1.2 Strukturelle und funktionelle Anatomie des

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1.2 Strukturelle und funktionelle Anatomie
des Zentralnervensystems
BRUNO PREILOWSKI, MARIO PAULIG, MARIO PROSIEGEL
Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
BRUNO PREILOWSKI
Zusammenfassung
Neuroanatomische Kenntnisse sind für den Neuropsychologen unabdingbar und daher auch
ein wichtiger Teil des Curriculums: In diesem ersten Unterkapitel werden vor allem die
wesentlichen Strukturen des Zentralnervensystems beschrieben, und zwar sowohl in ihrer
grobmorphologischen Gliederung und ihrem Aufbau als auch mit ihren Verbindungen
untereinander. Dabei geht es nicht nur um das Vokabular in der Benennung von Organteilen und der Orientierung innerhalb des ZNS, sondern auch darum, anzuregen, „die
Neuroanatomie ernst zu nehmen“. So sollten beispielsweise die unterschiedlichen Formen
der Bauteile des ZNS oder die verschiedenen Verhältnisse von weißer und grauer Substanz innerhalb bestimmter ZNS-Strukturen als Hinweise auf mögliche funktionelle
Unterschiede erkannt werden. Die für ein Neuroanatomiekapitel relativ geringe Anzahl von
Überblicksabbildungen kann mit Hilfe der im Internet verfügbaren riesigen Mengen an
Abbildungen des Gehirns und entsprechenden Atlanten leicht kompensiert werden. Das
Kapitel kann somit auch gewissermaßen als ein kommentiertes Inhaltsverzeichnis des
Gehirns betrachtet und benutzt werden.
Die klinische Neuropsychologie beschäftigt
sich mit den veränderten Wahrnehmungsleistungen sowie den kognitiven und affektiven
Verhaltensmöglichkeiten von Patienten. Sie
versucht diese Veränderungen zu analysieren
und Hilfen anzubieten, mit ihnen umzugehen
und so die Lebensqualität der Patienten zu
maximieren. Die eigentliche Arbeit des Neuropsychologen spielt sich also auf der Verhaltensebene ab. Dennoch sind für ein Verständnis der Probleme des Patienten Kenntnisse der
strukturellen und funktionellen Anatomie von
großer Hilfe. Dies gilt vor allem für die Einschätzung des möglichen Verlaufs der Beeinträchtigungen sowie für die Kommunikation
mit den Patienten und ihren Vertrauenspersonen über Ziele und Möglichkeiten einer Behandlung.
Angesichts der Komplexität des menschlichen Gehirns mag man diesen Bezug zur
Anatomie in Zweifel ziehen. Immerhin haben
wir es hier mit einem System zu tun, das aus
33
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Das Nervensystem kann man nach morphologischen und funktionellen Gesichtspunkten
unterteilen. In den nachfolgenden Abbildungen Ànden sich, außer den im Text erwähnten,
weitere in der Literatur verwendete Bezeichnungen. Hier zeigt sich bereits ein Problem
der Anatomie, das uns immer wieder begegnen
wird, nämlich die Verwendung einer Vielzahl
von Begriffen für ein und die selbe Struktur.
Vereinbarungen, wie die Pariser Nomina Anatomica (PNA) von 1955 oder die Terminologia
Anatomica (FCAT, 1998) werden leider nur
selten beachtet.
Bezüglich der Orientierung im Nervensystem, sowohl was die Zuordnung zu bestimmten morphologisch und funktionell deÀnierten
Teilbereichen betrifft, als auch bezüglich der
räumlich, topographischen Lage, ist die Darstellung der Entwicklung des Nervensystem
eine große Hilfe. Aus der embryonalen Neuralplatte entsteht nach der zweiten Entwicklungswoche das Neuralrohr. Die blasenförmigen Aufweitungen dieses Neuralrohres lassen
bereits die wichtigsten Strukturen des Zentralnervensystems erkennen.
Zur weiteren Verdeutlichung dieser Gehirngliederung bleiben wir erst einmal bei einer Art
Modelltier mit einer geradlinigen Neuraxis. Im
Vergleich der Wirbeltiere ist diese lineare Ausrichtung dann beispielsweise von den Amphibien zu den Vögeln und den Säugern hin nicht
mehr so deutlich, da sich – je nach Tierart – einzelne Hirnbereiche im Verhältnis zu den an-
Unterteilungen des Nervensystems
nach morphologischen Gesichtspunkten:
Unterteilungen des Nervensystems
nach funktionellen Gesichtspunkten:
geschätzten 100 Milliarden Nervenzellen mit
100 Billionen Verbindungen besteht. Komplizierend kommen noch die EinÁüsse verschiedener Überträgerstoffe an jeder einzelnen
Synapse hinzu sowie die Auswirkungen von
retrograden Botenstoffen und Transportern auf
die Konzentration von Transmittern im synaptischen Spalt und in der präsynaptischen Zelle.
Und eigentlich müsste man auch noch die BeeinÁussungen durch 1000 Milliarden Gliazellen sowie die Interaktionen mit dem System
der Blutversorgung und dem endokrinen Apparat berücksichtigen.
Auf der anderen Seite aber sehen wir gerade
in der Entwicklung und im Aufbau des
Gehirns sowie in den Auswirkungen von pathologischen und traumatischen Veränderungen auf das Verhalten eine Regelhaftigkeit, die
uns die Illusion eines modellhaften Verständnisses der Gehirn-Verhaltenszusammenhänge
belässt. Einige der wichtigsten Grundregeln
der strukturellen und funktionellen Anatomie
des Zentralnervensystems werden im Folgenden beschrieben.
Die Unterteilung des Nervensystems und
Konventionen zur Orientierung im Nervensystem
Zentralnervensystem
(ZNS):
Nervengewebe, welches
im Schädel und im
Wirbelkanal der Wirbelsäule eingeschlossen
ist.
Peripheres Nervensystem (PNS):
Nerven des Kopfes,
Rumpfes und der Extremitäten nach ihrem
Austritt aus dem ZNS.
unterteilbar in:
Gehirn (Encephalon)
und
Rückenmark
unterteilbar in:
12 Hirnnerven
(Nervi craniales)
und
31 Spinal- oder
Rückenmarksnerven
(N. spinales)
Vegetatives
Nervensystem:
auch viszerales,
autonomes, idiotropes
NS genannt.
Nervensystem der
inneren Organe (Eingeweide, Blutgefäße,
Drüsen, etc.) zur Aufrechterhaltung des
inneren Milieus.
unterteilbar in:
Sympathisches u.
Parasympathisches NS
Somatisches
Nervensystem:
auch animalisches,
zerebrospinales,
oikotropes NS genannt.
Nervensystem der
Sinnesorgane und
gestreiften Muskulatur
zur Interaktion mit der
Umwelt.
34
B. Preilowski
deren stärker entwickeln. Beim höheren Säuger wird das besonders an der Vergrößerung
des Telencephalons deutlich.
Bei einer solchen geradlinigen Neuraxis ist
die eindeutige räumliche Orientierung relativ
einfach: Vorn und hinten sind mit Begriffen
wie „rostral“ (schnabelwärts) und „caudal“
(schwanzwärts) unverwechselbar zu beschreiben. Ähnliches gilt für „ventral“ (bauchseitig)
und „dorsal“ (rückenseitig). Auch zusätzliche
Begriffe, wie „frontal“, „oral“ und „anterior“
(für vorn) sowie „posterior“ und „occipital“
(für hinten) lassen sich ebenfalls noch gut in
dieses Schema integrieren. Wichtig ist hier
aber, dass eine Unverwechselbarkeit nur bezüglich der Neuraxis gegeben ist, d.h. das diese topographischen Begriffe unabhängig von
der Lage der Neuraxis, bzw. des dazugehörenden Tieres im Raum verstanden werden müssen. Wenn man sich strikt an diese Vorschrift
hält, ist auch die beim Menschen auftretende
Komplikation durch einen Knick in der Neuraxis leicht zu meistern.
Der Vollständigkeit halber sollten noch die
Begriffe für ‚zur Mitte hin‘ = „medial“, ‚zur
Seite‘ = „lateral“, ‚weiter entfernt (von der
Mittellinie)‘ = „distal“ und ‚näher (zur Mittellinie)‘ = „proximal“ ergänzt werden. Schließ-
lich gibt es für die Richtungsangaben bezüglich der Orientierung von Nervenzellen mit
ihren Axonen bzw. von Nervenfaserbündeln
(im ZNS jeweils als „Tractus“ und im PNS als
„Nervus“ bezeichnet) die Bezeichnung von
„afferent“ und „efferent“. Erstere bedeutet eine Zuleitung und die zweite eine Wegleitung.
In ähnlicher Weise wird der Zusatz „-petal“
bzw. „-fugal“ verwendet. Eine Nervenfaserverbindung zum Thalamus hin ist also eine
Afferenz des Thalamus oder eine thalamopetale Verbindung; eine Bahn vom Thalamus
beispielsweise zum Kortex, wäre dagegen eine
Efferenz des Thalamus oder thalamo-fugal.
Darüber hinaus könnte man diese Bahn auch
als thalamo-kortikale Verbindung bezeichnen,
wobei jeweils der Ursprungsort zuerst und der
Zielort zuletzt genannt wird.
Bei Hirnschnittdarstellungen werden vor
allem drei Schnittebenen unterschieden, die
sagittale, horizontale (axiale) und frontale
(koronare). Diese Schnittebenen lokalisiert
man mit Bezug auf den Nullpunkt eines dreidimensionalen Achsensystems. Positive Zahlenwerte kennzeichnen den Durchgang des
Schnittes vor, über oder rechts vom Nullpunkt,
negative Werte hinter, unter oder links des
Ursprungs des Koordinatensystems (Abb. 1).
Sagittal
tal
on
iz
or
H
l
ta
on
Fr
Abb. 1. Die drei Schnittebenen
durch das Gehirn.
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Die folgenden Abbildungen sind Darstellungen von Kernspinaufnahmen (Dicom Dateien) mit Hilfe des Programms MRIcro
Abb. 2. (Fast) mitt-sagittaler
Schnitt.
Abb. 3. Horizontalschnitt.
35
(http://www.sph.sc.edu/comd/rorden/mricro.
html) (Abb. 2-4).
36
B. Preilowski
Abb. 4. Frontal- bzw. Koronarschnitt.
Die Bauteile des Nervensystems und Gehirns
Neurone
Das Nervensystem ist im Wesentlichen aus
Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen aufgebaut. Alle Neurone ähneln sich in Struktur
und Funktion: Sie schließen alle ihre Zentralund Haushaltsorgane (Zellkern und Organellen) in eine Lipid-Protein-Membran ein, die
selektiv durchlässig ist, wobei die Durchlässigkeit durch EinÁüsse von inner- und außerhalb der Zelle verändert werden kann. Und sie
sammeln innerhalb eines Einzugsbereichs, der
durch die Ausbreitung ihrer Dendriten (afferente Aufnahmeorgane) bestimmt wird, Informationen in Form von De- oder Hyperpolarisationen ihrer Membran; sie summieren diese
über eine gewisse Zeit und erzeugen, wenn ein
bestimmter Schwellenwert erreicht wird, in
ihren Effektororganen, den Axonen, ein Alles-oder-Nichts-Signal. Aber Neurone unterschieden sich auch in vielfältiger Art und Weise. Schon mit der Entdeckung der Tatsache,
dass das Nervensystem aus diskontinuierlich
gruppierten einzelnen Zellen besteht, wurde
von den Neuroanatomen auf die Vielfalt ihrer
Formen hingewiesen. Unübertroffen ein-
drucksvoll sind die Abbildungen von Santiago
Ramon y Cajal, der mit Hilfe einer Färbetechnik, die ausgerechnet von dem ausdrücklichen
Gegner der Neuronentheorie, von Camillo
Golgi, entwickelt worden war, einzelne Neurone anfärben, in überlagerten Hirnschnitten
verfolgen und nachzeichnen konnte (Cajal,
1911).
Aus Abbildung 5 wird unmittelbar einsichtig, dass sich hinter den verschiedenen Formen
unterschiedliche Spezialisierungen verbergen.
Nervenzellen unterscheiden sich auch in ihrer
Größe oder im Volumenverhältnis vom Zellkörper zu seinen Fortsätzen oder nach der Ausbreitung der dendritischen Zweige sowie der
Länge und Dicke der Axone. Betrachtet man
allein die Größe, so kann man beispielsweise
Körnerzellen mit 10 μm neben Pyramidenzellen von 800 μm Ànden, sowie Zellen mit einer
Axonlänge im Millimeterbereich und solche
mit Fortsätzen, die beim Menschen bis zu einem Meter lang sind.
Für die Zellen mit längeren Fortsätzen kann
man auch systematische Zusammenhänge
zwischen Durchmesser und Dicke sowie Art
der Myelinisierung und Leitungsgeschwindigkeit errechnen. Dabei zeigt sich eine erstaunlich große Varianz in den Durchmessern von
37
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
A
D
B
E
C
F
Abb. 5. Unterschiedliche Neuronen aus (A) dem Cortex cerebri, (B) Cerebellum, (C) Hippokampus,
(D) Thalamus dorsalis, (E) Pons und (F) Nucleus caudatus (abgeändert nach Cajal, 1911).
0.5 bis 12 μm und entsprechend in der Geschwindigkeit von weniger als 1 m bis zu über
100 m pro Sekunde.
Mit der Verbesserung der mikroskopischen
Techniken konnte man auch feinere Details an
den Nervenzellen unterscheiden. Ein wichtiges Merkmal sind dabei die Spines, kleine
Dornen oder Ausstülpungen, die vor allem an
den Dendriten zu Ànden sind. Diese Dornen
scheinen Kompartimente für bestimmte biochemische Prozesse darzustellen. So könnte
die Form der Dornen die Fortleitung der Erregung beeinÁussen und diese Formveränderungen zusammen mit Veränderungen an den
Synapsen das Substrat für Plastizität bzw.
Lernen und Gedächtnis darstellen (Holmes,
1990).
Durch die Möglichkeit, bestimmte Zellen
gezielt (d.h. nicht mehr oder weniger zufällig,
wie dies bei der Golgi Methode der Fall ist) in
ihrer Gesamtheit anzufärben und mit Hilfe des
Computers dreidimensional zu rekonstruieren,
konnte man immer neue Formen von Neuronen und synaptischen Verbindungen erkennen.
Darüber hinaus kann man jetzt Nervenzellen
selektiv nach ihrer Affinität für bestimmte
Substanzen markieren und damit KlassiÀzierungen nach metabolischen und Transmitter-
38
charakteristika vornehmen. Mittlerweile schätzt
man, dass es ungefähr 10.000 unterschiedliche
Typen von Nervenzellen gibt. Auf der anderen
Seite kommt eine Unterteilung in funktioneller
Hinsicht mit sehr viel weniger Kategorien aus,
und die alte Unterscheidung von exzitatorischen und inhibitorischen Verbindungen leistet dabei immer noch gute Dienste.
Gliazellen
Obwohl es im Nervensystem von Wirbeltieren
10 bis 50mal so viele Gliazellen (Glia = Leim,
Kitt) wie Neurone gibt, wissen wir vergleichsweise wenig über sie und über ihr in vivo Verhalten fast gar nichts.
Der im Zentralnervensystem in größter
Zahl auftretende Zelltyp ist die Oligodendroglia, die hier die Aufgabe der im peripheren
Nervensystem zu Àndenden Schwannschen
Zelle übernimmt. Sie bildet nämlich die
Myelinscheiden. Im Unterschied zur Schwannschen Zelle kann sie jeweils mehrere Nervenzellfortsätze gleichzeitig umhüllen. Die Astroglia bzw. die Astrozyten, bilden vielfältige
(sternförmige) Fortsätze aus, die zwischen den
Blutgefäßen und der weichen Hirnhaut, der Pia
mater, wie auch zwischen Nervenzellen Kontakte herstellen. Ependymzellen kleiden die
Hohlräume (Hirnventrikel und Spinalkanal)
aus und sind an der Bildung der Plexus choroidei (zottige Gebilde der Ventrikel, in denen
Liquor zerebrospinalis produziert wird) beteiligt; auch sie stellen Verbindungen mit Blutgefäßen her.
Von den Astrogliazellen nimmt man an,
dass sie außer an Ernährungs- und Aufräumfunktionen auch an der Regelung der neuronalen Aktivität beteiligt sind. So wird vermutet,
dass sie Transmitter aus dem Interstitium aufnehmen sowie das bei erhöhter neuronaler Aktivität im Extrazellulärraum zunehmend anfallende Kalium. Auf diese Weise können sie die
benachbarten Neurone vor einer Depolarisation schützen. Gleichzeitig könnten die Astrozyten so die Hirndurchblutung regeln, die ja
mit erhöhter neuronaler Aktivität steigt (sog.
neurovaskuläre Kopplung; Newman, 1986;
Paulson u. Newman, 1987). Am deutlichsten
B. Preilowski
sieht man Interaktionen zwischen Glia und
Nervenzellen während der Entwicklung und
nach Verletzungen im Nervensystem. Gliazellen leiten Nervenzellen gewissermaßen während ihrer Migration vom mitotischen Entstehungsort zu ihrem zukünftigen Arbeitsplatz.
Dabei haben sie auch einen gewissen EinÁuss
auf die Phänotypisierung und die geordnete
Zusammensetzung der verschiedenen Neurone zu funktionellen Einheiten. Die GrenzÁächen, die die Gliazellen während der Entwicklung als Ordnungs- und Orientierungsstrukturen aufbauen, verschwinden, nachdem
die Nervenzellen ihre synaptischen Verbindungen stabilisiert haben. Sie scheinen aber
nach Verletzungen im Gehirn der ausgewachsenen Säuger wieder aufzutauchen. Die Gliaproliferation kann dabei, so vermutet man,
an der Verletzungsstelle, wie durch einen
Schutzwall, den Verlust von funktionierenden
Zellen eingrenzen; eventuell auch – wie zur
Embryonalzeit – verhindern, dass reaktiv
sprossende Nervenzellen falsche Verbindungen aufbauen. Allerdings scheinen sie damit
auch gleichzeitig die strukturelle und funktionelle Regeneration zu verhindern.
Schließlich wäre noch die Mikroglia (Mesoglia) zu nennen, die phagozytische Abräumfunktionen übernehmen kann. Sie kann aber
auch aktiviert werden, um Substanzen abzusondern, welche ihrerseits insbesondere im
spinalen Bereich und dem PNS auf schmerzempÀndliche Neurone wirken. Diese GliaNeuron-Interaktion wird so für neuropathische
Schmerzen verantwortlich gemacht.
Übrigens ist die Fähigkeit der Gliazellen
sich zu vermehren – im Gegensatz zu den nicht
mehr teilungsfähigen Nervenzellen – auch für
die Bildung der verschiedenen Tumoren verantwortlich.
Interstitium
Heutige Schätzungen gehen dahin, dass das
Interstitium bis zu 10% oder gar 20% des Gewebevolumens ausmacht. Raum genug für eine Vielzahl von neuronal wirksamen Substanzen und möglichen Interaktionen, über die wir
nur wenig wissen.
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Gruppierungen von Nervenzellen und ihren
Fortsätzen
Der eigentlichen funktionellen Bedeutung der
zentralnervösen Zellen kann man sich erst
durch die Betrachtung von Zellgruppierungen
nähern. Neurone sind Gruppenwesen. Sie entwickeln sich aus lokal gruppierten Vorläufern,
sie wachsen in Gruppen aus und positionieren
sich in Gruppen. Im peripheren Nervensystem
kann man Gruppierungen von Nervenzellkörpern als Verdickung (Ganglion, Nervenknoten) in den Nervensträngen erkennen; im
Zentralnervensystem kann man sie aufgrund
fehlender Myelinisierung als graue Substanz
von der weißen Substanz der myelinisierten
Fortsätze unterscheiden. Je nach Formation
sieht man klumpenartige Kerngebiete (Nuklei)
oder streifenförmige Schichten (Strata, Laminae).
Auch die Fortsätze von Nervenzellen verlaufen in Gruppierungen. In der Peripherie ist
ein Nerv (Nervus) als ein durch Bindegewebe
zusammengefasstes Bündel von Nervenfasern
relativ leicht zu identiÀzieren. Im Zentralnervensystem hingegen ist der Verlauf eines Nervenfaserbündels (hier als Tractus bezeichnet)
oft nur unter Anwendung neuroanatomischer
Tricks zu verfolgen.
Das Endhirn (Telencephalon)
Zum Endhirn gehört vor allem der Hirnmantel
(Cortex cerebri) und sein Marklager sowie die
subkortikalen Nuclei der Basalganglien und
die Amygdala.
Der Hirnmantel (Cortex cerebri)
Makromorphologie: Lobi, Gyri und Sulci
Die beiden Großhirnhemisphären lassen sich
in vier Hirnlappen (Frontal-, Parietal-, Okzipital- und Temporallappen; Lobus frontalis, L.
parietalis, L. occipitalis, L. temporalis) und die
Insel (Insula) untergliedern. Die Insel ist von
außen nicht sichtbar, da sie von den Opercula
(„Deckeln“) der Frontal-, Parietal- und Tem-
39
porallappen überdeckt wird. Die Frage ist noch
nicht eindeutig beantwortet, ob die Lobi sowie
die Furchungen und Windungen eine funktionelle Bedeutung haben. Bisher war man eher
der Meinung, dass die Faltung nur eine mechanische Konsequenz der Ausdehnung des
Kortex sei. Immerhin wird es dadurch möglich, die relativ große Fläche des Hirnmantels
von ca. 1600 bis 2500 cm2 (entspricht in etwa
der Größe eines DIN A2 Blattes und ist ungefähr dreimal größer als die SchädelinnenÁäche) mit ca. 10 bis 20 Milliarden Zellen in
einem Schädel von biologisch vertretbarer
Größe unterzubringen.
Tatsächlich gibt es aber auch einige Hinweise auf mögliche funktionelle Aspekte. So
wurde festgestellt, dass die Organisation und
der Reichtum von Nervenfaserverbindungen
im Bereich der Gyruskronen – egal, ob an der
OberÁäche des Gehirns oder von anderen kortikalen Gyri überlagert – sehr viel größer ist, als
in den Wänden oder am Grunde eines Sulcus.
Und darüber hinaus wird behauptet, dass sich
die Gyri in diesen Verbindungsmustern voneinander unterscheiden. Das wiederum könnte
auf spezialisierte Funktionen der verschiedenen Gyri hinweisen (Welker, 1986). In der
letzten Zeit sind Theorien, die für die Faltenbildung funktionelle und mechanische Erklärungen miteinander verbinden (Van Essen,
1997), bestätigt worden (Hilgetag u. Barbas,
2006). Danach werden Hirnregionen, die
durch viele Nervenfasern miteinander verbunden sind, eher zueinander hingezogen als solche die weniger Verbindungen miteinander
haben. Ferner sei auf Unterschiede zwischen
weiblichen und männlichen Gehirnen hingewiesen, wobei Frauen im frontalen und parietalen Kortex eine komplexere GyriÀzierung
aufweisen als Männer (Luders et al., 2004).
Mikromorphologie: Zytoarchitektonische
Unterteilungen
Der Grundbauplan des zerebralen Kortex.
Das Grundschema des kortikalen Bauplans bei
den Säugetieren ist der 6-schichtige Aufbau
(Abb. 6).
(Die Schichten oder Laminae sind von
außen nach innen nummeriert)
40
B. Preilowski
A
B
C
D
E
I.
I.
II.
II.
I.
II.
III.
IV.b
III.
2 mm
IV.a
IV.c
IV.
V.
III.
VI.
V.
IV.
VI.
V.
VI.
Abb. 6. Schichtenaufbau des Cortex cerebri nach Brodmann (1909). (A) Golgifärbung einzelner Neurone.
(B) Nisslfärbung (Zellkörper). (C) Weigert Färbung myelinisierter Fasern. (D) Agranulärer Gyrus praecentralis. (E) Granulärer Sulcus calcarinus.
I.
II.
III.
IV.
V
VI.
L. zonalis (oder L. molecularis; plexiforme Schicht)
L. granularis externa (äußere Körnerschicht)
L. pyramidalis (äußere Pyramidenzellschicht)
L. granularis interna (innere Körnerschicht)
L. ganglionaris (ganglionäre Schicht;
innere Pyramidenzellschicht)
L. multiformis (polymorphe Schicht,
Spindelzellschicht)
Schicht- und zellspeziÀsche Funktionen. In
der obersten Schicht I Àndet man überwiegend
Axone und Dendriten von Zellen aus tieferliegenden Schichten sowie sogenannte Cajalzellen, deren Axone innerhalb dieser Schicht,
also horizontal bzw. tangential, verlaufen.
Man hat diese Schicht deshalb auch als Assoziationsschicht bezeichnet. Den Schichten II,
III und IV hingegen werden rezeptorische
(Eingangs-) Aufgaben und den Laminae V und
VI effektorische (Ausgangs-) Funktionen zugeschrieben. Entsprechend hat man ursprünglich die Pyramidenzellen als die Effektorzellen
und die Körner- oder Sternzellen als die Eingangszellen festgelegt.
Tatsächlich enden die Fasern von den thalamischen sensorischen Kernen überwiegend in
der Schicht IV. Aber man Àndet auch in geringerem Umfang Kontakte an Zellen der Schicht
VI und den Pyramidenzellen der Schichten III
und V. In anderen Bereichen des Kortex, beispielsweise im motorischen Kortex, enden
thalamische Fasern in den Schichten I und III.
Efferenzen kommen aus praktisch allen
Schichten, außer Schicht I. Den größten Beitrag dazu liefern die Pyramidenzellen. Kleine
und mittelgroße Pyramidenzellen aus den
Schichten II, III, IV und VI senden kortiko-kortikale Fasern (Assoziationsfasern) aus, wobei
eine gewisse Korrelation zwischen Größe der
Zellkörper und der Entfernung, die ihre
Fasern überbrücken, festgestellt wurde. Fasern,
die homotope Punkte beider Hemisphären ver-
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
binden (Kommissurenfasern) und beispielsweise das Corpus callosum bilden, stammen
von Pyramidenzellen in den Schichten III sowie, in geringerem Umfang, aus II, IV, V und
VI. Die callosalen Fasern enden in Schicht III
und IV. Axone, die den Kortex verlassen, stammen aus den Schichten V und VI. Ein großer
Teil dieser Ausgänge geht in Systeme ein, die
eine Vielzahl kortikaler Areale mit subkortikalen Strukturen bilden, also zum Beispiel in
kortiko-thalamische, kortiko-striatale oder
kortiko-klaustro-kortikale Neuronenkreise. Die
Fasern, die gewissermaßen in non-reziproker
Form Hirnstamm und Rückenmark anstreben,
stammen alle aus der Schicht V. Neben den
Pyramidenzellen werden auch Sternzellen mit
dornenbesetzten Dendriten als Effektorzellen
betrachtet. Letztere scheinen die Rolle von
Interneuronen innerhalb des Kortex zu spielen
und inhibitorische Funktionen auszuüben.
Hirnkarten – Untergliederungen in Felder und
Areale
Regionale Unterschiede im Grundschema des
6-schichtigen Kortex führten dazu, ihn in Felder
bzw. Areale aufzuteilen (Brodmann, 1909;Campbell, 1905). Diese neuroanatomischen Unterteilungen bestätigten die in den frühen funktionellen Hirnstimulations- und Läsions-Untersuchungen gefundene Differenzierung des Kortex.
Zusammen bildeten sie die Hauptargumente
der funktionalen Lokalisationisten (Abb. 7).
Die Tatsache, dass diese nunmehr 100 Jahre alte Arealeinteilung auch heute immer noch
Verwendung Àndet, ist ein Beweis für die
hohe Qualität der frühen anatomischen Arbeiten. Es spricht auch durchaus nicht gegen sie,
wenn mittlerweile vieles darauf hindeutet, dass
innerhalb der tektonischen Felder weitere
Untergliederungen möglich sind (z.B. Amunts
u. Zilles, 2001; Zilles, 1990).
Bevor diese neueren Entwicklungen beschrieben werden, sollen noch Versuche angesprochen werden, größere funktionelle Gruppierungen auf der Basis von zytoarchitektonischen Gemeinsamkeiten vorzunehmen.
Diese Einteilungen sind insofern von Bedeutung, als sie die Grundlage einer Reihe von zu-
41
sammenfassenden funktionellen Beschreibungen des Gehirns bilden, und ihre Bezeichnungen in der neurowissenschaftlichen Literatur
häuÀg vorkommen.
Isokortex und Allokortex – Die kortikalen
Bereiche, die mehr oder weniger dem oben beschriebenen 6-Schichten-Bauplan entsprechen, werden Isokortex (iso- = gleich, derselbe) genannt. Entsprechend unterscheidet man
demgegenüber einen Allokortex (all(o)- = heter(o) = anders), der die verschiedensten Formen annehmen kann, mit jeweils unterschiedlicher Anzahl von Schichten und verschieden
deutlicher Ausprägung, bis hin zu keiner erkennbaren StratiÀzierung. Da der Isokortex
phylogenetisch nach dem Allokortex datiert
wird, bezeichnet man ihn auch als Neokortex
(neo- = neu).
Der Allokortex wiederum wird in einen
Palaeokortex (palaios = alt) und einen Archikortex (arche = Anfang) unterteilt. Zur letzteren Form des Kortex wird die Hippokampusformation und das Subiculum gerechnet; zum
Palaeokortex gehören der olfaktorische Kortex, die septalen und piriformen Regionen sowie die Amygdala (Mandelkernkomplex).
Die Grenz- und Übergangsbereiche, in denen der Aufbau des Kortex graduell von einer
zur anderen Form des Kortex wechselt, werden mit den Vorsilben pro- (davor), juxta(iuxta = daneben) oder peri- (um, herum)
gekennzeichnet (z.B. Proisokortex, Periallokortex). Die verschiedenen Übergangszonen
zwischen Allo- und Isokortex werden auch
als Mesokortex (mes(o) = zwischen) zusammengefasst. Hierzu werden der hintere Teil
des orbitofrontalen Kortex, der insuläre Kortex, die Spitzen der Temporallappen, der Gyrus
parahippocampalis (mit den Areae ento-,
pro-, und peri-rhinales, sowie prae- und
para-subiculares) und der Cingulumkomplex
(Cingulum plus retrospleniale und parolfaktorische Region) gezählt. Die gürtelförmige Anordnung der genannten Strukturen
führte auch zu der Bezeichnung dieser Strukturen als paralimbischer Kortex.
Zum limbischen Kortex selbst werden die
Septalregion, die Substantia innominata, die
Amygdala, der piriforme Kortex und die Hip-
42
B. Preilowski
Abb. 7. Zytoarchitektonische
Karte nach Brodmann (1909).
pokampusformation (also allesamt allokortikale Strukturen) gerechnet. Die Liste zeigt, je
nach Autor, einige Variationen auf (Mesulam,
1985; Stephan, 1975; Zilles, 1990).
Inter- und intrakortikale Verbindungen
Wie bereits erwähnt, sind die umfangreichen
Faserverbindungen ein wesentliches Merkmal
des Cortex cerebri und für eine Interpretation
seiner Funktionen von großer Bedeutung.
Beim menschlichen Gehirn liegen die Schätzungen beispielsweise für das Verhältnis von
Afferenzen zur Gesamtzahl der Neurone im
Kortex bei 1:1000; in anderen Worten, nur
jeder tausendste Kontakt mit einer kortikalen
Zelle hat seinen Ursprung außerhalb des Kortex, alle anderen stammen aus dem Kortex
selbst; davon wiederum 99 Prozent aus der
gleichen Hemisphäre (Braitenberg u. Schüz,
1991). Diese Vielzahl intra- und interkortikaler Verbindungen können durch Interneurone
erfolgen, durch Axonkollaterale kortikaler
Neurone oder durch Nervenfasern kortikaler
Zellen, die den Kortex verlassen und Kontakte mit unterschiedlich weit entfernten Kortexbereichen herstellen. Diese letzteren Verbin-
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
dungen bilden das Marklager und lassen sich
in Projektionsbahnen, Assoziations- und Kommissurenbahnen untergliedern.
Projektionsbahnen
Zu den Projektionsbahnen gehören die afferenten und efferenten Verbindungen des Kortex mit subkortikalen Bereichen; also beispielsweise mit dem Thalamus und den
Basalganglien sowie mit den Kernen im Hirnstamm und mit dem Rückenmark. Die Fasern
laufen zum größten Teil durch die Capsula interna und die Hirnschenkel. Aufgrund der
topographischen Ordnung ergeben sich bei der
makromorphologischen Untersuchung des
Gehirns eindrucksvolle Bilder vom Verlauf der
Fasern. Besonders imponierend ist die Auffächerung der Fasern über den gesamten Bereich des Kortex oberhalb ihrer Bündelung in
der internen Kapsel, was zu der treffenden
Bezeichnung Corona radiata führte. Ebenso
markant sind die Projektionen vom Thalamus
zum visuellen und auditiven Kortex als Sehbzw. Hörstrahlung.
Assoziationsbahnen
Die Assoziationsbahnen bestehen aus Faserverbindungen zwischen unterschiedlich weit
entfernten kortikalen Regionen innerhalb der
gleichen Hemisphäre. Es kann sich dabei um
kurze Verbindungen zwischen eng benachbarten Bereichen eines Gyrus oder Sulcus handeln, oder aber auch um längere Faserstränge,
die Regionen in unterschiedlichen Lobi miteinander verbinden. Nur die wichtigsten seien
hier genannt: Der Fasciculus longitudinalis
superior verbindet den Frontallappen mit dem
Okzipitallappen (F.l.s. brachium posterius)
und dem Temporallappen (F. l. s. brachium
anterius). Auch zum Parietallappen gibt es
Verbindungen durch dieses Bündel. Weitere
Verbindungen zwischen Frontal- und Okzipitalkortex bestehen durch den Fasciculus occipitofrontalis superior und den F. occipitofrontalis inferior. Temporo-okzipitale Fasern verlaufen im Fasciculus longitudinalis inferior
43
und fronto-temporale Verbindungen durch den
Fasciculus uncinatus. Schließlich sei noch das
Cingulum erwähnt, dessen längste Fasern sich
im Gyrus cinguli von der subcallosalen Region
(unterhalb des Genu und Rostrum des Corpus
callosum) bis zum entorhinalen Kortex erstrecken.
Kommissurenbahnen
Die Kommissurenbahnen des Cortex cerebri
schließlich verbinden fast ausschließlich homotope kortikale Regionen beider Großhirnhemisphären. Man vermutet jedoch auch
heterotope Projektionen zwischen den Hemisphären. Für diese gibt es bisher nur aus der
Tierforschung konkrete Hinweise. Beispielsweise gibt es einseitige (also nicht-reziproke)
Verbindungen im somatosensorischen Bereich
von SI nach SII und im motorischen Kortex
von Area 4 zum sogenannten supplementärmotorischen Kortex.
Das größte Faserbündel, das die Großhirnhälften miteinander verbindet, ist das Corpus
callosum bzw. der Balken, mit Fasern aus allen
neokortikalen Bereichen. Etwa 200 Millionen
sehr unterschiedliche, überwiegend dünne (also langsam leitende) Fasern sollen im menschlichen Callosum zu Ànden sein (Tomasch,
1954). Innerhalb des Corpus callosum gibt es
eine topographische Ordnung in rostro-caudaler Richtung. Im Bezug auf eine Ordnung
in ventro-dorsaler Richtung durch den im
Durchschnitt 1 cm dicken Balken gibt es nur
wenige Informationen (Pandya u. Rosene,
1985; Schaltenbrand, Spuler u. Wahren, 1970).
Eine weitere Kommissurenbahn, die Commissura anterior (vordere Kommissur), steht
mit dem olfaktorischen System und darüber
hinaus sowohl mit neo- als auch palaeokortikalen Strukturen in Verbindung. Der vordere
Teil dieser Kommissur verbindet die beiden
Bulbi olfactorii und die Substantiae perforatae
anterior. Der hintere, größere Teil führt vor
allem Fasern aus Strukturen im Temporallappen. Die Liste aller Gehirnbereiche, die Fasern durch die vordere Kommissur schicken,
ist sehr umfangreich und umfasst wesentliche
limbische und paralimbische Strukturen.
44
Auch die Hippokampusformationen beider
Hemisphären sind durch Kommissuren miteinander verbunden. Diese Kommissurenbahnen steigen parallel mit den Fasern der Fornix
auf, kreuzen dann unterhalb des posterioren
Endes des Balkens zur anderen Seite und ziehen wiederum entlang der Fornix nach unten.
Man bezeichnet diese Verbindung auch als
Commissura fornicis. Ein großer Teil dieser
Fasern sind aber nicht commissural im eigentlichen Sinne, sondern Kollaterale von ipsilateralen Fasern.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Kommissuren, über deren Verlauf und Funktion im
menschlichen Gehirn wir aber fast nichts wissen (einen Überblick gibt Preilowski, 1987).
Intrakortikale Organisation
Aufgrund des massiv ausgeprägten Marklagers (weiße Substanz) geraten die Faserverbindungen innerhalb des Cortex cerebri (graue
Substanz) leicht aus dem Blickfeld. Aber in einem Kubikmillimeter grauer Substanz beÀnden sich etwa 50.000 Nervenzellen, von denen
jede mit ungefähr 1000 anderen Nervenzellen
verbunden ist (Braitenberg u. Schüz, 1991).
Wenn man die dünnen Faserverbindungen innerhalb dieses Kubikmillimeters aneinander
legen würde, ergäbe dies eine Länge von 3 bis
4 Kilometern (Wandell u. Dougherty, 2006).
Allerdings ist, wie bereits besprochen wurde,
die Zusammensetzung der grauen Substanz
nicht überall gleich. Und so wurden Unterschiede in den intrakortikalen Faserverbindungen auch zur histoarchitektonischen Gliederung des Kortex in Areale mit herangezogen.
Andererseits weisen diese Verbindungen aber
auch überregionale Gemeinsamkeiten auf, deren funktionelle Bedeutung erst in der letzten
Zeit etwas einsichtiger geworden ist.
Vertikale und horizontale Verschaltungen
Bei näherer Betrachtung des Kortex ergibt
sich, trotz der sichtbaren horizontalen Schichtung, der Eindruck einer überwiegend vertikal
orientierten Struktur. Die Zellfortsätze dringen
B. Preilowski
senkrecht von unten und parallel zueinander in
den Kortex ein und verlassen ihn auch in gleicher Weise. Die meisten Zellen erstrecken sich
mit ihren Fortsätzen über die Schichten hinweg, nicht nur, aber doch vorzugsweise in vertikaler Ausrichtung. Besonders prägend sind
hierbei die Pyramidenzellen mit ihren langen
zur kortikalen OberÁäche gerichteten Apikaldendriten.
Daneben aber existieren vielfache horizontale, also parallel zur kortikalen OberÁäche
gerichtete sowie schräge, seitlich und über
mehrere Schichten reichende Verbindungen.
Außer verschiedenen Zellen, die für diese
Aufgabe spezialisiert zu sein scheinen, wird
ein Großteil des seitlich orientierten GeÁechts
von Dendriten der Pyramidenzellen gebildet;
zum Beispiel von den Basaldendriten, deren
Verzweigungen seitlich, aber nicht ausschließlich horizontal, gerichtet sind. Darüber hinaus
verzweigen sich auch die Axone afferenter und
efferenter Zellen in horizontaler Richtung.
Und neueren Befunden zufolge scheint die
horizontale intrakortikale Interaktion über
größere Entfernung zu reichen, als ursprünglich angenommen wurde. Auch aus dem Kortex austretende Fasern senden oft Kollaterale
in benachbarte Bereiche. Diese seitliche und
vertikale VerÁechtung der Nervenzellen im
Kortex hat zu den verschiedensten funktionellen Überlegungen Anlass gegeben.
Funktionelle Organisation des zerebralen Kortex
Primäre und sekundäre Projektions- sowie
Assoziationsgebiete
Aufgrund von tierexperimentellen und klinischen Erfahrungen identiÀzierte man schon
früh sogenannte primäre sensorische und motorische Bereiche. Hier konnten durch Stimulation EmpÀndungen und Bewegungen ausgelöst
werden, und Schädigungen waren mit relativ
umschriebenen motorischen oder modalitätsspeziÀschen sensorischen Ausfällen verbunden. Diese Bereiche werden auch als primäre
Projektionsgebiete bezeichnet, weil sie in direkter Interaktion mit speziÀschen sensorischen
und motorischen Kernen des Thalamus stehen.
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Diejenigen kortikalen Gebiete, in denen Läsionen zu sehr unterschiedlichen und multiplen oder unspeziÀschen Ausfällen führten,
nannte man sekundäre und tertiäre Projektionsbereiche oder Assoziationsgebiete. Es gab
zuerst relativ wenig experimentelle Daten zu
diesen Arealen. Die Nachbarschaft zu den
primären Gebieten und die Übergänge zu einem anders strukturiertem Kortex führten zu
der Annahme, dass in den sekundären Bereichen die jeweilige modalitätsspeziÀsche sensorische Information aus den primären Gebieten weiterverarbeitet würde. Von den tertiären
Gebieten nahm man an, dass sie als multimodale Überlappungsbereiche Assoziationsprozesse ermöglichen.
Die Vorstellung von einigen wenigen hierarchisch organisierten Regionen, in denen die
Verarbeitung vom Sensorischen zum Psychischen, beispielsweise vom Akustischen zum
Auditiven vonstatten geht, hat seine Ursprünge
in den bereits erwähnten ersten zytoarchitektionischen Untersuchungen, in denen bereits
von auditosensorischen versus auditopsychischen oder von somatosensorischen versus
somatopsychischen Arealen die Rede war
(Campbell, 1905). In ähnlicher Weise wurden
später aufgrund elektrophysiologischer Untersuchungen primäre und sekundäre auditive (AI
und AII), somatosensorische (SI and SII) und
visuelle Bereiche (V-I und V-II) beschrieben
(Woolsey, 1958). Im visuellen Bereich unterschied man auch drei Regionen (V-I, V-II und
V-III) (Hubel u. Wiesel, 1965).
Insgesamt verblieben damit außerhalb der
primären und sekundären sensorischen Areale
relativ große Kortexbereiche, von denen man
lange Zeit annahm, dass sie nur wenige oder
gar keine thalamischen Projektionen erhalten
und somit nur Informationen, die von den
primären Projektionsgebieten weitergeleitet
werden. Die Annahme, dass es sich hierbei um
besondere „psychische“ Kortexregionen handelt, schien dadurch bestätigt zu werden, dass
sie bei den höheren Säugern immer größere
Ausmaße annehmen, also gewissermaßen mit
dem Grad der intellektuellen Fähigkeiten korrelieren. Diese Vorstellung wird auch bis heute durch die sehr interessanten Beobachtungen
von PenÀeld und seinen Mitarbeitern gestützt.
45
Sie beschrieben die Reaktionen und EmpÀndungen von Patienten, deren Kortex sie bei
neurochirurgischen Eingriffen elektrisch stimulierten. PenÀeld unterschied aufgrund der
Mitteilungen der wachen Patienten zwischen
sensorischen, psychischen und interpretativen
Kortexregionen (PenÀeld u. Jasper, 1954; PenÀeld u. Rasmussen, 1952).
Während über die bisher genannten kortikalen motorischen und sensorischen Bereiche
mittlerweile sehr viele Informationen vorliegen, geraten wir bei den verbleibenden kortikalen Arealen im vorderen Teil der Frontalund der Temporallappen auf relativ unbekanntes Territorium.
Vorweg sollte erwähnt werden, dass der
frontale Kortex in einen orbitalen Teil sowie in
die dorsolaterale Konvexität und einen medialen Bereich untergliedert werden kann. Der
orbitale Teil ist der ventrale Teil des Frontallappens, der im Schädel über den Augenhöhlen
(Orbitae) liegt. Im Bereich der dorsolateralen
Konvexität beÀndet sich der sogenannte präfrontale Kortex. Dieser zeigt beispielsweise
unmittelbar vor dem präzentralen Bereich eine
dysgranuläre Struktur und erhält Projektionen
von einem unspeziÀschen Teil eines ansonsten
speziÀschen motorischen Kerngebietes des
Thalamus. Damit wird die Bezeichnung als
motorisches Assoziationsgebiet gerechtfertigt.
Weiter frontal sind die dorsolateralen Bereiche
mit lateralen Teilen und der orbitale Kortex mit
medialen Bereichen des N. medialis dorsalis
thalami verbunden. Über den N. medialis dorsalis ist zumindest der orbitale präfrontale
Kortex mit Teilen des limbischen Systems assoziiert, denn dieser Teil des Thalamus erhält
Projektionen vom Amygdalakomplex und von
olfaktorischen sowie hypothalamischen Strukturen. Ebenfalls Teil des limbischen Systems
ist der N. anterior thalami und sein Hauptprojektionsgebiet, der Gyrus cinguli.
Damit ergibt sich folgende klassische Vorstellung von einer funktionellen Arbeitsteilung
des Kortex: Limbische, also phylogenetisch
alte Kortexstrukturen, regulieren, zusammen
mit dem Hirnstamm (insbesondere der Formatio retikularis), die Aktivierung sowie die
motivationalen und emotionalen Aspekte des
Verhaltens. Die primären Projektionsgebiete
46
nehmen die sensorischen Informationen auf,
die über die sekundären Regionen weiterverarbeitet werden. In den tertiären oder Assoziationsgebieten bilden die überlappenden Informationen aus den verschiedenen Sinnesarealen die Grundlage für die Organisation des
Verhaltens. Die resultierende Aktionen werden
über die motorischen Bereiche und die untergeordneten subkortikalen Systeme ausgeführt.
Zusammen mit dem Nachweis von immer
detaillierteren neuroanatomischen Verbindungen, ergeben sich in der letzten Zeit immer
mehr Hinweise für eine notwendige Revision
der klassischen Vorstellungen. Die wichtigsten
Befunde hierzu sind, neben den biochemischen
Typisierungen, die hier nicht diskutiert werden
können, die funktionellen Charakterisierungen
einzelner Neuronentypen und mittlerweile
auch von größeren Zellgruppierungen durch
singuläre und multiple Ableitungen der neuronalen elektrischen Aktivität. Dabei spielen
zwei Begriffe eine zentrale Rolle: zum einen
geht es um das Konzept des „rezeptiven Feldes“, zum anderen um die sogenannten „kortikalen Karten.“
Rezeptive Felder und kortikale Karten
Die ersten kortikalen Karten wurden, wie
bereits erwähnt, aufgrund von Stimulationsexperimenten bei Tieren und Menschen beschrieben. Diese Karten waren zuerst auf die
motorischen Bereiche des Kortex beschränkt,
in denen von speziÀschen Punkten bestimmte
Bewegungen ausgelöst werden konnten. Bei
Menschen konnte man mit Hilfe der Beschreibung ihrer EmpÀndungen während der Stimulation des Gehirns Informationen auch über
andere kortikale Bereiche erhalten. Die genauere Bestimmung der sensorischen Repräsentationen im Kortex und in anderen Gehirnstrukturen wurde jedoch erst durch die
Ableitung von elektrischen Signalen der Neurone sowie durch funktionelle Markierungen
möglich.
Die Beschreibung der Besonderheiten der
rezeptiven Felder dient der Charakterisierung
einzelner Neurone. Gruppierungen von Neuronen mit gleichen Charakteristika bilden un-
B. Preilowski
terschiedliche funktionelle Einheiten oder Module, beispielsweise Kolumnen oder Hyperkolumnen, die ihrerseits in systematischer Anordnung Karten ergeben.
Rezeptive Felder – Ein rezeptives Feld in der
klassischen DeÀnition ist der räumliche Bereich, auf der Haut oder auch im Umfeld, beispielsweise im Gesichtsfeld, in dessen Grenzen eine adäquate Stimulation zu einer
systematischen Veränderung der Aktivität eines Neurons führt. Mittlerweile unterscheidet
man auch sogenannte modulatorische rezeptive Felder, in denen sich die EinÁüsse von
Reizen gewissermaßen als Kontext außerhalb
des eigentlichen rezeptiven Feld auswirken
(Gilbert u. Wiesel, 1990). Daraus ergibt sich
schon, dass die funktionelle DeÀnition einer
Zelle im Wesentlichen durch die Art der
Aktivitätsmessung und die Art der Reizung bestimmt wird. Rezeptive Felder sind zeitlichräumliche Abstraktionen der Aktivitätsmessungen oder operational deÀnierte funktionelle
Konstrukte. Veränderungen in Form von exzitatorischen und inhibitorischen postsynaptischen Potentialen (EPSPs und IPSPs), ohne
dass die Zelle ein Aktionspotential erzeugt,
werden also ein anderes Bild ergeben als Beurteilungen der überschwelligen Aktivität, etwa aufgrund von Veränderung der Feuerrate
einer Zelle.
Neben der Größe und der Struktur des Feldes werden weitere qualitative Merkmale vor
allem durch die Art des Stimulus und die Art
der Stimulusdarbietung sowie den Zustand des
Organismus und den Kontext bestimmt, in
dem die Messung durchgeführt wird. Die Vielzahl der möglichen Faktoren, die bestimmen,
ob eine Zelle reagiert, bzw. unter welchen Umständen die Reaktion verändert oder optimiert
werden kann, erklärt die verwirrende Vielfalt
von Zellkategorisierungen.
Intramodale Spezialisierung in Leitungsbahnen, Umschaltstationen und kortikalen
Projektionen – Rezeptive Felder können auch
für primäre und sekundäre Neurone beschrieben werden, und dies führte letztlich auch zu
der immer größeren funktionelle Aufgliederung
der Leitungsbahnen und Umschaltstationen. Es
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen,
dass die serielle Input-Output-Verarbeitung
kein adäquates Modell der Funktionen des Zentralnervensystems darstellt. Schon auf der sensorischen Seite wurde gezeigt, dass die Vorstellung von einigen seriell über Relaisnuklei
verschalteten Hauptleitungen in die primären
Projektionsgebiete falsch ist. In Wirklichkeit
bestehen mehrfache, funktionell differenzierte,
parallele Bahnen. In die verschiedenen kortikalen Felder können so mehr oder weniger gleichzeitig unterschiedliche Aspekte der verschiedenen Reizgegebenheiten projiziert werden.
Wieder andere kortikale Felder erhalten Mischungen dieser verschiedenen Qualitäten bzw.
unterschiedlichen Kombinationen von Teilmodalitäten, die durch divergente und konvergente Verschaltungen entstehen.
Selbst im visuellen System, das tatsächlich nur eine thalamische Hauptprojektion zur
Area V1 des visuellen Kortex liefert, gibt es
eine frühe funktionelle Aufteilung. Die X-, Yund W-Ganglionzellsysteme bzw. parvo- und
magnozellulären Ganglionzellen zeigen unterschiedliche Verteilungen in der Retina, sind mit
unterschiedlichen visuellen Submodalitäten
beschäftigt und projizieren zu verschiedenen
Schichten des Corpus geniculatum laterale
bzw. per Kollaterale zum Colliculus superior.
Die Trennung bleibt bis zum Kortex erhalten,
wo Zellfortsätze aus unterschiedlichen Schichten des Geniculatum in unterschiedlichen kortikalen Laminae enden. Daneben aber bestehen
weitere topographisch (das heißt, retinotop) geordnete Unterteilungen im Pulvinar, mit jeweils eigenen Projektionen in visuell kortikale
Bereiche. Auch im akustischen Bereich haben
wir eine Aufspaltung der Information, die sich
beispielsweise darin äußert, dass man im Corpus geniculatum mediale mindestens sieben
Unterteilungen mit jeweiligen Projektionen
zum Kortex Ànden kann. Vergleichbares gilt für
die Somatosensorik.
Repräsentationskarten und rechnerische Karten
Aus der topographischen Gruppierung von
Zellen mit bestimmten Eigenschaften ergeben
sich Abbildungen der Retina bzw. des visuel-
47
len Gesichtsfeldes, der KörperoberÁäche oder
der cochleotopen Frequenzaufteilung. Diese
Karten spiegeln den geordneten Eingang von
Afferenzen wieder, sie bilden gewissermaßen
das Sensorium im Gehirn ab.
Andere Karten, sogenannte „computational
maps“, sind das Ergebnis oder die Grundlage
von Transformationen von Informationen. Die
Neurone in diesen Karten bilden eine Gruppe
von Filtern, von denen jeder etwas unterschiedlich abgestimmt ist. Sie bearbeiten die
sensorische Information parallel, d.h. gleichzeitig, und produzieren eine räumlich kodierte
Verteilung ihrer Beteiligung, vergleichbar einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Die Aktivitätsspitzen in dieser Karte geben das wesentliche Analyseergebnisse wieder. Nach dieser
DeÀnition (z.B. Knudsen, Du Lac u. Esterly,
1987) sind die sich – innerhalb der nicht-rechnerischen, retinotopen Repräsentation – wiederholenden Abbildungen von Orientierungsund okulären Präferenzen in V1 Beispiele für
berechnete Karten.
Multiplikation kortikaler Repräsentationen
In den primären und sekundären Projektionsgebieten wurde früher jeweils eine topographisch geordnete Abbildung des Sensoriums
angenommen. Das bekannteste Beispiel ist der
Homunculus, der im prä- und postzentralen
Gyrus von Patienten beschrieben wurde (PenÀeld u. Boldrey, 1937), sowie der vergleichbare „Simiusculus“ in SI und SII des Affengehirns (Woolsey, 1958). Mittlerweile ergeben sich jedoch aus tierexperimentellen Untersuchungen, wie oben schon angedeutet,
immer mehr solcher geordneter Repräsentationen innerhalb der einzelnen Modalitäten.
Am detailliertesten sind die Beschreibungen des visuellen Systems. Hier gelangen die
Informationen vom Geniculatum zum primären visuellen Kortex V1 (Area 17) und von
dort aus in ein Mosaik von 32 Feldern (Felleman u. Van Essen, 1991; Van Essen, Anderson
u. Felleman, 1992). Bis dato wurden 305 Verbindungen zwischen den 32 Regionen beschrieben. Das sind 31% aller möglichen Verbindungen. Man vermutet, dass die Rate der
48
Verbindungen untereinander eher bei 40% liegen wird. Die Mehrzahl dieser Verbindungen
ist reziprok. Es gibt auch Verbindungen einiger
Areale mit Gebieten außerhalb des visuellen
Kortex, beispielsweise mit somatosensorischen Bereichen und frontalen sowie temporalen Kortexgebieten.
Innerhalb dieses visuellen Systems lassen
sich die spezialisierten Kompartimente immer
noch in eine Hierarchie mit verschiedenen Stufen einordnen. Aber besonders wichtig sind die
deutlich verteilten, parallelen, wenn auch vielfach miteinander verbundenen Verarbeitungsströme in diesem System.
Auch im somatosensorischen Bereich wurden mehrfache Repräsentationen gefunden.
Anstatt einer einzigen Karte in SI, Àndet man
in jeder der vier Regionen (Area 3b, 3a, 1 und
2), die zusammen SI darstellen, eine topographisch geordnete Repräsentation.
Im auditorischen Kortex werden ebenfalls
mehrfache topographisch geordnete Repräsentationen gefunden. So gibt es in AI der Katze
eine Frequenzabbildung und (in der räumlichen kortikalen Dimension) orthogonal zu
dieser tonotopen oder cochleotopen Projektion
eine Reihe weiterer geordneter Repräsentationen. So beispielsweise für binaurale Interaktionen, für unterschiedliche Frequenzabstimmungen und unterschiedliche zeitliche Auflösung einzelner aufeinander folgender Reize.
Mehrere andere auditorische Felder sind bekannt, jedoch konnten ihre Organisationsprinzipien bzw. die Kodierungseigenschaften ihrer
Zellen bisher noch nicht entschlüsselt werden.
Wie in den anderen sensorischen Bereichen
auch, scheint die Verarbeitung im auditiven
Bereich über verteilte, aber mit einander
verbundene Prozesse zu erfolgen (Schreiner,
1991).
Der Hippokampus
Nachdem bisher vor allem der iso-, bzw. neokortikale Anteil des Telencephalon besprochen
wurde, kommen wir nun zum Allokortex: Wie
bereits erwähnt, gehören der Hippokampus
und das Subiculum zu den phylogenetisch
ältesten kortikalen Bereichen (Archikortex).
B. Preilowski
Auf den anderen Allokortex, den Paläokortex
kommen wir später, im Zusammenhang mit
der Amygdala, noch zu sprechen.
Der Kortex des ventralen, medialen Temporallappen (parahippokampaler, perirhinaler,
rhinaler, und entorhinaler Kortex) bis hin zum
Präsubiculum ist noch typischer Isokortex. Im
anschließenden Subiculum und dem Hippokampus mit dem Ammonshorn und dem Gyrus
dentatus Ànden wir dann eine gänzlich andere
Schichtung.
Klinisch-neuropsychologische Befunde über
anterograde Amnesien expliziter Gedächtnisinhalte nach Schädigung oder Entfernung des
medialen Temporalkortex ergaben zusammen
mit einer Vielzahl von tierexperimentellen Läsionsergebnissen über Gedächtnis- und räumliche DeÀzite Hinweise auf mögliche Funktionen des Hippokampus. Aber die Bedeutung
der besonderen Struktur und der interaktiven,
kollateralen Verschaltungen von speziÀschen
Nervenfasern im Ammonshorn und dem Gyrus
dentatus des Hippokampus wurde erst durch
die Untersuchungen zur Langzeitpotenzierung
deutlich. Trotz der hier nachgewiesenen synaptischen Plastizität als Modell für Langzeitgedächtnisbildung ist die Interaktion zwischen Hippokampus, Diencephalon und Neokortex für Konsolidierung und Ablage bzw.
Abruf von Gedächtnisinhalten weitestgehend
ungeklärt.
Man geht davon aus, dass der Hippokampus
letztlich aus den gesamten neokortikalen Bereichen Informationen erhält. Die efferenten
Bahnen vom Hippokampus über die Fornix zu
diencephalen Strukturen (Corpora mammillaria und Nuclei anteriores thalami) und telencephalen Bereichen (Gyrus cinguli, Amygdala)
sowie die afferenten Verbindungen, die über
den entorhinalen Kortex Informationen zurück
zum Hippokampus gelangen lassen, sind in
groben Zügen seit langem bekannt. Der Hippokampus hat in dem auch als limbisches
System bezeichneten Kreisverbund der oben
genannten Gehirnstrukturen, immer eine prominente Rolle gespielt. Vor allem wurde ihm
zusammen mit der Amygdala oft eine Vermittlerrolle zwischen den bewussten Prozessen des
Neokortex und den unbewussten der phylogenetisch alten Gehirnstrukturen zugewiesen.
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Am bekanntesten sind die Überlegungen von
James Papez (1937) und Paul D. MacLean
(1955) über das limbische System zur Erklärung von emotionalen Funktionen, die mittlerweile sowohl vielfältig ergänzt, abgeändert
wie auch heftig kritisiert wurden.
Letztlich aber wissen wir selbst bei dem
einfachsten Modell (z.B. Papez Schaltkreis:
Hippokampus – Fornix – Mammillarkörper –
Anteriore Thalamuskerne – Gyrus cinguli –
Cingulum – Hippokampus) sehr wenig über
die Details der neuronalen Verschaltung und
noch weniger über ihre speziÀschen Funktionen. Beim Affen wurde beispielsweise gefunden, dass die Projektionen zu den vorderen
Thalamuskernen über die Fornix und die
Mammillarkörper überwiegend aus genau den
Teilen des Subiculums (bzw. Praesubiculums)
stammen, die gleichzeitig (allerdings von Zellen einer anderen Schicht) direkte Verbindungen zu den selben vorderen Thalamuskernen
besitzen (Aggleton, Vann u. Saunders, 2005).
Die Funktion dieser parallelen Verschaltung ist
unklar. Genauso wenig wissen wir über die Interaktionen mit anderen Schaltkreisen, beispielsweise solchen, in denen die Amygdala
eine Schlüsselrolle zu haben scheint. Während
der Papezkreis eher mit kognitiven Aspekten
der Informationsselektion in Verbindung gebracht wird, soll das sogenannte basolaterale
limbische System (Amygdala – mediodorsaler
Thalamus – Area subcallosa (basales Vorderhirn) – Bandeletta diagonalis – Amygdala) vor
allem für die unbewusste emotionale Bewertung und Selektion zuständig sein.
Die Amygdala
Die Amygdala (Mandelkern, Corpus amygdaloideum) ist ein sehr komplexes Gebilde, anterior zum Hippokampus im vorderen Teil des
Temporallappens gelegen. Als subkortikale
Kernstruktur wird sie zu den telencephalen
Basalganglien gerechnet. Auf der anderen
Seite wird sie auch als paläokortikale Struktur
gekennzeichnet. Sie besteht aus (nach letzter
Zählung) 13 Einheiten. Die Gruppierungen der
einzelnen Strukturen, wie auch ihre weitere
Untergliederung und ihre Bezeichnungen vari-
49
ieren in der Literatur. Der einfachste Ansatz
unterscheidet zwischen einer basolateralen,
einer kortikomedialen und einer zentralen
Kerngruppe. Beide ersteren erhalten sensorische Informationen aller Sinnesmodalitäten
vom Thalamus, lediglich die olfaktorischen
Informationen gehen über Kollaterale aus dem
Bulbus olfactorius direkt in die mediale Amygdala. Darüber hinaus projizieren die sensorischen Kortexareale und der Hippokampus zu
basolateralen und kortikomedialen Amygdalabereichen. Wichtig wäre noch zu erwähnen,
dass die basolaterale Kerngruppe Informationen aus dem präfrontalen Kortex bezieht.
Innerhalb des Amygdalakomplexes gibt es
vielfältige, vermutlich auch reziproke Verbindungen. Als wesentliches Effektorgebiet gilt
die zentrale Kerngruppe. Sie projiziert zu
einer Vielzahl von Gehirngebieten, unter anderem zum präfrontalen Kortex sowie zum
Hypothalamus und Hirnstamm. Aber auch die
kortikomediale Kerngruppe ist effektorisch
mit dem Hypothalamus verbunden.
Diese Vielzahl von afferenten und efferenten Verbindungen mit Strukturen, die mit
Gedächtnis, emotionalem Verhalten und Gefühlen sowie Aktivierung verbunden sind, erklärt, weshalb Läsionen oder Stimulationen in
den verschiedensten Teilen der Amydala entsprechend vielfältige Konsequenzen haben
können. Alle gemeinsam aber weisen auf eine
besondere Bedeutung der Amygdala für Furcht
und Angstreaktionen bzw. Reaktionen auf
potentielle Gefahren hin. Die positiven Reaktionen auf einen Reiz werden möglicherweise
über Verbindung zu einem anderen Teil der
Basalganglien, wie dem Nucleus accumbens
moderiert.
Die Basalganglien
Neben der bereits beschriebenen Amygdala im
vorderen Temporallappen, werden unter dem
Begriff der Basalganglien vor allem die in der
Nähe des Thalamus bzw. Hypothalamus gelegenen Kerne verstanden: Claustrum, Nucleus
caudatus, Putamen, Globus pallidus und
Nucleus accumbens. Die weiße Substanz der
Capsula extrema grenzt das Claustrum lateral
50
zum insulären Kortex hin ab. Nach medial
trennt die Capsula externa das Claustrum von
den übrigen Basalganglien.
Nucleus caudatus, Putamen und Globus
pallidus werden in verschiedenen Kombinationen mit zusätzlichen Begriffen bedacht: Der
Globus pallidus wird zusammen mit dem Putamen als N. lenticularis (Linsenkern; N. lentiformis – linsenförmig) bezeichnet. Eigentlich
bilden diese Kernbereiche eher einen Kegel,
mit dem Putamen als Basis und dem Globus
pallidus als Kegelspitze. Dieser Kegel liegt
seitlich mit der Basis lateral und der Spitze
nach medial in Richtung Thalamus zeigend.
Das Putamen wiederum ist im antererioren Bereich mit dem Kopf (Caput) des N. caudatus
verbunden. Die Fasern der internen Kapsel,
die zwischen N. caudatus und N. lenticularis
verlaufen unterbrechen diese Verbindung stellenweise, was durch sein streifenförmiges
Aussehen den Namen Striatum, genauer gesagt Neostriatum, für N. caudatus und Putamen ergab.
Der N. caudatus bildet mit Kopf und sich
verjüngendem Körper die lateral-ventrale Wand
des vorderen und mittleren Teils der Seitenventrikel. Nach posterior geht der Körper des
N. caudatus in den weiter dünner werdenden
Schweif über, der dann nach ventral und lateral in den Temporallappen und dort zurück
nach anterior in Richtung Amygdala zieht.
Zu ergänzen ist, dass der Globus pallidus
seine blassere Färbung durch die vielfältigen
durchlaufenden myelinisierten Fasern erhält
und in einen lateralen externen und einen
medialen internen Teil (die Kegelspitze) gegliedert ist.
Der N. accumbens (septi), wird nicht immer, aber immer öfter zu den Basalganglien
gezählt. Er liegt zwischen ventralem Striatum
und drittem Ventrikel bzw. Septum.
Die Basalgangien sind Teil eines komplexen Systems, mit dessen Hilfe der Cortex cerebri mit dienencephalen und mesencephalen
Strukturen interagiert, um letztlich wieder
überwiegend seine eigenen Frontalhirnfunktionen zu steuern. Haupteingangstor der Basalganglien ist das Neostriatum, das glutaminerg (d.h. exzitatorisch) aus fast allen
Bereichen des Kortex innerviert wird. Von dort
B. Preilowski
aus gibt es Verbindungen zum Globus pallidus
externa (GPe), mit GABA und Enkephalinen
als Transmittern (also überwiegend inhibitorischer BeeinÁussung) und separate Innervationen des Globus pallidus interna (GPi).
Letztere benutzen GABA und Substanz P als
Transmitter. Der GPi projiziert wiederum gabaerg zum ventrolateralen Thalamus, der mit
dem frontalen Kortex reziprok verbunden ist.
Die Aktivität des GPi kann nun auf unterschiedliche Weise moduliert werden. Zum einen gibt es eine gabaerge Verbindung vom
GPe zum Nucleus subthalamicus, der seinerseits eine glutaminerge (also exzitatorische)
Projektion zum GPi besitzt. Der Innervationsstrang „Neostriatum => GPe => N.subthal.,=>
GPi“, den man auch als indirekte Verbindung
zum GPi bezeichnet hat, wird über dopaminerge Innervation aus der Substantia nigra beeinÁusst. Und die gleiche nigro-striäre Innervation beeinÁusst auch (wenn auch durch andere
Dopaminrezeptoren) die direkte Verbindung
vom Striatum zum GPi.
Komplizierend kommt hier noch hinzu,
dass die Substantia nigra in einen Pars retikularis und einen Pars compacta unterteilt wird.
Beide Teile werden durch den Kortex glutaminerg beeinÁusst und der Pars compacta
erhält zudem gabaerge Innervation vom Striatum sowie glutaminerge vom N. subthalamicus. Dieser wird seinerseits auch dopaminerg
von diesem Teil der Substantia nigra versorgt.
Insgesamt ergibt sich also eine vielfältige VerÁechtung von gegenseitigen unterstützenden
sowie exzitatorischen und inhibitorischen EinÁüssen.
Vereinfachend könnte man sagen, dass,
neben der kortiko-kortikalen Verbindung, die
Basalganglien eine weitere automatisierte, unbewusste Möglichkeit bieten, die kognitiven
und sensomotorischen Funktionen des Frontalhirns zu beeinÁussen. Der Kortex speist dazu seine Information in das Basalgangliensystem ein. Dieses nimmt dann mit seinem durch
komplex ausbalancierte exzitatorische und inhibitorische Interaktionen gewonnenen Ergebnisse EinÁuss auf die frontalkortikal-thalamische Steuerung. Für ein solches Modell
sprechen die vielfältigen Auswirkungen von
Läsionen oder Degenerationen im Basal-
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
ganglien-subthalamischen System, die recht
gut durch Verschiebungen in der Balance zwischen den TransmittereinÁüssen erklärt werden können. Bestätigt werden diese Modelle
auch durch die Wirkungen von therapeutischen Versuchen, die Balance wieder herzustellen, indem man entweder die unkontrolliert
verstärkten Systeme schwächt (Antagonistische Medikation; Hirnläsion) oder die geschwächten Transmittersysteme stärkt (LDopa Medikation; Hirnstimulation).
Das Zwischenhirn (Diencephalon)
Der Thalamus
Rechter und linker Thalamus bilden die Seitenwände des 3. Ventrikels und die ventralen
Wände der Seitenventrikel (im Bereich des
Pars centralis). Die eiförmige Struktur wird
nach lateral durch die Fasern der Capsula interna von den Basalganglien getrennt. Ein Yförmiges Band weißer Substanz (Lamina medullaris interna) unterteilt den Thalamus grob
in eine vordere, eine mediale und eine laterale
Kerngruppe. Teile der rechten und linken medialen Kerngruppen verschmelzen manchmal
durch den dritten Ventrikel hindurch. Diese
Struktur wird als Adhaesio interthalamica
(Massa intermedia) bezeichnet und scheint
keine kommissurale Funktion zu haben. Lateral liegt, getrennt durch eine weitere Schicht
weißer Substanz (Lamina medullaris externa),
die graue Schicht des Nucleus retikularis thalami an.
Noch kennt man, insbesondere beim Menschen, längst nicht alle Teilstrukturen des Thalamus und kann sich dementsprechend auch
noch nicht darüber einigen, in wie viele Kerne
der Thalamus wirklich untergliedert werden
sollte. Ähnliches gilt für die damit verbundene
Frage nach den einzelnen Verbindungen (z.B.
Frigyesi et al.,1972). Die im Zusammenhang
mit dem Thalamus zu Àndende verwirrende
Begriffsvielfalt ist eine Konsequenz dieser
unklaren Situation.
Die Probleme mit den Bezeichnungen fangen schon damit an, dass man zwischen einem
dorsalen und einem ventralen Thalamus unter-
51
scheidet, was aber nicht mit dorsalen und ventralen Kernen des Thalamus verwechselt werden darf. Der Thalamus dorsalis ist der eigentliche Thalamus, mit dem wir uns hier vor allem
beschäftigen. Der Thalamus ventralis wird
auch Subthalamus genannt. Er umfasst die sogenannte Zona incerta, deren Bedeutung weitestgehend unbekannt ist, sowie eine Reihe
von Kernen, deren Funktionen im Zusammenhang mit dem Pallidum und der Formatio
retikularis (motorische Aktivierung, Muskeltonus) gesehen werden.
Den Thalamus dorsalis kann man vereinfacht in Bereiche der Relay-, Schalt- oder
spezifischen Kerne und in Bereiche der unspezifisch oder diffus projizierenden Kerne
unterteilen. Den ersteren ist gemeinsam, dass
man sie durch tierexperimentelle Degenerationsstudien relativ eindeutig bestimmten
Projektionsgebieten im Kortex zuordnen
kann. Hierzu gehören die Sensorischen Kerne, die Motorischen Kerne, die Limbischen
Kerne – und die Assoziations- oder Integrationskerne.
Zu den unspeziÀsch oder diffus projizierenden Kerne gehören die Kerne der Mittellinie
und die intralaminären Kerne sowie der N.
centromedianus und centrolateralis. Sie erhalten Eingänge aus dem Kortex wie auch aus der
Formatio retikularis und dem Rückenmark
und entsenden weit streuende, diffuse Projektionen zum Kortex, insbesondere zum Lobus
frontalis sowie zu anderen thalamischen Kerngebieten.
Der Hypothalamus
Ventral vom Thalamus, rechts und links des
dritten Ventrikels sowie dessen Boden bildend,
liegen die Kernbereiche des Hypothalamus.
Leicht zu erkennen sind die Mamillarkörper
und die Hypophyse im ventralen Bereich sowie die Epiphyse (Zirbeldrüse) am posterioren
Ende des dritten Ventrikels. Alle anderen Kerne sind nur im Schnitt und mit Hilfe besonderer Färbungen nachweisbar. Auch hier gilt,
dass wir die Vielfalt an Kernen und ihre Funktionen bislang nur aus Tierversuchen ableiten
können.
52
Der Hypothalamus ist für die Aufrechterhaltung von basalen Körperfunktionen zuständig: er ist beispielsweise an der Steuerung
der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und
der Regelung der Körpertemperatur beteiligt.
Er ist Teil des endokrinen Systems und damit
insbesondere über die Hypophyse an allen
metabolischen Regelprozessen beteiligt. Darüber hinaus besitzt er Kernbereiche, die lichtempÀndlich sind und als innere Uhren zur
Synchronisierung des Schlaf-Wach-Rhythmusses beitragen. In Tierversuchen konnten
durch Stimulation von Bereichen des Hypothalamus verschiedenste artspeziÀsche Verhaltensweisen (Sexual- und Aggressionsverhalten) ausgelöst werden.
Das Mittelhirn (Mesencephalon)
Das Mittelhirn besteht vor allem aus dem Tectum mit der Vierhügelplatte im dorsalen Bereich und dem Tegmentum im ventralen Teil.
Dazwischen verläuft der Aquäductus sylvii,
die Verbindung zwischen dem III. Ventrikel im
Zwischenhirn und dem IV. Ventrikel unterhalb
des Kleinhirns. Das Tectum ist bei einigen
Tierarten, beispielsweise den Amphibien, das
visuelle Gehirn. Beim Menschen sind die oberen Hügel (Colliculi superiores) ebenfalls
Strukturen, die für das Sehen, vor allem das
periphere Sehen und die Augenbewegungen,
von großer Bedeutung sind. Sie ermöglichen
beispielsweise kortikal Blinden gezielte Zeigebewegungen auf visuelle Reize auszuführen, die sie bewusst nicht wahrnehmen. Die
Colliculi inferiores sind Teil des Hörsystems.
Ventral vom Aquäductus liegen Kerne der für
die Augenbewegungen zuständigen Hirnnerven. Ferner sind hier Kerne des motorischen
Systems, der Nucleus ruber und die Substantia
nigra zu Ànden. Der N. ruber ist Teil des extrapyramidalen motorischen Systems. Für dieses
System ist auch die S. nigra von großer Bedeutung, denn sie ist der Ursprung der dopaminergen Versorgung des Neostriatums
(Nucleus caudatus und Putamen). Die an die
Substantia nigra anschließenden ventralen
Ausbuchtungen, die nach rostral etwas auseinander streben, sind die sogenannten Hirn-
B. Preilowski
schenkel (Pedunculi cerebrales). In ihnen verlaufen die Projektionsbahnen, die wir auf
weiter rostral gelegenen Schnitten in der internen Kapsel sehen.
Der Hirnstamm
Der Hirnstamm ist eine strukturelle Bezeichnung (im Gegensatz zum Stammhirn als phylogenetischer Charakterisierung) und umfasst
das verlängerte Mark, die Pons, das Mittelund Zwischenhirn. Manche deÀnieren ihn
auch als das Gehirn ohne den zerebralen Kortex, d.h. sie zählen auch die Basalganglien
dazu.
Im verlängerten Mark (Medulla oblongata) beÀnden sich lebenswichtige Strukturen
zur Regulation von Atmung, Kreislauf und
Wachheit, sowie Kerngebiete, die das Gehirn
mit wichtigen Transmittern versorgen. Darüber hinaus Ànden sich hier auch Kerne, die Informationen aus dem Rückenmark und von
den Hirnnerven empfangen. Die Pons beinhaltet vor allem Verbindungen zwischen dem
Kleinhirn und dem restlichen Gehirn sowie
dem Rückenmark. Dabei entspringt ein Teil
dieser Fasern aus den pontinen Kernen, die
beispielsweise auch Informationen aus dem
Kortex erhalten.
Wie die Kernbereiche der Transmittersysteme, so durchziehen auch neuronale Netze den
Hirnstamm. Diese Formatio reticularis moduliert die auf- und absteigenden neuronalen
Aktivitäten.
Die Hirnnerven (Nervi craniales) ziehen,
bis auf den I. (Tractus. olfactorius) und II.
(Nervus opticus), durch den Hirnstamm (III.
N. oculomotorius; IV. N. trochlearis; V. N. trigeminus [bzw. Ganglion trigeminale] mit N.
ophthalmicus, N. maxillaris, N. mandibularis,
Radix motoria; VI. N. abducens; VII. N. facialis; VIII. N. vestibulo-cochlearis [stato-acusticus]; IX. N. glossopharyngeus; X. N. vagus;
XI. N. accessorius [spinalis]; XII. N. hypoglossus. (On old Olympus towering top a fatarmed girl vends snowy hops).
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
Das Kleinhirn (Cerebellum)
Das Kleinhirn liegt dorsal des verlängerten
Marks, über dem vierten Ventrikel. Es wird
vom posterioren Teil des Temporallappens und
dem Okzipitallappen des Endhirns überlagert.
Von diesem ist es durch eine Einstülpung der
Dura mater, dem Tentorium, getrennt. Das Cerebellum ist über drei massive Faserbündel mit
dem Hirnstamm und der Pons verbunden.
Über diese Kleinhirnstiele, die Pedunculi cerebelli inferiores, medii und superiores erhält das
Cerebellum Informationen aus vielen Teilen
des Gehirns und des Rückenmarks, überwiegend nach Umschaltung in den Kernen der
Medulla oblongata und der Pons. Aus dem
Rückenmark ziehen sensorische Axone aber
auch direkt in das Kleinhirn. Ebenso sind die
cerebello-fugalen Fasern über Kerne (z.B. den
N. dentatus) mit dem Spinalsystem und dem
Mittel-, Zwischen- und Endhirn verbunden.
Mit dem Vestibularsystem gibt es eigene, direktere reziproke Verbindungen.
Das Kleinhirn ist im Prinzip einfach aufgebaut: Die Afferenzen enden als Kletterfasern
direkt oder als Moosfasern über nachgeschaltete Körnerzellen mit ihren Parallelfasern an
den Dendriten der Purkinjezellen (dazwischen
geschaltet beÀnden sich noch innere und äußere Sternzellen). Die Axone der Purkinjezellen
sind die einzigen, die den zerebellären Kortex
in Richtung der tieferen Kleinhirn- und Vestibulariskerne verlassen. Im Kleinhirn Ànden
wir im Vergleich zur Großhirnrinde sehr viel
weniger weiße Substanz bei einer riesigen
Anzahl insbesondere von Körnerzellen. Die
Faltung des aus nur drei Schichten bestehenden zerebellären Kortex ist daher auch sehr
dicht. Anstatt von Gyri wird hier von Folien
gesprochen. Und wegen seines baumartigen
Aussehens im Schnitt spricht man auch vom
„Arbor vitae“ des Kleinhirns.
Obwohl das Kleinhirn in phylogenetisch
unterschiedlich alte Teile gegliedert werden
kann und man äußerlich auch eine rechte und
linke Hemisphäre unterscheidet, ist der Kortex
cerebelli doch durchgängig: also nicht, wie der
Cortex cerebri, der am Interhemisphärenspalt
unterbrochen und nur über Kommissurenbahnen miteinander verbunden ist. Wenn man die
53
Faltung (rechnerisch) glättet, ergibt sich eine
zusammenhängende etwa handtuchartig geformte Fläche. Die Regelmäßigkeit des Aufbaus und der Verschaltungen innerhalb der
Kleinhirnrinde haben schon früh zu Spekulationen über mögliche Zeitmessungs-, Taktgebungs- und Automatisierungsfunktionen
geführt. Ob und wie diese neben einer automatisierten Verbesserung der Haltungs- und
Bewegungssteuerung auch für kognitive Prozesse eine Rolle spielen könnten, ist bisher
noch nicht geklärt.
Das Ventrikelsystem
Die Ventrikel sind mit zerebralspinaler Flüssigkeit gefüllte Hohlräume im Gehirn. Die Seitenventrikel (1. und 2. Ventrikel) reichen in der
rechten und linken Hemisphäre mit dem Vorderhorn (Cornu anterius) in den Frontallappen;
der mittlere Teil (Pars centralis) beÀndet sich
jeweils in der Tiefe des Parietallappens und
das Hinterhorn (Cornu posterius) im Okzipitallappen; das Unterhorn (Cornu inferius)
reicht in den Temporallappen hinein. Zur Mitte hin sind die Seitenventrikel durch das Septum pellucidum voneinander und vom dritten
Ventrikel getrennt. Eine Verbindung zwischen
den Seitenventrikeln und dem dritten Ventrikel
besteht durch das Foramen interventriculare
(Monroi). Der dritte Ventrikel liegt zentral in
der Mitte des Gehirns und ist durch eine dünne Röhre im Mittelhirn, dem Aqäductus sylvii
mit dem vierten Ventrikel unterhalb des Kleinhirns verbunden. In jedem der Ventrikel beÀndet sich ein Plexus choroideus, in dem die zerebralspinale Flüssigkeit gewissermaßen als
Filtrat des Blutplasmas gebildet wird. Diese
Flüssigkeit zirkuliert aus den Seitenventrikeln
in den dritten, von dort in den vierten Ventrikel
und den sich anschließenden Zentralkanal des
Rückenmarks. Aber ganz wichtig ist, dass am
Ende des vierten Ventrikels eine Austrittsstelle
für die Flüsigkeit besteht, die somit in den
Subarachnoidalraum, der das gesamte Zentralnervensystem umschließt, eintreten kann. Die
zerebralspinale Flüssigkeit zirkuliert hier und
wird dann durch Granulationen, die in den
Sinus sagittalis superior (ein venöses Haupt-
54
abÁussgefäß) hineinragen, in den venösen
Blutkreislauf resorbiert.
Eine Idee von der Zirkulation der Zerebralspinalen Flüssigkeit erhält man, wenn man bedenkt, dass etwa ein halber Liter Flüssigkeit
pro Tag gebildet wird, aber jeweils nur 150 ml
in den Ventrikeln und dem Subarachnoidalraum zu Ànden sind. Ob die Produktion und
Zirkulation nur eine Möglichkeit darstellt, eine effiziente und anpassungsfähige innere und
äußere Polsterung des Gehirns bereit zu stellen, oder ob die zirkulierende Flüssigkeit speziÀschen Haushaltsprozessen zur Versorgung
des Gehirns dient, ist noch unklar.
Da die Seitenwände der Ventrikel von verschiedenen Strukturen gebildet werden, verändern sich bei Umgestaltung oder Verschiebungen dieser Strukturen auch die Volumina
bestimmter Ventrikel. Mit bildgebenden Verfahren erhält man durch die Verschiebung oder
Verkleinerung von Ventrikeln aufgrund von
raumfordernden Prozessen oder die Vergrößerung von Ventrikeln bei Degeneration der
wandbildenden Strukturen wichtige diagnostische Hinweise. Beispielsweise vergrößern sich
die Vorderhörner bei Degenerationen des
Kopfes des N. caudatus oder die Unterhörner
bei entsprechenden Verkleinerungen des Hippokampus.
Der Hirnschädel
Viele klinische Neuropsychologen haben ein
Gehirnmodell auf ihrem Schreibtisch und einen Atlas mit Hirnschnitten. Sehr hilfreich ist
es aber auch, auf ein Schädelmodell zurückgreifen zu können. Zum einen werden hier die
Schwachstellen sichtbar, die im Zusammenhang mit Hirnverletzungen durch Schädelbruch von Bedeutung sind. Zum anderen
macht die relativ unwirtliche Gestaltung der
InnenÁäche des Schädels deutlich, weshalb an
bestimmten Stellen, beispielsweise den Kanten der Schädelgruben, besonders häuÀg mechanische Verletzungen des Gehirns auftreten.
Schließlich kann man auch die Ein- und Austrittsstellen von Nerven und von Blutgefäßen
lokalisieren, die bei Be- und Entschleunigung
der Hirnmasse durch Abscherungen und Ab-
B. Preilowski
risse (bei Blutgefäßen dann mit entsprechenden Blutungen verbunden) gefährdet sind.
Und letztlich macht die Geschlossenheit des
Schädels auch die normalerweise relativ stabilen Blutdruckverhältnisse (im Vergleich zum
restlichen Körper) deutlich, erklärt aber auch
die fatalen Folgen von pathologischen, beispielsweise durch Ödembildung erzeugten intrakraniellen Drucksteigerungen, die die Gehirnmasse in die wenigen zur Verfügung
stehenden Schädelöffnungen drückt. Letzteres
führt dann zuerst zu einer Behinderung der
Blutversorgung der Strukturen, die sich in diesen Öffnungen beÀnden, beispielsweise der
Sehnerv (N. opticus) und die Arteria ophthalmica im Canalis opticus oder die Medulla
oblongata, die Nn. accessorii sowie die Aa.
vertebrales im Foramen magnum.
Die Hirnhäute
Direkt an der inneren Tafel des Schädelknochens und der Wirbelkörper anliegend und
teilweise mit dem Periost dieser KnochenÁächen verwachsen ist die sehr zähe Bindegewebsstruktur der Dura mater (harte Hirnhaut).
Die Schicht der Pia mater (weiche Hirnhaut)
ist direkt mit dem Nervengewebe verbunden.
Dazwischen beÀndet sich die Arachnoidea
(Spinnegewebshaut), die zur Pia mater hin den
Subarachnoidalraum bildet, in dem Blutgefäße
verlaufen und die zerebrospinale Flüssigkeit
(Liquor cerebrospinalis) nach ihrem Austritt
aus dem Ventrikelsystem (auf der Höhe des
verlängerten Marks) das Zentralnervensystem
umspült.
Die Dura mater bildet durch Einstülpungen,
die beispielsweise im Interhemisphärenspalt
bis fast auf die Höhe des Corpus callosum
reicht, Trennwände. Zwischen den Hemisphären ist dies die Falx cerebri; zwischen ventralem Temporallappen bzw. Okzipitallappen
und Cerebellum ist es das Tentorium.
Die Blutversorgung des Gehirns
Obwohl das Gehirngewebe vom Gewicht her
nur zwei Prozent des Gesamtkörpers aus-
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
macht, erhält es fast 17 Prozent des gesamten
Herzschlagvolumens und ist mit 20 Prozent
am gesamten Sauerstoffbedarf beteiligt. Die
Unterbrechung der Blutzufuhr oder der Entzug
von Sauerstoff führt zu Beschädigungen und
zum Absterben von Nervengewebe. Die genaueren Mechanismen und Bedingungen (beispielsweise die Rolle der Bildung von freien
Radikalen), unter denen es auch zu Unterschieden zwischen verschiedenen Gehirnstrukturen
bezüglich der Auswirkungen einer mangelnden
Blutversorgung kommen kann, sind Gegenstand
umfangreicher Forschung.
Die Blutversorgung des Gehirns erfolgt über
die rechte und linke A. carotis interna, und die
beiden Aa. Vertebrales, die in die A. basilaris
münden. Letztere gabelt sich dann in die beiden
Aa. cerebri posteriores, die im Wesentlichen
ventrale Bereiche des Temporallappens und
den Okzipitallappen versorgen. Die Karotiden
gehen mehr oder weniger direkt in die rechte
bzw. linke A. cerebri media über. Diese verlaufen dann jeweils in der Lateralfurche (Fissura
sylvii) und versorgen den perisylvischen Kortex (Frontal-, Temporal-, Parietal-) sowie den
insulären Kortex und die subkortikalen Kernstrukturen. Von der A. cerebri media zweigt das
kleinere Gefäß der A. cerebri anterior fast im
rechten Winkel ab. Beide Aa cerebri anteriores
ziehen im Interhemisphärenspalt über das Corpus callosum und versorgen die medialen Bereiche sowie über die dorsalen Kanten des Kortex (die Mantelkanten) hinweg dorsolaterale
Anteile des Frontal- und Parietallappens. Sowohl rechte wie linke A. cerebri media sind
über ein kommunizierendes Gefäß (A. communicans posterior) mit den beiden Aa. cerebri posteriores verbunden. Zwischen den beiden Aa.
cerebri anteriores gibt es eine Verbindung
durch die A. communicans anterior. Damit ergibt sich ein kreisförmiger Zusammenschluss
von Gefäßen, der Zirkel von Willis (Circulus
arteriosus zerebri [Willisi]), der bis zu einem
gewissen Grad Unterschiede in der Blutzufuhr
zwischen beiden Karotiden und den Vertebralarterien ausgleichen kann. Dadurch können einseitige Arterienveränderungen (z.B.
Stenosen) über längere Zeit unbemerkt bleiben.
Die Arterien verlaufen im Subarachnoidalraum, wo sie sich vielfältig verzweigen. Sie bil-
55
den die Piagefäße und dann in der Gehirnsubstanz Arteriolen und Kapillargefäße. Die enorme Dichte der Versorgung wird durch ein paar
Zahlen deutlich: Die kapillare Mikroversorgung des Gehirns wird auf eine Gesamtlänge
von 650 km geschätzt. Die Gefäße sind im
Durchmesser zumeist kleiner als 200 μm, bilden aber eine VersorgungsoberÁäche von 20 m2.
Die Kapillaren liegen im Schnitt nur 40 μm
voneinander entfernt (Duvernoy et al., 1981).
Wie im übrigen Körper sind die Arterien
auch in Kopf und Gehirn sehr umfassend neuronal versorgt. Daraus ergeben sich sehr komplexe Interaktionen zwischen zirkulatorischen
und neuronalen Prozessen. Diese sind im Zusammenhang mit pathologischen (z.B. Entzündungen; Veränderungen der Blut-HirnSchranke) oder traumatischen EinÁüssen
(Gefäßspasmen) von besonderer Bedeutung.
Sie sind darüber hinaus auch für die Untersuchung normaler Gehirnfunktionen wichtig, sei
es mit Hilfe von elektrophysiologischen Messungen oder insbesondere mit bildgebenden
Verfahren, die ja im Prinzip auf der Messung
von Durchblutungsveränderungen basieren.
Der venöse Abfluss erfolgt durch tiefe und
oberflächliche Venen in Hohlräume, die durch
Einfaltungen der Dura mater gebildet werden,
sogenannte Sinus (z.B. Sinus sagittalis superior, Sinus sagittalis inferior, Sinus rectus, Sinus
transversus) und schließlich die Vena jugularis.
Die Blut-Hirn-Schranke
Die selektiv durchlässige Barriere zwischen
Blut und Hirnsubstanz basiert auf besonderen
Eigenschaften der Endothelzellen der Blutkapillaren und der perivaskulären Glia. Die
Endothelzellen liegen an einer Basalmembran
so eng aneinander (so genannte „Tight junctions“), dass sie ein kontinuierliches Gefäß bilden. Für die Aufrechterhaltung dieser engen
Bindung sind bestimmte Proteine zuständig.
Die Barriere, die auch durch einen relativ hohen elektrischen Widerstand gekennzeichnet
ist, hält große Moleküle und bestimmte Stoffe
zurück. Die Gefäßwände der Gehirnkapillaren
besitzen weder die Öffnungen, noch die
physiologischen Mechanismen, die im Blut-
56
gefäßsystem außerhalb des Gehirns den interzellulären Transport erleichtern.
Die Ontogenese des menschlichen Gehirns
Aus Platzgründen kann hier nur auf einige
Grundzüge der ontogenetischen Gehirnentwicklung in und ex utero eingegangen werden.
Beschrieben wird die Abfolge von Prozessen,
die für ein Verständnis von pathogenen Auswirkungen auf die Entwicklung notwendig
sind. Diese Auswirkungen unterscheiden sich
nämlich deutlich, je nachdem in welcher Phase die Gehirnentwicklung beeinträchtigt wird.
Im ersten und zweiten Trimester der
Schwangerschaft steht die „Geburt“ von
Nervenzellen und Glia (Proliferation), sowie
deren Wanderung (Migration) zu den verschiedenen Gehirnteilen und ihre dortige Ausdifferenzierung im Vordergrund. Die Migration der
Zellen erfolgt größtenteils entlang bestimmter
vorauswachsender radialer Gliazellen. Die
ersten Zellen bilden beispielsweise die tieferen
Schichten des Kortex, die späteren wandern
durch diese nach oben hindurch und bilden die
äußeren Schichten. Einige Zellen wandern
aber auch tangential quer zu dem glialen
Gerüst. Die Differenzierung der Zellen vor Ort
beinhaltet die Entwicklung von Axonen und
Dendriten, die Aufnahme von Enzymen zur
Bildung von Transmittern und die Ausbildung
von Rezeptoren, um synaptische Übertragungen empfangen zu können. Die Zellen können
also bereits Informationen senden und empfangen. Die afferenten Informationen, die die
Zellen an bestimmten Orten erhalten, bestimmen mit, welche Funktionen die Zellen in diesem Bereich haben werden.
Probleme bei der Zellentstehung (zu viele
oder zu wenig Zellen, abnormale Zellen) können beispielsweise zu Microcephalie oder
Megalencephalie führen. Wird die Migration
behindert oder negativ beeinÁusst, können
Zellen irgendwo isoliert stehen bleiben oder
sie wandern zu Stellen, wo sie nicht hingehören (Ektopien, Heterotopien). Auch die
Lissencephalie (glattes Gehirn ohne Gyri und
Sulci) und Pachygyrie (breite, plumpe Hirnwindungen) werden mit Migrationsproblemen
B. Preilowski
in Verbindung gebracht. Andere schwere Missbildungen des Cortex cerebri, wie Schizencephalie, Polymicrogyrie und Hydranencephalie, werden hingegen als Auswirkungen von
Störungen der Differenzierung und Organisation angesehen. Einige dieser Störungen sind
genetisch bedingt, andere können aufgrund
von Durchblutungsstörungen oder Infektionen
entstehen. Je nach Ausmaß aller dieser Fehlbildungen unterscheiden sich die weiteren Entwicklungen dieser Gehirne und damit der Kinder, wenn sie denn lebend geboren werden.
Selbst bei minimalen Abweichungen, beispielsweise vereinzelten Ektopien, leiden die
Kinder später häuÀg unter Epilepsien. Bei umfangreicheren Störungen kommt es zu körperlichen und geistigen Behinderungen.
Im dritten Trimester der Schwangerschaft
gehen die Differenzierung und das Wachstum
des Nervensystems weiter. Es beginnt eine
Phase der überschießenden Ausbildung von
Synapsen, die sich bis ins zweite Lebensjahr
nach der Geburt fortsetzt. Gleichzeitig werden
auch immer mehr Zellen und Verbindungen abgebaut, so dass gegen Ende des ersten Lebensjahres die vorher sprunghaft angestiegene Zahl
der Synapsen langsam wieder abnimmt. Diese
Entwicklung zieht sich durch die gesamte
Kindheit und das Jugendalter und ist besonders
gut sichtbar in der sich lange hinziehenden Entwicklung des Frontalkortex. Bei der frühen Beschneidung von Zellen und Zellverbindungen
spielen offensichtlich trophische (unterstützende, nährende) Stoffe eine Rolle. Um den Zugang zu diesen Stoffen entsteht ein Wettbewerb
unter den Zellen. Nur diejenigen, die die effektivsten und intensivsten Kontakte herstellen
und aufrecht erhalten, haben die Chance zu
überleben. Das bedeutet, dass sich im Rahmen
gewisser genetisch bestimmter Vorgaben, aktivitätsabhängige Erfahrungen auf die normale
Hirnentwicklung auswirken.
Bei den pathogenen EinÁüssen im letzten
Drittel der Schwangerschaft unterscheidet Krägeloh-Mann (2004) zwischen Einwirkungen zu
Anfang des dritten Trimesters und zum Ende
dieser pränatalen Periode. Insgesamt kommt es
ab dem dritten Trimester eher zu Läsionen als
zu Fehlbildungen. In der frühen Phase des letzten Trimesters ist insbesondere die weiße Sub-
Kap. 1.2 Strukturelle Anatomie des Zentralnervensystems
stanz betroffen. Intracraniale und periventrikuläre Infarkte sind die Hauptursachen und
führen, je nach Lokalisation und Ausdehnung,
zu postnatalen spastischen bzw. motorischen
Störungen oder visuell perzeptiven sowie – bei
sehr großen Läsionen – auch zu kognitiven
DeÀziten. In der späten Phase dieses Trimesters sind vor allem kortikale und subkortikale Strukturen der grauen Substanz betroffen.
Zumeist sind hierfür prä- und perinatale
Hypoxien bzw. Ischämien verantwortlich. Es
wird vermutet, dass insbesondere Strukturen,
die in dieser Phase der Gehirnentwicklung
eine besonders hohe metabolische Aktivität
zeigen (Chugani, 1999), in Mitleidenschaft
gezogen werden. Die dann auftretenden Schädigungen der Basalganglien oder Thalamusläsionen führen zu gravierenden motorischen
Störungen. Wenn zusätzlich andere zentrale
Bereiche und der Hippokampus betroffen sind,
kann es zu schweren Entwicklungsstörungen
im Bereich der Motorik und der kognitiven
Funktionen sowie zu ausgeprägten bilateralen spastischen Behinderungen kommen.
Bei der Geburt wiegt das Gehirn ca. 300400 g. Das weitere Wachstum der Nervenzellen, ihre Ausdifferenzierung in axonalen und
dendritischen Bereichen sowie die Zunahme
an Gliazellen und die Myelinisierung der Axone führen zur Vergrößerung und Gewichtszunahme des Gehirns, welches dann im Mittel im
14. Lebensjahr dem des Erwachsenen ähnelt.
Die Entwicklung einer Reihe von Strukturen,
beispielsweise des frontalen Kortex geht aber
noch weiter, bis in das Jugendalter hinein, und
die volle Ausbildung des Corpus callosum
reicht sogar bis in das zweite Lebensjahrzehnt.
Da ein recht verlässlicher Zusammenhang
zwischen dem Ausmaß an neuronalen Verschaltungen und der metabolischen (vor allem
Glukose) Aktivität nachgewiesen wurde,
konnte man in der Folge durch Messungen des
Glukosestoffwechsels mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) Hinweise
auf die Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit verschiedener Hirnbereiche erhalten (Chugani, 1998): Hier bestätigte sich
der Zeitplan der prä- und perinatalen Entwicklung: Primäre sensorische und motorische
Kortizes, Hippokampus und cingulärer Kortex
57
behalten einen Vorsprung in der Entwicklung
vor den assoziativen Kortexbereichen.
Plastische Veränderungen im Nervensystem
Untersuchungen von Jugendlichen und Erwachsenen mit kernspintomographisch nachgewiesenen pränatalen unilateralen Hirnschädigungen ergaben interessante Befunde
bezüglich der Kompensation von Ausfällen,
die aufgrund der Lokalisation der Läsionen zu
erwarten gewesen wären: Sprachliche Funktionen wurden ohne offensichtliche Einbußen
vollständig von homolateralen Arealen der unbeschädigten rechten Hemisphäre übernommen. Auch in motorischen Funktionen zeigten
sich Kompensationen. Hier schien, nach unilateralen Läsionen in der frühen und mittleren
pränatalen Periode, die Aufrechterhaltung von
ipsilateralen Bahnen eine Rolle zu spielen. Für
das visuelle System wurde nur eine begrenzte
kompensatorische Kapazität gefunden (Krägeloh-Mann, 2004). Die Kompensation während
der Entwicklung des Gehirns beruht also auf
einer gewissen Plastizität in der Ausformung
eines genetisch vorgegebenen Bauplanes. Diese Plastizität ist für die verschiedenen Gehirnstrukturen und Phasen der Entwicklung sehr
unterschiedlich. Ferner ist zu bedenken, dass
die für die normale Entwicklung vorgesehene
Plastizität, im Falle einer Reaktion auf abnormale Zustände, langfristig durchaus zu einer
negativen Entwicklung führen kann. Margret
A. Kennards Empfehlung (1936) „wenn schon
eine Hirnschädigung, dann diese möglichst
früh“ zu haben, sollte also mit Vorsicht genossen werden; die in der frühen Entwicklung
gegebene größere Plastizität kann auch zu größeren Abweichungen führen.
In den letzten Jahren hat sich nun die Ansicht durchgesetzt, dass plastische erfahrungsabhängige Veränderungen nach ähnlichen Prinzipien wie während der Entwicklung ebenso im
erwachsenen Gehirn stattÀnden. Wenn auch in
sehr viel engeren Grenzen bleibt die Struktur
des Gehirns zumindest funktionell anpassungsfähig und spiegelt somit jeweils einen augenblicklichen Zustand ständiger dynamischer Interaktionen im Nervensystem wider.
Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
Geschichte und Methoden der funktionellen Neuroanatomie
MARIO PAULIG
Zusammenfassung
Aussagen zur Funktion umschriebener Hirnregionen basieren heute im Wesentlichen auf
klinischen Daten, d.h. Verletzungsfolgen in Korrelation zur morphologischen Bildgebung,
oder auf funktionell bildgebenden Daten im Sinne von aufgabenspeziÀschen Aktivierungsmustern überwiegend bei gesunden Probanden. Dabei ergibt sich nicht in jedem Fall eine
1:1 Korrelation. Eine Aktivierung eines Hirnareals in der funktionellen Bildgebung in Abhängigkeit von einer bestimmten Leistung lässt nicht notwendig darauf schließen, dass
diese Leistung im Falle einer isolierten Schädigung dieses Areals auch beeinträchtigt sein
muss. Manche klinischen Symptome besitzen eine sehr hohe neuroanatomische SpeziÀtät,
wie z.B. sensomotorische Störungen, während andere, wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen,
nach recht unterschiedlichen Hirnläsionen beobachtet werden können. Nach derzeitigem
Verständniss sind vor allem komplexe kognitive Leistungen durch neuronale Netzwerke mit
regional verteilten Epizentren repräsentiert.
Die Tradition der Lokalisation sogenannter
höherer Hirnfunktionen reicht weit zurück. Im
18. Jahrhundert war es die Phrenologie des
Franz Joseph Gall, die erstmals solche Funktionen auf den Großhirnkortex bezog und in
weite Gesellschaftsbereiche hinein rezipiert
wurde. Durch die irrige Annahme, kortikale
Merkmalsausprägungen würden sich in einer
veränderten Schädelmorphologie zeigen, wurde es zu einem Gesellschaftsspiel, sich gegenseitig den Kopf zu betasten und die geistigen
und persönlichen Eigenschaften des Gegenüber einzuschätzen. Wenn auch letztlich keine
der vermuteten kortikalen Funktionslokalisationen aus heutiger Sicht haltbar ist, so ist doch
ein erhebliches Interesse an der Anatomie
höherer Hirnfunktionen geweckt worden. Es
war auch ein von der Phrenologie inspirierter
Arzt, John M. Harlow, der Mitte des 19. Jhdts.
den aufsehenerregenden, und seitdem in vielen
neurowissenschaftlichen Schriften immer wieder als paradigmatisch für die funktionelle
Hirnanatomie erwähnten Fall des amerikani-
schen Eisenbahnarbeiters Phineas Gage untersuchte und publizierte. Gage hatte eine Penetrationsverletzung vorderer Hirnregionen
durch eine Eisenstange viele Jahre überlebt,
jedoch mit dem Preis einer schwersten Wesensänderung und sozialem Abstieg. Den hirnlokalisatorischen Sektionswünschen Harlows
kam allerdings der amerikanische Bürgerkrieg
dazwischen. Harlow, der viel zu spät vom Ableben des Herrn Gage erfuhr, konnte nur noch
eine Exhumierung des knöchernen Schädels
mit den Trepanationsmalen und der Eisenstange erreichen. Diese übten jedoch eine ungebremste Faszination auf Neurowissenschaftler
aus. In jüngerer Zeit rekonstruierten Damasio
und Mitarbeiter per Computeranimation den
Weg der Eisenstange durch das Gehirn von
Gage und nahmen eine Läsion des ventromedialen präfrontalen Kortex als Ursache für die
Verhaltensstörung an (Damasio et al., 1994).
Allerdings sind bei kritischer Prüfung die
primären Datenquellen zweifelhaft und Gage
diente wohl eher als ProjektionsÁäche für
Kap. 1.2 Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
Eigenschaften, die man gerne dem Frontalhirn
zuschrieb (MacMillan, 2000). Der Fall zeigt
auch, dass man vorsichtig sein sollte, bei überwiegend diffusen Schädigungsätiologien wie
dem Schädelhirntrauma Rückschlüsse auf umschriebene Hirnfunktionen zu ziehen.
Die postmortale Hirnpathologie in Bezug
gesetzt zu den vorbestehenden neurologischen
bzw. neuropsychologischen Auffälligkeiten
stellte lange Zeit zusammen mit der tierexperimentellen Grundlagenforschung die wesentliche funktionell anatomische Informationsquelle dar. Bekannte Beispiele sind die Arbeiten von Paul Broca und Carl Wernicke zur
Lokalisation der Sprachfunktion. Erst die Verfügbarkeit der modernen bildmorphologischen
Diagnostik, im wesentlichen ComputertomograÀe und KernspintomograÀe, erlaubten
eine in vivo Darstellung von Hirnläsionen und
lieferten eine Fülle von klinischen Daten zur
funktionellen Neuroanatomie. Bahnbrechend
für die Lokalisation von Hirnfunktionen waren
auch Mitte des 20. Jhdts. Befunde von Wilder
PenÀeld, der durch umschriebene elektrische
Stimulationen am menschlichen Kortex eine
vorübergehende Störung bestimmter Leistungen hervorrief und somit eine Kartographie
vieler Funktionen des Gehirns vornehmen
konnte. Diese Methode hat bis heute Bedeutung wenn es darum geht, vor neurochirurgischen Eingriffen Funktionen mit hoher interindividueller anatomischer Varianz zu lokalisieren. Beispielhaft sei hier das intraoperative Sprachmonitoring erwähnt.
Eine neue Dimension tat sich Ende des
letzten Jahrhunderts durch die funktionelle
Bildgebung (PET, fMRT) auf. Über die Darstellung von Änderungen des regionalen
Blutflusses war es erstmals indirekt möglich
aufgabenspezifische Hirnaktivierungen bei
Gesunden darzustellen. Viele Aussagen zur
Lokalisation bestimmter kognitiver Leistungen basieren heute auf Ergebnissen der funktionellen Bildgebung. Allerdings bleibt in
einigen Bereichen die Frage offen, inwieweit
von der leistungsspezifischen Aktivierung
einer bestimmten Hirnregion tatsächlich auf
die Störung dieser Leistung im Falle einer
Läsion dieses Bereichs geschlossen werden
kann.
59
Eine direkte Darstellung elektrischer Potentialänderungen durch neuronale Aktivität gelingt durch elektrophysiologische Verfahren
wie ElektroenzephalograÀe und für die funktionelle Neuroanatomie bedeutsamer die Magnetenzephalographie. Letztere vermag mit
hoher zeitlicher AuÁösung Aktivitätsänderungen bestimmter Hirnzentren darzustellen, allerdings ist das Verfahren sehr aufwändig,
artefaktanfällig und seine räumliche AuÁösung ist nur mäßig.
Großhirnkortex: Konnektivität, Netzwerke
und Verarbeitungwege
M. Mesulam nahm aufbauend auf der zytoarchitektonischen Kartierung in 47 BrodmannAreale (BA) eine funktionelle Einteilung des
Kortex in fünf Bereiche vor (Mesulam, 1985).
Primäre Rindenfelder sind „Eingangsstationen“ der Sinnesafferenzen bzw. „Ausgangsstation“ der Motorik, wie z.B. die primäre Sehrinde an den Ufern des Sulcus calcarinus (BA 17)
oder der primär motorische Kortex im Gyrus
präzentralis (BA 4). Ausfälle in diesen Bereichen gehen mit einer basalen sensorischen
oder motorischen Störung einher, etwa mit einer Hemianopsie oder einer zentralen Parese.
Unimodale Assoziationsfelder nehmen bereits
eine komplexe Informationsverarbeitung vor,
aber nur bezogen auf eine Modalität. Hierzu
zählt z.B. der visuelle Assoziationskortex
(BA 18-21 und 37). Im Falle einer Läsion können komplexere und variablere Ausfälle wie
z.B. eine Störung der visuellen Objekterkennung resultieren. Heteromodale Assoziationsfelder dienen der komplexen Informationsverarbeitung unter Einbeziehung verschiedener
Modalitäten. So können Verletzungen des
präfrontalen Kortex (BA 9-12, 45-47 und Teile von 8) multimodale Syndrome wie eine
Exekutivfunktionsstörung bewirken. Die paralimbischen Areale beinhalten folgende Hirnstrukturen: den orbitofrontalen Kortex (hintere BA 11 und 12), den Temporalpol (BA 38),
die vordere Insel (BA 14-16), den Gyrus parahippokampalis (BA 27, 28, teilweise BA 35)
und den retrosplenialen zingulär-parolfaktorischen Komplex (BA 23-26 und 29-33). Die
60
paralimbischen Areale stellen einen Übergangsbereich zwischen dem sechsschichtigen
Isokortex und den primitiveren limbischen
Arealen ( Allokortex) dar. Zu letzteren zählen
die Hippokampusformation, die Amygdala,
der präpiriforme olfaktorische Kortex, die
Septalregion und die Substantia innominata
(siehe hierzu auch das vorangehende Kapitel
von B. Preilowski). Nach der Vorstellung von
Mesulam sind die limbischen Bereiche vor allem mit dem internen Milieu befasst und werden mit Emotion und Motivation in Verbindung gebracht. Dagegen sind die uni- und
heteromodalen Rindenfelder in erster Linie in
Geschehnisse der Außenwelt involviert.
Die kolumnare Organisation in Säulen von
neuronalen Zellverbänden als kleine funktionelle Einheiten ist tierexperimentell für viele
Systeme nachgewiesen (Mountcastle, 1997).
Kolumnen im sensiblen Kortex z.B. umfassen
einige hundert Mikrometer mit Hunderttausenden von Neuronen und werden durch speziÀsche Stimuli wie z.B. eine umschriebene Hautberührung oder Gelenkpositionen aktiviert.
Die Kolumnen als kleinste funktionelle Einheiten können aber nur dann komplexes Verhalten
steuern, wenn sie auf komplexe Weise miteinander verbunden sind. Die Konnektivität zwischen kortikalen Arealen ist also von herausragender Bedeutung. So hat sich in der Evolution
des Primaten die weisse Substanz, also der Ort
der subkortikalen Verbindungen, gegenüber
der kortikalen grauen Substanz exponentiell
entwickelt (Allman, 1999), und das menschliche Frontalhirn unterscheidet sich von dem
des Affen vor allem durch ein Zunahme des
frontalen Marklagers (van Hoesen et al., 1996).
Erkenntnisse über Konnektivität und räumliche Schwerpunktbildungen führten zur Modellvorstellung von neuronalen Netzwerken
als Substrat „höherer Hirnfunktionen“. Danach sind komplexe Verhaltensbereiche wie
Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis oder
räumliche Leistungen nicht in isolierten Arealen, sondern in einem funktionellen System
aus integrierten, räumlich verteilten Zentren
repräsentiert (Mesulam, 1998). Damit lässt
sich erklären, dass z.B. eine Sprachstörung
nach unterschiedlich lokalisierten Läsionen
auftreten kann, die entweder die kortikalen
M. Paulig
Epizentren oder die subkortikalen Verbindungen des sprachrelevanten Netzwerks betreffen.
Einzelne kortikale Zentren können auch mehreren überlappenden Netzwerken angehören.
Der Thalamus ist für viele kognitionsrelevante kortiko-kortikale, aber auch sensorische
und motorische Verbindungen eine wichtige
Flaschenhalsstruktur. Schädigungen des Thalamus können deshalb „kortikale Syndrome“
wie z.B. einen Neglekt zur Folge haben. Die
Netzwerke stehen unter dem EinÁuss weitverzweigter Projektionssysteme aus dem Hirnstamm und Hypothalamus, die einen aktivierenden bzw. modulierenden EinÁuss auf sie
haben. Sie sind teilweise identisch mit dem
Konzept des aufsteigenden retikulär-aktivierenden Systems (ARAS). Dabei spielen cholinerge, dopaminerge, noradrenerge, serotonerge und histaminerge Transmittersysteme eine
Rolle. Sie entspringen aus Kerngebieten im
oberen Hirnstamm (z.B. Locus coeruleus,
Raphekerne) oder dem basalen Vorderhirn
(z.B. Nucleus basalis Meynert).
Mittlerweile sind für mehrere funktionelle
Systeme Informationsverarbeitungspfade des
Kortex identiÀziert worden, die jeweils von
hinteren Großhirnbereichen nach rostral verlaufen (Abb. 8). Ursprünglich wurde von Mishkin und Mitarbeitern (1983) aus tierexperimentellen Untersuchungen für das visuelle
System ausgehend vom visuellen Kortex ein
dorsaler Pfad zum Parietallappen mit Prozessierung räumlicher Informationen und ein ventraler Pfad am unteren okzipito-temporalen
Abb. 8. Pfade der Informationsverarbeitung im Gehirn.
Kap. 1.2 Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
Übergang mit Verarbeitung objektbezogener
Informationen beschrieben. Dies passt gut zu
der klinischen Erfahrungen beim Menschen,
dass visuell räumliche Störungen überwiegend
mit parietalen Läsionen und Objektagnosien
besonders mit Schädigungen des inferioren
temporo-okzipitalen Übergangsbereichs vergesellschaftet sind. In jüngerer Zeit wurden auch
für den dorsolateralen präfrontalen Kortex Einbindungen in den dorsalen und ventralen Pfad
postuliert (Rao et al., 1997). Dabei ist wiederum der obere präfrontale Kortex mehr in raumbezogene, der untere mehr in objektbezogene
Operationen involviert. Auch für die Verarbeitung akustischer Systeme wurden getrennte
Pfade identiÀziert (Romanski et al., 1999). Dabei steht in Analogie zum visuellen System ausgehend von der Hörrinde der dorsale Pfad für
die räumliche Verarbeitung akustischer Reize
und der ventrale Pfad für die IdentiÀkation
akustischer Reize. Jüngst wurden sogar für
die Sprachverarbeitung zwei Wege beschrieben (Hickok u. Poeppel, 2004). In einem dorsalen Fluss von temporoparietal bis zum oberen präfrontalen Kortex werden phonologische Aspekte, in einem ventralen Pfad von
temporal bis zum unteren präfrontalen Kortex
konzeptuelle Sprachaspekte prozessiert.
Abb. 9. Funktionelle Neuroanatomie der Insel.
61
Crossmodale Gehirnstrukturen im Wandel der
Sicht: das Beispiel der Inselrinde
Während die funktionelle Bedeutung z.B. des
Frontalhirns als Konvergenzzone des Gehirns
schon lange großes Interesse erweckte, gibt es
auch crossmodale Hirnstrukturen, die erst in
jüngerer Zeit vermehrt in das Bewusstsein der
Neurowissenschaft rückten. Dazu zählt der Inselkortex, dessen funktionelle Anatomie hier
exemplarisch erläutert werden soll (Abb. 9).
Der insuläre Kortex wird durch den Sulcus
centralis insulae in eine vordere und eine hintere Insel geteilt. Die vordere Insel umfasst in
der Regel drei kurze Gyri (Gyri breves), die
hintere ein oder zwei längere Gyri (Gyri longi). Eigentlich können vorderer und hinterer
Inselkortex auch als eine Fortsetzung der motorischen (Gyrus praecentralis) und sensiblen
(Gyrus postcentralis) Rinde angesehen werden, die sich in ihrem unteren Bereich als frontoparietales Operculum (Operculum = Deckel)
über die Insel wölben. In gewisser Analogie
zur Architektonik des sensomotorischen Kortex ist die vordere Insel agranulär, die hintere
granulär. Die vordere Insel wird zu den paralimbischen Arealen gerechnet. Der insuläre
Kortex weist vielfache Verbindungen zu ande-
62
ren Hirnteilen auf. Die vordere Insel unterhält
u.a. ausgeprägte Verbindungen mit der Amygdala und dem orbitofrontalen Kortex, während
die hintere Insel u.a. mit sensorischen Kortexbereichen verbunden ist.
Da die vordere Insel gustatorische und olfaktorische Eingänge erhält wurde sie traditionell im Wesentlichen mit Geschmacks- und
Geruchsverarbeitung, aber auch mit autonomen Funktionen in Verbindung gebracht. Bei
elektrischen Stimulationsversuchen dieser Region konnten Veränderungen autonomer Körperfunktionen wie Herzschlag oder Atmung
ausgelöst werden. Es spricht viel dafür, dass
die Insel eine viszerosensorische bzw. viszeromotorische Konvergenzzone im Gehirn darstellt.
Jüngere Daten, unter anderem aus funktionell bildgebenden Untersuchungen, führten zu
der Vorstellung einer zentralen Rolle der Inselrinde bei emotionalen Vorgängen. Dabei ist
sie vor allem bei der Wahrnehmung (Interozeption) wie auch bei der autonomen Steuerung von Vorgängen im Körperinnern beteiligt
(Craig, 2003). So Àndet man Aktivierungen
der Insel bei emotionsgeladenen Rückmeldungen von körperlichen Veränderungen wie
Schmerzreizen, Harndrang oder Lufthunger.
Eng assoziiert sind auch Mitaktivierungen des
anterioren Gyrus cinguli und des medianen
orbitofrontalen Kortex. Letzterer spielt in der
Theorie der somatischen Marker eine große
Rolle, die eine Störung der unbewussten, emotionalen EntscheidungsÀndung durch einen
mangelnden interozeptiven Zugriff auf die
assoziierten autonomen Körperzustände, also
einem „Bauchgefühl“, annimmt (Bechara et
al., 2000). Damasio hebt die Bedeutung der
Insel in diesem System besonders hervor
(Damasio, 2003).
Auf weitere Funktionen der Insel weisen
neuere klinische Daten zu Läsionsfolgen hin.
Der vorderen Insel scheint eine besondere
Kompetenz bei der Steuerung von Sprechund von Schluckbewegungen zuzukommen.
So konnte das Auftreten von Schluckstörungen in Assoziation von Infarkten der vorderen
Insel gezeigt werden (Daniels u. Foundas,
1997). Auch in der funktionellen Bildgebung
ist die Insel bei Schluckvorgängen aktiviert
M. Paulig
(Hamdy et al., 1999). Speziell der linken vorderen Insel wird eine Kompetenz bei der artikulatorischen Planung zugeschrieben. In einer
größeren Läsionsstudie wurden Betroffene
mit einer chronischen Sprechapraxie, die mindestens seit einem Jahr bestand, mit nicht
Sprechapraxien, aber ebenfalls linkshirnig
geschädigten Personen bezüglich der Läsionsmuster verglichen (Dronkers, 1996). Es zeigte sich eine doppelte Dissoziation bezüglich
der linken anterioren Insel, die regelhaft
bei der Sprechapraxie, aber nie bei den Patienten ohne Sprechapraxie betroffen war. Dies
wurde in einer jüngst publizierten Studie
repliziert (Ogar et al., 2006). Möglicherweise
gilt dies jedoch nicht für akute Infarktpatienten, da eine weitere Untersuchung von
Sprechapraxien nach frischen Hirninfarkten
die benachbarte Brocaregion und nicht die
Insel als kritischen Läsionsort hervorhebt
(Hillis et al., 2004).
In den letzten Jahren hat die rechtsseitige
Insel in Bezug auf den Neglekt Interesse
erweckt. Während traditionell der inferiore
parietale Kortex als kritischer Läsionsort für
die halbseitige Vernachlässigung angesehen
wurde, fand die Arbeitsgruppe um Karnath in
einer kürzlich durchgeführten Untersuchung
eine Schädigung der rechten Insel, sowie der
oberen Temporalwindung und des Striatum,
als signiÀkant häuÀgsten Befund bei Neglektpatienten (Karnath et al., 2004). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass der hintere
Anteil der Insel und die umgebenden Kortexstrukturen möglicherweise dem vestibulären
Kortex als Homolog des beim Affen identiÀzierten parieto-insulären vestibulären Kortex
entspricht (Brandt et al., 1994). Störungen des
vestibulären Systems können ähnlich wie bei
einem Neglekt zu einer systematischen Verschiebung von subjektiven Raumkoordinaten
führen. Andererseits ist bekannt, dass sich die
Neglektsymptomatik durch vestibuläre Manipulationen (Labyrinthreizung durch kalorische
Ohrspülungen) vorübergehend beeinÁussen
lässt. Überlappungen von vestibulären und
neglektassoziierten Phänomenen werden aktuell mit Blick auf die neuroanatomische Koinzidenz in der Insel diskutiert (Karnath u.
Dieterich, 2006).
Kap. 1.2 Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
Klinische Hirnanatomie: die Beziehung von
Symptom und Läsionslokalisation
Spezifität der Symptom-Läsion-Beziehung
Bekanntermaßen ist weder eine rein lokalisationistische noch eine generell holistische bzw.
äquipotentielle Sichtweise für die Funktion
unseres Gehirns zutreffend. Die klinische Erfahrung zeigt, dass manche Störungsbilder
eine feste Beziehung zu Läsionen genau umschriebener Hirnregionen aufweisen, wie z.B.
die Assoziation einer spastischen Lähmung
mit einer Schädigung des motorischen Kortex
und seiner absteigenden Bahnen. Diese hohe
beiderseitige SpeziÀtät, also dass von einem
Symptom auf die Läsion einer bestimmten
Hirnstruktur geschlossen werden kann und
umgekehrt bei einer sichtbaren Schädigung
dieser Struktur in der Bildgebung dieses Symp-
63
tom prädiktiv angenommen werden kann, betrifft in erster Linie motorische und sensorische Systeme (Abb. 10). Andererseits gibt es
Symptome, die nach sehr unterschiedlichen
Hirnverletzungen auftreten können, was für
viele kognitive Syndrome wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen gilt. DeÀzite bei der Aufmerksamkeitstestung können praktisch nach
Hirnschädigungen jeglicher Lokalisation beobachtet werden. Bei näherer Betrachtung
zeigt sich, dass auf die Ausprägung von Aufmerksamkeitsstörungen offenbar sowohl
quantitative als auch regionale Faktoren EinÁuss haben. So treten schwere Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit vor allem dann
auf, wenn quantitativ relevante diffuse Verletzungen des subkortikalen Marklagers oder des
Großhirnkortex, z.B. nach Schädelhirntrauma
oder Hypoxie, vorliegen. Andererseits können
auch schon kleine Läsionen zu gravierenden
Abb. 10. T2-gewichtetes MRT. Man sieht einen linkshirnigen Mediateilinfarkt (hell), der den lateralen sensomotorischen Kortex betrifft. Es resultierte eine rechtsseitige sensomotorische Hemiparese, die entsprechend der somatotopischen Gliederung armbetont war. Die Stelle der Repräsentation der distalen oberen
Extremität lässt sich meist gut an einer knopfartigen Ausbeulung des Gyrus präcentralis nach hinten erkennen („hand knob“). Sie ist im Gegensatz zum medial davon gelegenen Beinareal (im Anteriorstromgebiet)
offensichtlich durch den Infarkt betroffen. Läsionen primärer sensomotorischer Rindenfelder weisen eine
enge Korrelation zu bestimmten klinischen Ausfallsmustern auf.
64
DeÀziten der Aufmerksamkeitsintensität bzw.
des skalaren Bewusstseins führen, wenn das
Tegmentum des oberen Hirnstamms oder der
Thalamus betroffen ist, also Strukturen, die
dem ARAS (aufsteigendes retikuläres aktivierendes System) zugeordnet werden (Plum u.
Posner, 1980). Eine besondere Vulnerabilität
bestimmter „Flaschenhalsstrukturen“ ist auch
für das deklarative Gedächtnis bekannt. Hier
sind es der Hippokampus und mit ihm assoziierte Komponenten wie der anteriore Thalamuskern, der Mammillarkörper oder der
Fornix, die als kritische Läsionsorte für
amnestische Syndrome angesehen werden
können (Mayes, 2000).
Die Beiderseitigkeit der Beziehung Symptom zu Läsionsort und Läsionsort zu Symptom ist nicht immer gegeben. Ein Beispiel
hierfür sind visuelle Agnosien, also herausragende Störungen der visuellen Erkennens-
M. Paulig
leistungen von Objekten oder Gesichtern, die
nicht durch basale visuelle DeÀzite hinlänglich
erklärbar sind (Abb. 11). So Àndet man bei Patienten, die unter einer Prosopagnosie leiden,
regelhaft eine beidseitige oder rechtsseitige
Schädigung des basalen temporo-okzipitalen
Übergangsbereichs. Neuere Untersuchungen
mit der funktionellen Bildgebung unterstützen
diesen Befund durch die IdentiÀkation eines
auf die Gesichtererkennung spezialisierten
Areals im Gyrus fusiformis, der „fusiform
face area (FFA)“ (Loffler et al., 2005). Läsionen in diesem Bereich, etwa im Rahmen eines
Posteriorinfarkts, sind sehr häuÀg, Prosopagnosien im klinischen Alltag aber sehr selten.
Dies bedeutet, dass bei einer in der Bildgebung
sichtbaren Schädigung dieser Strukturen nicht
mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit auf das
Vorliegen einer Prosopagnosie geschlossen
werden kann, obwohl man umgekehrt bei Vor-
Abb. 11. In den Flair-gewichteten MRT Bildern kommt ein ausgedehnter Posteriorinfarkt linkshirnig und
ein kleinerer rechts zur Darstellung (jeweils hell). Der linksseitige betrifft die primäre Sehrinde, hintere Anteile des Hippokampus und Gyrus parahippocampalis, sowie den inferioren okzipito-temporalen Übergang
(Gyrus occipitotemporalis medialis und lateralis). Neben einer rechtsseitigen Hemianopsie und einer leichten Gedächtnisstörung stand klinisch vor allem eine ausgeprägte visuelle Agnosie im Vordergrund. Die
inferiore okzipito-temporale Läsion ist typisch für die Agnosie, die sich jedoch nicht mit hinlänglicher
Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt, wenn man nur die Bilder sieht.
Kap. 1.2 Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
liegen einer Prosopagnosie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf diese Pathologie schließen
kann. Die Ursache könnte in einer interindividuellen Variabilität liegen, oder darin, dass für
das Auftreten einer Prosopagnosie neben dem
beidseitigen oder rechtsseitigen ventralen temporo-okzipitalen Kortex noch weitere Epizentren eines Netzwerks geschädigt sein müssen,
die bis jetzt noch nicht identiÀziert sind. Man
muss in diesem Zusammenhang auch einwenden, dass trotz der enormen Fortschritte in den
bildgebenden Untersuchungen des Gehirns
einschließlich der hohen AuÁösung moderner
Kernspintomografen eine Hirnstruktur, die nur
einen teilweisen Zelluntergang erlitten hat, im
Bild nicht als pathologisch verändert zur Darstellung kommen muss. Andererseits lässt sich
in der Bildgebung z.B. in einem gliotisch umgebauten Infarktareal nicht sicher ausschließen, dass noch funktionstüchtige Neuronen
erhalten sind. Dieses Dilemma kommt auch bei
Phänomenen der Diaschisis (Auseinanderklaffen) zum Tragen. Mit Diaschisis ist gemeint,
dass bei Läsion einer bestimmten Hirnstruktur
eine mit ihr verbundene, aber räumliche entfernte Hirnstruktur aufgrund mangelnden
Inputs eine verminderte Aktivität aufweist, obwohl sie selbst nicht geschädigt ist. Dies wird
meist über den regionalen BlutÁuss oder Metabolismus durch PET oder SPECT dargestellt.
So konnte als robuster Befund nach einseitigen
Mediainfarkten eine verminderte Aktivierung
der kontralateralen Kleinhirnhemisphäre gezeigt werden (Srinivasan et al., 2004). Bei subkortikalen Aphasien z.B. bestehen jedoch kontroverse Diskussionen darüber, ob eine häuÀg
begleitende Diaschisis scheinbar nicht betroffener sprachrelevanter Kortexbereiche wirklich auf eine Diskonnektion oder nicht doch
auf eine bildmorphologisch nicht fassbare Teilinfarzierung des Kortex durch einen passageren Mediahauptstammverschluss verursacht ist
(Nadeau u. Crosson, 1997).
Die Ausprägung der klinischen Folgen einer Hirnläsion wird nicht nur durch das Ausmaß des lokalen Zelluntergangs, sondern auch
durch die Zeitdauer der Schädigungsausbildung bestimmt. So Àndet man bei unbehandelten Hirntumorpatienten oft geringere klinische
Symptome als bei Patienten mit Hirninfarkten
65
oder -blutungen vergleichbarer Lokalisation.
Die Ursachen dafür liegen in der Neuroplastizität bzw. der funktionellen Reorganisation des
ZNS, die durch den langsamen Raumforderungsprozess ermöglicht wird, sowie im inÀltrativen Charakter mancher Tumoren, die
funktionsfähige Neuronen innerhalb der Tumorausdehnung belassen. In einer Studie aus
der Arbeitsgruppe um Damasio wurden Hirntumorpatienten jeweils mit Hirninfarktpatienten verglichen, die ähnliche Läsionslokalisationen aufwiesen und sich einer ausführlichen
neuropsychologischen Testung unterzogen
(Anderson et al., 1990). Unter der Annahme,
dass das Läsionsausmaß in der Bildgebung bei
Hirntumoren wegen Begleitödem und Verdrängung tendenziell überschätzt wird, erfolgte bereits eine Zuordnung von jeweils etwas
kleineren Hirninfarktmustern. Bei den Tumorpatienten fanden sich geringere DeÀzite und
eine deutlich größere Variabilität als in der
Vergleichsgruppe. Auch Duffau et al. (2003)
fanden bei Patienten mit niedriggradigen Gliomen in eloquenten Hirnarealen geringere DeÀzite als erwartet.
Läsionsfolgen in Abhängigkeit von Lateralität
und interhemisphärischem Transfer
Die wohl bekannteste funktionelle Lateralisierung betrifft die Sprache. Sprachstörungen
(Aphasien) einschließlich herausragender
schriftsprachlicher DeÀzite (Dyslexien, Dysgraphien) treten weit überwiegend nach linkshemisphärischen Läsionen auf. Dabei spielt
die Händigkeit nur eine begrenzte Rolle, denn
über 95% aller Rechtshänder und etwa zwei
Drittel der Linkshänder entwickeln eine Aphasie, wenn die eloquenten Bereiche ihrer linken
Hemisphäre durch eine Schädigung betroffen
sind. Gekreuzte Aphasien, d.h. Aphasien bei
Rechtshändern mit rein rechtshemisphärischen
Läsionen, sind mit 1-2 % aller rechtshändigen
Aphasiker sehr selten. Auch die Sprechapraxie
ist ein linkshemisphärisches Syndrom. Apraxien, die den Mund- und Gesichtsbereich oder
die Gliedmassen betreffen, sind häuÀg mit
Aphasien vergesellschaftet und ebenfalls ein
Störungsbild, das mit sehr hoher Wahrschein-
66
lichkeit auf eine linkshemisphärische Pathologie verweist. Dies trifft vor allem auf Fehlhandlungen im Umgang mit realen Objekten
(ideatorische Apraxie) und die Imitation bedeutungsloser Handstellungen (ideomotorische Apraxie) zu. Dagegen konnte für die Imitation von Finger- und Fußstellungen eine
Beeinträchtigung vor allem bei rechtshemisphärisch geschädigten Patienten gezeigt werden (Goldenberg u. Strauss, 2002).
Ein Neglekt tritt weit häuÀger, ausgeprägter
und anhaltender nach rechts- als nach linkshemisphärischen Läsionen auf. Passend dazu,
dass beim Neglekt phänomenologisch auch
Störungen der Aufmerksamkeit für bzw. der
Wahrnehmung von Körper- und Aussenraum
zum Tragen kommen, Àndet sich bei Beeinträchtigungen perzeptiver visuo-spatialer Leistungen ebenfalls eine Dominanz rechtshemisphärischer Schädigungen. Dagegen sind DeÀzite bei räumlich-konstruktiven Aufgaben entgegen früherer Ansichten neuroanatomisch relativ unspeziÀsch (Kerkhoff, 2006). Dies hat
wohl auch damit zu tun, dass Fehler bei diesen
Tests nicht nur durch räumliche, sondern auch
durch viele andere kognitive Beeinträchtigungen bedingt sein können. HäuÀg, aber keinesfalls ausnahmslos mit einem Neglekt assoziiert
ist eine gelegentlich in der Frühphase nach
einer rechtshemisphärischen Schädigung zu beobachtende fehlende Bewusstheit für eine
Lähmung, eine Anosognosie für Hemiplegie.
Selten kann diese auch mit wahnhaften oder
illusionären Verkennungen der betroffenen Körperseite einhergehen (Somatoparaphrenie).
Auch für diese Störungsbilder einschließlich
„misidentiÀcation syndromes“ Àndet sich ein
klares Überwiegen rechtshemisphärischer Läsionen (Paulig, 2002). Auch bei Prosopagnosien, so die Pathologie nicht bilateral ist, zeigt
sich typischerweise eine rechtsseitige Schädigungen des ventralen temporo-okzipitalen
Übergangs. Aus zahlreichen funktionellen Untersuchungen bei Gesunden ergibt sich das Bild
einer führenden Rolle der rechten Hemisphäre
bei der emotionalen Verarbeitung. Dies ist jedoch mit klinischen Befunden nicht so klar belegt. So konnte z.B. für das häuÀge Auftreten einer Depression nach Schlaganfall (post-stroke
depression) in zahlreichen Untersuchungen
M. Paulig
letztendlich keine Korrelation zu einer Hemisphäre oder einer kritischen Hirnstruktur hergestellt werden (Carson et al., 2000).
Als Folge der hemispheriellen Spezialisierung ergeben sich bei längerstreckigen Diskonnektionen des Balkens (split brain) einseitige Funktionsstörungen der Körperseiten.
Diese Patienten weisen u.a. eine isolierte
Apraxie der linken Körperseite und eine Benennstörung für Gegenstände auf, die ihnen in
die linke Hand gegeben werden. Ursache dafür
ist der fehlende Informationstransfer von der
praxiedominanten linken Hemisphäre zum
rechten sensomotorischen Kortex bzw. von der
rechten Hemisphäre zum sprachrelevanten
Kortex der linken. Ein hemispherielles Diskonnektionssyndrom spielt auch bei der reinen
Dyslexie oder Wortformdyslexie eine Rolle.
Hier liegt meist ein linksseitiger Posteriorinfarkt mit Läsion der linken Sehrinde (homonyme Hemianopsie rechts), zusätzlich aber noch
eine Läsion des hinteren Balkens (Splenium)
vor. Dadurch kann die visuelle Information der
einzig noch intakten rechten Sehrinde nicht in
die sprachdominante linke Hemisphäre transferiert werden. Bei taktilem Zugriff auf Buchstaben kann aber oft besser gelesen werden.
Denn diese Informationen werden direkt von
der rechten Hand in die linke Hemisphäre oder
– bei Einsatz der linken Hand – zur rechten
Hemisphäre und von dort über erhalten gebliebene mittlere Anteile des Balkens zum linken
Großhirn transferiert.
Bilaterale Schädigungen homologer
Hirnstrukturen
Als Faustregel kann gelten, dass bilaterale Zerstörungen funktionskritischer Hirnstrukturen
besonders ausgeprägte und prognostisch ungünstige Störungen zur Folge haben. Manche
Syndrome sind fast nur nach einer bilateral homologen Läsion zu beobachten. Hierzu zählt
das Balint-Syndrom, das durch eine massive
Einengung des Explorationsfeldes, eine Simultanagnosie und eine optische Ataxie gekennzeichnet ist. Meist Àndet man ursächlich eine
Schädigung beidseits im parieto-okzipitalen
Übergangsbereich, meist Grenzzoneninfarkte
Kap. 1.2 Funktionelle Anatomie des Zentralnervensystems
67
Abb. 12. Flair-gewichtetes MRT mit den Folgen einer Herpes-Encephalitis. Man sieht sehr deutlich, dass
diese virusbedingte Entzündung (hell) die benannten limbischen und paralimbischen Kortexareale bevorzugt. Als Beispiel für eine bilaterale Schädigung homologer Hirnareale führte sie in diesem Fall zu einem
schweren amnestischen Syndrom, sowie zu erheblichen emotionalen Veränderungen und Verhaltensauffälligkeiten.
zwischen dem Posterior- und Mediastromgebiet
(watershed lesions) (Rizzo u. Vecera, 2002). Zu
den neuropsychologischen Störungen, die zwar
auch nach einseitigen Pathologien, besonders
ausgeprägt aber nach homolog beidseitigen Läsionen vorkommen gehört das amnestische
Syndrom. Bereits der vielfach publizierte Fall
des Henry M., der in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff mit beidseitiger Hippokampektomie für den Rest seines Lebens unter einer
schwersten Amnesie litt, verweist auf die Vulnerabilität deklarativer Gedächtnisleistungen
durch bilaterale Schädigungen des Hippokampus und assoziierter Strukturen. Typische Schädigungsätiologien mit bilateraler Signatur sind
Hypoxien, bei denen es u.a. zu einer Nekrose
des CA1-Sektors des Hippokampus beidseits
mit der Folge eines schweren amnestischen
Syndroms kommen kann. Aber auch durch
symmetrische Infarktmuster können schwere
neurologische bzw. neuropsychologische DeÀ-
zite resultieren. Abgangsvarianten der Gefäßversorgung, bei denen die jeweiligen Arterien aus einem gemeinsamen Hauptstamm entspringen, leisten solchen Infarkten Vorschub.
Bilaterale Thalamusinfarkte im Versorgungsgebiet der sog. polaren Thalamusarterie können
auf dieser Basis zu schweren Amnesien führen.
Besonders ausgeprägt scheinen diese zu sein,
wenn kombiniert der jeweils anteriore und dorsomediale Thalamuskern betroffen ist und damit sowohl der Papez-Kreis als auch die basolaterale Gedächtnisschleife diskonnektiert ist
(Perren et al., 2005). Ein weiteres Beispiel einer
beidseitigen Schädigungsätiologie stellt die
Herpes-Enzephalitis dar (Abb. 12). Sie befällt
überwiegend limbische und paralimbische Kortexstrukturen bilateral, auch wenn der Befund
häuÀg asymmetrisch ausgeprägt ist. Ebenso basieren neurodegenerative Erkrankungen, die
u.a. mit einem dementiellen Abbau einhergehen
können, typischerweise auf einem bilateralen
Zelluntergang in homologen Strukturen.
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