Science-Live-Lemgo Biotech-Labor für Schülerinnen und Schüler Übungsaufgaben für das Abitur 22 Der Grünlaubsänger – eine Ringspecies? Material A: Der Grünlaubsänger (Phylloscopus trochiloides) Der Grünlaubsänger ist ein kleiner Singvogel aus der Familie der Grasmückenartigen. Er bewohnt lichte Laub-, Misch- und Nadelwälder sowie Parkanlagen und Gärten. Die Art ist in Asien weit verbreitet, hat aber ihr Areal in den letzten Jahrzehnten stark nach Westen ausgedehnt. Die Westgrenze der Verbreitung verläuft zurzeit durch Mecklenburg-Vorpommern. Grünlaubsänger sind als Zugvögel Langstreckenzieher. Beide Geschlechter sehen gleich aus. Der Rücken ist olivgrün, die Bauchseite grauweiß. Grünlaubsänger haben einen kleinen, weißen Streifen auf den Flügeln, der oft kaum zu sehen ist. Die Vögel werden bei einer Flügelspannweite von 15 bis 21 Zentimetern ungefähr 10 Zentimeter lang. Sie erreichen ein Gewicht von 9 Gramm. Die Nahrung besteht aus kleinen Insekten, Spinnen Abb. 1: Verbreitung der sechs Unterarten des und Schnecken. Grünlaubsängers in Asien. TICEHURST ordnete mithilfe von Sammlungsbälgen Das Fehlen von Grünlaubsängern in weiten Teilen Chinas (orange → rot) ist durch die vollständige Rodung von aus naturhistorischen Museen Grünlaubsänger Waldgebieten in jüngerer Zeit bedingt. sechs Unterarten zu: - Phylloscopus trochiloides viridanus (blau) bei gestreiften Übergängen zwischen benachbarten - Phylloscopus trochiloides nitidus (violett) Unterarten keine Hybridisierung möglich - Phylloscopus trochiloides ludlowi (grün) bei fließenden Übergängen zwischen benachbarten - Phylloscopus trochiloides trochiloides (gelb) Unterarten Hybridisierung möglich - Phylloscopus trochiloides obscuratus (orange) - Phylloscopus trochiloides plumbeitarsus (rot) Nach einer Hypothese von E. MAYR entwickelten sich die sechs Grünlaubsänger-Unterarten folgendermaßen: Tiere der Grünlaubsänger-Stammpopulation, ursprünglich im Himalaya-Gebiet südlich des Tibetischen Hochplateaus beheimatet, breiteten sich in nordöstlicher und nordwestlicher Richtung ringförmig aus und trafen nach Tausenden von Generationen in Sibirien wieder aufeinander. Im Laufe der Generationen und real nicht mehr stattfindendem Genfluss zwischen weit voneinander entfernten Populationen entstanden Unterarten (speciation per distance). Arten, deren Verbreitungsmuster durch ringförmige Wanderung erklärt werden können, nennt man Ringarten (-species). Gesicherte Beispiele für Ringarten sind in der Evolutionsforschung sehr selten. Material B: Der Gesang des Grünlaubsängers Der Gesang bei männlichen Vögeln erfüllt mehrere Funktionen. Neben dem Erkennen der Artzugehörigkeit dient er zur Abgrenzung des eigenen Reviers und zum Anlocken eines arteigenen, paarungsbereiten Weibchens. In einer mehrjährigen, feldbiologischen Untersuchung im gesamten Verbreitungsgebiet des Grünlaubsängers wurde der Gesang der sechs Unterarten erforscht. Abb. 2: Höchste Frequenz des Gesangs an unterschiedlichen Standorten (s. Abb. 4+10) Abb. 3: Niedrigste Frequenz des Gesangs an unterschiedlichen Standorten (s. Abb. 4+10) Abb. 4: Spektrogramme der sechs Unterarten der Grünlaubsänger. Die Einzelbuchstaben in den Spektrogrammen geben unterschiedliche Strophen an. Die Doppelbuchstaben stehen für Untersuchungsstandorte. Playback-Versuche Mithilfe von Playback-Versuchen wurde untersucht, ob Individuen der verschiedenen Unterarten auf den Gesang anderer Unterarten reagieren. Dafür wurde den Tieren an den verschiedenen Untersuchungsstandorten der Gesang der anderen Unterarten vorgespielt und registriert, ob und wie häufig die Tiere auf den Gesang reagieren. Abb. 5: Anzahl der Reaktionen in Abhängigkeit von der Entfernung zwischen zwei Untersuchungsstandorten (Auswahl) Material C: Untersuchung des Phänotyps Abb. 6: Breite des hellen Flügelstreifens in mm an verschiedenen Standorten Abb. 7: Körpergröße der Tiere an verschiedenen Standorten (0 = Mittelwert) Material D: Molekulargenetische Untersuchungen Abb. 8: Länge des Allels Pooc2 in bp bei Individuen an verschiedenen Standorten Abb. 9: Länge des Allels Pooc6 in bp bei Individuen an verschiedenen Standorten Abb. 10: Stammbaum der sechs Unterarten des Grünlaubsängers nach Untersuchungen der mitochondrialen DNA. Untersucht wurden 1.200 bp in der Kontrollregion und im Gen ND6. Farben siehe Abb. 1. IL = JL; Tiere der Standorte MS, EM, MG und TB konnten nicht untersucht werden. Aufgaben 1. Beschreiben und analysieren Sie die Verbreitung der sechs Unterarten des Grünlaubsängers in Asien! Leiten Sie auf der Grundlage von Beschreibung und Analyse genauere Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den sechs Unterarten ab! 2. Erklären Sie unter Berücksichtigung der Evolutionsfaktoren, wie es zur Entwicklung der sechs Grünlaubsänger-Unterarten gekommen sein kann! 3. Überprüfen Sie die Hypothese, bei den Grünlaubsängern handele es sich um eine Ringspecies, mithilfe der Materialien B bis D! Vergleichen Sie hierfür den Gesang der Grünlaubsänger-Unterarten kriteriengestützt! Beschreiben und analysieren Sie die Untersuchungen zum Phänotyp sowie die molekulargenetischen Befunde! 4. Beurteilen Sie die Bedeutung von Ringarten für die Erforschung von Artbildungsprozessen!