Fall 9: Patient mit Bewegungs- und Empfindungsstörung bei Brown-Séquard-Syndrom Sie haben Dienst in einer Notaufnahme, als ein 27-jähriger Patient nach einer Messerstecherei in die Notaufnahme eingeliefert wird. Ein Einstich liegt direkt neben der Wirbelsäule kurz über dem unteren Rippenbogen. Der Patient gibt starke Schmerzen an. Bei der neurologischen Untersuchung kann der Patient das rechte Bein nicht bewegen, die Eigenreflexe lassen sich nicht auslösen, das Vibrationsempfinden ist erloschen. Insgesamt erscheint das rechte Bein aufgrund einer starken Durchblutung warm und rosig, der Patient kann mit dem rechten Bein Temperaturunterschiede wahrnehmen und reagiert empfindlich auf Schmerzreize. Das linke Bein kann der Patient bewegen, auch das Vibrationsempfinden ist erhalten, Schmerz- und Temperaturreize sind jedoch nicht wahrnehmbar. Sie veranlassen eine Computertomographie (CT). Mittels CT können Sie feststellen, dass etwa die Hälfte des Rückenmarks durchtrennt ist. Über welche Bahnsysteme gelangen somatosensorische Informationen in den somatosensorischen Kortex? Geben Sie grob ihren Verlauf an! Schmerz und Temperatur (Oberflächensensibilität, protopathische Sensibilität): Aufnahme der Reize über freie Nervenendigungen (Nozizeptoren, Thermosensoren) und Leitung über Aα- bzw. C-Fasern -> Eintritt über die Hinterwurzel in das Rückenmark -> Umschaltung auf das 2. Neuron in Höhe des Nerveneintritts und Kreuzung im Bereich der vorderen Kommissur zur Gegenseite -> Weiterleitung in den Vorderseitensträngen (Tractus spinothalamicus ventralis et lateralis) -> Thalamus -> Umschaltung auf das 3. Neuron -> somatosensorischer Kortex (Gyrus postcentralis) Druck, Berührung und Vibration (Tiefensensibilität, epikritische Sensibilität): Aufnahme der Reize über verschiedene Hautrezeptoren (Tast- und Propriorezeptoren) und Leitung über Aδ-Fasern -> Eintritt über die Hinterwurzel in das Rückenmark -> ipsilaterale Leitung des Signals über Hinterstränge (Tractus spinobulbaris) -> Umschaltung auf das 2. Neuron in der Medulla oblongata (Nucleus cuneatus, Nucleus gracilis) -> Kreuzung im Lemniscus medullaris -> Thalamus -> somatosensorischer Kortex (Gyrus postcentralis) aus: Walter, Kerstin: Fallbuch Physiologie. ©2006 Georg Thieme Verlag KG Wie erklären Sie sich die Symptomatik des Patienten? Auf welcher Seite vermuten Sie die Läsion? Bei einer halbseitigen Durchtrennung des Rückenmarks werden die auf dieser Seite verlaufenden Bahnsysteme unterbrochen: Informationen aus dem Vorderseitenstrang (Schmerz, Temperatur) stammen aus der kontralateralen Körperhälfte. Sie werden über aufsteigende Bahnen (Tractus spinothalamicus ventralis et lateralis) zum Kortex transportiert. Diese Fasern kreuzen bereits auf Rückenmarksebene, d.h. wird der Vorderseitenstrang durchtrennt, fallen Schmerz- und Temperaturempfindung kontralateral aus. Informationen aus dem Hinterstrang (Druck, Berührung) stammen aus der gleichseitigen Körperhälfte und werden über aufsteigende Bahnen (Tractus spinobulbaris) zum Kortex transportiert. Diese Fasern kreuzen erst als Lemniscus medialis im Hirnstamm zur Gegenseite. Eine halbseitige Durchtrennung des Hinterstranges auf Rückenmarksebene führt also zu einem gleichseitigen (ipsilateralen) Ausfall der Druck- und Berührungsempfindung. Motorische Befehle aus dem Kortex werden über den absteigenden Tractus corticospinalis (Pyramidenbahn), der bereits auf Höhe der Medulla oblongata kreuzt, transportiert. Bei halbseitiger Durchtrennung des Tractus corticospinalis auf Rückenmarksebene fällt die Motorik auf der Seite der Rückenmarksläsion (ipsilateral) aus. Fallbeispiel: Läsion rechts Begründung: Ausfall von Schmerz- und Temperaturempfinden links; Ausfall von Motorik, Druck- und Berührungsempfinden rechts Was versteht man unter „somatotoper Gliederung“? Jede Körperregion wird auf dem primär-sensorischen Kortex repräsentiert. Dabei erfolgt keine Durchmischung von Fasern und Projektionsfeldern einzelner Körperregionen, sondern Informationen aus benachbarten Körperregionen werden über benachbarte Fasern in ebenfalls benachbarte Kortexareale projiziert. Zeichnet man die einzelnen Körperregionen, die in den Kortexregionen jeweils repräsentiert werden, auf, so erhält man einen sogenannten sensorischen Homunculus; dabei kann man feststellen, dass einzelne Körperteile nicht gleichmäßig repräsentiert sind, sondern Areale, die eine hohe Sensibilität aufweisen (z.B. Fingerspitzen) besonders viel Kortexareal beanspruchen). aus: Walter, Kerstin: Fallbuch Physiologie. ©2006 Georg Thieme Verlag KG Was ist das „ARAS“? ARAS = aszendierendes retikuläres aktivierendes System: ein komplexes Integrationssystem in der Formatio reticularis, das verschiedene sensible Informationen (z.B. epikritische und protopathische Sensibilität, Informationen aus den Sinnesorganen) verarbeitet und sowohl über absteigende Bahnen die Signalverarbeitung auf Rückenmarksebene beeinflusst als auch über aufsteigende Bahnen über unspezifische Thalamuskerne die Großhirnrinde erreicht und zu einer Aktivierung führt; vor allem Beeinflussung der Bewusstseinslage. Warum wird das rechte Bein des Patienten so stark durchblutet? Wahrscheinlichste Ursache: Sympathikus im Seitenhorn wurde ebenfalls verletzt -> vasokonstriktorische Impulse fehlen Kommentar Hinterstrangsystem: Im Hinterstrangsystem werden Informationen des Tastsinns (Mechanorezeptoren der Haut) und der Propriozeption (Muskel-, Sehnen- und Gelenksensoren) in die somatosensorischen Kortexareale geleitet. Die Somata der ersten Neurone (primäre Sinneszellen) liegen im Spinalganglion, ihre Axone ziehen zunächst ohne Verschaltung ipsilateral bis in die Medulla oblongata zum Nucleus cuneatus und Nucleus gracilis. Dort werden sie auf große Neurone umgeschaltet, wobei sowohl die Rezeptorspezifität (nur Afferenzen derselben Rezeptorart konvergieren auf ein Neuron) als auch die somatotope Gliederung (räumliche Anordnung entspricht der Lagebeziehung der Rezeptoren) erhalten bleiben. Die Axone kreuzen als Lemniscus medialis im Bereich des Hirnstamms zur Gegenseite und ziehen zum kontralateralen Venterobasalkern des Thalamus, in dem eine weitere Verschaltung stattfindet. Man kann den Venterobasalkern weiter aufteilen in: den Nucleus ventralis posterolateralis (VPL), dessen Afferenzen aus dem Lemniscus medialis stammen und der somit epikritische Informationen aus dem Körper erhält den Nucleus ventralis posteromedialis (VPM), der über den Tractus trigeminothalamicus entsprechende Informationen aus dem Gesicht erhält Die Thalamuskerne projizieren schließlich in die somatosensorischen Kortexareale des Gyrus postcentralis und Sulcus lateralis. Vorderseitenstrangsystem: Informationen von Thermo- und Nozizeptoren (Temperatur- und Schmerzrezeptoren) der Haut und Organe ziehen über den Vorderseitenstrang zum Gehirn. Anders als im Hinterstrang findet man hier weder eine strenge somatotope Gliederung noch eine eindeutige Projektion in ganz bestimmte Kortexareale. Die Informationen aus dem Vorderseitenstrang erreichen vielmehr viele verschiedene Hirngebiete und sind eng mit subkortikalen Arealen vernetzt. Die erste Umschaltung der Neurone und Kreuzung der Nervenfasern auf die Gegenseite erfolgt bereits auf der entsprechenden Rückenmarksebene. Diese Nervenfasern ziehen als Vorderseitenstrang weiter nach kranial, im Vorderseitenstrang verlaufen also Schmerz- und Temperaturempfindungen der kontralateralen Körperhälfte. Auch sie gelangen in den Thalamus, bevor sie von dort in verschiedene andere Hirnareale weiterverschaltet werden. Thalamus: Alle sensiblen Afferenzen, außer der Riechbahn, passieren zunächst den Thalamus und werden dort verschaltet. Hier erfolgen bereits erste Verarbeitungsschritte in Abhängigkeit von verschiedenen Informationen aus dem Kortex, so dass bereits eine erste Vorauswahl stattfindet, welche Informationen uns tatsächlich bewusst werden. aus: Walter, Kerstin: Fallbuch Physiologie. ©2006 Georg Thieme Verlag KG Brown-Séquard-Syndrom: Die sensorischen und motorischen Ausfälle bei einer halbseitigen Durchtrennung des Rückenmarks sind so charakteristisch, dass sie Aussagen über Höhe und Seite der Läsion ermöglichen. Distal der Läsion ist die Willkürmotorik ipsilateral gelähmt (Unterbrechung der Pyramidenbahn). Es kommt zu Sensibilitätsausfällen auf beiden Körperhälften, die sich aber qualitativ unterscheiden; man spricht von einer dissoziierten Empfindungsstörung: Ipsilateral treten eine Störung des Tastsinns (Unterbrechung des Hinterstrangs) auf, kontralateral dagegen Störungen des Schmerz- und Temperaturempfindens (Unterbrechung des Vorderseitenstrangs). aus: Walter, Kerstin: Fallbuch Physiologie. ©2006 Georg Thieme Verlag KG