MITTENDRIN - PROTAGONISTEN JOCHEN SANDIG JOCHEN kam wenige Tage nach dem Mauerfall aus Esslingen in die Metropole Berlin. Er besetzte zusammen mit ca. 50 Künstlern aus Ost und West die gigantische SpannbetonKathedralenruine TACHELES und erklärte sie zum internationalen Kunsthaus. Eigentlich wollte JOCHEN in Berlin Musik machen. Aber dann hatte er dafür keine Zeit. Das TACHELES musste vor Abriss und Räumung gerettet werden. Er schrieb Vereinssatzungen, sprach mit Juristen und Politikern, kümmerte sich um Theater- und Tanzprogramm und um internationale Projekte. Aus den permanenten inneren Verteilungskämpfen im Haus hielt er sich heraus. Dadurch wurde der kompromissbereite JOCHEN mehrheitsfähig und zum Vorsitzenden des Vereins. Drei Jahre lang war JOCHEN Sprecher des wilden Künstler-Punks-KneipenbetreiberHaufen. Sie ließen JOCHEN gewähren, denn der "Außenminister" des TACHELES hatte Erfolg. JOCHEN besorgte schon 1990 die erste Million DM an Fördergeldern fürs TACHELES. Er setzte ein Programm von über 45 ABM-Stellen durch und holte internationale Künstler und die Bundespräsidentin ins Haus. JOCHEN repräsentierte das TACHELES unermüdlich den Medien gegenüber - weil sowieso kein anderer darauf Lust hatte. JOCHEN sorgte mit dafür, dass das TACHELES international berühmt wurde. Aber er organisierte auch in Erbsenzählerarbeit die endlosen Plenumsdiskussionen und notwendigen Arbeitsgruppen der ständig verstrittenen Anarchisten- und Künstlergemeinde. Eine Arbeit die ihm niemand dankte. 1993 wollte der Kölner Großinvestor Jagdfeld ein schickes neues Quartier auf der brachliegenden Freifläche hinter dem TACHELES bauen. Er offerierte dem Verein als Gegenleistung einen langfristigen Nutzungsvertrag zu einer symbolischen Miete für das Kunsthaus und kündigte umfangreiche Sanierungsmaßnahmen am Gebäude an. Hier schieden sich die Geister. JOCHEN konnte die Mehrheit nicht von der Notwendigkeit dieses Angebots überzeugen und verließ im Streit das Haus. Jetzt soll das luxuriöse New Urbanism-Disneyland-Viertel nach Plänen aus Miami plötzlich doch gebaut werden. Der Jagdfelds Fundus Gruppe will es werbeträchtig „Quartier am Tacheles “ nennen. Als Theaterorganisator des TACHELES lernte JOCHEN die Choreographin SASHA WALTZ. Sie wurden ein Paar - beruflich und privat. Mittlerweile haben sie zwei Kinder. Mit der Uraufführung der "Allee der Kosmonauten" von SASHA WALTZ, eröffneten sie 1996 die SOPHIENsæle als neues Theater in Berlin Mitte. Die beiden machten den alten Festsaal zur bekanntesten freien Kulturinstitution in Mitte. Den Tipp mit dem frei werdenden Gebäude und die dazugehörige Unterstützung seitens der Kommune kam mal wieder von der WBMAngestellten JUTTA WEITZ, einer weiteren Protagonistin von MITTENDRIN. 1999 übernahmen SASHA WALTZ und JOCHEN SANDIG die Künstlerische Leitung der Schaubühne am Lehniner Platz gemeinsam mit Jens Hillje und Thomas Ostermeier. Jetzt war JOCHEN in einer etablierten Kulturinstitution angekommen. Jeder kennt JOCHEN SANDIG, obwohl er immer "nur" der Vermittler war. SASHA konzentriert sich auf ihre Kunst und wird immer berühmter. Und wenn JOCHEN nicht zum Gastspiel ins Ausland fährt, quält er sich am Ende des Kudamms durch die administrative Struktur der mit 11 Millionen € subventionierten Schaubühne. Manchmal hat er Heimweh nach Mitte und denkt darüber nach, welchen neuen Ort man in ein Theater verwandeln könnte. JUTTA WEITZ Seit 1990 betreute JUTTA WEITZ Gewerberaum-Vermietungen der KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung) im Bezirk Mitte. Die KWV (1990 umbenannt in Wohnungsbaugesellschaft Mitte – kurz WBM) verwaltete nach der Wende im Grunde fast die gesamten Wohnhäuser in Mitte, insgesamt vielleicht 2000. Heute sind es weit aus weniger, zum großen Teil DDR-Plattenbauten. Die anderen Häuser wurden inzwischen an die Alteigentümer rückübertragen. Aber wer in Mitte in der Nachwendezeit ein Geschäft oder Büro eröffnen wollte kam an JUTTA nicht vorbei. Wer Visionen hatte und diese mit Energie vertreten konnte, bekam von JUTTA alle erdenkliche Unterstützung. Ob Handwerk, hohe Kunst oder dilettantisches Chaos – alles hatte bei ihr seine Berechtigung. JUTTA liebt Kunst. Für JUTTA waren Menschen, die sich mit Kunst beschäftigten, vor allem Lebenskünstler. Oder welche die das Leben zur Kunst machten. Ein Gremium innerhalb der WBM entschied über die Mietverträge – dort leistete JUTTA Überzeugungsarbeit und erstritt die Unterschriften für ihre „Schützlinge“: Das Kunsthaus Schwarzenberg, den Konzertkeller und Restaurant „Zosch“ in der Tucholskystraße, das „Kino Acud“, sowie die Sophiensæle der MITTENDRIN Protagonisten JOCHEN und SASHA und das Jugendcafe NO WAY ALTA von MATHIAS. Ohne JUTTAs Parteinahme, Visionen und ihre unkonventionellen Entscheidungen, wäre die Entwicklung in Mitte vielleicht anders verlaufen. Als ein Fitness-Center die Magarine-Fabrik in der Auguststraße mieten wollte, setzte sich JUTTA dafür ein, die Entscheidung zurückzustellen und suchte gemeinsam mit dem Kulturamt eine Künstlergruppe als Mieter. Daraus wurden dann die Kunstwerke. Dass sie die Künstler als Trüffelschweine für die Investoren in die schlechtvermietbaren, gammligen Mitte-Gewerberäume holte, wird ihr heute vorgeworfen. Aber welche Alternative hätte es sonst gegeben? Wäre alles andere nicht noch schlimmer geworden? In wenigen Jahren ist Mitte, im Gegensatz zu vielen anderen Vierteln in Berlin, heiß umworbenes Investorengebiet geworden. Im Rahmen von Umstrukturierungsmaßnahmen wird JUTTA in die Öffentlichkeitsabteilung der WBM versetzt. Jutta sagt: „Es geht weiter darum Projekte anzuschieben, nur dauert inzwischen alles etwas länger. Und es gibt heute kaum noch Möglichkeiten Altbauten zwischenzunutzen, da die ja fast alle saniert sind. Im Moment lotse ich Architekten, Modedesigner, Fotografen in einstige Kitas oder Stadtbibliotheken, die vom Bezirk aufgegeben wurden. Das ist zwar auch wunderbar, aber es schmerzt, wenn so funktionierende soziale Strukturen kaputt gehen. Ehrlich gesagt: ’ne Kita wäre mir lieber. Die Künstler sind bunt und schillernd und machen von sich reden. Aber genauso stolz bin ich, dass wir in der Strelitzer Straße wieder eine Tischlerei ansiedeln und in der Brunnenstraße lange eine Schlosserei erhalten konnten.“ Die WBM bringt zum 10. Jahrestag ein farbiges Hochglanzbuch raus, 10 Projekte aus 10 Jahren u.a. mit JUTTAs Ruhmestaten. Das Buch heißt “KulturReich Mitte – Das kulturelle und soziale Engagement der WBM in Mitte” und es steht geschrieben: “JUTTA WEITZ, in der WBM verantwortlich `für alles zwischen Chaos und Kunst` ...” Das Buch wird überall draußen verteilt, nur innerhalb der WBM-Verwaltung findet man es nicht. JUTTA sagt, sie „ist jetzt der Narr der WBM, vermittelt in alle Richtungen. Vermieten ist wie Kahn fahren, alle sind daran beteiligt nicht unterzugehen.“ Immer noch bewegt sie ein ganzes Stück: Als das Sponsoring der WBM für MATHIAS Jugendcafe NO WAY ALTA im Jahr 2002 nicht fortgeführt werden konnte, hat sie sich eingesetzt eine neues Objekt zu finden und dem Projekt zum Nulltarif zu vermieten. MATHIAS AMBELLAN MATHIAS kommt aus einem uckermärkischen Dorf in der DDR. 1988 zog er in eine winzige Mitte Ausbauwohnung, die jetzt natürlich auch eine Kneipe ist. Während der „DDRRevolution“ hämmerte er dort mit einem Nadeldrucker stundenlang Flugblätter ins Kohlepapier. 1989, im Endstadium seines „zweifelhaften Pädagogikstudiums“ wollte MATHIAS einen politisch und ideologisch unabhängigen – autonomen – Ort für Jugendliche schaffen, der mehr als ein Freizeitort sein sollte. Gemeinsam mit Freunden zog er durch den Kiez und fand das leerstehende, abgefackelte Haus in der Auguststraße, das genau dieser Ort von gemeinsamen Arbeiten und selbstbestimmten Leben werden sollte. Das abgebrannte Dach störte nicht. Der erste Strom kam aus dem Wohnzimmerfenster der Oma von nebenan und das Dach wurde mit LKWPlanen, Teppichen und anderem Restkram abgedeckt. Die KWV schien geschockt, als die Gruppe das Haus haben wollte, stimmte aber nach Monaten des Zauderns dem Projekt zu. Im Lied dieser Zeit hieß es „war es nicht ne herrliche Zeit, alles schien zum Aufbruch bereit, plötzlich war es allen klar, das da was zu ändern war“. Heute gehört der ehemaligen Besetzer-Hausgemeinschaft das Haus zu einem Drittel. Sie haben es mit Geldern aus dem 25 Millionen Senats Programm selbst saniert, die Hauserben ausfindig gemacht und mit ihnen erfolgreich verhandelt. Zur Jugendeinrichtung „no way alta!“ im Erdgeschoss gehört ein idyllischer Hinterhofgarten, ein selbst ausgebauter Veranstaltungsschuppen und ein Streetball-Basketballkorb. MATHIAS selbst wohnt mit seiner Frau unterm Dach, mit traumhaftem Blick über die Stadt. Der Sozialarbeiter hat sich seit der Wende um die Probleme der Jugendlichen von Mitte gekümmert. MATHIAS sagt, „Obwohl sich die Zeiten rasant geändert haben, kämpfen die Jugendlichen mit den scheinbar ewig gleichen Problemen, für die die Eltern und die Gesellschaft immer seltener eine Lösung finden. Egal, ob die Kids Nazimugge, Tekkno oder HipHop hören – es geht immer um den eigenen Platz in diesem Land, um Anerkennung, Zuhören, Liebe, Ausbildung und eine Perspektive.“ MATHIAS bezeichnet sich selbst als „Landei“ und sagt, „nicht nur mit den Verschwinden der „dörflichen“ Strukturen aus dem Anfang der Neunziger in der Spandauer Vorstadt schwindet meine Zuneigung zu dieser Stadt, die immer weniger Geld in ihre Zukunft – die Kinder – steckt.“ MATHIAS meint, „Der Erfolg ihres Hausprojekts und ihr gemeinsames Leben kann man auch als ein vorgelebtes Beispiel für die Jugendlichen verstehen, dass Sachen zu erreichen sind, die man sich nie vorstellen konnte. Der Anfang ist, Wünsche und Ziele zu erkennen und – verantwortungsbewusst – dafür zu kämpfen.“ Das Haus in der Auguststraße ist eines der wenigen, welches auch nach 10 Jahren in gleicher Besetzung lebt und sich nur gering von den Ursprüngen entfernt hat. CHRISTIAN (FLAKE) LORENZ: FLAKE war Band Mitglied von FEELING B. Die DDR schickte die Ostberliner Punkband noch vor der Wende mit Stasimanager auf Westdeutschland-Tournee. Mit dem kleinen Hinweis: Wenn‘s euch gefällt, bleibt doch einfach da. Es gefiel ihnen aber nicht. “Es war zu sauber und unsere Musik wollte da auch keiner hören.” Selbst heute, sagt FLAKE, fährt er noch nicht mal zum Biertrinken nach Westberlin. Ausgerechnet als FEELING B zu DDR-Zeiten endlich ihre Kleeblatt-Single aufnehmen durfte, musste FLAKE ins Krankenhaus. Er hat dann vom Krankenbett in den Telefonhörer gesungen und wurde so auf die Platte gemischt. Der DDR-Dokumentar-Kinofilm “Flüstern und Schreien” mit FEELING B, aus dem auch eine Ostsee-Strand-Tanzszene in MITTENDRIN zu sehen ist, erschien kurz vor der Wende und wurde Kult. FLAKE war überall dabei. Mit seinem Freund Paulo, der heute noch im TACHELES Vorstand ist, baute er im TACHELES die Bühne für die erste Theaterproduktion. FLAKE bezeichnet diese Zeit gemeinsamer, schöpferischer Arbeit als die freieste und schönste überhaupt. FLAKE stieß 1993 zu seiner neuen Band. Bei einem der frühen Konzerte in der Kunstruine fingen sie auch an, in TACHELES-Tradition mit Feuer rumzuspielen. Im besetzten DDR-Band-Kulturhaus EIMER feierte FLAKE mit anderen Ostberliner Musikern wie ANDRES FREYGANG Band. Dort entstand auch ein ostpunkiges RIAS TV Interview mit FLAKE, welches in MITTENDRIN zu sehen ist. FLAKE war natürlich auch in der Schönhauser Allee 5, dem besetzten Haus von FEELING B Bandleader Aljoscha dabei. Dort befand sich das Wahllokal der WYDOCKS. FLAKE selbst, war der Spitzenkanditat der WYDOCKS für den Wahlbezirk Mahrzahn. Wenn er gewählt worden wäre, hätte er auch regiert, sagt er. Bloß als Christian Lorenz kannte ihn keiner. Die Wahlliste der WYDOCKS war zwar eine politische Aktion, wurde doch von der Wählerschar mehr als neue, witzige Idee betrachtet, um das Etablishment zu verunsichern. Außerdem war WYDOCKS ein Verein. Dafür gab es Fördergeld und ABM-Stellen. FLAKE hatte auch eine ABM-Stelle. Er hat Filmmusiken geschrieben. Das darauf folgende Jahr lang gab es dann Arbeitslosengeld auf die ABM-Stelle. Irgendwann wurde es aber absurd den FEELING B-Text : “Ich such die DDR” zu singen. Denn die DDR war ja weg. Da gab's nichts mehr zu suchen. FLAKE ging wie Paul, sein Freund und Kollege von FEELING B zu seiner neuen Band. Paul sagt: “Wenn du bis zu den Füßen im Dreck stehst, ziehst du eben Gummistiefel an.” Und “FEELING B war unschuldig und wir sind eher schuldig.” Die Spaßpunkzeiten und die Naivität der Wendezeit waren vorbei. FLAKE, Keyboarder der heute weltweit bekanntesten deutschen Band, hat sich ein Haus am See gekauft. Auf die Frage nach der Zukunft sagt FLAKE: “Ich weiß gar nicht, was ich mir noch wünschen soll. Wir haben mehr erreicht als ich mir je gedacht habe. Vielleicht wünsche ich mir, dass es nicht noch schlimmer wird.” ANDRE GREINER-POL ANDRE GREINER-POL und seine Band FREYGANG waren zu DDR Zeiten, bis auf kurzzeitige Ausnahmen, verboten. Sie spielten trotzdem im Windschatten der zugelassenen Bands mit. Jeder Ossi-Berliner kannte FREYGANG. ANDRE gehörte zur Künstler-Gruppe TACHELES, die die allerersten waren, die 1990 mit Hilfe ihrer Feuerwehr die TACHELES-Ruine erkletterten. Aber das Haus, mitsamt der schnell von Westlern dominierten Plenen, war ihnen dann doch zu groß. Sie wollten lieber mit anderen Ost-Bands ihr eigenes Kulturhaus besetzen, und rammten kurz darauf die Türen des EIMERs ein, einer Ruine in der Rosenthaler Straße. Sie richteten Proberäume und Bars ein, vergitterten die Fenster und setzten anstelle von Scheiben Blechplatten ein. Der schwarze Raum, der sich über mehrere rausgebrochene Etagen erstreckt, sah aus wie die Kulisse aus einem Gruftie-Film. In MITTENDRIN sind die letzten Tage des EIMERS zu sehen, der Anfang 2003 endgültig geräumt wurde. “Die letzten Tage vom Pompej” war die erste und einzige Platte die FREYGANG in der DDR gemacht hat. Bezahlt wurde alles noch in Ostmark und aus den Einnahmen des legendären Konzertes 1990 im EIMER, welches in MITTENDRIN zu sehen ist. ANDRE sagt, er hat am Tage nach der Währungsunion erstmal allergisch reagiert und Ausschlag von der neuen Westcola bekommen. Zusammen mit anderen Mitte-Hausbesetzern und Musikern entstand die Idee, sich wählen zu lassen. Sie nannten sich Autonome Aktion WYDOCKS – eine Mischung aus “Weiße Wölfe aus dem All” und “Vidoque”. ANDRE sammelte allein im Bezirk Mitte 2300 Stimmen für seine Kandidatur auf der Wahlliste der WYDOCKS. Eine echte Berliner Szene-Partei, die leider nicht den Einzug in den Senat geschafft hat. ANDRE erzählte auch, wie sie in den Straßen des Scheunenviertels immer wieder die Straßenschilder geschwärzt hatten. Es entstand ein Niemandsland, in dem sich nur Eingeweihte zurechtfanden. Die Rückübertrager und Spekulanten brauchten dadurch etwas länger, um ihre Claims abzustecken. ANDRE sagt: “Der Fortschrittswahn kotzt mich manchmal an. Dann fahre ich raus ins Gebirge, oder in mein Haus in Polen zum Holzhacken. DDR – Wende – Westen, mit diesem Tempo kommt eigentlich kein normaler Mensch mit.” Aber FREYGANG fährt weiter von Konzert zu Konzert, von Kirchturmspitze zu Kirchturmspitze über die mitteleuropäische Landschaft, mitsamt hartgesottener Fangemeinde und neuer CD.