Diese letzte Phase ihres Lebens „planen“ bzw. bewusst gestalten?
Das sollte im Bewusstsein sein, ebenso die Frage, wie sind die Menschen in ihrer Vergangenheit mit Tod
und Sterben umgegangen? Welche Geschichten erzählen sie uns und wie erzählen sie sie? In der Zechensiedlung meiner Eltern kam, als die meisten noch kein Telefon hatten, ein Wagen mit einem Bediensteten
der Zeche vorgefahren, wenn einer der Männer doppelt machen, sprich länger arbeiten musste. Der gleiche Wagen kam aber auch vorgefahren, wenn einer der Männer verunglückt war. Für die Frauen war es
immer ein banger Moment, wenn der Wagen vor der Tür hielt. Sie haben so ihren ganz eigenen Umgang
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mit Tod und Sterben und was ebenso entscheidend ist, ihre eigene Sprache entwickelt. Diese mag nicht so
ausführlich oder auf einem Niveau sein, wie das mancher sich wünscht, ist aber von hoher Bedeutung bei
Fragen einer Sterbebegleitung, die den einzelnen Menschen vor Augen hat.
Vernetzung oder besser Kooperation ist kein Wert an sich. Im Blick sollte immer der betroffene Mensch
sein und dabei auch die Frage, wie viele Menschen dort am Sterbebett von den unterschiedlichen involvierten Diensten stehen. Ein alter Mann, den ich ein wenig kenne, sagte mir mal, er will nicht ins Altenheim
und auch nicht ins Hospiz. Nicht weil es der letzte Ort des Lebens sei, sondern weil man dort nie zu Ruhe
komme angesichts all der Angebote und Menschen.
Kooperation kann hier also auch Beschränkung bedeuten.
Wichtig erscheint auch eine genaue Bestimmung der Begriffe und ihrer Abgrenzung. Das erscheint zwar
zunächst sehr theoretisch, ist aber von entscheidender Bedeutung für die praktisch Arbeit. Wir müssen
wissen wovon wir reden, wenn wir von Ethik oder auch Spiritualität reden, damit am Ende nicht nur moralische Appelle bleiben, sondern die Menschen durch ein bewusstes, reflektiertes Handeln und Entscheiden
unterstützt werden.
Als vierter und letzter Punkt: Alle Ethikberatung und alle Sterbebegleitung kann den Tod nicht „bewältigen“. Das Ende des Lebens bleibt wie sein Anfang letztlich unverfügbar und damit nicht zu „bewältigen“.
Diese Ehrlichkeit sollten wir uns und den Menschen, die wir begleiten, zugestehen und so der Bildung von
Mythen keinen Vorschub leisten: Die beste Kooperation, die beste Ethikberatung bewahrt letztlich nicht
vor der Unverfügbarkeit des Todes.
Vielen Dank.
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Caritasverband
für die
Diözese Mainz e. V.
Resümee und Perspektiven zu
„ENTSCHEIDUNGEN AN DER GRENZE ZWISCHEN LEBEN UND TOD“
6. Fachtagung
vom Montag, 30.11.2009 und Dienstag, 01.12.2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
Für den Caritasverband für die Diözese Mainz möchte ich Ihnen ganz herzlich danken, den Referenten für
ihre kompetenten und herausfordernden Impulse, Ihnen als Teilnehmerinnen und Teilnehmern für Ihre
engagierten Beiträge.
Ich bin dankbar für die vielfältigen Gespräche und Anregungen aus den Arbeitsgruppen. Sie werden uns
weiterhelfen, die Dienste vor Ort zu unterstützen.
Wie positioniert sich unser Verband angesichts der an den beiden Tagen geschilderten Gemengelage?
Was kann Caritas leisten, damit Leben gelingt?
Als Spitzenverband haben wir auch die Aufgabe der Beratung der Einrichtungen vor Ort und insbesondere
ein umfängliches Fort- und Weiterbildungsangebot zu unterbreiten.
Die Schwerpunktthemen der letzten Jahre auf politischer Ebene sind ein Abbild der Bedingungen vor Ort.
Sie heißen „Demenz“ und „Sterbebegleitung“.
Fokussiert auf das Thema unserer Tagung kann ich für die Diözese Mainz auf Ergebnisse hinweisen, die
eine spürbare Entwicklung zu Thema „Sterben und Tod“ deutlich machen. Mit dem Votum aus einer Konferenz unserer Träger erarbeiteten Praktiker und MitarbeiterInnen des Diözesancaritasverbandes eine Arbeitshilfe für unsere stationären Einrichtungen:
„Leitgedanken zur Sterbebegleitung“
Ziel: niederschwellig, auch für Hilfskräfte
2 Jahre später entstand ein vergleichbares Produkt auch für den ambulanten Bereich. Der Vorstand unseres Verbandes genehmigte dem zuständigen Referenten Altenhilfe eine zusätzliche halbe Planstelle mit
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dem Ziel der Unterstützung bei der Implementierung. Parallel hierzu boten wir die Weiterbildung „Palliative Care-Fachkraft“ an.
Curriculum: Deutsche Hospizgesellschaft mit der (auch zeitlichen) Ergänzung des Themas
Demenz
Der nächste Kurs ist praktisch bereits ausgebucht.
Warum stelle ich Ihnen das dar? Nicht als Leistungsnachweis, sondern als Ausdruck für eine Entwicklung,
die vor Ort erkannt worden ist.
Mehrfach ist auch im Laufe dieser Tagung das Thema der „erforderlichen Zeit“ aufgekommen. Ich bin
überzeugt davon, dass ich die erforderlichen Ressourcen trotz intensiver Schulungen, Ethikkomitees, Ethikvisiten nicht ausreichen werden, den betroffenen Menschen hinreichend gerecht zu werden.
Für mich geht es insbesondere auch darum, dass die Ideen, die Haltung aus den Hospizgruppen auch stärker in unseren Einrichtungen Platz finden.
An der Haltung der meisten unserer MitarbeiterInnen hat es auch früher nicht gemangelt, das Know how
aus der Hospizarbeit und der Palliativmedizin haben die Arbeit qualitätvoller gemacht.
Was steht in unserer Diözese auf der Agenda?
Die im letzten Jahr begonnene Arbeit an „Pastoralen Richtlinien“ wollen wir unserem Bischof vorlegen.
Zum ersten Mal wurde der Seelsorge in der gesamten Diözese ein verbindlicher Rahmen für die Seelsorge
in unseren Altenheimen beschrieben. Dies hätte auch Folgen für die Begleitung Sterbender. Unsere Altenheime müssen heraus aus den Nischen und wieder in die Mitte der Gemeinden als Teil des Sozial- und pastoralen Raums.
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich die Position von Bischof Hein mit einem Kirchenanteil von 10 % und
Generalvikar Dr. Stanke mit einer spürbaren personellen Verstärkung für Sterbebegleitung auch bei uns
umsetzen ließen. Mein Kenntnisstand über die zu erwartende Kirchensteuerentwicklung lassen mich ein
wenig skeptisch sein.
Dennoch: es waren viele Gedanken und Ideen zu hören, die es aufzugreifen lohnt:
Projekt Ffm. Ehtikberatung
Ethikvisite
Vernetzungssysteme
Unser Ziel: Stärkung der Mitarbeiter
fachliche Zurüstung
Arbeit an der eigenen Ethik
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helfende Strukturen organisieren
Kompetenzen zusammenführen
Wir haben den Vorteil, alle betroffenen Ebenen vom Träger über Leitungen bis hin zur MA-Ebene zu erreichen.
Was kann ein Wohlfahrtsverband noch tun?
Die verschiedenen Akteure zusammen zu führen. Zu uns gehören in der Diözese Mainz z. B.: 9
Krankenhäuser mit Geriatrieabteilungen etc.
In unserem Bistum gibt es ein Institut für Geistliche Begleitung. Mit einer Reihe von Angeboten
(auch vor Ort) wird unser eigenes Fortbildungsangebot komplettiert. Ein erstes gutes Beispiel
für eine engere Zusammenarbeit mit der Kirchenführung.
Perspektive:
Gegen politische Ziele - trotz der Stigmatisierung - wird es mehr Heimplätze geben
(müssen).
Die Demographie unserer Gesellschaft macht deutlich:
Das Thema heißt: „Hochaltrigkeit“
Starke Zunahme der Singlehaushalte
ambulantes Netzwerk fördern
stationäre Einrichtung zum Teil des Netzwerkes werden lassen
Wir wollen, dass die Arbeit und das Leben im Altenheim als menschengerecht und sinnstiftend erlebt werden.
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Anhang
Tagungsprogramm
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