Atlas-Therapie Praxisorientiertes Behandeln des Dirigenten der Wirbelsäule M. Pschick, B. Bahr Seit geraumer Zeit ist das Thema Atlas-Therapie im physiotherapeutischen Bereich in aller Munde. Zahlreiche Mysterien ranken sich um Atlas-Dysfunktionen und deren Einfluss auf den menschlichen Gesamtorganismus. Als wichtiges Schaltsegment im Übergang vom Cranium (C0) in die Wirbelsäule dient der Atlas (C1) nicht nur als ossäres Bindeglied, sondern ist durch seine stark innervierte hochzervikale Muskulatur der Schlüssel der posturalen Kontrolle und der Eigenwahrnehmung im Raum. 412 PHYSIOTHERAPIE 10|14 VPT INFORMIERT Der Atlas allgemein Der Atlas (griechisch Ατλαζ, Träger) ist in der Mythologie ein Titan, der das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt stützte. Er ist somit auch die Personifizierung des Atlasgebirges (Quelle Wikipedia). Der Atlas als knöcherne Struktur ist somit der Träger des Kopfes und mechanisches Bindeglied, ein wichtiges„Zahnrad” im System nach caudal. In aufsteigenden und absteigenden funktionellen Zusammenhängen ist der Atlas als wichtiger Schlüsselpunkt essentiell, um durch seine Positionierung eine ursächliche Behandlung der eigentlichen funktionellen Kette maßgeblich zu unterstützen. 1.1 Biomechanik und Anatomie Im anatomischen Sinn betrachtet spielen sich im Bereich C0-C1, also Cranium versus Atlas, etwa 50% der gesamten HWS Beweglichkeit in die Flexion und Extension ab. Das Bewegungsausmaß von circa 5° in die Lateralflexion klingt hier unwichtig, ist aber im Segment C0/C1 die ausgleichende Komponente sämtlicher auf-und absteigender Fehlpositionen in Seitneige. Hier wird die horizontale Ausrichtung des Kopfes im Raum eingestellt und ausbalanciert. Im Übergang von C1 auf C2, also Atlas auf Axis, finden darüber hinaus ca. 50% der gesamten HWS Rotation statt. Denkt man diesen Gedanken ein Stück weiter, so sind der Atlas und seine ihn cranial und caudal umgebenden knöchernen Strukturen C0 und C2 die Hauptbewegungssegmente der Halswirbelsäule, funktionell sogar weiterlaufend bis Th4! Um die Behandlung des Atlas gibt es kontroverse Meinungen, die zwar unterschiedlicher kaum sein könnten, jedoch alle dieselbe Basis haben: den Atlas in seiner Mechanik und ihn umgebende beeinflussende Weichteilstrukturen. Bei Weiterbildungen in unserer Fortbildungsakademie wird bei der Behandlung des Atlas ganz gezielt die manualtherapeutische Komponente zur Positionierung und Bewegungserweiterung in den Mittelpunkt gestellt. Natürlich wird jedoch auch der komplexe Zusammenhang erläutert und weitere effektive Behandlungsmethoden wie zum Beispiel die Triggerpunkt-Therapie intensiv betrachtet und erklärt. Noch zum Teil weit verbreitete Techniken der Atlasmanipulation sind im Bereich der Physiotherapie verboten. Grundlegend ist der Atlas in Verbindung zum Cranium und dem Axis rein manualtherapeutisch zu betrachten. Im Seg- Abb. 1: Safety-Test Lig. transversum ment C0-C1 gibt es die Hauptbewegung der Seitneige (Lateralflexion von circa 5°) und eine Rollgleitkomponente, die für die hochzervikale Flexion/Extension verantwortlich ist. Diese einzelnen Bewegungen sind differenziert zu befunden und gegebenenfalls bei Einschränkungen auch zu behandeln. Denselben Ablauf führt der Therapeut auch im Segment C1-C2 durch, um vorliegende ossäre Störungen oder Einschränkungen zu verbessern oder gar zu beseitigen. 1.2 Ligamentäre Strukturen Sämtliche Bewegungen der Kopfgelenke sind durch die drei Bandstrukturen Ligamentum transversum atlantis, Ligamentum alare longus und brevis biomechanisch gesteuert wie ein Uhrwerk. Besonders im Bereich der oberen Halswirbelsäule ist für eine Behandlung ein genauer Befund und eine strukturelle Palpation unerlässlich für eine zufriedenstellende Therapie mit Erfolg. Dies erfordert jedoch exakte anatomische Kenntnisse und etwas Übung. Besonderer Wert beim Erlernen der Atlastherapie muss auf die biomechanische Komponente gelegt werden. Nur ein genaues Verständnis der Bewegungsabläufe und strukturell funktionellen Zusammenhänge ermöglicht es, hier Fehlerquellen zu erkennen und zu therapieren. Die hochempfindliche Muskulatur in diesem Bereich kann nur bei vollkommen physiologischer Arbeit ein reaktives Gleichgewicht und einen vollen Bewegungsumfang der Kopfgelenke gewährleisten. Liegt hier eine Störung vor, ist dies in einer verfälschten Ganzkörpermotorik und einer her- abgesetzten motorisch reaktiven Fähigkeit festzustellen. Es gibt in der oberen Halswirbelsäule drei essentiell wichtige Bandstrukturen. Das Ligamentum transversum atlantis unterteilt das Foramen vertebrale in einen vorderen Teil, der den Dens axis enthält, und einen hinteren, durch den das Rückenmark zieht. Dadurch verhindert es eine Kompression des Rückenmarks bei hochzervikaler Flexion. Die zwei weiteren fundamentalen Bandstrukturen der oberen Halswirbelsäule sind die Ligg. alaria longus und brevis, zu Deutsch Flügelbänder. Ihre Hauptaufgabe ist eine Brems- und Haltefunktion. Dabei verhindern die Ligg. alaria brevis ein Seitverschieben von Os atlas auf Os axis und damit die Möglichkeit einer Lateralflexion in diesem Segment. Die Ligg. Alaria longus sind biomechanisch für eine Bewegungskoppelung zwischen Cranium und Axis verantwortlich und zentrieren die drei Segmente C0, C1 und C2. Gehäuft entstehen Verletzungen oder funktionelle Elongationen dieser Bänder im Zusammenhang mit Schleudertraumata, hormoneller Veränderungen wie etwa Relaxinhormon im Zuge der Schwangerschaft, oder auch durch hochdosierte systemische Kortikosteroidgabe. Diese Bandstrukturen können durch drei schnell zu erlernende Safety-Tests überprüft werden (Abb. 1). Bei positivem Ergebnis treten Ausfallerscheinungen wie Nystagmus (Augenflattern) und vegetative Entgleisungen sowie Unruhe auf. Diese Testung ist vor einer manualtherapeutischen Behandlung unerlässlich, da bei elongierten oder gar 10|14 PHYSIOTHERAPIE 413 VPT INFORMIERT rupturierten Bändern eine ernst zu nehmende Gefahr für das Rückenmark durch ein Verschieben des Dens axis nach dorsal in Richtung des Rückenmarks im Wirbelbogen des Atlas besteht. Dadurch kommt das Rückenmark auf Kompression, was zu Komplikationen während einer Behandlung führen kann. Im Fall einer ligamentären Auffälligkeit ist vor einer Behandlung unbedingt mit dem Arzt Rücksprache zu halten. Das Ligamentum apicis dentis, im Verlauf von der Spitze des Dens axis zum Margo anterior des Foramen occipitale magnum, stabilisiert die beiden Kopfgelenke. Es ist jedoch zu vernachlässigen, da es weder wichtige Aufgaben übernimmt, noch bei jedem Menschen vorhanden ist. 1.3 Muskuläre Komponente obere Halswirbelsäule Die wichtigste lokale Muskulatur hochzervikal besteht im Wesentlichen aus den Mm. rectus capitis posterior major und minor, die bildlich gesehen ein kleines und großes„V” bilden, und den Mm. obliquii capitis superior und inferior. Diese stark neural versorgten Muskeln verbinden funktionell C0 mit Atlas und Axis. Je nach Kontraktion im Verbund werden so die Bewegungen Rotation, Seitneigung und Flexion/Extension hochzervikal gesteuert und ausgeführt. Durch eine hohe Nervendichte in diesem Bereich findet hier auch ein großer Teil der posturalen Kontrolle, der Position im Raum und des Gleichgewichts statt. Trigger- oder Tenderpunkte, welche sich hier manifestieren, verändern die muskulären Spannungszustände derart, dass sich hieraus massive Fehlstatiken und Unsicherheiten im Bezug auf Gleichgewicht und reaktive Fähigkeit der Person entwickeln können. Über eine hochzervikale Extension wird die komplette dorsale Muskelkette (Streckerkette) aktiviert. Dies ist im Bereich des Sports, z.B. beim Gewichtheben, deutlich zu sehen. Durch eine Flexion der oberen Halswirbelsäule hingegen flektiert der komplette Rumpf. Diese Bewegung kann man gut bei Kindern, die einen „Purzelbaum” bzw. eine Rolle vorwärts ausführen, beobachten. Liegt hier eine muskuläre Störung vor, werden dadurch Komponenten der Ganzkörpermechanik blockiert und flüssige Bewegungsabläufe gehemmt. 1.4 Pathologien in Zusammenhang mit dem Atlas Durch eine Fehlstellung des Atlas wird zum einen das Foramen magnum verengt, was zu mechanischer Beeinflussung der Medul414 PHYSIOTHERAPIE 10|14 Abb. 2: Korrektur einer Seitneigefehlstellung C0/C1 Abb. 3: Korrektur einer Extensionsfehlstellung C0/C1 la oblongata (Hirnstamm) führen kann, zum anderen werden der Nervus vagus (Vegetativum), Nervus accessorius (Mm. trapezius und sternocleidomastoideus) sowie der Nervus glossopharyngeus (Sensibilität der Zunge/des Gaumens) im Foramen jugulare komprimiert. Dadurch können Sensibilitätsstörungen und vegetative Entgleisungen auftreten. Auch eine Manifestation der problematischen Atlasfehlstellung kann durch die fehlerhafte Innervation des M. trapezius und des M. sternocleidomastoideus auftreten. Diese ziehen den Atlas noch zusätzlich in die Fehlposition und manifestieren diese. Auch der lumenverjüngende Einfluss auf die Vena jugularis sei zu erwähnen, da dadurch erhebliche Stauungskopfschmerzen ausgelöst werden können. bund mit der eigentlichen Ursache therapiert und korrigiert werden. Behandlung Bevor mit einer Behandlung des Atlas begonnen werden kann, muss eine komplette statische Untersuchung durchgeführt werden. Eine Fehlposition des Atlas begründet sich oft auf Blockierungen oder funktionell statische Veränderungen aus der „Peripherie”. Angefangen bei einer Beinachsenasymmetrie bis hin zu einer zu hoch gesetzten Zahnfüllung reagiert der Atlas als Schlüsselpunkt sofort. Somit ist ein isoliertes Behandeln des Atlas nur wenig zielführend. Hier sollte immer im Gesamtver- Hat man sich nun einen Gesamtüberblick erarbeitet, kann gezielt auf den Atlas und die umliegende Muskulatur eingegangen werden. Es ist im Befund, ähnlich wie an anderen Gelenken auch, in erster Instanz der Zustand der Muskulatur und eine Lagebestimmung des Atlas vorrangig. Erst dann wird, nach Durchführen der Safety-Tests, eine biomechanische Bewegungsüberprüfung mit manualtherapeutischen Grundlagen gemacht, um Einschränkungen festzustellen. Häufig tritt im Segment C0/C1 eine Limitierung der Flexion auf. Dies ist begründet auf eine Alltagshaltung mit länger andauernder flektierter unterer Halswirbelsäule. Dadurch muss die obere HWS kompensatorisch eine dauerhafte Extension halten. Dies führt zu Komplikationen der hochzervikalen Muskulatur und auf längere Sicht zu einer Einschränkung der hochzervikalen Flexion wegen mangelnder Dorsalgleitfähigkeit segmental auf Höhe von C0/C1. Die eingeschränkte hochzervikale Extension hat klinisch wenig Relevanz. Bei einer funktionell skoliotischen Wirbelsäule oder einer Dysfunktion des Kiefergelenks mit einseitigem Frühkontakt reagiert das Segment C0/C1 mit einer Lateralflexion. Dadurch wird das Augenpaar horizontal ausgerichtet, und die Wahrnehmung des so genannten„visuellen Ankers” passt wieder. Dagegen arbei- VPT INFORMIERT werden. Auch eine sanfte Behandlung der oberen Halswirbelsäule und vor allem des Atlas mittels craniosakraltherapeutischer Techniken ist keinesfalls von der Hand zu weisen. Bei manchen Patienten mag dieser Behandlungsansatz sogar Mittel der Wahl sein und beste Ergebnisse erzielen. Wichtig ist es, den Atlas im Zusammenhang zu sehen und die beste individuelle Technik einzusetzen. Die Behandlung allein der oberen Kopfgelenke ohne eine zusätzliche ganzheitliche Betrachtung ist in jedem Fall zu vermeiden! In diesem Bereich der Therapie werden Patienten im Idealfall zur Rückenschule oder Wirbelsäulengymnastik weiterempfohlen oder in die medizinische Trainingstherapie überwiesen, um eine Verbesserung ihrer Statik zu erzielen. Natürlich ist auch hier eine therapeutische Betreuung wichtig. Dadurch trainiert der Patient nicht in seiner falschen Alltagshaltung, sondern physiologisch korrigiert. Abb. 4: Korrektur einer Seitneigefehlstellung C0/C1 Zusammengefasst tet jedoch eine dauerhafte Fehlinformation der hochzervikalen Muskulatur, welche somit funktionell gestört ist. Gerade aus solch einer dauerhaften Fehlbelastung entstehen Triggerpunkte mit Ausstrahlungen in die unterschiedlichsten Bereiche. Es treten gehäuft auch Probleme der Arteria vertebralis und einzelner Hirnnerven (N. vagus, N. accesorius und N. glossopharyngeus) auf. Aus einer solchen Problematik entstehen Sprachund Schluckstörungen sowie Störungen des vegetativen Nervensystems. Unter einer solchen Fehlpositionierung des Atlas leidet die posturale Kontrolle, das Gleichgewicht und die Stellreaktion, und der Patient wird im Alltag unsicher. Denn gerade bei Ereignissen wie dem Umknicken oder einem Stolpern muss der Körper blitzschnell reagieren. Das setzt eine physiologisch arbeitende hochzervikale Muskulatur voraus, die den Körper adäquat steuern kann. Die eigentliche Behandlung erfolgt nach abgeschlossener Befundung und vorhergehender Sicherheitstestung der Bandstrukturen nach manualtherapeutischer Grundlage. Zu Beginn ist eine Lockerung der umliegenden Muskulatur wichtig. Ob das mit der Triggerpunkttherapie oder Faszientechniken erfolgt, ist hier jedem selbst überlassen. Danach wird über eine Translation, jetzt in Stufe 3, aus der individuellen Vorposition mobilisiert, um eine Erweiterung der eingeschränkten Bewegung zu erzielen (Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4). Dies erfolgt, wie bei jedem anderen Gelenk des Körpers auch, entwe- der gehalten (sog.„creep”) oder intermittierend (sog. „Hysteresis”), um einen optimalen Reiz auf das Gewebe zu erzielen. Im Anschluss daran muss unbedingt eine Koordination der hochzervikalen Muskulatur erfolgen, um die neue Ruheposition zu manifestieren. Zusätzlich muss das neu gewonnene Bewegungsausmaß im Sinne einer arthromuskulären Programmierung (AMP) eingeschliffen werden. Dadurch wird dieses gefestigt. Nur so kann eine Bewegungsverbesserung auch langfristig anhalten und verpufft nicht sofort in einer neuromuskulären Fehlprogrammierung. 2.1 Ganzheitlicher Ansatz der Behandlung Unterstützend zur segmentalen Behandlung an Atlas und oberer Halswirbelsäule ist eine ganzheitliche Haltungsschule anzuraten. Nur bei einer zentrischen Körperhaltung des Patienten kann der Atlas ohne Einschränkungen und Fehlpositionierung die Biomechanik der oberen Halswirbelsäule steuern. Des weiteren darf auch auf eine Kräftigung wichtiger Muskulatur, hauptsächlich die der dorsalen Muskelkette, bei eingeschränkter hochzervikaler Flexion unterstützend nicht verzichtet werden und ist für einen dauerhaften Erfolg der Therapie unerlässlich. Beim Erlernen der Atlastherapie ist neben einem umfangreichen Wissen der relevanten Biomechanik das Handling mit dem Patienten sehr wichtig. Darum wird darauf geachtet, ein Gefühl für Palpation und Behandlung in diesem doch sehr empfindlichen Bereich zu entwickeln. Denn ein Patient gibt oft erst sehr spät Rückmeldung. Darum ist es grundlegend, auch am eigenen Körper zu spüren, wie stark der Druck sein darf. . . Mit einem strategischen Herangehen an den Atlas ist nun Schritt für Schritt eine zielführende ganzheitliche Therapie möglich. Dadurch verliert auch der sagenumwobene Atlas seinen Schrecken und kann physiotherapeutisch sinnvoll befundet und behandelt werden. Somit sind gerade hier Patienten, welche oft chronische Statikprobleme aufweisen, eine interessante Zielgruppe für die Atlasbefundung und eventuell dann auch für eine Therapie. Markus Pschick Im Gewerbepark A 15 93059 Regensburg [email protected] www.fobi-akademie.de Benjamin Bahr Petrinistraße 14–16 97080 Würzburg [email protected] www.tbz-wuerzburg.de Auch bei Seitneigefehlstellungen muss die umliegende Muskulatur durch Massage- oder Triggerpunktbehandlungstechniken und gezielte Trainingsreize angepasst 10|14 PHYSIOTHERAPIE 415