Katalog - Fritz Bauer Institut

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„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“
„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ – Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen
Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen
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„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“
Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen
Katalog zur Wanderausstellung des
Hessischen Hauptstaatsarchivs
2014 / 2015
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Grußwort Boris Rhein,
Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst
7
Grußwort Eva Kühne-Hörmann,
Hessische Ministerin der Justiz
9
Grußwort Dr. Thomas Wurzel,
Geschäftsführer der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen
11
Danksagung Prof. Dr. Klaus Eiler,
Direktor des Hessischen Hauptstaatsarchivs
12
Einführung
13
I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960
41
II. Judenverfolgung und Völkermord – die justizielle Aufarbeitung in Hessen
41
II.1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939
57
II.2. Deportation und Ghettoisierung mit Beginn des 2. Weltkrieges
71
II.3. Übergang zum systematischen Massenmord
83
II.4. Auschwitz
111
III. Fazit und Ausblick
125
Dokumentenanhang
202
Bildnachweise
205
Ausgewählte Literatur
208
Impressum
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Grusswort | 5
„Ein zentrales Element deutscher Erinnerungskultur“
Vor 50 Jahren wurde vor dem Frankfurter Landgericht
der 1. Auschwitz-Prozess verhandelt. Dieser Prozess
war zum damaligen Zeitpunkt das größte Schwurgerichtsverfahren in der deutschen Justizgeschichte.
Das Strafverfahren gegen Angehörige der Lagermannschaft des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz führte einer breiten Öffentlichkeit erstmals
die entsetzliche Wirklichkeit des industriellen NS-Massenmordes drastisch vor Augen. Nicht zuletzt dank der
Aufklärungsarbeit, die während des Prozesses geleistet
wurde, steht „Auschwitz“ heute synonym für die Shoa
sowie den Porajmos, den Völkermord an den europäischen Roma. Zugleich ist
„Auschwitz“ ein zentrales Element der deutschen Erinnerungskultur, die sich dem
„Nie wieder Völkermord“ als handlungsleitende Maxime verpflichtet fühlt.
Das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden hat den 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses
zum Anlass genommen, über dieses legendäre Verfahren hinaus die justizielle Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen in Hessen zwischen 1945 und 1970 in
einem weiten historischen Kontext zu beleuchten.
Hessische Gerichte und Staatsanwaltschaften hatten unmittelbar nach der Befreiung
1945 mit der Ahndung von NS-Kriminalität begonnen. Dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der erreichte, dass das Auschwitz-Verfahren in Frankfurt stattfand,
ist es zu verdanken, dass durch die zentrale Stellung Hessens bei der Durchführung
von NS-Prozessen eine Zäsur bei der juristischen Ahndung nationalsozialistischer
Gewaltverbrechen in Deutschland vollzogen wurde. Darüber hinaus hatte der Prozess
auch weitreichende gesellschaftliche und politische Auswirkungen für die gesamte
Bundesrepublik, die noch bis zum heutigen Tag andauern.
Dass diese Ausstellung vom Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden als Teil des Hessischen
Landesarchivs erarbeitet wurde, ist mir als dem für das Archivwesen zuständigen
Minister natürlich besonders wichtig. Denn damit leisten wir einen wichtigen Beitrag,
um einen Ausschnitt hessischer und damit auch deutscher Geschichte eindrucksvoll
zu vermitteln. Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung bis Ende 2015 in vielen hessischen Städten zu sehen sein wird und zahlreiche Besucherinnen und Besucher,
insbesondere auch junges Publikum, anziehen möge.
Abschließend danke ich dem Hauptstaatsarchiv für die Arbeit an dieser Ausstellung.
Sie wäre in der endgültigen Dimension nicht möglich geworden ohne die großzügige
Förderung des Hessischen Ministeriums der Justiz sowie der Sparkassen-Kulturstiftung
Hessen-Thüringen.
Ihr
Boris Rhein
Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst
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Grusswort | 7
Die Aufarbeitung des Grauens
Der Name Auschwitz steht als Synonym für den Tiefpunkt menschlicher Kultur, für eine zum industriellen Verfahren perfektionierte „Endlösung“, für millionenfachen Massenmord. Das Vernichtungslager
Auschwitz markiert eine Barbarei, eine Perversion der Rechtsordnung,
die wir bis dahin nie für möglich gehalten hätten. Es bedurfte der Entschlossenheit eines Mannes, der in der Nachkriegszeit der deutschen
Justiz den Weg wies, der das Unrecht als solches brandmarkte und
Täter zur Verantwortung zog.
Erinnern wir uns: Das deutsche Reich hatte bedingungslos kapituliert.
Die alte Unrechtsordnung war zusammengebrochen. Das Grundgesetz
markierte den Neuanfang. Artikel I, Satz 1 wurde zum Programm:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber viele Staatsanwälte
und Richter, die Mitläufer waren oder das Unrechtssystem gestützt hatten, die sich ebenfalls schuldig gemacht hatten, duckten sich hinter Aktenbergen und
machten weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Vergessen wir nicht, dass keiner der
Richter eines Sondergerichts oder der 570 Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofs wegen eines der zahlreichen Unrechtsurteile von bundesdeutschen
Gerichten rechtskräftig verurteilt wurde. Doch auch viele Juristen der neuen Generation waren schockiert von dem, was sie nach und nach über die grausame Wahrheit
der Vernichtungslager erfuhren. Sie waren paralysiert von der schier unmöglichen
Aufgabe, das Unrecht in Worte zu fassen und zur Anklage zu bringen.
Es bedurfte einer ganz außergewöhnlichen Persönlichkeit, die diese neuerliche Zäsur
in der Rechtsgeschichte vornahm. Der damalige hessische Generalstaatsanwalt
Fritz Bauer ergriff die Initiative und organisierte vor dem Frankfurter Landgericht den
Auschwitz-Prozess, der die noch junge Republik aufwühlte, der zum Synonym wurde
für die Aufarbeitung des Grauens, des unsagbaren Leids, das Mitmenschen angetan
wurde.
Es fällt immer wieder mal der Satz, dass des Mahnens und Erinnerns doch irgendwann genug sein müsse. Das ist falsch. Wir müssen Unrecht als solches benennen.
Wir müssen immer wieder den Weg zeichnen, der in diesen Abgrund geführt hat. Nur
wer die Geschichte kennt, kann daraus lernen.
Das Hauptstaatsarchiv hat eine bemerkenswerte Ausstellung über den JahrhundertProzess zusammengetragen. Ich danke der Sparkassen-Kulturstiftung HessenThüringen für die großzügige Förderung und bitte unsere Lehrer, diese Ausstellung
in den Unterricht mit einzubeziehen. Ich wünsche mir, dass vor allem die junge Generation von der hervorragenden Ausstellung Kenntnis nimmt.
Eva Kühne-Hörmann
Hessische Justizministerin
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Am 20. Dezember 1963 begann die Hauptverhandlung im 1. Frankfurter
Auschwitz-Prozess. In ihm und in den folgenden Prozessen wurden
vor fünfzig Jahren erstmals Personen angeklagt, denen die Beteiligung
am Massenmord im Vernichtungslager Auschwitz zur Last gelegt
wurde. Sitzungsort war zunächst der Saal der Stadtverordneten im
Frankfurter Römer. Im April 1964 erfolgte die Verlegung der Gerichtsverhandlung in das Frankfurter Gallusviertel. Mit den Auschwitz-Prozessen
wurde der Grundstein für die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen
in Hessen gelegt.
Anlässlich des 50. Jahrestages des Prozessbeginns hat sich das Land
Hessen – namentlich das Hessische Hauptstaatsarchiv – der Aufgabe
gestellt, eine Ausstellung zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen vermittels von Forschungsergebnissen und der mittlerweile digitalisierten
Gerichtsdokumente zu initiieren. Sie stellt die in den Fokus, die an den Massenmorden beteiligt waren, sich auf Befehlsnotstand beriefen oder behaupteten, von
nichts etwas gewusst zu haben.
Die Ausstellung dokumentiert die Anklage und die Verurteilung der Beteiligten als
Täter wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Grundlage
der Anklage war vor allem deren Mitwirkung an Tötungsdelikten. Rechtlich problematisch erschien unter anderem die Anklage der als Verwaltungsbeamte beteiligten
„Schreibtischtäter“, die sich auf Vorgaben und Anweisungen beriefen. In tatsächlicher
Hinsicht litten viele Verfahren unter dem Fehlen sicherer Beweismittel, denn Tatzeugen waren verstorben, galten als unauffindbar oder ihr Erinnerungsvermögen
wurde nach mehr als zwanzig Jahren angezweifelt. Die Ausstellung zeigt auch, dass
der Exodus vor aller Augen und mit dem Wissen und Wollen vieler geschah.
Da vermag es kaum einer zu glauben, dass die Täter nicht wussten, was mit den
jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geschah.
Die Wanderausstellung ist für hessische Städte und Kommunen konzipiert worden.
Gleichzeitig wurde für Schulen eine technisch weniger aufwändige, aber dennoch
inhaltlich gleichwertige Plakatausstellung produziert, um dort das historische Wissen
auch über den Geschichtsunterricht hinaus im Gedächtnis zu halten. So kann der
kulturelle und politische Auftrag der Bildung der Heranwachsenden mit einem Projekt
dieser Art verwirklicht werden.
Obgleich die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen damit ein thematisch
schwieriges Feld betritt, ist es ihr ein großes Anliegen, das Wissen über das Unrecht
der NS-Zeit im Bewusstsein der Menschen zu halten mit dem Ziel, den Anfängen zu
wehren. Die Stiftung stellt sich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Projekt
„Legalisierter Raub – der Fiskus und die Ausplünderung der Juden“ der wissenschaftlichen Aufarbeitung und weitreichenden Vermittlung des schwierigen Themas
von Mitwissenschaft und Verantwortung im NS-Staat. Wie im Rahmen dieses Projektes war es dabei möglich, für die Ausstellung und die Projektrecherche authentisches
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Dokumentationsmaterial zugänglich zu machen. Mit dieser Ausstellung zeigen
Stiftung und Land Hessen, dass die historische Aufarbeitung der Vergangenheit
Grundlage für ihre langjährige und partnerschaftliche Zusammenarbeit ist.
Mit der vorliegenden Publikation, die in der Reihe s selecta unserer Stiftung erscheint, geben wir den Besucherinnen und Besuchern ein Begleitmedium an die
Hand, mit dem die rechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen im Rahmen
der Auschwitz-Prozesse dokumentiert wird. Es ist unser Anliegen, das Wissen um die
Massenvernichtung, die im Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, und deren erst spät
einsetzende rechtliche Aufarbeitung an weitere Generationen zu vermitteln.
Dem Hessischen Hauptstaatsarchiv gilt unser Dank, das Archivmaterial derart aufbereitet zu haben, dass es für moderne Ausstellungskonzeptionen und -techniken
genutzt werden konnte. Der Ausstellung ist zu wünschen, dass sie eine große
Aufmerksamkeit erfährt und im schulischen Bereich Anlass zu eigenständiger
Urteilsbildung bietet.
Dr. Thomas Wurzel
Geschäftsführer
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen
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Danksagung | 11
Danksagung
Der 50. Jahrestag des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses rückte die Geschichte der Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen erneut ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das Hauptstaatsarchiv nahm
dies zum Anlass, das Thema in einer Wanderausstellung
aufzugreifen, denn schließlich schrieb die hessische
Justiz, vor allem unter der Leitung des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, mit der Durchführung des bis dahin
umfangreichsten Strafprozesses zum Massenmord in
Auschwitz deutsche Rechtsgeschichte und trug damit
zum wachsenden Ansehen Nachkriegsdeutschlands in
der internationalen Gemeinschaft bei. Mit der Archivierung und Präsentation von
Schrift-, Ton- und Bilddokumenten aus diesem und anderen NSG-Prozessen wollen
die hessischen Staatsarchive als Häuser der Geschichte einen wertvollen Beitrag
gegen das Vergessen leisten.
Schon im Vorfeld der Planungen für die Ausstellung erfuhren wir vielfache Hilfe.
An erster Stelle darf ich dem Hessischen Ministerium der Justiz Dank sagen für die
finanzielle und ideelle Unterstützung der Ausstellung. Gleiches gilt für die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, ohne deren finanziellen Beitrag der vorliegende Katalog nicht hätte gedruckt werden können. Besonderen Dank zu sagen
habe ich Herrn Dr. Johann Zilien, der die Mühe auf sich genommen hat, die Ausstellung und den Katalog zu realisieren. An den Texten mitgewirkt oder mit Rat und Tat
unterstützt haben ihn dabei Fachleute aus dem Bereich der Justiz, das Fritz Bauer
Institut in Frankfurt am Main, das Bundesarchiv, die Gedenkstätte Yad Vashem in
Jerusalem, der Hessische Rundfunk und die Kolleginnen und Kollegen der Staatsarchive in Darmstadt und Marburg. Ihnen allen habe ich sehr zu danken. Für
die Unterstützung bei den Recherchen und bei der technischen Umsetzung danke
ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauptstaatsarchivs sowie Praktikantinnen und Praktikanten und studentischen Hilfskräften. Letztlich gilt mein Dank
Frau Nina Faber, die für das Design der Ausstellung und des Katalogs verantwortlich
zeichnet, für ihre Ausdauer und die gute Zusammenarbeit.
Prof. Dr. Klaus Eiler
Direktor Hessisches Hauptstaatsarchiv
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12 | Einführung
Einführung
„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ – dieses Zitat von Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt zwischen 1956 und 1968, ist in zweierlei Hinsicht das
Motto der Ausstellung zur justiziellen Aufarbeitung von
NS-Verbrechen in Hessen.
Zum einen bezeichnet dieser Ausstellungstitel eine
grundlegende Intention der NS-Verfahren. Nach den ersten Verfahren wegen NS-Kriminalität unmittelbar nach
der Befreiung vom 8. Mai 1945 – sowohl von alliierter als
von auch deutscher Seite geführt –, setzte sich mit
Anfang der 1950er Jahre die Schlussstrich-Mentalität in Staat und Gesellschaft durch.
Die nationalsozialistischen Verbrechen wurden verdrängt und verschwiegen. Erst mit
Ende dieses „restaurativen“ Jahrzehnts setzte allmählich ein Bewusstseinswandel
ein hin zu einer Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit.
Hinsichtlich deren strafrechtlicher Aufarbeitung kam dabei der Person Fritz Bauers
und der von ihm geleiteten Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main große
Bedeutung zu. Bauer ging es um Sühne und Gerechtigkeit mit den Mitteln des Strafrechts. Es ging ihm aber auch darum, seine Zeitgenossen mit der historischen Wahrheit des Nationalsozialismus zu konfrontieren und einen nachhaltigen Wandel in der
politischen Mentalität des deutschen Volkes herbeizuführen. Von politischen Gegnern
wurde Fritz Bauer oft als „Nestbeschmutzer“ angefeindet, doch es war auch sein Verdienst, mit der justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen das „beschmutzte Nest“
zu säubern.
Zum anderen berührt das Titel-Zitat Fritz Bauers das Selbstverständnis der hessischen Staatsarchive. Als „Gedächtnis von Staat und Gesellschaft“ haben Archive die
Aufgabe, die ihnen anvertrauten, historisch wertvollen Unterlagen sicher zu verwahren, so auch die der hessischen Gerichte und Staatsanwaltschaften. Doch darüber
hinaus machen Archive historisch wertvolles Schriftgut öffentlich zugänglich und wirken an dessen „wahrheitsgetreuer“ Vermittlung mit. Mit dieser Ausstellung folgen die
hessischen Staatsarchive diesem gesetzlichen Vermittlungsauftrag und geben einem
breiten Publikum einen wissenschaftlich fundierten Einblick in ihren großen Fundus
an zeitgeschichtlich bedeutsamem Archivgut.
Die inhaltliche Gestaltung der Ausstellung und des Katalogs ist dreigeteilt. Kapitel I
(entspricht den Tafeln 3 bis 15) enthält einen chronologischen Abriss vom Wiederaufbau der Justiz und den ersten NS-Verfahren bis zum Beginn der Ära von Fritz
Bauer. Den Schwerpunkt bildet Kapitel II ( entspricht den Tafeln 16 bis 47). Hier werden
exemplarisch zentrale NS-Verfahren, die in Hessen stattgefunden haben, beschrieben
und den Tatkomplexen, auf die sie zurückgehen, gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung von Tat und deren juristischer Ahndung erfolgt hintereinander im zeitlichen Ablauf der NS-Judenverfolgung und -vernichtung zwischen 1933 und 1945.
Kapitel III (entspricht den Tafeln 48 bis 51) beleuchtet die zentrale Rolle der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft bei den NS-Verfahren und resümiert die justizielle Aufarbeitung insgesamt.
Johann Zilien
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I.
Beginn der justiziellen Aufarbeitung
zwischen 1945 und 1960
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14 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 3
Einleitung
Nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur lag das deutsche
Rechtssystem in Trümmern. Die Justiz war als Stütze des NS-Regimes diskreditiert
und musste für ein demokratisches Staatswesen neu errichtet werden. Die USBesatzungsmacht schloss zunächst die deutschen Gerichte und stellte an deren
Stelle die Militärgerichtsbarkeit. So wie andernorts auch, wurden in Hessen zahlreiche Richter und Staatsanwälte im Zuge der Entnazifizierung aus ihrem Dienst entlassen. Mit einer dünnen Personaldecke nahmen ab der zweiten Jahreshälfte 1945
die Gerichte allmählich wieder ihre Arbeit auf, vielfach besetzt mit Richtern und
Staatsanwälten, die von der NS-Vergangenheit unbelastet waren. Ein Teil der nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher wurde mit den Nürnberger Prozessen der
Alliierten 1945 / 46 zur Rechenschaft gezogen.
Mobiles Denkmal der „Grauen Busse“ als Symbol für
die Opfer der „Euthanasie“ von Horst Hoheisel und
Andreas Knitz.
In Hessen fanden bereits 1945 auf
lokaler Ebene NS-Verfahren statt. Zum
einen urteilten US-Militärgerichte
gegen Personen, die sich Verbrechen
an nicht-deutschen „Staatsangehörigen Alliierter Nationen“ schuldig
gemacht hatten. Zum anderen zeigte
die deutsche Justiz allen materiellen
und personellen Engpässen der Nachkriegszeit zum Trotz ein beachtliches
Engagement bei der strafrechtlichen
Ahndung von NS-Verbrechen. Unter
den zahlreichen Verfahren, die in den
ersten fünf Nachkriegsjahren gegen
NS-Verbrecher vor hessischen Gerichten geführt wurden, stechen die
Frankfurter „Euthanasie“-Prozesse
zwischen 1946 und 1948 hervor, bei
denen Täter des staatlich legitimierten
Krankenmordes der NS-Zeit belangt
wurden.
Der anfängliche Eifer im hessischen Rechtswesen, mit der NS-Vergangenheit juristisch abzurechnen, kam in den 1950er Jahren fast vollständig zum Erliegen. Viele
„belastete“ Juristen, die zunächst im Zuge der Entnazifizierung entlassen worden
waren, konnten nach der Entstehung der Bundesrepublik wieder beruflich Fuß
fassen. Doch nicht nur innerhalb dieser Berufsgruppe, sondern auch gesamtgesellschaftlich griff in der Bundesrepublik eine Mentalität um, mit der dunklen NSVergangenheit zügig abschließen zu wollen. Zahlreiche NS-Verbrechen blieben
ungesühnt.
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Tafel 3/4 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 15
Deren juristische Aufarbeitung setzte erst gegen Ende des Jahrzehnts wieder ein.
Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1958 zeigte einer breiten Öffentlichkeit,
dass viele der Kriegsverbrecher völlig unbehelligt von der Justiz lebten.
Das schreckliche Ausmaß der NS-Verbrechen, vor allem an den europäischen
Juden, förderte der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961/62 zutage. Seitens der
deutschen Justizverwaltungen war zwischenzeitlich mit der Errichtung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die längst überfällige,
nachdrückliche Ermittlungstätigkeit in der Bundesrepublik wieder in Gang gekommen. Unter diesen gewandelten Rahmenbedingungen war es der hessische
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich bis zu seinem Tod 1968 mit aller Kraft
dafür stark machte, die NS-Kriegsverbrechen juristisch aufzuarbeiten.
Wiederaufbau der Justiz in Hessen
Der Zweite Weltkrieg endete für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen im
März und April 1945 mit der Besetzung durch amerikanische Truppen. Mit der
Proklamation Nr. 1 wandte sich USOberfehlshaber General Dwight D.
Eisenhower an das deutsche Volk
und verkündete neben der Schließung der Gerichte die Beseitigung
von Militarismus und Nationalsozialismus sowie die Bestrafung der
Kriegsverbrecher. Mit dem Gesetz
Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 führte
die Militärregierung für die
gesamte US-Besatzungszone die
Schließung der Ordentlichen und
Verwaltungsgerichte noch einmal
formell im Einzelnen aus. Bei der
mittlerweile auch in Hessen bereits
4
begonnenen Wiedereröffnung der
Gerichte behielt sich die BesatBis 1967 war das Justizministerium im sog. Erbprinzenpalais an der Wilhelmstraße in Wiesbaden – heute Sitz
zungsmacht Kontroll- und Aufder Industrie- und Handelskammer – untergebracht.
sichtsrechte vor. Zugleich legte sie
Das Gebäude hatte im Zweiten Weltkrieg keine größeren
mit diesem Gesetz die EignungsSchäden davongetragen. Danach zog das Ministerium in
das jetzige Gebäude in der Luisenstraße 13, ein 1843
voraussetzung deutscher Richter,
errichtetes Ministerialgebäude des Herzogtums Nassau.
Staatsanwälte, Notare und Rechtsanwälte fest.
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16 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 4
Nur wenige Monate nach Beginn der Besatzungszeit und noch vor Gründung des
Landes „Groß-Hessen“, nahmen mit Billigung der Militärregierung die auf hessischem Gebiet gelegenen Amts- und Landgerichte ihre Arbeit allmählich wieder auf.
Den Anfang machten am 4. und 11. Juni 1945 die Amtsgerichte in Limburg und
Wiesbaden. Landgericht, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht in Darmstadt begannen im Juli wieder mit der Arbeit. Bis zum Dezember folgten die Gerichte und
Staatsanwaltschaften in Frankfurt, Kassel und Marburg. 79 von früher 100 Amtsgerichten und 7 von 8 Landgerichten hatten ihre Tätigkeit nach einem Bericht der
Militärregierung bis zum 21. Dezember 1945 wieder aufgenommen.
Mit Gründung des Landes „Groß-Hessen“ begann die Militärregierung, die Aufsichts- und Kontrollrechte wieder schrittweise der deutschen Seite zu übertragen.
Am 1. Oktober 1945 wurden Karl Geiler als Ministerpräsident und der Rechtsanwalt
Georg August Zinn als Justizminister eingesetzt. Das Ministerium der Justiz nahm
Ende Oktober 1945 seine Arbeit in Wiesbaden auf, unterlag aber immer noch der
amerikanischen Kontrolle.
Georg August Zinn (1901-1976)
war in den Kabinetten Geiler und
Stock vom 1. Oktober 1945 bis
zum 31. Oktober 1949 hessischer
Justizminister.
Auch nach seiner Wahl zum hessischen Ministerpräsidenten am 14.
Dezember 1950 übte er bis 1963
dieses Amt in Personalunion aus.
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Tafel 4 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 17
1
Mit der Proklamation Nr. 1 wandte sich US-General Dwight D. Eisenhower, Oberster
Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte, erstmals an die deutsche Bevölkerung und
verkündete damit die Grundzüge der Besatzungsherrschaft.
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18 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 4
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Mit dem Gesetz Nr. 2 der Militärregierung begann der allmähliche Übergang
zu einer freiheitlichen deutschen Justiz.
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Tafel 5 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 19
Mit der Schließung der Gerichte waren alle Richter und Staatsanwälte ihrer Ämter
enthoben worden. Nur wenige, politisch unbelastete Richter und Staatsanwälte
wurden von der Besatzungsmacht mit der Eröffnung der Gerichte wieder eingestellt.
Die einfache Mitgliedschaft in der NSDAP schloss deren Beschäftigung bis zum
Abschluss der „Entnazifizierung“ aus. Viele der 1945 eingestellten Juristen waren
zuvor 1933 von den Nationalsozialisten aus politischen oder rassischen Gründen
entlassen worden.
1
Die Siegermächte hatten auf der Potsdamer
Konferenz 1945 allgemeine Grundsätze zur
politischen Säuberung beschlossen. Die
Amerikaner begannen zunächst in ihrer
Besatzungszone mit der „Entnazifizierung“
und übertrugen schließlich 1946 die Verantwortung für diese Aufgabe auf die
deutschen Landesregierungen. In den
„Spruchkammern“ fällten unbelastete oder
minder belastete Juristen sowie Laienrichter Urteile gegen Deutsche wegen Verstrickung in den Nationalsozialismus. Das
Foto zeigt die Hanauer Spruchkammer bei
einer Urteilsverkündung.
2
Am 8. März 1946 fand die feierliche
Eröffnung des hessischen Oberlandesgerichts Frankfurt statt. Das Foto zeigt
Justizminister Georg August Zinn bei
seiner Festrede. Mit verschränkten Armen
Ministerpräsident Karl Geiler, daneben
der amerikanische Militärgouverneur
Colonel James R. Newman und der Frankfurter Oberbürgermeister Kurt Blaum.
Ganz rechts im Bild verdeckt OLG-Präsident Walter Moehrs.
Später kamen auch Juristen hinzu, die auf Grund ihres Alters bis 1945 noch
nicht im Justizdienst gestanden hatten. Viele fanden nach der Entlassung aus
der Kriegsgefangenschaft ihre erste Verwendung als Assessoren. Von ehemals
583 Richtern, Staatsanwälten und Amtsanwälten aus der NS-Zeit waren in Hessen
im Februar 1946 nur noch 220 tätig.
Bis zum Kriegsende im Jahre 1945 hatte es in Hessen drei Oberlandesgerichte
gegeben: Kassel, Frankfurt am Main und Darmstadt. Die Landesregierung reduzierte
diese nun auf ein Oberlandesgericht in Frankfurt mit Außensenaten an den beiden
anderen früheren Standorten.
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20 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 5
Am 8. März 1946 wurde das neue Oberlandesgericht Frankfurt feierlich eröffnet;
zum ersten Präsidenten wurde der profilierte Jurist und Sozialdemokrat Walter
Moehrs ernannt.
Zum ersten Generalstaatsanwalt und obersten Ankläger des Landes Hessen
ernannte Justizminister Zinn am 17. Oktober 1946 den Rechtsanwalt Georg Quabbe.
Mit der Errichtung des Oberlandesgerichts war der Aufbau der Ordentlichen
Gerichtsbarkeit in Hessen abgeschlossen.
Walter Moehrs (1886-1978) war von
1946 bis 1948 der erste Präsident
des Oberlandesgerichts Frankfurt
nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war
bereits 1932 Präsident des Oberlandesgerichts in Königsberg,
wurde dann aber 1933 von den
Nationalsozialisten wegen seiner
Mitgliedschaft in der SPD und im
Republikanischen Richterbund
seines Amtes enthoben. Im Zuge des
Aufbaus der Justiz in Hessen
beauftragte ihn Justizminister
Georg August Zinn mit den Vorarbeiten zur Errichtung des neuen
hessischen Oberlandesgerichts.
4
Walter Sachs (1882-1950) wurde am
14. Februar 1946 zum Direktor des
wiedereröffneten Frankfurter Landgerichts vereidigt. Kurz zuvor war
der renommierte Jurist und überzeugte Demokrat aus dem Londoner
Exil, in das er wegen seiner
jüdischen Abstammung 1939 geflohen
war, nach Deutschland zurückgekehrt.
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Tafel 7 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 21
Nürnberger Prozesse
Das Terrorregime des „Dritten Reiches“ hatte zu einem tiefen Zivilisationsbruch geführt. Bereits während des Zweiten Weltkrieges fassten die Alliierten den Entschluss,
die führenden Nationalsozialisten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die
Siegermächte entschieden daher auf der Londoner Konferenz vom August 1945, die
Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes wegen Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu stellen. Zu diesem Zweck gründeten sie einen Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Dieser stand juristisch
auf der Grundlage des international gültigen Völkerrechts und kann langfristig als
ein Vorläufer des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag angesehen werden.
Mit diesem Plakat machten
die Alliierten die Bevölkerung auf den Nürnberger
Prozess gegen führende
Vertreter des NS-Regimes
aufmerksam. Zunächst war
die Anteilnahme am Prozessgeschehen wegen der Prominenz der Angeklagten groß.
Doch nahm das Interesse in
der deutschen Öffentlichkeit mit der Zeit stark ab.
Lediglich die Urteilsverkündung am 1. Oktober 1946
führte noch einmal zu allgemeiner Aufmerksamkeit.
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22 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 7
Als Ort für das erste Verfahren wählten die Alliierten den Justizpalast in Nürnberg.
Dort stellten sie 21 Vertreter der NSDAP, von Politik und Wirtschaft und des Militärs
vor Gericht. Adolf Hitler, Propagandaminister Joseph Goebbels und ReichsführerSS Heinrich Himmler hatten bereits vor Kriegsende Selbstmord begangen und sich
damit aus ihrer Verantwortung gestohlen. Am 20. November 1945 begann das Verfahren, das insgesamt 218 Verhandlungstage umfassen sollte.
Etwa 250 Zeitungs- und Rundfunkberichterstatter aus der
ganzen Welt berichteten vom
öffentlichen Verfahren. In der
deutschen Bevölkerung stießen die Nürnberger Verfahren
aber auf erhebliche Bedenken.
Es bestanden in der deutschen Öffentlichkeit große
Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen „Siegerjustiz“.
3
2
Im Verhandlungssaal des Nürnberger Landgerichts saßen links die als
Hauptkriegsverbrecher bezeichneten Angeklagten, davor ihre Verteidiger.
In der ersten Reihe (v.l.n.r.): Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von
Ribbentropp, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg,
Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht.
In der zweiten Reihe (v.l.n.r.): Erich Raeder, Baldur von Schirach,
Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert
Speer, Konstantin von Neurath, Hans Fritzsche. Den Angeklagten gegenüber
befand sich die Richterbank.
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Tafel 7/6 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 23
Am 1. Oktober 1946 verkündeten die Richter das Urteil: zwölfmal Tod durch den
Strang (Hermann Göring, Ernst Kaltenbrunner, Joachim von Ribbentropp, Arthur
Seyß-Inquart, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Fritz Sauckel, Hans Frank, Alfred
Rosenberg, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und in Abwesenheit Martin Bormann),
sieben langjährige Freiheitsstrafen (Rudolf Hess, Erich Raeder, Walter Funk, Baldur
v. Schirach, Albert Speer, Konstantin v. Neurath, Karl Dönitz), drei Freisprüche
(Hjalmar Schacht, Franz v. Papen, Hans Fritzsche). Die Todesurteile wurden am
16. Oktober 1946 vollstreckt.
Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher blieb nicht die einzige Bemühung
der Alliierten, die NS-Verbrechen strafrechtlich zu ahnden. Zwischen 1946 und 1949
standen in zwölf Nachfolgeprozessen hochrangige Mediziner, Juristen und Industrielle, SS- und Polizeiführer, Militärs, Beamte und Diplomaten vor US-Militärgerichten.
Anklagebank im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem alliierten
Militärtribunal.
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24 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 8
Erste Verfahren
Während die deutsche Rechtspflege nach der Besetzung Hessens durch das USMilitär praktisch zum Stillstand gekommen war, führte die Besatzungsmacht im
Sommer 1945 zügig Militärgerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen durch. Geahndet wurden dabei aber nicht Straftaten an Deutschen, sondern an „Staatsangehörigen Alliierter Nationen“. So wurden am 15. Juli 1945 zwei ehemalige Polizeibeamte
wegen der Ermordung eines US-Piloten in Langenselbold bei Hanau zum Tode
verurteilt. Wegen „Lynchmordes“ an sechs amerikanischen Fliegern verurteilte
ein Militärgericht in Darmstadt zwei
Frauen und fünf Männer aus RüsselsNicht jeder scheinbar
heim zum Tode.
unbelastete Staatsanwalt,
der zu Beginn der Besatzungsherrschaft eingestellt wurde, entsprach
langfristig den fachlichen und persönlichen
Anforderungen an sein
Amt. Die US-Militärregierung ernannte Vincenz
von Krockow, geb. 1903
in Ostpreußen, im Januar
1946 zum Staatsanwalt.
Doch taten sich bald
neben fachlichen Defiziten auch persönliche Verfehlungen auf, die nach
einem Gerichtsverfahren
1950 zu seiner Entlassung
aus dem Justizdienst
führten.
Hans Karl Hofmeyer,
geb. 1904 in Offenbach
am Main, begann seine
Richterlaufbahn 1936.
Zwischen 1939 und 1945
versah er seinen Kriegsdienst, zuletzt im Rang
eines Oberstabsrichters.
Schon 1937 war er in die
NSDAP eingetreten und
fungierte als Rechtsberater in der HJ. 1946
wurde er als „Mitläufer“
entnazifiziert. Noch im
selben Jahr konnte er
die richterliche Laufbahn wieder einschlagen
und stieg rasch vom
Hilfsrichter auf bis
zum Senatspräsident
beim OLG Frankfurt.
1
2
Die Verfolgung von NS-Verbrechen an
Deutschen sollte nach den Vorstellungen der Alliierten die Aufgabe einer neu
aufzubauenden demokratischen Justiz
im Nachkriegsdeutschland sein. Dementsprechend erteilten die Besatzungsbehörden den deutschen Gerichten
bereits im Jahre 1945 die Genehmigung,
wegen NS-Verbrechen an deutschen
Bürgern oder Staatenlosen zu ermitteln
und zu verhandeln. Zur Anwendung kam
dabei von Anfang an das deutsche Strafund Prozessrecht, und zwar in Form des
1871 erlassenen Reichs-Strafgesetzbuches, bereinigt um das rechtsstaatswidrige NS-Recht. Bereits im September
1945 erging vor dem Landgericht
Gießen das erste Urteil in einem NSVerfahren. Allerdings wurden vorrangig
lokale, also innerhalb Hessens begangene Straftaten wie Landfriedensbruch,
Brandstiftung oder Körperverletzung
verfolgt. Ausgelöst wurden diese Verfahren zumeist aufgrund von Anzeigen der
Opfer oder ihren Angehörigen, weniger
aber durch systematische Ermittlungen
der Justiz. Zwischen 1945 und 1950
wurden auf dem Gebiet der späteren
Bundesrepublik 5.228 Menschen von
deutschen Gerichten wegen NS-Verbrechen verurteilt.
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Tafel 8 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 25
Viele jener Richter und Staatsanwälte, die in Hessen an diesen frühen NS-Verfahren
maßgeblich teilnahmen, waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer Mitwirkung in der NS-Justiz unbelastet.
Die Militärregierung achtete in den ersten Nachkriegsjahren selbst darauf, dass
keine „belasteten“ Juristen an NS-Verfahren beteiligt wurden. Zudem unterlagen
noch viele der vor deutschen Gerichten geführten Verfahren ihrer direkten Aufsicht.
4
Bericht der Frankfurter Rundschau über einen Militärgerichtsprozess wegen der
Ermordung von zwei US-Fliegern in Groß-Gerau im August 1944, 1. August 1945.
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26 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 8
Bericht der Frankfurter Rundschau
zur US-Militärgerichtsbarkeit in
Deutschland, 3. August 1945.
3
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Tafel 9 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 27
Die Frankfurter „Euthanasie“- Prozesse
Zu den bedeutendsten NS-Verfahren, die noch in der Phase des Wiederaufbaus der
hessischen Justiz geführt wurden, zählten die Frankfurter „Euthanasie“-Prozesse
zwischen 1946 und 1948. In vier Prozessen mussten sich Angehörige des Personals
aus den Heilanstalten Eichberg, Hadamar und Idstein-Kalmenhof des ehemaligen
Bezirksverbands Wiesbaden
wegen ihrer Beteiligung an den
Krankenmorden aus der NS-Zeit
verantworten.
Die nationalsozialistische Rassenhygiene zielte auf die konsequente Ausmerzung „minderwertigen Erbguts“ aus der
postulierten „rassereinen Volksgemeinschaft“ ab. In einem
radikalen Akt negativer Eugenik
wurden unter der verharmlosenden Bezeichnung „Euthanasie“
(= Sterbehilfe) seit 1939 in ganz
1
Deutschland geistig und körperDie Landesheilanstalt Hadamar behielt auch über die
lich behinderte Menschen systePhase der sog. „Aktion T4“ hinaus die Funktion einer
matisch ermordet. Im Rahmen der
zentralen Tötungsanstalt. In der zweiten Mordphase
zwischen 1942 und 1945 wurden noch einmal 4.861
sog. „Aktion T4“ errichtete der
Patienten nach Hadamar verlegt, von denen bis März
NS-Staat über das gesamte Reich
1945 4.411 gestorben waren. Hier ein Foto von 1941
verteilt sechs Tötungsanstalten,
mit der Rauchsäule des Krematoriums über der Anstalt.
in denen diese „Ballastexistenzen“ mit Kohlenmonoxyd getötet
wurden. Eine dieser Tötungsanstalten existierte in der Landesheilanstalt Hadamar. Zwischen Januar und August 1941 wurden dort
insgesamt 10.072 Menschen vergast und danach eingeäschert.
Öffentliche Proteste, vor allem seitens der katholischen Kirche,
stoppten zunächst die reichsweite, zentral gesteuerte Mordaktion.
Doch auch danach ging das Töten von Patienten dezentral in den
psychiatrischen Anstalten weiter, zumeist durch Medikamente,
Nahrungsentzug oder schlichtweg Vernachlässigung.
Wegen der Ermordung von insgesamt 468 vorwiegend polnischen
und sowjetischen Zwangsarbeitern hatte ein US-Militärgericht
bereits am 15. Oktober 1945 sieben Angestellte der Landesheilanstalt Hadamar verurteilt, davon drei zum Tode. Das Hessische
Justizministerium forcierte die Zentralisierung laufender
„Euthanasie“-Verfahren wegen Patientenmorden in den Anstalten
Eichberg, Hadamar und Idstein-Kalmenhof beim Landgericht
Frankfurt. Die dortige Staatsanwaltschaft stellte erstmalig
2
Ehemalige Gaskammer der
Landesheilanstalt Hadamar.
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28 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 9
umfassende Ermittlungen an, die die Organisation und den Ablauf der Tötung von
„unwertem“ Leben aufdeckten. Die Rechtfertigungsversuche der Angeklagten, ihr
verbrecherisches Handeln sei durch die Ermächtigung Hitlers vom 1. September
1939 legitimiert gewesen, konnte das Gericht in seinem Urteil eindrucksvoll zurückweisen. Gleichsam überzeitlich gültige Gesetze der Ethik stünden dabei über
denen von Tyrannen.
Pflegerinnen der Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau halten ein behindertes Kind in die
Kamera. In der dortigen „Kinderfachabteilung“ – eine von etwa
30 reichsweit - wurden ab dem
Frühjahr 1941 rund 200 Säuglinge, Kinder und Jugendliche
mit Erbkrankheiten oder Missbildungen getötet, zumeist mit
Medikamenten, aber auch durch
Unterernährung. Verantwortlich
für diese Verbrechen war der SSArzt Walter Schmidt (1910-1970)
aus Wiesbaden.
3
4
Die Hauptangeklagten im Frankfurter Hadamar-Prozess: Oberschwester Irmgard Huber, der frühere Direktor der Anstalt,
Dr. Adolf Wahlmann, der leitende Arzt Dr. Bodo Gorgaß,
(mittlere Reihe von l.r.). Der dritte und umfangreichste
„Euthanasie“-Prozess vor dem Frankfurter Landgericht begann
am 24. Februar 1947 und endete am 26. März desselben Jahres,
u.a. mit Todesurteilen gegen Gorgaß und Wahlmann.
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Tafel 10 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 29
Nachlassen der Strafverfolgung
Mit Beginn der 1950er Jahre kam die Strafverfolgung von nationalsozialistischen
Verbrechen zusehends zum Erliegen. Leiteten die Staatsanwaltschaften bundesweit
1949 noch immerhin 3.995 Ermittlungsverfahren ein, so brach deren Anzahl bis 1952
auf 467 förmlich ein und erreichte 1954 mit 183 Verfahren einen absoluten
Tiefstand. Derselbe Trend lässt sich für die rechtskräftigen Verurteilungen von
NS-Verbrechern beschreiben: Deren Anzahl sank ab 1949 bundesweit von 1.523
auf 191 drei Jahre später. Der Tiefpunkt war hier 1959 mit lediglich 15 rechtskräftigen
Verurteilungen erreicht.
Dass auch die hessische Justiz
bereits fünf Jahre nach Kriegsende
die Strafverfolgung von NS-Tätern
einzustellen begann, hat verschiedene Gründe. Zum einen beendete
das Gesetz Nr. 13 des Alliierten
Hohen Kontrollrats, das am 1. Januar
1950 in Kraft trat, formell die Aufsicht
der US-Siegermacht über Verfahren
zu NS-Gewalttaten. Der Kalte Krieg
war mittlerweile ausgebrochen, und
die westlichen Siegermächte verloren
das Interesse an weiteren personellen Säuberungen. Der äußere Druck
auf die deutschen Strafverfolgungsbehörden zur Durchführung dieser
In der öffentlichen Berichterstattung stieß
die Durchführung
des „Juristenprozesses“ auf
offene Ablehnung
– ein Hinweis
auf die ausgeprägte Schlussstrich-Mentalität der Nachkriegszeit.
3
1
Die fehlende Bereitschaft
der Justizbehörden, sich
mit den NS-Verbrechen auseinander zu setzen zeigt
der Wiesbadener "Juristenprozess" von 1951/52.
Heinz Engert, geb. 1877,
Ministerialdirektor im
Reichsjustizministerium,
wurde vor dem Schwurgericht Wiesbaden angeklagt,
an der Vernichtung sog.
"asozialer" Häftlinge
beteiligt gewesen zu sein.
Allen belastenden Indizien
zum Trotz plädierte sogar
die Staatsanwaltschaft auf
Freispruch.
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30 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 10
Verfahren war damit verschwunden. Zum anderen drängten mit dem Ende der Entnazifizierung frühere Parteimitglieder massiv zurück in den Justizdienst: Staatsanwälte und Richter, die auch aufgrund persönlicher Verstrickung mit dem Nationalsozialismus wenig Interesse an der Strafverfolgung von NS-Verbrechern hatten.
Der Anteil an Justizpersonal mit nationalsozialistischer Vergangenheit hatte 1947
bei ca. 35 Prozent gelegen. 1949, im Jahr des Abschlussgesetzes zur „politischen
Befreiung in Hessen“, hatte sich deren Anteil im Justizressort bereits mehr als verdoppelt.
Dieser Rückfluss von Staatsanwälten und Richtern in ihre früheren Funktionen verstärkte sich noch mit der „131er“-Gesetzgebung. Das Grundgesetz hatte 1949 in
Artikel 131 angekündigt, die „Rechtsverhältnisse“ von Angehörigen des öffentlichen
Dienstes, die aufgrund ihrer NS-Vergangenheit nach der Befreiung von
ihren Stellen entfernt worden waren,
Heinz Wolf, geb. 1908 in
gesetzlich zu regeln.
Limburg, war 1933 in die
NSDAP und SA eingetreten.
Das am 11. Mai 1951 vom Bundestag
Der überzeugte Nationalbeschlossene „131er“-Gesetz
sozialist machte als
erlaubte damit eine großzügige
Staatsanwalt bis 1945 eine
verheißungsvolle Karriere.
Wiedereinstellung von vormaligen
Nach seiner EntnazifizieAngehörigen des öffentlichen
rung wurde er 1949 auf
Dienstes. Auf diesem Wege gelangseinen Wunsch hin in den
hessischen Justizdienst
ten zahlreiche Staatsanwälte und
übernommen. 1962 wechselte
Richter, die bis 1945 willfährig der
Wolf für die CDU in die
Justiz des 3. Reiches gedient hatLandespolitik.
ten, zurück in ihre alten Stellungen.
2
Eine direkte Auswirkung dieser
personellen Restauration der Justiz
war die Abkehr von der justiziellen
Aufarbeitung der NS-Barbarei.
Gemeinsam mit ihrem Ehemann Alexander Mitscherlich attestierte die
bekannte Psychoanalytikerin Margarethe Mitscherlich (1917-2012) der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft 1967 die
„Unfähigkeit zu trauern“.
Der Einzelne, aber auch
die gesamte Gesellschaft
hätten sich nicht der
Schuld und Mitschuld an
den NS-Verbrechen gestellt,
sondern diese verdrängt.
4
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Tafel 11 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 31
Ulmer Einsatzgruppen-Prozess
Die NS-Gewaltverbrechen rückten Ende der 1950er Jahre in den Fokus der Öffentlichkeit. In dem am 28. April 1958 eröffneten Ulmer Einsatzgruppen-Prozess stand
erstmals in der Adenauer-Ära die systematische Vernichtung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Mittelpunkt. Nur durch Zufall war der Prozess in Gang
gekommen.
Bernhard Fischer-Schweder, ehemals SS-Obergruppenführer, Träger des Goldenen
Parteiabzeichens der NSDAP und Polizeidirektor von Memel, hatte einen Prozess
gegen das Land Baden-Württemberg auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst
geführt. In diesem Zusammenhang wurde seine Beteiligung an Massenverbrechen
aufgedeckt. Als Angehöriger des „Einsatzkommandos Tilsit“, eines mobilen Mordkommandos von SS, Gestapo und Sicherheitsdienst, war er zwischen Juni und September 1941
an der Massenerschießung von mehr als 5.500
litauischen Juden beteiligt gewesen.
Neben Fischer-Schweder standen neun weitere
Angehörige des „Einsatzkommandos Tilsit“ vor
Gericht. Insgesamt sagten 184 Zeugen vor Gericht
aus. Sämtliche Angeklagten wurden am 29. August
1958 wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen
Mord“ in 4.000 Fällen zu Haftstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt. Juristisch galten sie nicht als Täter,
sondern nur als „Gehilfen“, als ob die Angeklagten
ihre Taten nicht aus eigenem Antrieb verübt hätten.
Dies entsprach der damaligen Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, der Hitler, Göring, Himmler
und Heydrich als Haupttäter für die begangenen
Mordtaten ansah.
Die Angehörigen der Einsatzgruppen rechtfertigten
ihre Mordtaten damit, ihr eigenes Leben wäre
bedroht gewesen, hätten sie den Mordbefehl verweigert. Die Zeugenaussagen widerlegten diese
Schutzbehauptung im Verlauf des Prozesses
eindrucksvoll. Das Gericht machte deutlich, dass
selbst im Krieg das Abschlachten Tausender
Zivilisten – Frauen, Kinder und Säuglinge eingeschlossen – durch nichts, auch nicht durch einen
„Befehlsnotstand“, zu rechtfertigen sei.
1
Der Hauptangeklagte im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess Bernhard FischerSchweder wird in den Gerichtssaal
geführt. Neben Fischer-Schweder standen neun weitere Angehörige der
Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD)
und der Polizei vor Gericht. Ihnen
wurde Mord und Beihilfe zum Mord in
über 5.000 Fällen zur Last gelegt.
Alle Angeklagten wurden lediglich der
Beihilfe für schuldig befunden, da
man ihnen eine persönliche Schuld
nicht zweifelsfrei nachweisen konnte.
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32 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 11
Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess stellte einen Wendepunkt in der juristischen
Aufarbeitung der NS-Verbrechen dar, zeigte er doch, dass viele Täter noch unbehelligt mitten in der deutschen Gesellschaft lebten. Nach Jahren des Verschweigens und Verdrängens war das Interesse in der Öffentlichkeit geweckt. Es begann
nun eine systematische strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung von NS-Tätern.
Erschießung
einer Gruppe
jüdischer Frauen
und Kinder aus
Libau/Lettland
durch eine deutsche Einsatzgruppe. In der
Grube liegen die
Leichen bereits
erschossener
Menschen,
15. Dezember 1941.
3
Ehemalige Angehörige der
„Einsatzgruppe Tilsit“
auf der Anklagebank im
Verhandlungssaal des
Landgerichts Ulm, 1958.
2
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Tafel 12 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 33
Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg
Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess wird oftmals als ein Wendepunkt in der Verfolgung und Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen angesehen.
Er hatte gezeigt, dass eine systematische und zentral gesteuerte Ermittlungsarbeit
notwendig ist, um die Gewalttäter aufzuspüren. Dies konnte allerdings nur durch
eine Behörde erreicht werden, die im Vorfeld der staatsanwaltlichen Ermittlungen
tätig wird. So wurde von den Justizministern und -senatoren im Oktober 1958
beschlossen, die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen“ (im
Oberstaatsanwalt
Allgemeinen „Zentrale Stelle der LandesErwin Schüle (1913-1993)
wurde am 1. Dezember 1958
justizverwaltungen“, kurz „Zentrale
Leiter der neu gegründeStelle“) als gemeinschaftliche Einrichten "Zentralen Stelle der
tung aller bundesrepublikanischen
Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung nationalLandesjustizverwaltungen zu errichten.
sozialistischer VerbreBereits am 1. Dezember 1958 nahm sie
chen". Er ging seine Aufihre Tätigkeit in Ludwigsburg auf. Der
gabe mit großem Engagement an - bis ihn seine
Staatsanwalt beim Ulmer Einsatzgrupeigene NS-Vergangenheit
pen-Prozess Erwin Schüle wurde erster
einholte: Schüle war 1933
Leiter der Zentralen Stelle. Mit der Errichin die SA und 1937 in die
NSDAP eingetreten. Auch
tung der Zentralen Stelle begann eine
war er unter Verdacht
systematische Verfolgung der nationalgeraten, 1942 an der
sozialistischen Verbrechen; zugleich
Tötung von Russen betei1
ligt gewesen zu sein.
übernahm sie eine KoordinierungsfunkDaraufhin legte er am
tion für NS-Verfahren vor den Gerichten
1. September 1966 sein
der jeweiligen Bundesländer. Ihre AufAmt nieder.
gabe war es, das gesamte erreichbare
Material über NS-Verbrechen im Ausland
und innerhalb des Deutschen Reiches zu
Oberstaatsanwalt
sammeln, zu sichten und strafrechtlich
Adalbert Rückerl
(1925-1986), hier links
auszuwerten.
Nachfolger von Erwin Schüle wurde
Adalbert Rückerl, der die Behörde
18 Jahre leitete und wohl der bekannteste
Vertreter des Amtes wurde. Von 1984 bis
1996 stand das Amt unter der Leitung
von Alfred Streim, ehe es Willi Dreßen
übernahm.
Seit 2002 wird die Zentrale Stelle von
Kurt Schrim geleitet.
3
im Bild, war 1961 zur
Zentralen Stelle abgeordnet worden. Er
übernahm 1966 deren
Leitung und versah
diese Funktion 18
Jahre lang. Für seine
langjährigen Verdienste um die strafrechtliche Ahndung von
NS-Verbrechen ehrte
ihn der Justizminister
des Landes Baden-Württemberg Heinz Eyrich
im August 1983 mit dem
Bundesverdienstkreuz
Erster Klasse.
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34 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 12
Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle 7.401 Ermittlungsverfahren eingeleitet
(Stand 29.1.2009) sowie 113.419 Überprüfungs- und Rechtshilfevorgänge bearbeitet.
Noch heute sind mehrere Vorermittlungssachen anhängig sowie eine Vielzahl sog.
Überprüfungsverfahren, die sich mit der Sichtung ausländischer Archivbestände
befassen. Noch heute erfolgen fortlaufend Abgaben von Vorermittlungen an Staatsanwaltschaften im gesamten Bundesgebiet mit dem Ziel der Anklageerhebung.
Die Tätigkeit der Zentralen Stelle kann noch nicht als beendet angesehen werden.
Die Akten der Zentralen Stelle, ca. 1.200 Regalmeter, sind inzwischen zu einer fast
unverzichtbaren Quelle für die historische Erforschung der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik geworden. Seit dem 1. Januar 2000 ist in Ludwigsburg eine
Außenstelle des Bundesarchivs tätig, welche die Unterlagen der Zentralen Stelle
verwahrt und zur Nutzung bereitstellt.
Die Gründung der Zentralen Stelle und ihre Arbeit stehen symbolisch für das
Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland zu einer konsequenten Fortsetzung
der rechtlichen Auseinandersetzung mit den grauenhaften Verbrechen des
Nationalsozialismus.
Das Dienstgebäude
der Zentralen
Stelle in
Ludwigsburg.
2
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Tafel 13 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 35
Der Eichmann-Prozess in Jerusalem
Ein weltweit aufsehenerregender NS-Kriegsverbrecherprozess fand vom 11. April
1961 bis zum 29. Mai 1962 in Jerusalem statt: der Prozess gegen Adolf Eichmann.
Eichmann war Leiter des „Judenreferats“ im „Reichssicherheitshauptamt“ gewesen,
von wo aus die Ermordung der europäischen Juden geplant und gesteuert wurde.
Er selbst trug die Verantwortung für die Deportation von über fünf Millionen Juden
in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Nach dem Ende des KrieAdolf Eichmann war
ges gelang es Eichmann, mit der
bereits 1932 der
Unterstützung alter NS-Seilschaften
österreichischen
und des Vatikans nach Argentinien zu
NSDAP sowie der SS
beigetreten. Im
entkommen, wo er in Buenos Aires
Reichssicherheitsmit seiner Familie unter falschem
hauptamt organiNamen in relativ bescheidenen Versierte er ab 1941
die Deportation der
hältnissen lebte. Zwischen ArgentiJuden aus Deutschnien und Israel bestand kein Ausliefeland und den besetzrungsabkommen, daher entführten
ten europäischen
Ländern. Er war verAgenten des israelischen Geheimantwortlich für die
dienstes Mossad Eichmann in einer
Zusammenstellung und
spektakulären Aktion nach JerusaAuslastung sämtlicher Transporte von
lem. Der hessische GeneralstaatsanJuden in Ghettos
walt Fritz Bauer soll mit Hinweisen
sowie Konzentratiauf Eichmanns Aufenthaltsort zu desons- und Vernichtungslager.
2
sen Ergreifung beigetragen haben.
Der Prozess gegen
Adolf Eichmann,
links im Bild hinter
Panzerglas sitzend,
begann am 11. April
1961 vor dem
Jerusalemer Bezirksgericht im Haus des
Volkes.
Richter waren Moshe
Landau, Benjamin
Halevi und Yitzhak
Raveh. Am 15. Dezember 1961, dem 121.
Sitzungstag, endete
der Prozess mit der
Verhängung der
Todesstrafe.
1
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36 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 13
Nach neunmonatigen Ermittlungen wurde vor dem Bezirksgericht in Jerusalem
Anklage erhoben; am 15. Dezember 1961 wurde Eichmann zum Tode verurteilt.
Eichmanns Berufung vor dem Obersten Gerichtshof von Israel wurde am 29. Mai
1962 zurückgewiesen. Das Urteil wurde schließlich am 31. Mai 1962 vollstreckt.
Eichmann hatte sich im Laufe des Prozesses damit verteidigt, nur auf Befehl
gehandelt und sich somit nicht im juristischen Sinne schuldig gemacht zu haben.
Auch habe er sich niemals direkt an der Deportation und der Ermordung von Juden
beteiligt. Das Gericht wies diese Rechtfertigung zurück.
Adolf Eichmann am
Schreibtisch
in seiner
Zelle im
Gefängnis
von Ramla
beim Verfassen seiner
„Memoiren“,
1961.
3
Für den Staat Israel und insbesondere für diejenigen, die der
Shoah lebend entkommen konnten, war es eine besondere
Befriedigung, wenigstens einem
der Hauptverantwortlichen im
eigenen Land den Prozess
machen zu können. Als typischer „Schreibtischtäter“ wäre
Eichmann entsprechend der
damals in der Bundesrepublik
strafrechtlich vorherrschenden
Auffassung wahrscheinlich nur
wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden.
Der Prozess gegen Adolf Eichmann erregte großes internationales Aufsehen. In Deutschland
förderte er die öffentliche
Bereitschaft, nun endlich die
bislang weitgehend verdrängten
NS-Verbrechen aufzuklären. Im
Zuge dieser Sensibilisierung
von Öffentlichkeit und Justiz
stieg die Zahl der Ermittlungsund Strafverfahren wegen NSGewaltverbrechen erheblich an.
Die jüdische deutsch-amerikanische Philosophin und
Publizistin Hannah Arendt
nahm als Reporterin am Prozess gegen Eichmann teil.
1963 veröffentlichte sie
ihr Buch „Eichmann in
Jerusalem“. Der Untertitel
„Ein Bericht über die
Banalität des Bösen“ und die
Charakterisierung Eichmanns
als scheinbar normaler
„Spießbürger“ führten zu
einer kontroversen Diskussion. Gerade der Ausdruck
„Banalität“ erschien für
einen Massenmörder als
Verharmlosung.
4
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Tafel 14 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 37
Fritz Bauer
Fritz Bauer wurde am 16. Juli 1903 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte
er Jura und Volkswirtschaft und promovierte 1927 in Heidelberg. Schon während der
Studienzeit begann er sich politisch zu engagieren und trat 1920 in die SPD ein.
In Stuttgart wurde Fritz Bauer 1930 der jüngste Richter an einem Amtsgericht im
Deutschen Reich. Für Bauer war die Verbindung von juristischer Tätigkeit und politischer Arbeit kein Widerspruch, sondern unerlässlich. So war er Mitbegründer des
Republikanischen Richterbundes in Württemberg und seit 1930 Vorsitzender der
Ortsgruppe Stuttgart des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.
Nach der Machtübernahme geriet er als Jude und
Sozialdemokrat ins Visier der Nazis. Im April 1933
entließen ihn die neuen Machthaber aus dem Justizdienst. Er wurde verhaftet und einige Monate im
Konzentrationslager Heuberg inhaftiert. 1936 emigrierte Bauer nach Dänemark. Nach der Besetzung
Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht konnte
er sich im Oktober 1943 der bevorstehenden Deportation in ein Vernichtungslager durch die Flucht
nach Schweden entziehen. Dort schloss er sich
einer sozialdemokratischen Emigrantengruppe an
und gründete gemeinsam mit Willy Brandt die Zeitschrift „Sozialistische Tribüne“. Bereits in Schweden
begann Fritz Bauer sich mit den Verbrechen der
Nazis intensiver auseinanderzusetzen. Mit seinem
Buch „Die Kriegsverbrecher vor Gericht" forderte er,
dass die NS-Verbrechen nicht
ungesühnt bleiben dürften,
sondern sich die Täter vor
Gericht verantworten müssten.
Fritz Bauer machte sich die
Rückkehr aus dem Exil nach
Deutschland nicht leicht. Doch
erkannte er, dass nach dem
Ende des NS-Regimes der Aufbau einer neuen, rechtsstaatlichen Justiz in Deutschland
eine grundlegende Notwendigkeit war. Diesem Neubeginn
fühlte er sich als Emigrant verpflichtet.
1
Fritz Bauer mit seiner drei Jahre
jüngeren Schwester Margot in der Zeit
des Ersten Weltkriegs.
2+3
Links: Fritz Bauer während seiner Studienzeit in Heidelberg.
Bauer hatte 1927 bei dem Rechtswissenschaftler Karl Geiler
promoviert, der 1945 von der US-Militärregierung zum
Ministerpräsident von „Groß-Hessen“ eingesetzt wurde.
Rechts: Fritz Bauer 1954.
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38 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 14
Die Eingliederung des juristisch gebildeten Rückkehrers gestaltete sich schwierig.
1949 wurde Bauer zunächst in Braunschweig Landgerichtsdirektor. Schließlich
fand er dort als Generalstaatsanwalt eine ihm angemessene Position. Gerade in
dieser Stellung konnte er einen ersten bedeutenden Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus setzen. Fortan ging es Fritz Bauer
vor allem darum klarzustellen, dass der NS-Staat kein Rechtsstaat, sondern ein verbrecherischer „Unrechtsstaat“ war.
Otto Ernst Remer (1912-1997) war
maßgeblich an der Niederschlagung
des Aufstandes des 20. Juli 1944 in
Berlin beteiligt gewesen. Noch nach
dem Krieg diffamierte er die Widerstandsbewegung öffentlich und war
deswegen wegen „übler Nachrede“
angeklagt worden. Fritz Bauer verteidigte vor Gericht das Recht auf
Widerstand gegen den Nationalsozialismus erfolgreich.
Mit dem Urteil gegen Remer hatte ein
deutsches Gericht erstmals klargestellt, dass die Widerstandskämpfer
keinen Landesverrat begangen hatten.
Damit waren sie posthum rehabilitiert.
4
1956 holte Ministerpräsident Georg August Zinn den charismatischen Juristen nach
Hessen. Als Generalstaatsanwalt war Fritz Bauer nun der höchstrangige öffentliche
Ankläger in Hessen. Aus juristischen, aber auch aus politischen Erwägungen
bemühte er sich um eine Zentralisierung von NS-Verfahren in Frankfurt. Auf seine
Initiative erklärte der Bundesgerichtshof 1959 das Landgericht Frankfurt für
zuständig für die Untersuchung und Entscheidung gegen Funktionsträger des
KZ Auschwitz. Jetzt war er maßgeblich für die Anklageerhebung im AuschwitzProzess verantwortlich, dem wohl bedeutendsten Strafprozess der deutschen
Nachkriegsgeschichte. In der „Strafsache gegen Mulka u.a.“ erarbeitete ein Team
junger, von der NS-Vergangenheit unbelasteter Staatsanwälte eine Anklage gegen
insgesamt 22 Beschuldigte.
Am Ende war Bauer allerdings vom Urteil enttäuscht, da die Angeklagten nur zu
vergleichsweise wenigen Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden
waren. Diese milden Strafen, so meinte Bauer, kämen mitunter einer Verhöhnung
der Opfer recht nahe. Die Bedeutung des Verfahrens lag aber insbesondere darin,
dass es überhaupt stattgefunden hatte. Auch wurde durch umfangreiche Sachverständigengutachten der historische und politische Hintergrund der NS-Verbrechen
gegenüber den Juden erstmals umfassend aufgehellt.
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Tafel 15 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 39
Fritz Bauer hatte die Absicht, noch weitere NS-Verbrechen vor Gericht zu verfolgen.
In einem weiteren Prozess sollten die juristischen Schreibtischtäter der „Euthanasie“ zur Rechenschaft gezogen werden. Bauers plötzlicher Tod vereitelte dieses
Vorhaben; der Krankenmord an tausenden Unschuldiger blieb ungesühnt. In der
Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1968 starb Fritz Bauer in seiner Wohnung in
Frankfurt am Main. Am Ende seines Lebens war er erschöpft von dem aufreibenden
Kampf um Gerechtigkeit in seinem Amt und enttäuscht von Niederlagen, die er hatte
erfahren müssen. Er war verbittert von der geringen öffentlichen und politischen
Resonanz auf seine Bemühungen um den Rechtsstaat in der Gesellschaft. Die
Widerstände, die ihm bei der Verfolgung von NS-Verbrechen entgegenschlugen,
veranlassten ihn zu der Äußerung: „Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich
im feindlichen Ausland.“
Fritz Bauer am
Schreibtisch in seinem
Dienstzimmer bei der
Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am
Main, um 1965.
1
Fritz Bauer setzte
sich auch für Reformen im Strafrecht und
Strafvollzugsrecht
ein. Er war ein
bedeutender Vorkämpfer für einen humanen, auf Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug.
Ein Jahr nach seinem
Tode bekam ihm zu
Ehren die JVA Darmstadt den Namen
„Fritz-Bauer-Haus“.
3
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40 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 15
2
Die Nachricht vom Tode Fritz Bauers, erschienen am 2. Juli 1968 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
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| 41
II.
Judenverfolgung und Völkermord die justizielle Aufarbeitung in Hessen
1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939
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42 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 16
Antisemitismus und Rassismus
Rassismus und Antisemitismus waren seit der Gründung der NSDAP in den 1920er
Jahren zentrale Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie. Der Antisemitismus selbst war allerdings keineswegs erst im 20. Jahrhundert entstanden. Die
Chroniken der jüdischen Gemeinden im Mittelalter geben Zeugnis vom Hass der
damaligen christlichen Umwelt gegenüber den Juden. Was sich in der Zeit der
Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen an Emanzipation der jüdischen
Bevölkerung auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens entwickelt hatte,
wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch pseudowissenschaftliche
Rasselehren wieder in Frage gestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren weite
Schichten des deutschen Volkes bereit, gehässigen antijüdischen Parolen zu
folgen. „Die Juden“ wurden als Urheber des verlorenen Krieges und des wirtschaftlichen Niedergangs während der Weimarer Republik angesehen. Sie galten nun als
„die Feinde der Nation“.
Nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten wurde der Antisemitismus zur Staatsdoktrin des „Dritten Reiches“ erhoben. Sofort begann der NS-Staat
damit, die Juden aus der Gesellschaft zu verdrängen. Was Hitler 1924 in seiner
ideologischen Programmschrift „Mein Kampf“ angekündigt hatte, wurde jetzt mit
brutalen Methoden gegen „das Judentum“ von Staats wegen umgesetzt.
2
Ohnmächtig mussten die Inhaber des jüdischen Herrenbekleidungsgeschäfts Herrmanns & Froitzheim in
Frankfurt am Main mit ansehen, wie am 1. April 1933
hasserfüllte SA-Männer die großen Schaufensterscheiben ihres Geschäftslokals auf der Zeil 93 mit
antisemitischen Parolen beschmierten. Zum ersten
Mal wurden die jüdischen Bürger mit einer aggressiven Stimmung in der Bevölkerung konfrontiert, wie
sie dies bisher noch nicht erlebt hatten.
Der Leidensweg der deutschen Juden
begann mit Ausgrenzung und Verfolgung. Schon in den ersten Monaten
nach der „Machtergreifung“ erfolgten
kleinere Aktionen gegen Privatpersonen und Geschäfte. Am 1. April 1933
wurden jüdische Arztpraxen, Rechtsanwaltskanzleien und Geschäfte
wegen angeblicher Gräuelmeldungen
im Ausland boykottiert. Zu Berufsverboten und ersten Entlassungen aus
dem Staatsdienst kam es noch im selben Monat. Die Nürnberger Gesetze
von 1935 machten die Juden zu Bürgern zweiter Klasse. Die Reichspogromnacht im November 1938 zeigte
deutlich, dass es für die jüdischen
Mitbürger auf Dauer keinen Platz
mehr in Deutschland gab.
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Tafel 16 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 43
1
Unter dem Titel „Der Stürmer“ gründete der radikale Antisemit und überzeugte Nationalsozialist Julius Streicher 1923 diese Wochenzeitung. Er propagierte mit seiner antisemitischen Hetzschrift einen extrem vulgären, pornografisch gefärbten Judenhass,1938
mit einer Auflage von fast einer halben Million Exemplaren. Woche für Woche schärfte
„Der Stürmer“ seinen Lesern ein, die Juden seien „das Unglück“ Deutschlands und müssten
daher eliminiert werden.
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44 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 16/17
Weitere Entrechtung und Verfolgung mussten diejenigen erleiden, die nicht ins
Ausland emigrieren konnten. Ghettoisierung, Deportation und Ermordung in den
Vernichtungslagern folgten. Schließlich kam es während des Zweiten Weltkrieges
zu einem systematischen, in der Weltgeschichte beispiellosen Völkermord an der
jüdischen Bevölkerung in ganz Europa.
In der „Hessischen Volkswacht“ vom
4. April 1933, der Zeitung der
NSDAP im Gau Kurhessen, wurde über
eine Aktion von SA und SS in Kassel
während des Boykotts jüdischer
Geschäfte am 1. April berichtet,
die der massiven Einschüchterung
von potentiellen Kunden dienen
sollte. Auf dem Opernplatz war
durch eine Stacheldrahtumzäunung
symbolisch ein Konzentrationslager
errichtet worden,in dem ein Esel
gefangen gehalten wurde. Dazu wurde
auf einem Schild erläutert:
„Konzentrationslager für widerspenstige Staatsbürger, die ihre
Einkäufe bei Juden tätigen.“
3
Völkische Ideologie
Neben dem Antisemitismus gehörte die völkische Ideologie zur Staatsdoktrin der
NS-Zeit. Die völkische Bewegung hatte ihre Anfänge am Ende des 19. Jahrhunderts
genommen. Sie bestand aus deutschnationalen und antisemitisch-rassistischen
Gruppen, Vereinen und Parteien, die großen Einfluss auf die Öffentlichkeit hatten.
Fundament aller Ideen war die Rassenideologie, nach der das Germanentum und insbesondere die arische Rasse auserwählt und allen anderen „Rassen“ überlegen sei.
Die Nationalsozialisten vereinnahmten das Wort „völkisch“ und bedienten sich
vieler Elemente der völkischen Weltanschauung. Sie verknüpften rassistische
und antisemitische Gedanken zur Ideologie der germanischen Herrenrasse
und machten dieses Gedankengut zur Staatsideologie.
Ziel war es, die „Herrschaft der arisch-germanischen Rasse“ zu erhalten und schließlich einen „germanischen Staat deutscher Nation“ zu errichten, der nur von einem
Geschlecht von „Herrenmenschen“ bevölkert werden sollte. Als Hort alles vermeintlich Richtigen, Wahren, Guten sollte das deutsche Volk von allem „Undeutschen“
„gereinigt“ werden. Nur wer der „arischen Rasse“ angehörte, konnte auch zum
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Tafel 17 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 45
Unter dem Titel
„Fruchtbarkeit und
Rasse“ sollte mit diesem Plakat das massive
Anwachsen der slawischen Bevölkerung in
den europäischen Staaten bis zum Jahr 1960
im Vergleich zu den
germanischen und romanischen Bevölkerungsanteilen dargestellt werden. Ziel war es,
Furcht vor den nichtgermanischen Völkern
zu erzeugen und die
Notwendigkeit der
Stärkung der Fruchtbarkeit in der eigenen
Bevölkerung hervorzuheben.
1
deutschen Volk gehören. Damit wurden insbesondere Juden, „Rassenmischlinge“ ,
nationale Minderheiten sowie behinderte Mitbürger für minderwertig erklärt und aus
dem deutschen Volk ausgeschlossen.
Als Mittel hierfür dienten u. a. die nationalsozialistische „Rassenhygiene“, die
Zwangssterilisierung und Ermordung als „minderwertig“ angesehener Kranker
und Behinderter. Von völkischem Denken geleitet waren die Entrechtung, die
Verfolgung und Ermordung von Juden, Sinti und Roma sowie die Pläne zur Neugestaltung der eroberten polnischen und russischen Territorien, wobei die dortige
Bevölkerung nur als Sklaven und Zwangsarbeiter dienen sollte. Den Nationalsozialisten gelang es, ihre völkische Weltsicht mental in großen Teilen der Bevölkerung
zu verankern. In dieser „Volksgemeinschaft“ sollten alle sozialen Widersprüche
ausgelöscht sein.
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46 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 17
Titelblatt der vom SS-Hauptamt beim Reichsführer-SS
Heinrich Himmler ab 1942 in
zahlreichen Auflagen herausgegebenen Hetzschrift „Der
Untermensch“. In dieser wurden überwiegend entstellende
rassistische und antisemitische Fotos von vermeintlich rassisch minderwertigen
„Untermenschen“ und ihren
angeblichen Untaten gezeigt.
Der Text beginnt mit einer
Behauptung Himmlers aus dem
Jahr 1935: „Solange es
Menschen auf der Erde gibt,
wird der Kampf zwischen
Menschen und Untermenschen
geschichtliche Regel sein.“
2
Die Plastik „Faustkämpfer“
des Bildhauers Joseph Thorak
(1889-1952) wurde aus Anlass
der Olympischen Sommerspiele
1936 in Berlin geschaffen.
Thorak galt als populärster
Bildhauer im Dritten Reich,
weil seine künstlerische
Handschrift den offiziellen
NS-Vorstellungen zur Kunst
entsprach. Seine Skulpturen
sind nur in ihrem damaligen
propagandistischen Funktionsund Wirkungszusammenhang zu
beurteilen; sie versinnbildlichen die „Überlegenheit
des Herrenmenschen“.
3
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Tafel 18 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 47
SA-Aktionen gegen Juden 1933
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stand zunächst die „Vernichtung
der politischen Gegner“ im Vordergrund. Es galt, die neu gewonnene politische
Macht im Deutschen Reich zu festigen. Erklärter Wille der Nationalsozialisten war
es, in „Abwendung von Weimar“ die Demokratie zu beseitigen und eine nationalsozialistische Diktatur zu errichten. Die ersten großen Verfolgungsmaßnahmen richteten sich deshalb zunächst gegen die als „Reichsfeinde“ geschmähten Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Insbesondere nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 kam es aufgrund der „Verordnung zum Schutz von Volk
und Staat“ zu deren Verhaftungen ohne richterlichen Haftbefehl. Damals entstanden
in ganz Deutschland erste „wilde“ Konzentrationslager, in denen die Festgenommenen zum Teil schwer misshandelt wurden. Nur wenige erkannten, dass die ersten
Übergriffe schnell eine völlig neue Qualität annahmen.
2
Bereits 1933 wurden jüdische und nichtjüdische Bürger wegen angeblicher
Rassenschande verfolgt und in der Öffentlichkeit erniedrigt. In Hamburg
wurden ein jüdischer Mann und eine nichtjüdische Frau von SA-Männern einer
großen Menschenmenge „präsentiert“.
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48 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 18
Die neue Regierung legalisierte nicht nur Verletzungen der Menschenwürde in
jeder Form bis hin zum Mord, sondern förderte sie auch ausdrücklich. Neben der
„Ausschaltung“ der Hauptgegner der NSDAP kam es auch zu ersten heftigen
Ausschreitungen gegen Juden. Gegen Rechtsanwälte, die sich als Strafverteidiger
für Sozialdemokraten und Kommunisten eingesetzt und sie in gerichtlichen
Verfahren vertreten hatten, wurden Morddrohungen ausgesprochen. Hinzu
kamen brutale Überfälle auf jüdische Mitbürger – oft mit tödlichem Ausgang.
Am 22. April 1933 wurde in Wiesbaden der Kaufmann Max Kassel von einem
SA-Kommando in seiner Wohnung mit drei Schüssen von hinten erschossen. Die
öffentliche Bloßstellung jüdischer Mitbürger, die wegen ihrer näheren Beziehungen
zu nichtjüdischen Partnern als „Rasseschänder“ gebrandmarkt und dem Spott der
Massen ausgesetzt wurden, begann im gleichen Zeitraum. Am 19. August 1933 fand
in Marburg die öffentliche Anprangerung eines jüdischen Studenten durch die SA
statt. Viele jüdische Mitbürger im gesamten Deutschen Reich waren ähnlichen
Demütigungen ausgesetzt.
3
Am 19. August 1933 inszenierte die SA einen Prangerzug in Marburg. Ein
jüdischer Student wurde gedemütigt, indem er mit einem Schild „Ich habe ein
Christenmädchen geschändet!“ durch die Straßen geführt wurde. Um die Aufmerksamkeit der Anwohner zu wecken, begleitete eine SA-Kapelle den Zug.
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Tafel 18 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 49
1
Reichsweit, so auch in Friedberg, bildeten sich aus den Ortsgruppen und Organisationsgliederungen der NSDAP „Aktionskomitees“ zur Organisation und Durchführung des
Boykotts gegen Juden am 1. April 1933. Diese Nationalsozialisten, überwiegend Mitglieder der SA und SS, betrieben bereits im Vorfeld die „Boykott-Propaganda“ und
erzwangen vor Ort die möglichst vollständige Einhaltung des Boykotts von Geschäften
jüdischer Mitbürger.
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50 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 19
Die justizielle Aufarbeitung
Im Zusammenhang mit den SA-Aktionen gegen Juden nach der Machtübernahme
steht ein brutaler Überfall mit tödlichem Ausgang am 22. April 1933 in Wiesbaden.
Opfer war der 59jährige Milchhändler Max Kassel, der zugleich auch das Amt des
SPD-Kassierers ausübte.
Auf Befehl ihres Standartenführers, der die Festnahme des jüdischen Kaufmanns
angeordnet hatte, drangen mehrere SA-Männer gewaltsam in Kassels Wohnung ein.
Dort schossen sie auf den am geöffneten Fenster stehenden und laut um
Hilfe rufenden Mann von hinten und
Die Täter, die für
töteten ihn mit drei Schüssen.
den Mord an Max KasAnschließend flohen sie.
sel verantwortlich
waren, wurden bald
bekannt. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden nahm die Ermittlungen auf. Das Foto
aus der Ermittlungsakte zeigt die Tür
der Wohnung von Max
Kassel, durch die er
mit einem ersten
Schuss verletzt
wurde.
Die Mörder konnten festgestellt werden, wurden jedoch zunächst nicht
belangt. Erst nach dem Ende des
„Dritten Reiches“ wurden die Täter
vor Gericht gestellt. In einem ersten
Verfahren vor dem Landgericht Wiesbaden wurde u. a. der Hauptangeklagte Ernst Franzreb wegen Mordes
an Kassel zu einer lebenslänglichen
Zuchthausstrafe verurteilt. Auf seine
Revision hin hob das Oberlandesgericht das Urteil auf und verwies die
Sache zur erneuten Verhandlung und
Verurteilung an eine andere Kammer
des Landgerichts zurück.
1
Der Amtsgerichtsrat
Dr. Paul Koch war 1933
Untersuchungsrichter in
der Mordsache Max Kassel.
Partei- und SA-Stellen
wollten das Verbrechen an
Kassel vertuschen. Koch
versuchte dennoch, die
Hauptverbrecher Franzreb
und Lerch, die sich in
einer SA-Kaserne in
München verborgen hatten,
zu verhaften und nach
Wiesbaden zu bringen.
Gegen den Widerstand von
Polizei und SA gelang es
ihm, die Täter in Haft
zu nehmen. Trotz seiner
Bemühungen musste er
schließlich jedoch die
Haftbefehle aufheben,
so dass die Verbrecher
zunächst der Bestrafung
entgingen.
2
Das Schwurgericht bei dem Landgericht Wiesbaden verurteilte aufgrund
einer neuen Hauptverhandlung am
28. Juni 1949 den Hauptangeklagten
Franzreb wegen Freiheitsberaubung
mit Todesfolge und Nötigung zu
10 Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Die beiden Mitangeklagten
Ernst Krause und Jean Haas wurden
wegen der gleichen Delikte zu
Zuchthausstrafen von fünf bzw.
vier Jahren verurteilt.
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Tafel 19/20 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 51
Da in der Verhandlung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass
Franzreb oder Haas die tödlichen Schüsse abgegeben hatten, wurden beide von
dem Vorwurf des Mordes freigesprochen.
Das „Stolperstein“-Projekt ist
eine Idee des Künstlers Gunter
Demnig und soll an die Vertreibung und Ermordung von Menschen
unter der Nazi-Herrschaft erinnern. Die von dem Künstler
angefertigten Stolpersteine
werden vor dem Haus verlegt,
in dem die Menschen, an die sie
erinnern sollen, ihre letzte
freiwillige Wohnung hatten. In
Wiesbaden wurden bisher in der
Innenstadt und in den Vororten
vor über 300 Häusern mehr als
500 Stolpersteine verlegt,
darunter auch vor dem Haus
Webergasse 46 für Max Kassel.
3
Pogromnacht 1938 in Marburg
Am 7. November 1938 verübte Herschel Grynszpan, dessen Familie unter den vom
Deutschen Reich nach Polen abgeschobenen Jüdinnen und Juden war, in Paris ein
Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Diesen Anschlag nahmen
Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels zum Anlass, einen reichsweiten
Pogrom zu initiieren. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 steckten SA- und
SS- Männer in Zivil im ganzen Deutschen Reich hunderte Synagogen in Brand und
verwüsteten tausende Wohnungen und Geschäfte. Dabei verloren etwa einhundert
Juden ihr Leben. Für die Schäden der Pogromnacht mussten die Geschädigten
selbst aufkommen. Zusätzlich wurde der jüdischen Bevölkerung eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.
Unmittelbar nach dem Novemberpogrom wurden etwa 30.000 jüdische Männer von
Polizei und Gestapo mit Hilfe vorbereiteter Listen verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Wie ein Flächenbrand
breiteten sich die Terrorakte in Hessen aus. Auch die Synagoge in Marburg blieb
nicht verschont. Nach einem abendlichen Appell am 9. November blieben Mitglieder
verschiedener Marburger SA-Stürme im Marburger Fronhof zurück.
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52 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 20
Kurz nach Mitternacht erschien dort der SA-Standartenführer Kurt Stollberg und
befahl, ein SA-Kommando zur Zerstörung der Synagoge zusammenzustellen. Als
ein halbes Dutzend SA-Männer, die sich zuvor in „Räuberzivil“ umgezogen hatten,
in die Synagoge einzudringen versuchten, stellen sie überrascht fest, dass es im
Innenraum bereits brannte.
Die Brandstifter hatten sich nach Aussage mehrerer Zeugen zeitweise vor dem
Fronhof aufgehalten und waren von ihnen für SS-Männer oder Gestapobeamte
gehalten worden. Dieser erste Brand hatte zunächst jedoch nur wenig Wirkung.
Erst als die Marburger SA-Leute Fußbodenöl aus der Universität besorgt hatten,
ging die Synagoge gegen Morgen endgültig in Flammen auf. Die Synagoge brannte
völlig nieder. Die Feuerwehr kam erst gegen Morgen und löschte im Laufe des
Vormittags noch bestehende Brandnester. Bereits wenige Tage nach dem Brand
wurden die Reste des Gebäudes abgebrochen, um diese Spur jüdischen Lebens
in Marburg zu tilgen.
Am 15. September 1897 konnte die
Marburger jüdische Gemeinde in der
Universitätsstraße ihre neue Synagoge einweihen. Sie war im spätromanischen Stil mit byzantinischen
Anklängen aus rotem Sandsteinmaterial gebaut worden und bot Platz für
mehr als 400 Gläubige.
In der Nacht zum 9. November 1938
wurde die Synagoge durch Brandstiftung geschändet und vernichtet. Nur
die Thorarollen konnten gerettet
werden. Die soliden Mauern, die das
Feuer überstanden hatten, wurden
gesprengt, die Trümmer abtransportiert. Die Abbruchkosten musste die
jüdische Gemeinde bezahlen. Direkt
im Anschluss an die Pogromnacht wurden viele jüdische Männer in das KZ
Buchenwald abtransportiert.
Das Synagogengrundstück erwarb die
Philipps-Universität für 11.700 RM.
Nach 1945 kam das Grundstück nach
Abschluss des Restitutionsverfahrens
in den Besitz des Landes Hessen.
1
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Tafel 20 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 53
2
3
4
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54 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 21
Die justizielle Aufarbeitung
Bereits nach der Wiedereinrichtung der Justizbehörden in Hessen im Sommer 1945
begann die deutsche Justiz mit der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen.
Dabei stand insbesondere die Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht im Mittelpunkt der Strafverfahren. Vor dem Landgericht Marburg fanden
damals zwei derartige Verfahren statt. Dieses Strafverfahren steht zugleich beispielhaft für zahlreiche Prozesse, die die hessische Justiz bis zum Beginn der 1950er
Jahre gegen NS-Verbrecher geführt hat. Durch Urteil vom 21. November 1947 wurden zunächst drei Angeklagte als Mittäter bei der vorsätzlichen Inbrandsetzung
eines zum Gottesdienst bestimmten Gebäudes, begangen in Tateinheit mit Landfriedensbruch und schwerem Hausfriedensbruch, zu Strafen zwischen drei Jahren
Zuchthaus und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen.
Hans Adolph Straube war
Vertreter der Anklagebehörde im Verfahren
gegen Kurt Stollberg
u.a. Als Staatsanwalt
gehörte er dem Landgericht Marburg seit
April 1948 an. 1953 zum
Ersten Staatsanwalt
ernannt, übte er in
dieser Funktion seinen
Dienst als öffentlicher
Ankläger bis zu seiner
Pensionierung im Jahr
1965 aus.
Im Dezember 1949 wurden erneut
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
wegen der Brandstiftung und Zerstörung der Synagoge eingeleitet. In
diesem zweiten Verfahren stand
SA-Standartenführer Kurt Stollberg
vor Gericht, der sich während des
ersten Verfahrens noch in russischer
Kriegsgefangenschaft befunden
hatte.
Er wurde am 11. August 1950 wegen
Anstiftung zum schweren Landfriedensbruch zu 1 Jahr und 6 Monaten
Gefängnis verurteilt. Sowohl der
Angeklagte als auch die Staatsan1
waltschaft legten gegen das Urteil
Revision ein; diese wurde vom Oberlandesgericht Frankfurt am 6. Juni 1951 verworfen. Das Urteil war also rechtskräftig.
Der Verurteilte hätte nun seine Haftstrafe antreten müssen.
Bereits am 31. August 1951 stellte er ein erstes Gnadengesuch, das vom Hessischen Minister der Justiz abgelehnt wurde. Seit dem 20. August 1952 befand er sich
in Haft in Butzbach. Sein zweites Gnadengesuch vom 20. November 1952 wurde
ebenfalls abgelehnt. Unter dem 3. Februar 1953 reichte er ein drittes Gnadengesuch
ein und beantragte die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. In der bizarren
Begründung zum 1. Gnadengesuch führte Stollbergs Anwalt aus, dass sein
Mandant bereits 1934 / 35 in Opposition zur NSDAP gestanden haben will. Dieser
Behauptung widersprach aber die Realität der Karriere Stollbergs in der SA und
sein Aufstieg zum Standartenführer.
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Tafel 21 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | 55
Durchaus charakteristisch für einen NS-Täter war Stollbergs fehlendes Unrechtsbewusstsein. Zur Tat selbst äußerte er sich mit keinem Wort; nicht ein Wort des
Bedauerns über die Zerstörung der Synagoge findet sich in den Gnadengesuchen.
2
Auszug aus dem 1. Gnadengesuch von Kurt Stollberg vom 31. August
1951.
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56 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939 | Tafel 21
2
Bemerkenswert ist die Darstellung, dass sich Stollberg bereits
1934/35 vom NS-System losgesagt haben will, obwohl er vier Jahre
später noch immer den Rang und die Funktion eines SA-Standartenführers (entsprechend etwa dem Rang eines Majors der Wehrmacht)
innehatte. Allein dieser hohe Rang in der NS-Hierarchie beweist,
dass sich Stollberg noch immer mit der NS-Ideologie identifiziert
hatte und keineswegs etwa in Gegnerschaft zur NSDAP stand.
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II.
Judenverfolgung und Völkermord die justizielle Aufarbeitung in Hessen
2. Deportation und Ghettoisierung
mit Beginn des 2. Weltkrieges
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Einleitung
Die Olympischen Spiele von 1936, mit denen sich Deutschland nach außen als weltoffenes Land präsentieren wollte, verschafften der jüdischen Minderheit eine kurze
Atempause von der immer restriktiver werdenden NS-Judenpolitik.
Nach dieser Phase relativer Mäßigung verschärfte der Nationalsozialismus jedoch
seine Gangart wieder. In seinen öffentlichen Auftritten bis Kriegsbeginn kündigte
Hitler an, dass er zu keinerlei Zugeständnissen in der „Judenfrage“ mehr bereit sei.
Der Pogrom vom November 1938, beschönigend auch „Reichskristallnacht“ genannt, markierte vor dem Krieg den vorläufigen Höhepunkt dieser staatlich sanktionierten antisemitischen Gewalt. Entrechtung und soziale Ausgrenzung zwangen
viele Juden in die Emigration.
Unter staatlichem Druck, jeglicher Perspektive in ihrer Heimat beraubt, entschieden
sich viele Deutsche jüdischen Glaubens notgedrungen zur Auswanderung. Zuvor
wurden sie von der Finanzverwaltung durch Erhebung der „Reichsfluchtsteuer“
förmlich ausgeplündert.
Mit dem Überfall Deutschlands auf das benachbarte Polen setzte die unheilvolle
Radikalisierung und Beschleunigung der Judenverfolgung ein. Zum einen erhöhte
sich die Anzahl der Juden im deutschen Herrschaftsraum erheblich; allein im
besiegten Polen lebten über 2 Millionen Juden. Zum anderen wurden mit dem
Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs die Grenzen geschlossen; die Planungen für eine erzwungene Auswanderung der Juden waren damit hinfällig. Im
Kriegszustand, den früheren Rücksichten gegenüber dem Ausland enthoben, ließ
die NS-Führung jegliche Zurückhaltung gegenüber den Juden fallen.
Fotorealistische Darstellung der 3. Deportation
Wiesbadener Juden am 1. September 1942 als Teil des
Deportationsmahnmals Schlachthoframpe
in Wiesbaden, geschaffen vom
Sprühkünstler Yorkar7.
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Bereits 1939 wüteten in Polen die ersten SS-Einsatzgruppen, um „Juden, Polacken
und Gesindel“ den Garaus zu machen, so wie Hitler es verlangt hatte. Mit dem Ziel,
die Juden aus dem „Altreich“ sowie den eroberten und zu „germanisierenden“
Gebieten zu vertreiben, begannen im Herbst 1939 die ersten Deportationen und die
Bildung von Ghettos. Die Zeit vom Kriegsbeginn im September 1939 bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 lässt sich als Phase des Übergangs von der
Judenverfolgung zur systematischen Judenvernichtung begreifen.
Mord und Gewalt gegen Juden waren seit 1939 allgegenwärtig. Doch bei der „Endlösung der Judenfrage“ war seit 1941 nicht mehr die Vertreibung das Ziel, sondern
die möglichst restlose physische Beseitigung dieser Bevölkerungsgruppe.
Im Dezember 1941 begann die bürokratisch-systematische Ermordung der europäischen Juden in Kulmhof / Chełmno, nahe der polnischen Stadt Łódź. In diesem
ersten Mordzentrum wurden Juden in abgedichteten Lastwagen vergast.
Ghettoisierung
Ab 1939, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, begannen die Nationalsozialisten mit
der Errichtung von Ghettos in Osteuropa. Diese zumeist umzäunten oder sogar ummauerten „jüdischen Wohnbezirke“, so der NS-Jargon, dienten der zwangsweisen
„Konzentrierung“ der Juden in größeren Städten mit Eisenbahnanschluss. Die
Ghettos waren die Zwischenstation zur Vertreibung der Juden, dann ab 1941 zu
ihrer systematischen Ermordung. Dort waren die
Reinhard Heydrich (1904-1942) hatte
Juden schnell greifbar
nach seinem Beitritt zur NSDAP im
und wurden noch vor ihrer
Juni 1931 als enger Mitarbeiter von
Deportation durch Hunger
Heinrich Himmler rasch Karriere in
der SS gemacht. Als Chef des mächtiund Arbeit dezimiert. Der
gen Reichssicherheitshauptamtes trug
örtliche Schwerpunkt der
er seit 1939 an zentraler Stelle
Ghettos lag außerhalb des
Verantwortung für den Übergang zur
„Endlösung der Judenfrage“. 1941
Deutschen Reiches im
wurde er in der unter deutscher
„Generalgouvernement für
Gebietshoheit stehenden „Restdie besetzten polnischen
Tschechei“ zum „stellvertretenden
Reichprotektor in Böhmen und Mähren“
Gebiete“. Ab 1941 weitete
ernannt. Am 27. Mai 1942 verübten
der NS-Staat sein grausatschechische Widerstandskämpfer
mes Schreckensregiment
ein Attentat auf Heydrich, an dessen
Folgen der ebenso skrupellose wie
dann auf die eroberten
auch fanatische Nationalsozialist
Gebiete in der Sowjetam 4. Juni 1942 starb.
1
union, dem Baltikum und
Ostpolen, aus.
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Die erzwungene Umquartierung in ein Ghetto bedeutete für die betroffenen Menschen eine dramatische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Bei der Ghettobildung vertrieben die Besatzer die Juden vielfach aus ihren Wohnungen und
pferchten sie, ihres Eigentums beraubt, in enge Viertel zusammen. Hinzu kamen
noch jene Juden, die aus dem „Altreich“ sowie den besetzten Ländern
In den Ghettos waren
West- und Nordeuropas in die Ghetdie Insassen unertos Osteuropas deportiert wurden.
träglichen Lebensbedingungen ausgesetzt. Vor allem die
jüngsten und ältesten Menschen starben
dort an Krankheiten,
Hunger und Entkräftung oder wurden für
die Deportationen in
die Vernichtungslager ausgewählt. Hier
ein Bild von einer
Leichensammelstelle
im Warschauer Ghetto
mit dem Leichnam
eines verstorbenen
Babys, aufgenommen
zu NS-Propagandazwecken, Mai 1941.
In der drangvollen Enge der Ghettos
vegetierten die Bewohner oftmals
jahrelang vor sich hin, existenziell
bedroht durch Hunger, Krankheiten,
Seuchen und Massaker der deutschen Besatzer. Am Ende der Einquartierung in ein Ghetto stand seit
1942 dessen gewaltsame Auflösung
mit der Deportation der Insassen in
ein Vernichtungslager.
2
Insassen des
Warschauer
Ghettos,
aufgenommen
zu NSPropagandazwecken im
Mai 1941.
Den sicheren Tod vor Augen, begannen die Juden seit 1941 in verschiedenen Ghettos bewaffneten
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Widerstand zu leisten. Angesichts fehlender Waffen und Kampferfahrung standen
sie im verzweifelten Kampf gegen ihre Unterdrücker auf verlorenem Posten. Doch
sandten diese heroischen Aufstände das Signal nach außen, dass sich die verfolgten Juden nicht mehr länger ohne Widerstand wie „Lämmer zur Schlachtbank“
treiben lassen sollten. Nach und nach wurden die Ghettos bis in den Herbst 1943
aufgelöst. Ihre Insassen wurden in der Mehrheit ermordet und in einer kleinen
Minderheit in die Zwangsarbeit verschleppt.
Ein im Warschauer
Ghetto auf der
Straße zusammengebrochener alter
Mann wurde zu NSPropagandazwecken
fotografiert, um
das antisemitische
Stereotyp vom „zerlumpten Betteljuden“ zu bestätigen.
4
3
In einer ausweglosen
Lage leisteten die
Insassen des Warschauer Ghettos
bewaffneten Widerstand gegen ihre
Deportation in das
Vernichtungslager
Treblinka. SS-Einheiten unter der
Führung von SS-Gruppenführer Jürgen
Stroop schlugen den
Aufstand im April
und Mai 1943 brutal
nieder und richteten
ein Massaker unter
den Aufständischen
an. Auf der Abbildung ergeben sich am
Boden liegende Juden
der Waffen-SS.
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Die Räumung des Ghettos in Kielce
Als eines von insgesamt fast 1.200 Ghettos ließen die deutschen Besatzungsbehörden im Frühjahr 1941 in der polnischen Stadt Kielce einen „jüdischen Wohnbezirk“ errichten. Kielce lag verkehrsgünstig an der Bahnstrecke Warschau-Krakau
im Distrikt Radom des Generalgouvernements; von den rund 60.000 Einwohnern
waren etwa 20.000 Juden. Gemeinsam mit rund 1.000 Juden aus Wien, die bereits
im Februar 1941 nach Kielce deportiert worden waren, wurden die dort ansässigen
Juden im nordwestlichen Teil der Stadt „konzentriert“, so der NS-Jargon, also auf
engstem Raum zusammengepfercht.
Im Zuge der geplanten Ermordung der Juden
im Vernichtungslager Treblinka wurde das
Ghetto im August 1942 geräumt. Diese Ghettoräumung lief nach bekanntem Muster ab:
Abschnittsweise umstellte die deutsche
Polizei an drei Tagen – dem 20., 22. und 24.
August – frühmorgens das Ghetto. Die
Juden wurden geweckt und mussten sich
mit ihrem Handgepäck an einem Sammelpunkt einfinden. Dort fand eine Selektion
statt, um arbeitsfähige Juden zur Zwangsarbeit in örtlichen Betrieben zu rekrutieren.
Wer versuchte, sich der Deportation durch
Flucht oder Verstecken zu entziehen, wurde
1
an Ort und Stelle erschossen. Dasselbe
Juden bei ihrem Zwangsumzug in das
Ghetto von Kielce, 1941.
Schicksal traf zahlreiche alte und kranke
Menschen.
3
Die meisten der jüdischen Gefangenen aus dem Ghetto in Kielce, vor
allem Frauen, Kinder und alte Menschen, wurden zur Ermordung in das
Vernichtungslager Treblinka deportiert. Hier eine Momentaufnahme
von einer Sammelstelle vor dem Abtransport mit den Viehwaggons.
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In sommerlicher Hitze sperrte die Polizei jeweils 120 bis 130 Personen in Viehwaggons ein, und zunächst glaubten viele der Deportierten noch der offiziellen Verlautbarung, es handele sich um eine Umsiedlungsmaßnahme hin zu einem Arbeitseinsatz im Osten. Der Zug fuhr an jedem der drei Tage direkt in das Vernichtungslager Treblinka, wo insgesamt ca. 18.000 jüdische Menschen aus Kielce ermordet
wurden. Vorläufig verschont blieben rund 1.600 Juden, die in einem stark verkleinerten Ghetto inhaftiert wurden: zum einen jene, die zur Zwangsarbeit selektiert worden
waren; zum anderen jene, die in Arbeitskommandos die leer stehenden Wohnungen
ausräumen und die zurückgelassene Habe für die weitere Verwertung durch die
deutschen Besatzungsbehörden aufbereiten mussten. Das verkleinerte Ghetto wurde
im Mai 1943 aufgelöst. Kinder unter 14 Jahren erschossen die Besatzer direkt vor
Ort; die letzten Insassen wurden 1944 nach Auschwitz verschleppt, wo die Rote
Armee die wenigen Überlebenden am 27. Januar 1945 befreite.
2
Nach der „Aussiedlung“ fanden im geräumten Ghetto von Kielce umfangreiche „Aufräumungsarbeiten“ statt. Zurückgelassene Habe und Wertsachen der Ghettoinsassen wurden aus den Häusern entfernt und zu Sortier- und Sammelstellen gebracht. An den
wertvollen Gegenständen bereicherten sich SS- und Polizeiangehörige; der Rest
wurde an die polnische Bevölkerung versteigert.
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Die justizielle Aufarbeitung
Erste Vorermittlungen wegen der bei der „Umsiedlung“ der Juden in Kielce verübten Verbrechen nahm 1960 die kurz zuvor gegründete Zentralstelle in Ludwigsburg
auf. Bald fiel der Verdacht der Beteiligung an diesen Gewalttaten auf den in Bensheim lebenden Erich Wollschläger. Die zuständige Staatsanwaltschaft Darmstadt
leitete 1965 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn und vier andere Mitglieder der Besatzungspolizei ein.
Der Hauptbeschuldigte Erich Wollschläger, geb. 1909, war als Oberleutnant der
Schutzpolizei und stellvertretender Leiter des Schutzpolizeikommandos in Kielce
der höchstrangige der vier Beschuldigten. Wollschläger war 1932 in den Dienst der
Schutzpolizei eingetreten. Nach
seinem NSDAP-Beitritt im Mai
1933 machte er Karriere; 1941
wurde er schließlich zum Oberleutnant der Schutzpolizei
befördert und trat der SS bei.
Im selben Jahr wurde er als SSObersturmführer zum Kommando der Schutzpolizei in
Kielce versetzt. Die Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last,
mehr als 30 Juden selbst
erschossen oder deren Erschießung befohlen zu haben.
1
Erich Wollschläger,
der 1943 noch bis zum
SS-Hauptsturmführer
aufstieg, wurde nach
Kriegsende zunächst
von den Amerikanern in
Darmstadt interniert.
Trotz seiner NS-Vergangenheit und seiner
Einstufung als „Mitläufer“ gelang ihm
1954 nach Abschluss
der Entnazifizierung
die Wiederaufnahme in
den Polizeidienst. Bis
zu seiner Verhaftung
1965 lebte Wollschläger in Bensheim
als unbescholtener
Bürger. Hier eine Aufnahme um 1960.
2
Herbert Balhorn versuchte sich nach dem
Krieg durch Annahme
eines anderen Namens
der Strafverfolgung zu
entziehen. Zunächst
gelang ihm 1946 die
Übernahme in der Bremer Kriminalpolizei.
Wegen Misshandlung
politischer Gefangener
zu Beginn der NS-Zeit
musste er sich 1951
vor einem Hamburger
Schwurgericht verantworten. 1953 aus der
Haft entlassen, machte
er sich in Hamburg als
Kaufmann selbständig.
Hier eine Aufnahme um
1950.
Auch Herbert Balhorn, geb.
1910, hatte seine Polizeilaufbahn vor der NS-Zeit begonnen.
Als Kriminalpolizist bei der
Gestapo misshandelte der
überzeugte Nationalsozialist
1934 /35 zahlreiche politische
Gefangene. Im Polenfeldzug
wurde er zunächst bei der rücksichtslos geführten „Partisanenbekämpfung“ eingesetzt; dann
später in Kielce beim SSSicherheitsdienst, der die
Macht des NS-Regimes mit
brutalen Mitteln festigte. Nach
den staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungen soll Balhorn in
Kielce mindestens 86 Juden
erschossen haben.
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Karl Eßig, geb. 1908, war bereits 1928 der SA und 1929 der SS beigetreten. Der
Nationalsozialist war jahrelang arbeitslos, erhielt dann aber nach 1933 als „alter
Kämpfer“ eine Anstellung im NS-Unterdrückungssystem. Während des Krieges war
er in Kielce bei der Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung eingesetzt.
Eßig wurde beschuldigt, dort die Erhängung von Juden angeordnet und geleitet
zu haben.
Karl Martin Scheufele, geb. 1909, hatte sich als vormaliger Gewerkschaftsfunktionär
erst spät, im Oktober 1939, bei der Schutzpolizei beworben. 1941 wurde er nach
Kielce als Kraftfahrer bei der dortigen Schutzpolizei abgeordnet. Die Darmstädter
Staatsanwaltschaft bezichtigte ihn u. a., einen Juden erschossen zu haben.
3
4
Karl Eßig geriet zum
Ende des Krieges in russische Gefangenschaft,
konnte aber flüchten. In
Westdeutschland absolvierte er zunächst eine
Maurerlehre. 1951 fand
er eine Anstellung im
Verlagshaus Axel Springer. Erst im Kielce-Verfahren holte ihn seine
Vergangenheit wieder
ein. Hier eine Aufnahme
von Eßig um 1943 in der
Uniform eines SS-Hauptsturmführers.
Karl Martin Scheufele
konnte direkt nach
Kriegsende in Hamburg
seinen Polizeidienst
fortsetzen. Bis zu seiner Dienstenthebung im
September 1966 wurde er
bis zum Polizeimeister
befördert. Hier eine
Aufnahme von Scheufele
als Hauptwachtmeister
der Schutzpolizei von
1943.
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Die Opfer
Die Eroberung Polens durch die Wehrmacht binnen weniger Wochen brachte für die
dort lebenden Menschen gravierende Änderungen ihrer Lebensverhältnisse. Etwa
1,8 Millionen polnische Juden gerieten unter deutsche Herrschaft und waren nun
der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Rasch ließen die neuen Machthaber in der Kriegssituation taktische Rücksichten und Zugeständnisse fahren und
trieben die „Endlösung der Judenfrage“ vehement voran. Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung erfolgten wie im Zeitraffer.
Bereits 1939 wurden polnische Juden zur Zwangsarbeit gezwungen und der Kennzeichnungspflicht durch Tragen der weißen „Judenarmbinde“ unterworfen. Das
Betreten von bestimmten Straßen und Plätzen wurde ihnen untersagt.
Diese Radikalisierung der NS-Judenverfolgung
bekamen auch die in Kielce lebenden Juden
unmittelbar zu spüren. Direkt nach der Besetzung am 4. September 1939 kam es zu ersten
Übergriffen, Misshandlungen und Belästigungen. Jüdische Geschäfte, Handwerksbetriebe
und Unternehmen mussten schließen oder wurden „Treuhändern“ übergeben. Wer in Verdacht
geriet, Kommunist zu sein, wurde getötet oder
in ein KZ deportiert.
Noch im September 1939 konstituierte sich auch
in Kielce ein „Judenrat“ mit einem „Judenältesten“ als Vorsitzenden und einem ihm unterstellten jüdischen Ordnungsdienst von 150 Mann.
Diese Zwangskörperschaft hatte die Aufgabe,
die repressiven Maßnahmen der NS-Judenpolitik vor Ort umzusetzen.
1
Ein Aspekt der Judenverfolgung im eroberten Polen war die öffentliche, persönliche Erniedrigung und Schikanierung von
Juden durch die deutschen Besatzer.
Hier schneidet ein deutscher Polizist in
Kielce einem älteren Juden auf offener
Straße den Bart ab.
Nochmals drastisch verschärfte sich die
Situation der Juden in Kielce mit Errichtung
des Ghettos im März 1941. In der drangvollen
Enge des „jüdischen Wohnbezirks“ verelendeten die Menschen und vegetierten bei Essensrationen von 130 Gramm Brot pro Person für
zwei Tage dahin. Die gewaltsame Liquidation
des Ghettos im August 1943 kostete rund
1.200 unschuldige Menschen das Leben.
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Die Berichte Überlebender vor dem Darmstädter Landgericht waren erschütternde
Zeugnisse dieser grausamen Geschehnisse.
Wie viele der über 20.000 Juden aus Kielce den NS-Terror überlebten, ist nicht exakt
bekannt. Die meisten wurden in den Gaskammern von Treblinka ermordet. Nach der
Befreiung kehrten nur rund 150 Juden nach Kielce zurück.
2
Mitarbeiter des Kielcer Judenrats.
4
Abe Price, geb. 1923, wuchs als
jüngster von fünf Brüdern in Kielce
auf. 1941 musste seine Familie, die
Eltern waren wohlhabende Inhaber
einer Schuhfabrik, in das Ghetto
umziehen. Allein Abe Price und einer
seiner Brüder wurden nicht nach
Treblinka deportiert. Im Anschluss
an die Zwangsarbeit in Kielce kam
Price 1944 zunächst nach Auschwitz
und wurde dann in Buchenwald
befreit. Im Kielce-Prozess sagte
er als Zeuge gegen Wollschläger aus.
Hier ein Bild von Price mit seiner
Ehefrau Sala nach der Auswanderung
in die USA, 1951.
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Doch war für sie das Grauen noch nicht vorbei. Aufgrund eines Gerüchts über eine
angeblich von Juden begangene Kindesentführung – eine Variante der antisemitischen Ritualmordlegende – ereignete sich im Juli 1946 in Kielce ein Pogrom, dem
42 Juden zum Opfer fielen. Diese Ausschreitungen lösten in der Nachkriegszeit
eine Auswanderungswelle polnischer Juden nach Palästina aus.
3
Nach dem Pogrom vom Juli 1946 warten die Juden aus Kielce auf ihre Abreise.
Die meisten von ihnen bauten sich eine neue Existenz in Palästina auf.
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Prozessverlauf und Urteil
Nach jahrelangen Ermittlungen begann im Kielce-Verfahren am 24. April 1968 die
Hauptverhandlung gegen die vier Angeklagten Wollschläger, Balhorn, Eßig und
Scheufele. Die Angeklagten stritten die ihnen zur Last gelegten Taten vehement ab;
sie machten Gedächtnislücken geltend. Ihre Dienstzeit in Kielce schilderten sie als
reine Verwaltungstätigkeit; im übrigen hätten sie ja allein die Befehle ihrer Vorgesetzten ausgeführt. Sie gaben vor, keine Kenntnisse über den Bestimmungsort der
deportierten Juden gehabt zu haben; die wahre Bedeutung der Begriffe „Endlösung“ oder „Aussiedlung“ sei ihnen nicht geläufig gewesen. Für die Verbrechen,
die schließlich nicht zu leugnen waren, machten sie andere Angehörige der deutschen Besatzungsmacht verantwortlich, vorzugsweise Personen, die bereits tot
oder unauffindbar waren.
Wie in anderen NS-Prozessen
auch, so basierte die Anklage
vorrangig auf Aussagen überlebender Zeugen, ergänzt durch
Gutachten von Sachverständigen. Ab dem 8. Verhandlungstag
wurden nach und nach insgesamt 125 Zeugen vor Gericht vernommen. Eindringlich, oft in
bewegenden Worten, schilderten
sie ihre schrecklichen Erlebnisse
im Ghetto. Sich im Gerichtssaal
die Vergangenheit wieder zu vergegenwärtigen und den früheren
Peinigern gegenüber zu stehen,
bedeutete für viele Zeugen eine
enorme emotionale Belastung.
Der psychische Druck, dem sich
diese Überlebenden der NSJudenverfolgung im Zeugenstand
ausgesetzt sahen, wurde durch
ihre notgedrungen intensive
Befragung noch zusätzlich
gesteigert. Die Richter mussten
den Sachverhalt exakt aufklären,
um zu einem juristisch korrekten
Urteil zu gelangen.
Der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Volkmar
Rausch leitete vor dem
Darmstädter Schwurgericht
das Verfahren im KielceProzess. Rausch, 1922 in
Darmstadt geboren, begann
sein Jurastudium bereits
1939, konnte es aber, bedingt durch mehrjährigen
Militärdienst, erst 1949
mit der 2. Staatsprüfung
abschließen. 1952 wurde
er zum Landgerichtsrat
ernannt und erwarb sich
in der beruflichen Praxis
den Ruf, ein „hervorragend qualifizierter
Richter“ zu sein.
Wolfgang Bluhm vertrat
gemeinsam mit einem Kollegen die Anklage im
Kielce-Prozess. Bluhm,
1932 in Marburg geboren,
gehörte der Staatsanwaltschaft Darmstadt seit
1961 an. Bald nach seiner
Ernennung zum Staatsanwalt im April 1964 wurden
ihm komplexe politische
Strafsachen und NSG-Verfahren zur Bearbeitung
übertragen – Aufgaben,
die er nach Einschätzung
seines Vorgesetzten „eindrucksvoll“ zu lösen vermochte.
1
2
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Die Verteidiger der Angeklagten bemühten bis an die Grenze des Erträglichen, die
Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen durch gezieltes Hinterfragen zu erschüttern.
Erinnerungslücken bei zahlreichen Zeugen, was angesichts der lange zurückliegenden Ereignisse nicht verwundert, aber auch sachliche Abweichungen bei
verschiedenen Zeugenaussagen zu bestimmten Anklagefällen veranlassten das
Gericht schließlich dazu, dem Grundsatz des „in dubio pro reo“ zu folgen und die
Angeklagten freizusprechen. Allein in einem der vielen Mordfälle sah das Gericht
die Schuld von Wollschläger als erwiesen an. Nach 221 Verhandlungstagen wurde
Wollschläger am 22. Juli 1971 als „Gehilfe“, nicht aber als „Mörder“, zu einer vergleichsweise milden Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt – mit der Untersuchungshaft hatte er seine Strafe bereits verbüßt.
3
Die vier Angeklagten im Kielce-Prozess vor dem Darmstädter Landgericht (v.l.n.r.):
Erich Wollschläger, Karl Eßig (mit Sonnenbrille), Herbert Balhorn und Karl Scheufele.
Im Vordergrund ganz links Rechtsanwalt Eugen Gerhardt.
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II.
Judenverfolgung und Völkermord die justizielle Aufarbeitung in Hessen
3. Übergang zum systematischen Massenmord
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Einleitung
Der Beginn des deutschen Ausrottungs- und Ausbeutungskrieges gegen die
Sowjetunion am 22. Juni 1941 markierte den Anfang des Völkermords an den
europäischen Juden. Auf die ersten Massenmorde, Deportationen und die
Ghettoisierung der Juden im besetzten Polen seit Ausbruch des 2. Weltkrieges
folgte nun deren physische Vernichtung. Den Worten Hitlers, der seit 1939 in
seinen Reden wiederholt mit der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“
gedroht hatte, folgte jetzt deren systematische Auslöschung.
2
In der Schlucht Babij Jar, nordwestlich von Kiew, ermordeten die Mitglieder der Einsatzgruppe C am 29. und 30. September 1941 innerhalb von
36 Stunden insgesamt 33.771 Juden, überwiegend ältere Männer, Frauen und
Kinder. Nachdem sich die Kiewer Juden ihrer Kleidung und Wertgegenstände
entledigt hatten, wurden sie in der Schlucht erschossen. Das Bild zeigt
deutsche Soldaten beim Durchsuchen der Kleider erschossener Opfer.
Ein „Führerbefehl“ zur „Endlösung der Judenfrage“, so der zeitgenössische, verharmlosende Sprachgebrauch zur Ermordung der Juden, ist nicht überliefert und
wird wohl auch in schriftlicher Form nicht ergangen sein. Im Zuge der Planungen
des Russlandfeldzuges im Frühjahr 1941 soll Hitler den mündlichen Befehl zur
möglichst vollständigen „Ausrottung“ jüdischer Menschen im deutschen Herrschaftsraum gegeben haben.
Mit der Umsetzung dieses „Endlösungsbefehls“ wurden Heinrich Himmler und die
ihm unterstehenden Organe der SS betraut. Treibende Kraft bei der Organisation
und Durchführung des Völkermords war zunächst Reinhard Heydrich, enger Mitarbeiter Himmlers und seit 1939 Chef des mächtigen Reichssicherheitshauptamtes.
Ihm unterstanden die rund 3.000 Mann umfassenden Einsatzgruppen der Sicher-
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heitspolizei, die in den eroberten Gebieten direkt hinter der vorrückenden Wehrmacht die „reichs- und deutschfeindlichen Elemente“ bekämpfen sollten.
Die Stoßrichtung dieses selbst erklärten Kampfes gegen den „jüdischen Bolschewismus“ richtete sich vor allem gegen jüdische Zivilisten. Erste systematische
Massenerschießungen sowjetischer Juden fanden bereits am 24. Juni 1941, zwei
Tage nach Kriegsausbruch, statt. Wenige Wochen später waren zahlreiche jüdische
Gemeinden ausgelöscht. Trotz der rund 500.000 jüdischen Opfer dieser Massaker
bis Ende 1941 galten die Erschießungen aus Sicht der Massenmörder bald als
„ineffizient“. Auf der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 bezifferte Heydrich
die Anzahl der Menschen, die im Zuge der „Endlösung der europäischen Judenfrage“ getötet werden sollten, auf rund 11 Millionen. Um diesen Mord an Zivilisten
zu beschleunigen und zugleich zu anonymisieren, begann die SS mit der Errichtung
einer regelrechten Tötungsindustrie.
1
Nachdem auf höchster Ebene die Entscheidung
zur Ermordung der Juden gefallen war, kamen
am 20. Januar 1942 Vertreter von NS-Reichsbehörden und SS-Dienststellen unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich zusammen, um über
die Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“
zu beraten. Hier ein Auszug aus dem Protokoll der Wannseekonferenz mit der Auflistung
der zu tötenden Juden.
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Das Vernichtungslager Sobibór
Die Rationalisierung und Perfektionierung des Mordes an den europäischen Juden
erfolgte mit dem Aufbau von Vernichtungslagern im Generalgouvernement, das
nach der Weisung Hitlers „judenrein“ werden sollte. Dort lebten nach nationalsozialistischer Zählung Ende 1941/Anfang 1942 rund 2,3 Millionen Juden, meist
zusammengepfercht in Ghettos. Als Methode für eine möglichst geheime, anonymisierte und massentaugliche Ermordung entschied sich die SS für den Einsatz
von stationären Gaskammern. Damit hatte man bereits zuvor beim Krankenmord im
Rahmen der sog. „T4-Aktion“ umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Die Einsatzgruppen experimentierten in der zweiten Hälfte 1941 mit mobilen Gaswagen zur
Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung. Bei der ostpolnischen Gemeinde
Belzec nahe Lublin ging im März 1942 das erste speziell zu diesem Zweck errichtete
Vernichtungslager in Betrieb. Nach dessen Muster errichtete die SS ab März 1942
in der Nähe des Ortes Sobibór im südöstlichen Polen eine weitere „Todesfabrik“;
wenige Monate später erfolgte dann mit Treblinka nordöstlich von Warschau der
Bau des dritten Vernichtungslagers.
Der Massenmord an den polnischen Juden erhielt von der NS-Führung die Bezeichnung „Aktion Reinhard“ – zu Ehren des infolge eines Attentats am 4. Juni 1942
verstorbenen Reinhard Heydrich. Bei Einstellung der „Aktion Reinhard“ im Oktober
1943 waren über zwei Millionen Opfer zu beklagen.
Lager III
mit den Gaskammern(5),
dem Maschinenhaus mit dem
Dieselmotor(4), den Baracken
für das jüdische Arbeitskommando(1), der Unterkunft
des „Zahnarztes“ für das
Herausbrechen des Zahngoldes
der Ermordeten(2).
Gruben für die
Massengräber
Schlauch
Lager
II
Lager
I
Vorlager
1
Lageplan des Vernichtungslagers Sobibór, erstellt im Oktober 1975
für das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren Hubert Gomerski.
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Tafel 30/31 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | 75
Sobibór wurde in einer möglichst abgelegenen Gegend errichtet, um den Massenmord vor der Öffentlichkeit streng geheim zu halten. Der Ort war aber zugleich an
einer Eisenbahnstrecke verkehrsmäßig gut angebunden. Das Vernichtungslager bestand aus vier voneinander getrennten Bereichen. Im Vorlager waren die Unterkünfte
des SS-Sonderkommandos und der ukrainischen Hilfstruppen untergebracht; im
Lager I die Werkstätten und Unterkünfte der rund 50 jüdischen Arbeiter, die vorübergehend dem Gasmord entgangen waren. Im Lager II befand sich der Empfangsbereich für die Juden; dort mussten sie ihre Habseligkeiten abgeben und sich vollständig entkleiden. Über einen rund 150 Meter langen und drei bis vier Meter breiten
Gang – auch „Schlauch“ genannt – wurden sie in das eigentliche Vernichtungslager
getrieben. Hier, im Lager III, befanden sich die gemauerten Gaskammern, der
Schuppen mit dem 200 PS-Dieselmotor zur Erzeugung des tödlichen Kohlenstoffmonoxids und die Massengräber zum Verscharren der Ermordeten. An diesem Ort
wurden realistischen Schätzungen zufolge rund 250.000 Menschen ermordet.
Die justizielle Aufarbeitung
Die Personen, die für die Organisation und Durchführung der „Aktion Reinhard“
die Hauptverantwortung trugen, konnten nach 1945 juristisch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der Leiter dieser Vernichtungsaktion, SS-Gruppenführer
Odilo Globocnik, hatte im Mai 1945 Selbstmord begangen; sein Stellvertreter Christian Wirth war ein Jahr zuvor von italienischen Partisanen getötet worden. Auch der
zweite Lagerkommandant von Sobibór, Franz Reichleitner, kam beim Kampf gegen
Partisanen zu Tode; sein Vorgänger Franz Stangl konnte sich zunächst der Strafverfolgung durch seine Flucht nach Brasilien bis zu seiner Auslieferung an die
Bundesrepublik 1967 entziehen.
Die juristische Aufarbeitung der
„Aktion Reinhard“ stand
zunächst vor dem Problem,
dass nur sehr wenige Juden
den Vernichtungslagern entkommen waren und vor Gericht
als Zeugen aussagen konnten;
die „Vernichtungsquote“ lag bei
99 Prozent. Zudem hatte die SS
mit dem Abbruch der Lager
1943/44 ihre Spuren systematisch verwischt.
2
Josef Hirtreiter (1909-1978) war
im Vernichtungslager Treblinka
gewissermaßen das Pendant zu
Hubert Gomerski. Als ungelernter
Arbeiter war Hirtreiter 1932 der
NSDAP und SA beigetreten. 1940/41
kam er in der Euthanasie-Tötungsanstalt Hadamar zum Einsatz. Nach
Ende der „T4-Aktion“ wurde er in
das Vernichtungslager Treblinka
versetzt. Dort war er u.a. an den
Vergasungen beteiligt und tat sich
als brutaler Exzesstäter hervor.
Aufgrund dieser Verbrechen verurteilte ihn das Schwurgericht in
Frankfurt am Main im März 1951 zu
einer lebenslangen Zuchthausstrafe.
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76 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | Tafel 31
Erich Hermann Bauer (1900-1980) war
neben Hubert Gomerski und Johann Klier
der dritte Angehörige des SS-Wachpersonals in Sobibór, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit juristisch zur
Rechenschaft gezogen wurde.
Im Anschluss an seinen Einsatz bei der
T4-Aktion wurde er nach Sobibór versetzt, wo er als „Gasmeister“ direkt an
der Tötung tausender Menschen beteiligt
war. In Berlin erkannten Überlebende
des Lagers ihn wieder, und Bauer wurde
der Prozess gemacht. Am 8. Mai 1950
verurteilte das Berliner Landgericht
Bauer zunächst zum Tode; später wurde
das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.
3
Bei Spruchkammerverfahren im Zuge der Entnazifizierung und bei den Frankfurter
Euthanasie-Prozessen zwischen 1946 und 1948 wurde der in Sobibór und Treblinka
verübte Massenmord allmählich sichtbar. Erste Prozesse gegen SS-Angehörige,
die an den Massenmorden der „Aktion Reinhard“ beteiligt waren, setzten 1948 und
1949 in Frankfurt ein. 1949 begannen
die richterlichen Voruntersuchungen
gegen die beiden Angehörigen der SSOberstaatsanwalt Dr.
Wachmannschaft von Sobibór, Hubert
Hans-Krafft Kosterlitz
Gomerski und Johann Klier.
wurde am 20. Mai 1904 in
Königshütte/Oberschlesien
geboren. Nach Jurastudium
und Promotion trat er
1930 in den preußischen
Justizdienst ein, wurde
dann aber aufgrund seiner
jüdischen Abstammung zum
1. November 1933 zwangsweise in den Ruhestand
versetzt. Er überlebte
den NS-Terror trotz jahrelangem Einsatz als Zwangsarbeiter. Im Dezember
1946 trat er in den hessischen Justizdienst ein
und machte sich rasch
einen Namen als Staatsanwalt in Frankfurt. Hochangesehen verstarb Kosterlitz am 28. Juli 1966.
1
Am 2. Mai 1950 erhob Oberstaatsanwalt
Dr. Hans-Krafft Kosterlitz Anklage; das
Urteil wurde am 25. August 1950 verkündet. Gomerski, zu lebenslangem
Zuchthaus verurteilt, stellte im November 1970 einen erfolgreichen Antrag auf
Wiederaufnahme des Verfahrens. Dem
gab das Landgericht Frankfurt 1971
statt. Das auf 15 Jahre Gesamtfreiheitsstrafe lautende Urteil wurde nach rund
3 1/2 jähriger Prozessdauer am 8. Juni
1977 verkündet. Dieses Urteil war nicht
von Dauer; wegen eines Formfehlers
hob es der Bundesgerichtshof am
18. Januar 1980 auf.
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Tafel 32 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | 77
Die Täter
Die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ waren ein durchrationalisierter, perfektionierter Mordapparat. Für diese zynische Effizienz spricht auch der geringe Personalaufwand, dessen er bedurfte. Seinen Mitarbeiterstab bezifferte der Leiter der
„Aktion Reinhard“, Odilo Globocnik, auf insgesamt 450 Mann. Hierzu kamen noch
die Wachmannschaften, die sog. „Trawniki“ – überwiegend Ukrainer und Volksdeutsche, die von der SS aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern rekrutiert wurden.
In Sobibór selbst waren 25 bis 30 SS-Angehörige eingesetzt sowie etwa 120 der
„Trawniki“-Wachmänner.
Mit Hubert Gomerski und Johann Klier standen
zwei typische Angehörige eines SS-Sonderkommandos der „Aktion Reinhard“ vor dem
Frankfurter Landgericht. Beide waren vor dem
ersten Weltkrieg geboren – Gomerski am
11. November 1911, Johann Klier am 15. Juli 1901.
Den Krieg mit seinen Schrecken hatten sie nicht
selbst erlebt, stilisierten ihn aber zur Weihestätte
eines neuen, heroischen Menschentypus. Mit
ihren erlernten Handwerksberufen – Gomerski
war von Beruf Dreher, Klier Bäcker – waren sie
der mittleren Schicht der von Krisen geschüttelten Weimarer Gesellschaft zuzuordnen. Sie
zählten zu den rund 100 Männern der „Aktion
Reinhard“, die bereits beim Krankenmord der
Jahre 1940/41 zum Einsatz gekommen waren –
Gomerski beispielsweise am Verbrennungsofen
in der Tötungsanstalt Hadamar.
Hubert Gomerski
(1911-1999), war
bereits 1934 in
die SS eingetreten und wurde
1939 zur 8. SSTotenkopfstandarte einberufen.
Aufnahmezeitpunkt um 1945.
1
SS-Wachmannschaft
im Vernichtungslager Sobibór.
2
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Nach Beendigung der T4-Aktion im August 1941 konnten sie nicht nur ihre „Fachkenntnisse“ aus der „Euthanasie“ beim Judenmord einbringen. Zudem waren sie
bei ihrer Versetzung ins Generalgouvernement bereits verroht und brutalisiert
genug, um sich aktiv am Völkermord beteiligen zu können. Namentlich Gomerski
erschoss die gequälten und erniedrigten Juden noch vor Erreichen der Gaskammer
aus nichtigen Gründen rücklings oder erschlug sie mit einer Peitsche.
Diese Taten erklären sich zum Teil aus einer persönlich geprägten antisemitischen
Einstellung, aber auch aus reinem, ungezügeltem Sadismus. Vor dem Hintergrund
des staatlich legitimierten und legalisierten Rassismus und Antisemitismus war
die ebenso skrupellose wie auch hemmungslose Ermordung wehrloser Menschen
in den Vernichtungslagern eine fast „normale“ Handlung. Mit ihrem vermeintlich
„gesunden Menschenverstand“ stellten die in den Vernichtungslagern tätigen
SS-Männer ihr blutiges Handwerk nicht infrage.
3
Wachmänner im Vernichtungslager Sobibór am Bahngleis,der sog. „Rampe“.
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Tafel 33 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | 79
Die Opfer
Die „Abfertigung der Transporte“, wie der Massenmord im SS-Jargon hieß, war
auf eine rasche und effiziente maschinelle Tötung der angekommenen Juden hin
ausgerichtet. Nach der Öffnung der Türen der Viehwaggons wurden die Menschen,
die dort oftmals über Tage ohne Verpflegung eingesperrt waren, ins Lager getrieben.
Wer angesichts der vorangegangenen Strapazen nicht mehr laufen konnte, wurde
erschossen. Die wenigen Juden, die für die Arbeitskommandos selektiert wurden,
konnten nur für kurze Zeit dem gewaltsamen Tod entrinnen. Nach der Abgabe aller
Wertsachen mussten sich Frauen und Männer, getrennt nach Geschlecht, im
Lager II vollständig entkleiden. Kinder blieben bei den Frauen. Mit Schlägen und
terrorisierendem Geschrei trieben die SS und die ukrainischen Wachmannschaften
ihre Opfer sodann durch den Verbindungsgang, den sog. Schlauch, zum Lager III
in die Gaskammern. Ein dort fest stationiertes jüdisches Arbeitskommando musste
den Frauen unmittelbar vor Erreichen der Gaskammer noch die Haare abschneiden;
sie dienten der deutschen Kriegsindustrie als Rohstoff.
In der Gaskammer pferchte man die Juden
dicht zusammen; Körper an Körper
stehend starben sie dann binnen 20 bis
30 Minuten. Die eingeleiteten Abgase
führten zu einem qualvollen Erstickungstod. Nach der Vergasung leerte das jüdische Arbeitskommando die Gaskammer
und reinigte sie von den Ausscheidungen
der Ermordeten. Die Leichen wurden,
nachdem man ihnen die Goldzähne
herausgebrochen hatte, zunächst in
großen Gruben verscharrt, später auf
riesigen Rosten verbrannt.
Nur wenige Juden konnten dem Inferno
in Sobibór entkommen und dann später
vor Gericht gegen die Täter aussagen.
Keiner der späteren Zeugen hatte den
eigentlichen Vernichtungsvorgang in
Lager III mit eigenen Augen gesehen.
Alle Angehörigen des dortigen Arbeitskommandos – zwischen 80 und 150
Mann – waren ermordet worden. Zeugnis
ablegen konnten aber die Überlebenden
des Aufstands von Sobibór. Nach einigen,
zumeist vergeblichen Fluchtversuchen
einzelner Gefangener aus den Lagern I
und II wagten die dortigen Häftlinge am
14. Oktober 1943 einen Aufstand.
Ilana Safran (19261985), als niederländische Jüdin nach
Sobibór deportiert,
überlebte den Aufstand vom 14. Oktober
1943 und schloss sich
danach den Partisanen
an.
1
Auch Samuel Lerer
(1922) gelang am
14. Oktober 1943 die
Flucht aus Sobibór.
In den späteren NSProzessen gegen SSMänner vor bundesdeutschen Gerichten
war er ein wichtiger
Zeuge.
2
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80 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | Tafel 33
Von den rund 600 Fliehenden schafften es ca. 200, den vorerst „rettenden“ Wald
zu erreichen. Nur 47 von ihnen überlebten bis Kriegsende die anschließende
Verfolgung.
Alexander Pechersky
(1909-1990) links
und Aleksej Waizen
(1922) rechts,
konnten aus dem
Lager entkommen.
Pechersky organisierte und führte
den Aufstand im
Vernichtungslager
Sobibór am
14. Oktober 1943
an.
3
4
Die drei Sobibór-Überlebenden Jules Schelvis aus den Niederlanden sowie Tomasz
Blatt und Filip Bialowicz aus Polen bei der Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages des Aufstands im Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 2013 in Lublin.
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Tafel 34 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | 81
Urteil und Strafverbüßung
Am 25. August 1950 wurde das Urteil im Prozess gegen die beiden angeklagten
SS-Wachmänner aus Sobibór Hubert Gomerski und Johann Klier verkündet. Vorausgegangen war eine kurze Hauptverhandlung, die sich an zwei Verhandlungstagen
nur oberflächlich mit der Geschichte des Vernichtungslagers und der SS-Lagermannschaft auseinandersetzte. Da, wie das Urteil vermerkte, „jegliche Unterlagen“
zu den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ fehlten, beschränkte sich das
Gericht auf eine kurze Beschreibung von Sobibór und der dort stattgefundenen Verbrechen. Nicht die Zugehörigkeit zur Lagermannschaft wurde geahndet, sondern
die innere Haltung und die persönlichen Taten.
Bei ihren Vernehmungen hatten Gomerski und
Klier zwar ihren Einsatz in Sobibór zugegeben.
Gleichlautend betonten aber beide Angeklagten, sie seien gegen den eigenen Willen für
diese Tätigkeit verpflichtet worden. Als „kleine
Befehlsempfänger“ hätten sie am eigentlichen
Vernichtungsvorgang keinen persönlichen Anteil gehabt. Diese Schilderung war bei Klier
durchaus glaubhaft. Da auch Zeugen ihn entlasteten, wurde er vom Gericht freigesprochen.
Gomerski dagegen galt wegen seiner bezeugten Gewalttätigkeit als Exzesstäter. Nach Überzeugung des Gerichts hatte er „grausam gehandelt“ und sich der „vorsätzlichen Tötung“
zahlloser Menschen schuldig gemacht.
3
1
Gerhard Pfeifer, geb.
1924 in Karlsbad, war im
Wiederaufnahmeverfahren
Gomerski der Vertreter
der Anklage. Aufgrund
seiner guten Fähigkeiten
und Leistungen, aber
auch wegen seines „besonderen Fingerspitzengefühls“ bei Verfahren
mit politischem Hintergrund stieg er im
hessischen Justizdienst
bis zum Ständigen
Vertreter des Generalstaatsanwalts auf.
Der Strafprozess vor dem Landgericht
Hagen gegen gleich zwölf Angehörige
des Wachpersonals in Sobibór zwischen
September 1965 und Dezember 1966 fiel
in die Phase der Intensivierung und
Konzentration der Strafverfolgung von
NS-Verbrechen – mit bedingt durch die
Vorermittlungen der Zentralen Stelle
in Ludwigsburg. Mit dem schließlich
gegen zehn Angeklagte verkündeten
Urteil wurden fünf von ihnen freigesprochen. Ihre Beteiligung am Massenmord konnten sie erfolgreich mit
einer juristisch legitimen, moralisch
aber fragwürdigen „Nötigungsnotstandslage“ („Putativnotstand“) entschuldigen – wenn sie sich – nach
einem hypothetischen Fall – der
Beteiligung an der Judenvernichtung
verweigert hätten, seien sie selbst
mit Leib und Leben gefährdet gewesen.
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82 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 3. Übergang zum systematischen Massenmord | Tafel 34
Als Mittäter verurteilte das Gericht Gomerski wegen Mordes in einer unbestimmten
Anzahl von Fällen zu lebenslangem Zuchthaus. Seine Haftstrafe verbüßte Gomerski
in der Strafanstalt Butzbach; mehrere Gnadengesuche seit den 1950er Jahren wurden wegen der Schwere seiner Taten zurückgewiesen. Die Vorermittlungen der Zentralen Stelle Ludwigsburg führten dann in den 1960er Jahren zu weiteren SobibórProzessen. Angesichts neuer Erkenntnisse über die „Aktion Reinhard“, die aus diesen
Verfahren herrührten, erreichte Gomerski 1971 die Neuaufnahme seines Verfahrens.
An insgesamt 211 Verhandlungstagen leuchtete das Gericht den zeitgeschichtlichen
Kontext von der NS-Judenverfolgung im allgemeinen bis hin zum Vernichtungslager
Sobibór im besonderen aus. Ein psychiatrisch-psychologisches Gutachten widmete
sich der Persönlichkeit von Hubert Gomerski. Auf der Grundlage dieses differenzierten Gesamtbildes sowie der Einsicht und Reue, die Gomerski zeigte, milderte
das Gericht das vorherige Urteil ab und sprach ihn nun der Beihilfe zum Mord und
des versuchten Mordes für schuldig.
2
Auszug aus dem psychiatrischen und psychologischen Gutachten über Hubert
Gomerski von Prof. Dr. Dr. med. W. Schumacher aus Gießen vom 4. März 1977.
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| 83
II.
Judenverfolgung und Völkermord die justizielle Aufarbeitung in Hessen
4. Auschwitz
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84 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 35
Einleitung
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erweiterte die SS das bestehende System der
Konzentrationslager zunächst vornehmlich in den Grenzgebieten, z.B. in Natzweiler
im Elsass, Groß-Rosen in Oberschlesien und Stutthoff bei Danzig. Hinzu kamen
ab 1941 in den besetzten Gebieten die Vernichtungslager in Bełżec, Chełmno,
Majdanek, Sobibór und Treblinka. An Größe übertroffen wurden alle diese Lager
von Auschwitz.
Die Konzentrationslager dienten im „Altreich“ anfangs noch in erster Linie der
Internierung von politischen Gegnern, „Kriminellen“, „Asozialen“, „Zigeunern“,
Homosexuellen und sonstigen „Staatsfeinden“. Nun waren die zuletzt errichteten
Lager Stätten der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und der „rassischen“
Säuberung der eroberten Länder.
1940 bestimmte Heinrich Himmler in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für
die Festigung deutschen Volkstums das Gelände einer ehemaligen polnischen
Kaserne bei Auschwitz zum Konzentrationslager. Dieses „Stammlager“ wurde in
den folgenden Jahren schrittweise erweitert um die Nebenlager in Birkenau und
Monowitz. Mit seinen verschiedenen Funktionsbereichen als Konzentrations-,
Arbeits- und Vernichtungslager nahm Auschwitz eine Schlüsselrolle bei der
„Endlösung der Judenfrage“ ein. Das, was an Ungeheuerlichem in Auschwitz
geschehen war, blieb in der deutschen Nachkriegsgesellschaft lange weitgehend
unbeachtet. Es waren vor allem die überlebenden Häftlinge der Hölle von Auschwitz
und die Dokumentationsstellen zur Aufklärung der Schicksale der Opfer der
NS-Herrschaft, die die Erinnerungen an das furchtbare Geschehen wach hielten
und sich intensiv bemühten, die Täter ausfindig zu machen. Nicht zuletzt wegen
der aufwändigen und schwierigen Ermittlungen tat sich die deutsche Justiz
zunächst schwer, die Verbrechen von Auschwitz zu verfolgen. Auch kannte das
deutsche Strafrecht keinen besonderen Tatbestand für Massenmord.
Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ging von einem einheitlichen
Straftatkomplex aus und setzte ein Verfahren in Gang, um den größten staatlichen
Massenmord der Geschichte aufzuklären und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Je tiefer Juristen und Historiker in die Materie eindrangen, umso deutlicher zeigte
sich, dass Auschwitz die zentrale Rolle im systematischen Massenmord des
NS-Regimes einnahm. „Auschwitz“ wurde zum Synonym für den Holocaust.
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Tafel 35 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 85
Die Karte zeigt in rot eingetragen die
Vernichtungslager sowie in schwarz die
Stätten der Massaker. Nach Auschwitz
wurden vor allem Juden aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, dem Deutschen
Reich einschließlich Österreich sowie
aus der Tschechoslowakei, Ungarn,
Rumänien, Bulgarien, Griechenland
und Italien deportiert.
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86 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 36
Entstehung und Ausbau des Konzentrationslagers Auschwitz
Nach dem Polenfeldzug ging die SS-Führung daran, ihre Rassenpolitik in den
eroberten Gebieten des Ostens in großem Stil zu realisieren. Verkehrstechnisch
günstig gelegen, entstand zunächst das Stammlager Auschwitz I . Am 14. Juni 1940
traf dort der erste Transport mit 728 polnischen politischen Häftlingen ein. Im Zuge
der Umstellung der deutschen Industrie auf die Kriegswirtschaft verknüpfte die
SS-Führung rassepolitische und wirtschaftliche Interessen. Das WirtschaftsVerwaltungs-Hauptamt der SS (SS-WVHA) erweiterte das Konzentrationslager
Auschwitz durch die Angliederung von Wirtschaftsbetrieben, in denen die
Häftlinge durch Zwangsarbeit zu Tode kamen.
Nach einer Inspektion Himmlers, höherer SS-Chargen, Vertretern der deutschen
Zivilverwaltung und der Wirtschaft am 1. März 1941 erging der Befehl, das Stammlager auszubauen und in Birkenau ein weiteres Lager für 100.000 Häftlinge zu errichten (Auschwitz II). Diese Ausbauphase begann bereits im Vorfeld des Überfalls
Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941. Die polnische BevölkeAls Organisator des Ausbaus und
rung von Auschwitz und mehrerer
der Verwaltung von Auschwitz
zählte SS-Obergruppenführer
Orte der Umgebung wurde vertrieRichard Glücks (1889-1945) zu
ben oder als Zwangsarbeiter ins
den Schreibtischtätern. Er trat
Reichsgebiet deportiert. Ihre Häubereits 1930 in die NSDAP ein
und wurde 1932 Mitglied der SS.
ser wurden beschlagnahmt oder
In seiner Funktion als Inspekzerstört, um Versuchsgelände für
teur aller Konzentrationslager
Gartenbau und Fischzucht sowie
ließ er nach neuen KZ-Standorten
im eroberten Polen suchen. Die
für kriegswichtige ProduktionsstätWahl fiel auf die Gebäude und
ten vor allem für die IG-Farbendas Gelände einer ehemaligen
Industrie zu gewinnen.
Artilleriekaserne in
Auschwitz bei Kattowitz.
1
1942 inspizierte der
Reichsführer der SS,
Heinrich Himmler (vorne
links) das Konzentrationslager Auschwitz erneut.
3
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Tafel 36 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 87
Ein weiteres Lager mit Produktionsstätten der chemischen Industrie und der Rüstungsindustrie entstand in Monowitz (Auschwitz III). Bis zum November 1943
umfasste der riesige Komplex etwa 40 Quadratkilometer.
Das zuerst entstandene Stammlager Auschwitz I und das drei Kilometer entfernte
Lager Auschwitz II Birkenau wurden als Vernichtungsanlagen mit Gaskammern und
Krematorien ausgestattet.
Auschwitz-Birkenau bestand aus
dem Lagerkomplex mit Männerlager,
Quarantänelager für Männer, Männerkrankenbaulager, Frauenlager, „Zigeunerfamilienlager“ und Familienlager
für Juden aus dem Ghetto Theresienstadt. Damit bildete der Lagerkomplex
Auschwitz den wichtigsten Bestandteil in der Vernichtungsstrategie der
SS für die Juden, Sinti und Roma
Europas sowie in der Kriegswirtschaft.
2
Ende April 1940 begannen unter
der Leitung des SS-Hauptsturmführers Rudolf Höß (1900-1947)
die Ausbauarbeiten. Höß war
seit 1922 Mitglied der NSDAP,
seit 1933 Mitglied der SS,
zuletzt im Rang eines Obersturmbannführers. Er war der
erste Lagerkommandant von
Auschwitz vom 27. April 1940
bis 11. November 1943. Direkt
nach dem Krieg wurde ihm vor
dem Obersten Nationalgerichtshof in Warschau der Prozess gemacht. Am 16. April 1947 wurde
er auf dem Gelände seiner
früheren Wirkungsstätte, dem
KZ Auschwitz, hingerichtet.
Schematische
Darstellung
des Lagerkomplexes
Auschwitz
3
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88 | Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 37
Aus allen Teilen Europas trafen Ende März 1942 die vom Reichssicherheitshauptamt organisierten Massentransporte von Juden in Auschwitz-Birkenau ein. Ab Mai
1942 begannen die Selektionen der Arbeitsfähigen und derjenigen, die unmittelbar
in die Gaskammern (Bunker 1 und Bunker 2 genannt) geschickt wurden. Himmler
nahm bei seiner zweiten Inspektion im Juli 1942 persönlich an einer Selektion und
einer Massenvernichtung teil. Um die Transporte zu bewältigen, die von Monat zu
Monat zunahmen, erhielt das Lager einen eigenen Bahnanschluss.
Die Massentransporte
wurden von der Reichsbahn mit Vieh- und
Güterwaggons ohne
Heizung, sanitäre
Anlagen und Versorgung
mit Nahrungsmitteln
durchgeführt. Nach
oft tagelanger Fahrt
wurden Männer und
Frauen mit ihren
Kindern an der Rampe
voneinander getrennt
und ihrer gesamten
Habe beraubt.
Danach fand meist
unter Leitung eines
SS-Arztes die Selektion statt: Die wenigen für arbeitsfähig
Befundenen kamen ins
Lager, die übrigen
wurden sofort in die
Gaskammern geschickt.
1
2
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Tafel 37 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 89
Zu dem bestehenden Krematorium II wurden bis 1944 drei weitere gebaut. Einen
traurigen letzten Höhepunkt erreichten im Sommer 1944 die von Adolf Eichmann
organisierten Massendeportationen der ungarischen Juden. Selbst als die Niederlage der Wehrmacht sich längst abzeichnete, gingen weitere Transporte von Juden
aus Polen und der Tschechoslowakei nach Auschwitz.
Schon beim Eintreffen der Transporte wurde den Deportierten ihre persönliche
Habe abgenommen. Die SS veräußerte riesige Mengen an Kleidern, Hausrat und
anderen Gegenständen. Zahngold und Wertsachen lieferte sie an die Reichsbank
ab. Dabei kam es häufig zu persönlichen Bereicherungen durch SS-Angehörige.
Wegen des Vorwurfs der Unterschlagung wurde Rudolf Höß im November 1943
als Lagerkommandant abgelöst. Das Lager wurde daraufhin unter mehrere Kommandanten in drei Hauptkomplexe eingeteilt: Auschwitz-Stammlager, AuschwitzBirkenau und Auschwitz-Monowitz.
4
Die Wertgegenstände und persönliche Habe der nach Auschwitz deportierten
Menschen wurden in riesigen Effektenlagern, genannt „Kanada“, bis zur
weiteren Verwertung vorübergehend aufbewahrt. Hier ein Bild von Koffern
Deportierter in der Gedenkstätte Auschwitz.
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90 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 38
US-amerikanisches Luftbild vom 13. September 1944.
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Tafel 39 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 91
Befreiung des Lagers
Als die Rote Armee im Juli 1944 das Lager Majdanek befreite und nur noch 200 km
vor Auschwitz stand, begann die SS mit Planungen zur Auflösung des Lagers
Auschwitz-Birkenau. Wie bei den anderen Vernichtungslagern zuvor, sollten auch
hier alle Spuren beseitigt werden. Der Inhalt der Effektenkammern, alle Baumaterialien und die ersten Häftlinge, vor allem Russen und Polen, transportierte man mit
Zügen und Lastwagen nach Westen in andere Konzentrationslager. Im Lager führte
die SS ihre Mordaktionen und Quälereien ungehindert fort. Ein verzweifelter Aufstand von Häftlingen der Sonderkommandos in den Krematorien III und IV am
7. Oktober 1944 schlug die SS grausam nieder.
Im November befahl Himmler schließlich, die Vernichtungsaktionen einzustellen
und die Krematorien und Vergasungsanlagen zu zerstören. Am 17. Januar 1945
begann die „Evakuierung“ von etwa 58.000 Häftlingen. Die meisten mussten in Fußmärschen bei eisiger Kälte
den Weg nach Westen
antreten. Wer unterwegs
vor Entkräftung zusammenbrach, wurde erschossen; andere starben an
Hunger und Kälte.
Schätzungsweise 15.000
Menschen kamen bei
diesem Todesmarsch ums
Leben. Währenddessen
war die SS im Lager
fieberhaft bemüht, alle
schriftlichen Dokumente
des Massenmords zu
beseitigen.
Blick
in eine
Frauenbaracke
nach der
Befreiung
des Lagers.
1
Nach der
Befreiung durch
die Rote Armee
zeigen inhaftierte Kinder
die ihnen eintätowierte
Häftlingsnummer.
2
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92 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 39
Wenige Stunden bevor Soldaten der 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front
das Lager befreiten, war die SS abgezogen. Zuvor hatte sie noch rasch die letzte
Vernichtungsanlage gesprengt. Bis zum Eintreffen der Roten Armee war es der
SS trotzdem nur teilweise gelungen, das Lager zu zerstören und die Leichen zu
beseitigen.
Bei ihrem Einmarsch am 27. Januar 1945 bot sich den Rotarmisten ein Bild des
Grauens. Etwa 600 Leichname sowie7.000 Überlebende, darunter 650 Kinder
und Jugendliche, befanden sich noch im Stammlager sowie in den Lagern
Birkenau und Monowitz. Die wenigen Überlebenden befanden sich in einem
erbärmlichen Zustand.
Überlebende Häftlinge werden nach
der Befreiung von
Auschwitz von
Soldaten der Roten
Armee in Decken
gehüllt und medizinisch betreut,
1. Februar 1945.
3
Die Ruine des Krematoriums III von
Auschwitz-Birkenau.
Das Krematorium III
wurde zwischen März
und Juni 1943
gebaut. Im Keller
befanden sich der
Auskleideraum und
die Gaskammern.
Das darüber liegende
Krematorium hatte
eine Verbrennungskapazität von rund
1.400 Leichen.
4
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Tafel 40 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 93
Ermittlungsverfahren
Das Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz bestand vom
Mai 1940 bis Januar 1945 aus etwa 8.200 SS-Angehörigen und ca. 200 Personen
Aufsichtspersonal im Gefolge der SS. Davon lebten am Ende des Krieges noch
etwa 6.500. Von diesen wurden etwa 800 von alliierten Gerichten, teilweise auch für
in anderen Lagern begangene Verbrechen, abgeurteilt, mehrere davon zum Tode.
Dass Auschwitz in den Fokus der Justiz geriet, geschah eher zufällig. Ende der
1950er Jahre hatte sich Adolf Rögner, ein Auschwitz-Opfer, bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gemeldet und den ehemaligen SS-Oberscharführer Wilhelm Boger
mehrerer Verbrechen bezichtigt. Hermann Langbein und das Internationale Auschwitz-Komitee in Wien untermauerten Rögners Behauptungen und trugen unermüdlich Beweismaterial zusammen.
Dr. Heinz Düx war 37 Jahre
alt, als er 1961 als Untersuchungsrichter mit der Durchführung der Voruntersuchung
beauftragt wurde. Mit seinen
Ermittlungen konnte er die bis
dahin bekannte Zeugenliste
um 200 Personen erweitern.
1
Hans Joachim Kügler (1926-2012)
war neben Gerhard Wiese einer
der jüngsten Staatsanwälte im
Auschwitz-Prozess.
2
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94 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 40
Die Ermittlungen über den Auschwitz-Komplex selbst brachte der ehemalige Häftling Emil Wulkan ins Rollen, der dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
im Jahr 1959 wertvolle Dokumente über gezielte Tötungsaktionen zuspielte.
Bauer, für den der Massenmord in Vernichtungslagern als ein Gesamttatbestand
innerhalb des NS-Systems zu verstehen war, ergriff energisch die Initiative, um das
Auschwitz-Verfahren zentral in Frankfurt verhandeln zu können. Er erwirkte den
Beschluss des BGH vom 17. April 1959, wonach in dieser Sache das Landgericht
Frankfurt als Gerichtsstand festgelegt wurde. Jetzt konnte die Frankfurter Staatsanwaltschaft tätig werden. Mit den Vorermittlungen beauftragt wurde Landgerichtsdirektor Heinz Düx. Mit Unterstützung eines jungen, von der NS-Vergangenheit
unbelasteten Teams von Staatsanwälten trug er in 74 Aktenbänden so viel Material
zusammen, dass dem Landgericht Frankfurt am 16. April 1963 eine umfangreiche
Anklageschrift vorgelegt werden konnte.
Gerhard Wiese, geb. 1928,
hielt am 158. Verhandlungstag das Plädoyer zum Angeklagten Kaduk, in dem er
auf die menschenverachtende
und brutale Handlungsweise
des Angeklagten besonderes
Augenmerk legte.
3
Georg Vogel (1926-2007)
ging der Ruf voraus, ein
„sehr fleißiger Arbeiter“
zu sein. Diese Eigenschaft
erwies sich auch im Auschwitz-Prozess angesichts der
Materialfülle und der Komplexität des Verfahrens als
unerlässlich.
4
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Tafel 41 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 95
Prozesseröffnung
Der Nürnberger Prozess wurde nach dem Völkerrecht und der Eichmann-Prozess
in Jerusalem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Demgegenüber
folgte der Auschwitz-Prozess den Regeln des deutschen Strafprozessrechts, das
den Begriff des Massenmordes nicht kannte. Die Staatsanwaltschaft bereitete die
Vorgänge in Auschwitz als einheitliche Tat vor, bei der prinzipiell jeder Mitwirkende
strafrechtlich verantwortlich war. Dem folgte das Gericht nicht. Nach geltender
Rechtslage musste die Tatbeteiligung jedes Einzelnen mit jeweils selbständigen
Handlungen herausgearbeitet werden, mit der Folge von Einzelstrafen und Gesamtstrafenbildung.
Dennoch blieb das Geschehen des
Massenmordes als historischer Tatbestand nicht unbeachtet. Maßgeblichen
Anteil hieran hatten die von der Justiz
als Sachverständige bestellten Zeithistoriker Hans Buchheim, Martin Broszat und
Helmut Krausnick vom Institut für Zeitgeschichte sowie Hans-Adolf Jacobsen
von der Universität Bonn.
Basierend auf diesen Gutachten behandelte etwa ein Drittel der 698 Seiten
umfassenden Anklageschrift u. a. die
antijüdische Politik des Nationalsozialismus und die Geschichte des Lagers
Auschwitz innerhalb des
NS-Konzentrationslagersystems. Der Rest widmete
sich der strafrechtlichen
Bewertung der Anschuldigungen gegen einzelne
Angeklagte. Wegen der in
Auschwitz begangenen
Grausamkeiten plädierte
die Staatsanwaltschaft
grundsätzlich auf Mord.
Das Gericht folgte dieser
Argumentation jedoch nur
zum Teil und ließ diesen
Anklagepunkt lediglich
gegen 11 der 23 Beschuldigten zu, soweit diesen
3
eine unmittelbare,
4
Der Zeithistoriker
Hans Buchheim
(geb.1922) war
Gutachter im
Auschwitz-Prozess.
Vor allem seine
Gutachten über den
Befehlsnotstand
und das Verhältnis
von Befehl und
Gehorsam im NSStaat sowie über
die Anatomie des
SS-Staates spielten im Prozess
eine herausragende Rolle.
Kameraleute und Pressevertreter vor dem Gerichtssaal.
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96 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 41
persönliche Beteiligung an einer Tötung nachgesagt wurde. Die übrigen Beschuldigten wurden als „Gehilfen“ angeklagt, die lediglich Beihilfe geleistet hatten und
damit milder zu bestrafen waren. Die Strafkammer folgte in diesem Punkt der
Rechtsprechung des BGH.
Da im Landgericht Frankfurt kein geeigneter Sitzungssaal zur Verfügung stand,
trat das Gericht am 20. Dezember im Rathaussitzungssaal des Frankfurter Römer
unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer erstmals zusammen.
Ab April 1964 wurden die Verhandlungen im neu erbauten Bürgerhaus Gallus fortgeführt. Der Prozess dauerte bis zum 20. August 1965. 183 Verhandlungstage wurden benötigt. 360 Zeugen waren zu vernehmen. Hinsichtlich Dauer und Umfang war
der Auschwitz-Prozess bis zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Rechtsgeschichte
einmalig.
Hans Karl Hofmeyer
(1904-1992) war
Vorsitzender Richter
im Auschwitz-Prozess.
Mit seiner souveränen
Verhandlungsführung
setzte er sich selbst
ein Denkmal; die FAZ
bezeichnete ihn mit
großem Respekt als
„Fanatiker der
Sachlichkeit“.
2
Eröffnung des
AuschwitzProzesses im
Frankfurter
Römer am
20. Dezember
1963.
1
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Tafel 42 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 97
Prozessverlauf
Der Auschwitz-Prozess stieß auf ein enormes mediales Interesse im In- und Ausland. Im Verlauf des Prozesses wurde der Öffentlichkeit erstmals in vollem Umfang
bewusst, welches ungeheuerliche Ausmaß die in deutschem Namen in Auschwitz
begangenen Verbrechen angenommen hatten.
Der Prozess belegte aber auch, wie sehr die politischen Zeitumstände der 1960er
Jahre auf das Prozessgeschehen einwirkten. Der Kalte Krieg hatte gerade seinen
Höhepunkt erreicht. Dies zeigte sich an der Debatte um die Zulassung des Strafverteidigers Friedrich Karl Kaul als Nebenkläger aus der DDR, der den Prozess für
politische Zwecke zu nutzen verstand.
Der Ost-West-Konflikt war
auch deutlich spürbar bei
der Ortsbegehung in
Auschwitz im Dezember
1964. Bereits im Juni dieses
Jahres hatte als Nebenklagevertreter Rechtsanwalt
Henry Ormond einen Antrag
auf Durchführung einer
Augenscheinnahme im ehemaligen Lager Auschwitz
gestellt, um Aussagen der
Prozessbeteiligten verifizieren und bewerten zu können. Sowohl das Gericht als
auch mehrere Verteidiger
hatten gegen eine Ortsbesichtigung zunächst
Bedenken. Politische Widerstände seitens des Hessischen und des Bundesjustizministeriums kamen
hinzu.
4
Angeklagte während der Verhandlung im Frankfurter Römer.
2
Nach einem Flug von
Stuttgart über Wien – ein
Flug über das Gebiet der
DDR war nicht möglich –
nach Warschau und einer
Reise von dort im Bus
nach Krakau konnte die
Delegation, bestehend aus
Amtsgerichtsrat Hotz,
drei Anklagevertretern,
drei Nebenklagevertretern,
elf Verteidigern und lediglich einem der Angeklagten, Dr. Lucas (Bildmitte),
vom 14. bis 16. Dezember
1964 den Ortstermin
durchführen.
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98 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 42
Allein Fritz Bauers Beziehungen war es zu verdanken, dass die Regierung der
Volksrepublik Polen dem Gericht einen Ortstermin in Auschwitz ermöglichte,
obgleich die Bundesrepublik noch keine diplomatischen Beziehungen zu Ostblockstaaten unterhielt.
Nach längeren Verhandlungen zwischen dem Schwurgericht, der Anklagevertretung und den Bonner Ministerien der Justiz und des Innern sowie des Auswärtigen Amtes wurde schließlich akzeptiert, dass ein eigens beauftragter Richter
des Schwurgerichts, Amtsgerichtsrat Walter Hotz, diesen Ortstermin des Gerichts
durchführen sollte. Die polnische Regierung gab dazu grünes Licht und sicherte
freies Geleit zu. Begleitet wurde das Gericht von Vertretern der Presse, die mit ihren
bildlichen Eindrücken die deutsche Öffentlichkeit eindringlich mit dem Schauplatz
der in Auschwitz begangenen Verbrechen konfrontierten.
Die Delegation des Frankfurter
Schwurgerichts bei ihrer Besichtigung des Stammlagers
Auschwitz I. Im Hintergrund
die Blöcke 10 und 11;
dazwischen der Innenhof mit
der berüchtigten „Schwarzen
Wand“ - ein Kugelfang aus
Isolierplatten an der Außenmauer - vor der zahllose
Häftlinge erschossen wurden.
3
Amtsgerichtsrat Walter Hotz (19171974) führte die Gerichts-Delegation
bei der Ortsbesichtigung in Auschwitz an. Hotz, der zwischen 1937 und
1945 Mitglied der NSDAP gewesen war,
hatte bereits 1938 seine erste
juristische Staatsprüfung abgelegt.
Nach Wehrdienst, Gefangenschaft und
Entnazifizierung nahm er sein Studium wieder auf und bestand 1951 die
2. Staatsprüfung. Danach setzte er
seine Karriere fort bis zum Vorsitzenden Richter beim Landgericht
Frankfurt.
1
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Tafel 43 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 99
Schuld und Verjährung
Dass in Auschwitz Menschen umgebracht und misshandelt wurden, gaben die
Angeklagten zu, bestritten jedoch fast einhellig, an den Morden persönlich beteiligt
gewesen zu sein.
Die größte Schwierigkeit
für das Gericht bestand
in der Beurteilung der
Schuldfrage und der Täterschaft. Die damalige Rechtsprechung des BGH favorisierte die so genannte
subjektive Theorie, wonach
derjenige als Täter gilt, der
ein subjektives Interesse
an der Begehung der Tat
besitzt. Derjenige, der die
Tat ausführt, indem er sich
dem Willen des Täters
unterwirft, gilt als Gehilfe.
Es genügte nicht, sich auf
den Befehlsnotstand oder
die äußeren Umstände zu
berufen, wenn dem Täter
die Möglichkeit offen
stand, die Verantwortung
für die Ausführung der Tat
zu erkennen. Dem Gericht
oblag es, in jedem Einzelfall zu prüfen, welche
innere Einstellung ein
Täter zur Tat hatte. Die
Verteidigung wiederum
bemühte sich, ihre Mandanten möglichst als
„Gehilfen“ ohne eigenen
inneren Tatantrieb darzustellen. Die Klärung der
individuellen Schuld war
damit ausschlaggebend
für die Verhängung des
Strafmaßes im Einzelfall.
1
2
Ernst Benda (1925-2009)
studierte nach seinem Kriegsdienst Rechtswissenschaften
und legte 1955 sein Staatsexamen an der Freien Universität Berlin ab. Seit 1946
gehörte er der CDU an. Als
Mitglied des Deutschen Bundestages zwischen 1957 und
1971 setzte er sich in der
Debatte um die Verjährung
von Mord für die vollständige
Aufhebung der bislang geltenden Verjährungsfrist ein und
stellte die Frage nach der
historischen Schuld - auch
gegen Bedenken in der eigenen
Partei. Benda erwarb sich
parteienübergreifend hohes
Ansehen und wurde 1971 zum
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt.
Adolf Arndt (1904-1974) studierte in Marburg und Berlin
Rechtswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Philosophie.
Im NS-Staat als „Halbjude“ verfolgt, trat er 1946 in die SPD
ein und galt dort bald als
„Kronjurist“ der SPD-Fraktion.
In der Frage der Verjährung
hielt er eine Änderung des
Grundgesetzes für notwendig.
In der Debatte im Bundestag verneinte er die Kollektivschuld
der Deutschen, betonte aber die
historische Schuld und die individuelle Mitverantwortung an den
Verbrechen des Staates. Um eine
Wiederholung derartiger Verbrechen in der Zukunft zu vermeiden, plädierte er für die Notwendigkeit des Erinnerns.
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100 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 43
Das Verfahren stand insofern unter Zeitdruck, als Verjährungsfristen drohten. Für
Totschlag im Sinne des § 212 StGB, der vor 1945 begangen wurde, war die Frist
zum Zeitpunkt des Auschwitzprozesses bereits abgelaufen. Für Mord betrug die
Verjährungsfrist, gerechnet vom Kriegsende 1945 an, 20 Jahre. Danach hätten des
Mordes beschuldigte Täter ab 1965 nicht mehr bestraft werden können.
Im Deutschen Bundestag wurde jedoch nach heftiger Debatte zunächst eine Fristverlängerung bis zum Jahr 1969 beschlossen. Als auch dies nicht ausreichte, um
weitere NS-Verfahren durchzuführen, beschloss der Bundestag eine Fristverlängerung um 10 Jahre. Erst im Jahr 1979 wurde die Verjährung für Mord gänzlich
aufgehoben.
3
Die Frage nach einer Verjährung von NS-Verbrechen löste eine breite,
kontrovers geführte Debatte in Politik und Gesellschaft aus.
Titelblatt des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom März 1965.
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Tafel 44 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 101
Die Angeklagten und ihre Taten
Die Anklage richtete sich gegen den Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf
Höß, Robert Mulka, den Leiter der SS-Apotheke Dr. Victor Capesius, den Leiter der
SS-Zahnstation Dr. Willy Frank, den Lagerarzt in Birkenau und Truppenarzt im
Stammlager Dr. Franz Bernhard Lucas, den Zahnarzt Dr. Willi Schatz, den Schutzhaftlagerführer Franz Hofmann, den Block- und Rapportführer Oswald Kaduk,
den Blockführer in Birkenau Stefan Baretzki, die ehemaligen SS-Unterscharführer
Johann Schoberth und Emil Hantl, den SS-Hauptscharführer Hans Nierzwicki, die
SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, Klaus Dylewski, Josef Klehr und Hans Stark,
die SS-Unterscharführer Heinrich Bischoff, Karl Höcker, Herbert Scherpe und Arthur
Breitwieser, den SS-Rottenführer Pery Broad, den Arrestaufseher Bruno Schlage,
den SS-Wachmann Gerhard Neubert sowie den ehemaligen Häftling und Kapo Emil
Bednarek. Mit den unterschiedlichen Rängen und Funktionen hatte die Staatsanwaltschaft einen gewissen Querschnitt der Verantwortlichkeiten dokumentiert.
2
1
Der Hauptangeklagte im
Auschwitz-Prozess war
Robert Mulka (1895-1969).
Nach seiner Zeit als
Freiwilliger im 1. Weltkrieg schloss er sich
1928 dem paramilitärischen „Stahlhelm“ an und
war Mitglied im Nationalverband deutscher Offiziere. 1940 trat er in
die NSDAP ein, 1941 in
die Waffen-SS. Zwischen
Juli 1942 und März 1943
war er Adjutant des
Lagerkommandanten Höß in
Auschwitz, zuletzt im
Rang eines SS-Obersturmbannführers.
3
Victor Capesius (19071985) stammte aus Rumänien. 1941/42 diente er
zunächst bei der rumänischen Armee, dann als
„Volksdeutscher“ bei der
Wehrmacht und bei der
Waffen-SS. Vom September
1943 bis zur Auflösung
des Lagers Auschwitz
leitete er die
KZ-Apotheke. Er wurde
mehrfach beschuldigt, an
Selektionen beteiligt
gewesen zu sein.
Wilhelm Friedrich Boger
(1906-1977), von Beruf
Kaufmann, stieß schon in
den 1920er Jahren zur NSJugend. Bereits 1930 war
er Mitglied der Allgemeinen SS. 1933 trat er in
den Dienst der Bereitschaftspolizei, dann in
den der Politischen Polizei. Ab 1942 gehörte er
zur SS-Mannschaft in
Auschwitz, zuerst bei der
Wachkompanie, dann bei
der Politischen Abteilung
als Referatsleiter für
Ermittlungen und Vernehmungen, bei denen er sich
als besonders grausam
hervortat.
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102 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 44
5
4
Oswald Kaduk (19061997), Sohn eines
Schmieds, war von
Beruf Fleischer. 1939
war er Mitglied der
Allgemeinen SS, später
dann der Waffen-SS.
Seit 1941 gehörte er
der Wachmannschaft des
Lagers Auschwitz an.
Nach der Evakuierung
des Lagers setzte er
seinen Dienst im KZ
Mauthausen fort. Kaduk
war wegen seiner
besonderen Brutalität
gefürchtet.
Hans Stark (1921-1991)
war der jüngste Angeklagte. Bereits mit 16
Jahren war er der SS
beigetreten, zunächst
als Staffelmann in der
Totenkopfstandarte in
den KZ Brandenburg und
Buchenwald, dann als
Rekrutenausbilder in
Dresden und Dachau.
1940 kam er als Angehöriger der SS-Mannschaft
nach Auschwitz. Als
einziger der Angeklagten äußerte er Bedauern
über seine Mitwirkung
an den Verbrechen.
6
Josef Klehr (19041988) war 1932 der
NSDAP und der SS beigetreten. Der gelernte
Tischler ging 1939 zur
Waffen-SS, zunächst
als Wachmann im KZ
Buchenwald. 1940 kam
er als SS-Sanitäter
ins KZ Dachau und
schließlich im Oktober
1941 nach Auschwitz.
Im Stammlager hatte
der Sanitäter Klehr
zahlreiche Gefangene
eigenhändig „abgespritzt“, d.h. mit
einer Phenolinjektion
in den Herzmuskel
getötet.
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Tafel 45 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 103
Zeugen und Verteidigung
Im Auschwitz-Prozess kam den Zeugen eine für den Ausgang des Verfahrens ganz
entscheidende Rolle zu. Mit ihren Aussagen lieferten sie wertvolle Beweismittel,
die das Gericht zur Feststellung der Verantwortlichkeiten und der Schuld zu
prüfen hatte.
Insgesamt wurden 359 Zeugen gehört, davon waren 211 ehemalige Häftlinge und
Überlebende von Auschwitz, 85 ehemalige Angehörige der SS und 63 weitere
Zeugen. Die größte Gruppe stellten die politischen Häftlinge, meist Polen, gefolgt
von den jüdischen Überlebenden, von sogenannten Kriminellen sowie von Sinti
und Roma. Viele der Zeugen kamen mit Sondergenehmigungen aus den Ländern
des Ostblocks, mit denen die Bundesrepublik während der Zeit des Kalten Krieges
keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Ihr Auftritt im Prozess bedeutete für
sie eine belastende Konfrontation mit ihren Peinigern und mit deren Heimatland,
das einige zum ersten Mal seit Kriegsende betraten. Um die Zeugen zu betreuen,
setzte das Gericht daher eigens psychologisch geschultes Personal und Dolmetscher ein.
Mit der Möglichkeit zur
Aussage und einem Auftritt als Zeugen vor
Gericht erhielten Überlebende von Auschwitz
oft erstmals Gelegenheit, das schreckliche
Geschehen und ihre persönlichen Erlebnisse zu
beschreiben. Für manche Zeugen bedeutete
das Interesse an ihrem
Schicksal und die Aussage eine seelische
Befreiung; für andere
aber auch eine Qual,
wenn sie sich ihre
Leiden im Angesicht der
Angeklagten vergegenwärtigten. Die Hölle von
Auschwitz rückte ins
öffentliche Bewusstsein.
Ob die Aussagen aber im
Sinne des Strafprozesses
juristisch verwertbar
waren, stand auf einem
anderen Blatt.
Rudolf Vrba (Jg. 1924,
Geburtsname: Walter
Rosenberg) wurde 1942
nach Auschwitz deportiert. Er gehörte dort
dem Arbeits- und dem
Aufräumkommando an
und war Blockschreiber
in Auschwitz-Birkenau.
Insofern war er ein
wichtiger Zeuge der
Anklage für die
Funktionsweise der SSHerrschaft im Lager.
1
2
Otto Wolken (geb.
1903 in Wien), war
von Juli 1943 bis zur
Befreiung des Lagers
in Auschwitz als
Häftlingsarzt im
Quarantänelager
tätig. Er beschrieb
die hygienischen
Zustände in Auschwitz-Birkenau und den
brutalen Umgang des
SS-Wachpersonals und
der Kapos mit den
vornehmlich kranken
Häftlingen.
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104 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | Tafel 45
Die meisten Zeugen konnten zwar wertvolle Hinweise auf die Organisation des
Lagers, auf die Funktionsträger und auf bestimmte Ereignisse liefern. Die Tathergänge, die Örtlichkeiten und die schuldhafte Beteiligung der Angeklagten mussten
aber im Einzelnen nachgewiesen werden. Unabdingbar war ein detailgenaues,
differenziertes und unvoreingenommenes Erinnern, das einige Zeugen rund
20 Jahre nach Auschwitz nicht leisten konnten. Aussagemängel beeinträchtigten
den juristischen Beweiswert vieler Zeugenaussagen.
Tadeusz Paczuła
(geb. 1920 in
Gleiwitz),
Chirurg, wurde
als politisch
verfolgter Pole
im Dezember 1940
nach Auschwitz
deportiert, wo
er Rapportschreiber im
Häftlingskrankenbau des Stammlagers war.
3
Herrmann Langbein (19121995) war zwischen 1942 und
1944 im KZ Auschwitz inhaftiert. 1954 war er Mitbegründer des Internationalen
Auschwitzkomitees. Er setzte
sich vehement für die strafrechtliche Verfolgung von
NS-Verbrechern ein und trug
maßgeblich bei zu den Ermittlungen im AuschwitzVerfahren. Im Prozess selbst
trat er als Zeuge auf.
4
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Tafel 46 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 105
Dem Vorsitzenden oblag die schwierige Aufgabe, bei den Vernehmungen nach der
unverfälschten Wahrheit zu suchen. Dem stand das Interesse der Verteidiger der
Angeklagten gegenüber, ihre Mandanten zu entlasten, um ein möglichst geringes
Strafmaß zu erzielen. Daher versuchten sie, die Zeugen der Anklage in Widersprüche zu verwickeln und ihre Aussagen zu erschüttern. Für die Zeugen bedeutete
diese Strategie eine zusätzliche Qual und Belastung. Häufig ergaben sich Probleme
mit der Beherrschung der deutschen Sprache oder bei der Übersetzung durch
Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Da viele Zeugen aus den Ostblockländern
kamen, versuchte die Verteidigung, diese als Handlanger des Kommunismus zu
diffamieren und ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich zu erschüttern.
Neben den Zeugen der Anklage traten im Prozess auch Zeugen der Verteidigung
auf. Meist handelte es sich um ehemaliges Personal der SS, das in höheren Verwaltungsämtern tätig gewesen war. Einige dieser Zeugen waren schon in anderen
NS-Verfahren verurteilt worden, sodass sie wegen der gleichen Straftaten nicht
ein zweites Mal belangt werden konnten.
2
1
Konrad Morgen (1909-1982) war
ehemals SS-Richter im Reichskriminalpolizeiamt gewesen.
Während des Krieges leitete er
eine Kommission, die Unterschlagungen, Bereicherungen und
Kompetenzüberschreitungen in
Konzentrationslagern durch
Angehörige der SS untersuchte.
Im Auschwitz-Prozess trat er
sowohl als Zeuge der Anklage
als auch der Verteidigung auf.
Für ihn besaßen die Wirtschaftsstraftaten der Angeklagten noch immer einen höheren
Stellenwert als der Massenmord.
Dr. Friedrich Karl Kaul (19061981) wurde 1933 aus „rassischen Gründen“ aus dem Justizdienst entlassen und 1935 von
der Gestapo verhaftet. Nach der
Haftentlassung emigrierte Kaul
zunächst nach Kolumbien und
erlebte das Ende des Krieges in
den USA. Noch 1945 kehrte er
nach Berlin zurück und trat in
die KPD ein. In der Bundesrepublik verteidigte er in mehreren
Staatsschutzprozessen Mitglieder der verbotenen KPD und nahm
in NS-Prozessen die Funktion
des Nebenklägers wahr.
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In der Regel führte die Verteidigung sie zur Erläuterung allgemeiner Themen wie
der Interpretation des Befehlsnotstandes ins Feld.
Einige Auschwitz-Opfer wurden von Nebenklägern vertreten. Dazu gehörten die
Rechtsanwälte Henry Ormond und Christian Raabe sowie der erst nach langer
Diskussion zugelassene Ost-Berliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul, der
sechs Mandanten aus der DDR vertrat. Ormond und Kaul waren selbst Verfolgte
des NS-Regimes. Wiederholt kam es zwischen ihnen und den Verteidigern der
Angeklagten sowie den Zeugen der Verteidigung zu heftigen Wortwechseln, wobei
vor dem Hintergrund des Kalten Krieges neben den juristischen auch politische
Aspekte eine Rolle spielten.
4
3
Rechtsanwalt Dr. Hans Laternser
(1908-1969)fungierte bereits
bei den Nürnberger Prozessen
als Verteidiger von Mitgliedern
des Obersten Kommandos der
Wehrmacht. Später war er einer
der bekanntesten Verteidiger in
Prozessen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Im
Auschwitz-Prozess übernahm er
die Verteidigung der Angeklagten Broad, Capesius, Dylewski,
Frank und Schatz.
Rechtsanwalt Fritz Steinacker
(geb. 1921) verteidigte in
mehreren großen Frankfurter
NS-Verfahren bekannte NaziVerbrecher wie Otto Hunsche,
Hermann Krumey und Arnold
Strippel. Als Partner von
Dr. Laternser übernahm er
gemeinsam mit diesem die
Verteidigung der Angeklagten
Broad, Capesius, Dylewski,
Frank und Schatz.
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Tafel 47 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 4. Auschwitz | 107
Urteil
Am 19. und 20. August 1965 verkündete der Vorsitzende Richter Hofmeyer mündlich
das Urteil, nicht ohne zu Beginn darauf hinzuweisen, dass dieses Verfahren als
Grundlage für „eine umfassende geschichtliche Darstellung des Zeitgeschehens“
zu bewerten, für das Gericht jedoch als normaler Strafprozess zu behandeln war.
Jeder konkrete Tatbeitrag wurde als Einzelfall bewertet. Daher fielen die Strafmaße
sehr unterschiedlich aus.
Die Angeklagten Breitwieser, Schatz und Schoberth wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen – die Aussagen jener Zeugen, die gegen diese SS-Leute ausgesagt hatten, waren nach Auffassung des Gerichts nicht stichhaltig. Wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord wurden die Angeklagten Hantl
und Scherpe zu viereinhalb
Jahren Zuchthaus verurteilt. In Anrechnung der
Untersuchungshaft konnHerbert Scherpe (1907-1997)
ten sie den Gerichtssaal
(hier links im Bild), wurde
nach dem Urteilsspruch als
bereits 1931 Mitglied der
NSDAP und der Allgemeinen
freie Männer verlassen.
Der Hauptangeklagte Mulka
hatte 1968 Haftverschonung erhalten, vier Angeklagte (Capesius, Stark,
Broad und Dylewski)
kamen nach Abbüßung von
rund zwei Dritteln der verhängten Strafen in den
Jahren bis zum Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (Januar /
Februar 1969) aus der
Untersuchungshaft frei,
drei (Frank, Höcker und
Schlage) wurden 1969/1970
aus der Haft entlassen.
SS. Vom Sommer 1940 an bis
zur Evakuierung im Januar
1945 gehörte er in verschiedenen Funktionen zur
Lagermannschaft, zuletzt
im Rang eines SS-Oberscharführers.
1
Johann Schoberth (1922-1988)
kam nach seinem Fronteinsatz
bei der Waffen-SS 1943 ins
KZ Auschwitz und gehörte
dort zunächst der Wachmannschaft, dann der Politischen
Abteilung an. Eine persönliche Schuld war ihm nicht
nachweisbar.
2
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Nicht mehr in Freiheit gelangten die zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten
Mörder Franz Hofmann und Wilhelm Boger. Sie verstarben 1973 bzw. 1977 während
der Haft. Besonders hart traf es niedere Chargen, die so genannten Exzesstäter,
die nicht nur auf Befehl, sondern auch eigenmächtig gemordet hatten: Klehr kam
1988 frei, nachdem er 28 Jahre in Haft verbracht hatte, Kaduk wurde 1989 entlassen;
30 Jahre hatte er eingesessen.
Besondere Fälle stellten der als Mörder abgeurteilte vormalige Funktionshäftling
Bednarek und der ebenfalls zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Angeklagte
Baretzki dar. Bednarek wurde 1975 begnadigt, Baretzki verübte 1988 Selbstmord
in der Haft.
3
Franz Bernhard Lucas (1911-1994), seit 1933 Mitglied der SA, seit 1937
der NSDAP und der SS, war bis Oktober 1944 SS-Lagerarzt in AuschwitzBirkenau und Truppenarzt in Auschwitz-Stammlager. Er wurde als „Gehilfe“
zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob 1969 das Urteil gegen ihn auf; bei der Neuverhandlung
sprach das Landgericht Frankfurt ihn im Oktober 1970 frei.
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4
Oswald Kaduk (1906-1997), den viele Zeugen als besonders brutal und grausam
beschrieben hatten, richtete 1988, ein Jahr vor seiner Haftentlassung, ein
– vergebliches – Gnadengesuch an Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
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| 111
III.
Fazit und Ausblick
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112 | III. Fazit und Ausblick | Tafel 48
Die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft als Zentrum der NS-Prozesse
Der spektakuläre Auschwitz-Prozess wird in einem Atemzug genannt mit Fritz
Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt. Seit Beginn seiner Amtszeit 1956
setzte er sich dafür ein, den eingetretenen Stillstand bei der Strafverfolgung von
NS-Verbrechen zu beenden. Mit seinem unermüdlichen Engagement hatte Fritz
Bauer maßgeblichen Anteil daran, dass nach der gesellschaftspolitischen Integration früherer Nationalsozialisten seit dem Ende der 1940er Jahre nun allmählich die
Mauern des Schweigens, die um die Verbrechen des NS-Regimes gezogen worden
waren, überwunden werden konnten. Fritz Bauer war die Triebfeder dafür, dass die
Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft zu einem bundesweiten Zentrum bei der
strafrechtlichen Ahndung von nationalsozialistischen Gewalttaten wurde.
Der Auschwitz-Komplex selbst war nach dem Urteil vom August 1965 noch lange
nicht abgeschlossen. Dicht nach dem 1. folgten zwischen 1965 und 1968 der 2. und
3. Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Auch die Ermittlungen gegen Josef Mengele, den
berüchtigten Lagerarzt von Auschwitz, trieb Fritz Bauer bis zu seinem
Tod voran.
Seit 1959 intensivierte
Fritz Bauer im Zuge der
Auschwitz-Ermittlungen
die Suche nach dem KZArzt Josef Mengele
(1911-1979). Bauer
wusste, dass Mengele
bei seiner Flucht durch
seine Familie in Günzburg unterstützt sowie
durch ein Netzwerk
„alter“ Nationalsozialisten gedeckt wurde.
Doch fand Mengele langfristig Unterschlupf in
Paraguay und Brasilien.
Mit den Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft bezüglich der
NS-„Euthanasie“ und der NS-Justiz
brachte Fritz Bauer ab 1959 noch
ein weiteres Großverfahren auf den
Weg. Damit wandte sich die Generalstaatsanwaltschaft jenen „Schreibtischtätern“ zu – meist Ärzte und
Juristen –, die sich für ihre Beteiligung an den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes bis dato
vor deutschen Gerichten kaum verantworten mussten. Stattdessen
1
waren die früheren Funktionsträger
des 3. Reiches seit Beginn der Ära
Adenauer 1949 weitgehend unbehelligt von strafrechtlicher Ahndung in die neue
demokratische Ordnung integriert worden.
Die in Hessen während des Nationalsozialismus verübten Patientenmorde waren
bereits zwischen 1946 und 1948 bei den Frankfurter „Euthanasie“-Prozessen
Gegenstand der Strafverfolgung. Hier hatte mit Ärzten und Pflegepersonal die
Tätergruppe vor Gericht gestanden, die in den jeweiligen Anstalten eigenhändig
getötet oder sich unmittelbar an der Ermordung kranker Menschen beteiligt hatte.
Wie Auschwitz auch, so sah Bauer die NS-Euthanasie aber weniger als ein Verbrechen einzelner Individuen, sondern als ein staatlich gelenktes, bürokratisches
Massenverbrechen.
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Diejenigen, die an zentraler Stelle in Berlin, gewissermaßen an den Schalthebeln der
Macht, für die Planung und Durchführung der reichsweiten Krankenmorde verantwortlich waren, wollte Fritz Bauer zur Rechenschaft ziehen. Bei ihnen handelte es
sich um die „großen Räder“ in der NS-Mordmaschinerie.
Rasch fokussierten sich die Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft
auf den 1959 verhafteten Werner Heyde: Er war einer der Hauptverantwortlichen der
zentral aus Berlin gesteuerten „Aktion T4“ zur Ermordung behinderter Menschen.
Nach dem Krieg war der „Euthanasie“- Professor Heyde unter dem Pseudonym
„Dr. Fritz Sawade“ in Schleswig-Holstein
untergetaucht. In Flensburg hatte sich
„Dr. Sawade“ eine neue ärztliche ExisBereits 1947 hatte
tenz aufgebaut. Lange bevor Fritz Bauer
der Rechtsgelehrte
Gustav Radbruch
die Ermittlungen gegen ihn aufnehmen
(1878-1949) auf die
ließ, war die NS-Vergangenheit Heydes
„Rechtsblindheit“
dort ein offenes, gesellschaftlich aber
von NS-Juristen und
-Ärzten hingewiesen:
toleriertes Geheimnis. Die GeneralstaatsVermeintlich staatsanwaltschaft widerlegte mit ihren Ermittpflichtmäßiges Hanlungen, die im Mai 1962 in eine umfangdeln im NS-Staat sei
oftmals prinzipiell
reiche Anklageschrift mündeten, die
(natur-) rechtsEinlassungen Heydes, er sei als reiner
pflichtwidrig
Befehlsempfänger von der Rechtmäßiggewesen.
keit seines Handels ausgegangen.
Vielmehr trug Heyde den massenhaften
2
Krankenmord aus Überzeugung mit und
war sich der fehlenden Legalität der „Aktion T4“ bewusst.
Bis zu seinem Selbstmord
am 13. Februar 1964 in der
JVA Butzbach, wenige Tage
Werner Heyde (1902vor Beginn der Hauptver1964) nach seiner
handlung vor dem LandgeÜberführung in das
Internierungslager
richt Limburg, zeigte er keiNeumünster-Gadeland.
nerlei Reue oder Mitgefühl
Heyde war überzeugter
für die „Euthanasie“- Opfer.
und engagierter Nationalsozialist; zugleich
Auch Heydes Mitangeklagte
nutzte er zielstrebig
Gerhard Bohne, Hans Hefeldie Karrierechancen,
mann und Friedrich Tillmann
die das Regime ihm
bot.
– allesamt Mitorganisatoren
der „Aktion T4“ – konnten
sich ihrer juristischen
Bestrafung entziehen.
1
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3
Heyde selbst sah sich als ein Opfer politischer Justiz, wie der Auszug
aus seinem Abschiedsbrief belegt. Wiederholt musste sich Fritz Bauer den
mitunter antisemitisch gefärbten Vorwurf gefallen lassen, er verfolge
einen persönlich motivierten Rachefeldzug gegen fehlgeleitete, aber
letztlich ehrbare Mitbürger.
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Tafel 49 | III. Fazit und Ausblick | 115
Besonders frustrierend dürfte für Fritz Bauer und seine Staatsanwälte die Tatsache
gewesen sein, dass Bohne und Hefelmann die Humanität des Rechtsstaates
geschickt zu nutzen wussten, als sie sich aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklären ließen. Wie viele andere NS-Täter auch, verbrachten sie
den Rest ihres Lebens in Freiheit.
Hans Hefelmann (1906-1986) bei
der Verhandlung vor dem Landgericht Frankfurt im Februar 1964.
Er war in der „Kanzlei des Führers“ einer der administrativen
Hauptorganisatoren der NSEuthanasie. Nach dem Krieg
wähnte er sich vor Strafverfolgung sicher. Mittels verschiedener ärztlicher Gutachten wegen
seines Gesundheitszustands erwirkte Hefelmann 1964 die vorläufige, dann 1972 die endgültige Verfahrenseinstellung.
2
4
Wegen ihrer Tätigkeit
als Ärzte in „Euthanasie“-Tötungsanstalten
mussten sich Klaus
Endruweit, Aquilin Ullrich und Heinrich Bunke
(v.l.n.r.) sowie Kurt
Borm nach Anklage durch
die Generalstaatsanwaltschaft ab 1965 vor
dem Landgericht Frankfurt am Main verantworten. Das Verfahren ging
zweimal in die Revision
vor den Bundesgerichtshof und endete schließlich 1988/90 mit kurzen
Haftzeiten bzw. mit
Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit.
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Resümee
Gelingen und Scheitern liegen bei der justiziellen Aufarbeitung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zwischen 1945 und dem Ende der Ära von Fritz Bauer
dicht beieinander. Die Strafverfolgung von NS-Kriminalität setzte in Hessen bereits
1945 unter Aufsicht der US-Militärregierung ein. Die ersten Verfahren richteten sich
vorrangig auf Vergehen, die während des NS-Regimes in Hessen selbst stattgefunden hatten. Diese frühe juristische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verlor dann aber auch in Hessen mit Ende der Besatzungsherrschaft deutlich
an Schwung.
Diejenigen, die den Nationalsozialismus bejaht, mitgetragen und durch ihn korrumpiert waren, wurden während der Ära Adenauer in die Gesellschaft der Bundesrepublik integriert – gefördert durch Amnestien wie dem Straffreiheitsgesetz von
1954. An die Stelle einer Aufarbeitung der NS-Verbrechen trat in den 1950er Jahren
deren kollektives Beschweigen.
1
Das Straffreiheitsgesetz stellte auch Taten unter Straffreiheit, die
in der Zusammenbruchsphase des NS-Regimes stattgefunden hatten. Die
politische Botschaft dieses Gesetzes bestand darin, NS-Kriminalität
ungeahndet zu lassen und die Täter mit einem Schlussstrich unter ihre
Vergangenheit in die Gesellschaft der Bundesrepublik zu integrieren.
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2
Die 832 Seiten umfassende Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft
im „Euthanasie“-Verfahren gegen Heyde u.a. hatte über ihren juristischen
Zweck hinaus jahrzehntelang den Rang eines zeithistorischen Standardwerks zum NS-Krankenmord.
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Mit offener, aber auch stillschweigender Unterstützung der Landesregierung unter
Ministerpräsident Georg August Zinn machte sich Bauer am Ende dieses Jahrzehnts daran, das Eis des Schweigens und Verdrängens zu brechen. Zwar erreichte
Fritz Bauer viele seiner hochgesteckten Ziele zu seinen Lebzeiten nicht. Er kritisierte die relativ geringen Strafen, die das Frankfurter Schwurgericht im AuschwitzProzess verhängt hatte. Das große „Euthanasie“-Verfahren verlief zum guten Teil im
Sande, trotz der umfangreichen Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft. Auch
seine Bemühungen, die „Blutrichter“ – also jene Richter, die im Nationalsozialismus Unrechts-Urteile gesprochen hatten – aus ihren Ämtern zu entfernen, waren
weitgehend vergeblich.
3
Viele Deutsche reagierten auf den Auschwitz-Prozess mit innerem Widerstand. Andererseits nutzten aber auch viele, vor allem jüngere Interessierte die Gelegenheit, sich direkt über den Massenmord zu informieren.
Hier der vollbesetzte Zuschauerraum im Bürgerhaus Gallus, 3. April 1964.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus auf juristischem Wege zu sühnen und
Gerechtigkeit zu schaffen, blieb Bauer und seinen Mitstreitern zum Teil verwehrt.
Doch drang mit den NS-Prozessen der 1960er die grausige Hypothek der NS-Zeit
erstmals nachhaltig in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung. Die von der
Generalstaatsanwaltschaft angestoßenen Verfahren erfüllten langfristig eine
„volkspädagogische“ Funktion: die „historische Wahrheit kund und zu wissen tun“
und damit einen Beitrag zu leisten zur politischen Aufklärung.
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Tafel 50 | III. Fazit und Ausblick | 119
4
Zahlreiche Intellektuelle ließen sich vom
Auschwitz-Prozess
inspirieren. Peter
Weiss (1916-1982), ein
deutsch-schwedischer
Künstler und Dramatiker, griff in seinem
Theaterstück „Die
Ermittlung. Oratorium
in elf Gesängen“ die
Thematik auf. Die
Uraufführung an der
Ostberliner Volksbühne
war während des Kalten
Krieges ein Politikum.
Hier mit Erwin Piscator
(l.), dem dortigen
Intendanten.
Wie weit Fritz Bauer einerseits seiner Zeit voraus war und wie stark andererseits der
Widerstand gegen ihn war, zeigt der Wandel der Rechtsauffassung bei den NS-Verbrechen. Die gängige Justizpraxis der 1960er Jahre konterkarierte häufig eine angemessene Verurteilung der NS-Täter. Zum einen hatte der Bundesgerichtshof 1962 in
einem Grundsatzurteil den Gerichten die Möglichkeit eröffnet, Täter, denen wegen
Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe drohte, lediglich als „Gehilfe“ zu verurteilen.
Sofern sie nicht nachweislich aus „niedrigen Beweggründen“ eigenhändig Menschen getötet und sich damit des Mordes gemäß § 211 Strafgesetzbuch schuldig
gemacht hatten, mussten sich NS-Täter nur als „Gehilfe“ wegen der „Beihilfe“ zum
Mord verantworten: Die Massenvernichtung wurde damit zur Beihilfe relativiert.
Zum anderen war Fritz Bauer beim Auschwitz-Prozess mit seiner Rechtsauffassung
gescheitert, dass allein die wissentliche Mitwirkung an einer Tötungsmaschinerie
den Tatbestand der Beihilfe zum Mord erfüllen würde. Das Frankfurter Schwurgericht hatte demgegenüber mit Blick auf den BGH revisionssicher festgestellt, das
deutsche Strafrecht kenne den Begriff des Massenmordes nicht. Um überhaupt zu
einem Urteil zu gelangen, bedurfte es des konkreten Einzeltatnachweises. Dieser
war aber mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Tatkomplex für Staatsanwaltschaften und Gerichte zunehmend schwieriger zu führen, was ab den 1970er Jahren
mit zum Erlahmen der Strafverfolgung führte.
Eine Neubewertung der individuellen Schuld von Beteiligten am NS-Massenmord
fand nachhaltig erst nach dem Generationenwechsel in der Bundesrepublik statt.
Bei der rechtlichen Beurteilung von NS-Verbrechen ist seit einigen Jahren an die
Stelle des subjektiven Handelns Einzelner deren „objektiver Tatbeitrag“ getreten.
Danach hat bereits Beihilfe zum Mord geleistet, wer unabhängig von seinen subjektiven Handlungen am industriell durchgeführten Massenmord beteiligt war – eine
Rechtsauffassung, für die Fritz Bauer vehement gestritten hatte.
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120 | III. Fazit und Ausblick | Tafel 51
Hermann Krumey (l.) und Otto
Hunsche (r.) mussten sich
1964/65 wegen ihrer Mitwirkung
an der Ermordung der weit über
300.000 ungarischen Juden in
Auschwitz verantworten. Da es
sich dabei um ein reines Vernichtungsprogramm gehandelt
hatte, verzichtete das Landgericht Frankfurt hier auf den
konkreten Einzeltatnachweis
und setzte einen einheitlichen
Tatkomplex voraus.
1
50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess hat sich diese Rechtspraxis Bahn gebrochen und Ermittlungen gegen die letzten noch Lebenden der rund 8.000 SSund Wehrmachtsangehörigen der Lagermannschaft von Auschwitz ausgelöst.
2
Der aus der Ukraine stammende John Demjanjuk (1920-2012) geriet 1942
als Rotarmist in deutsche Gefangenschaft, wo er sich zu Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner entschied. Nach seiner Ausbildung zum
„Trawniki“-Wachmann wurde er laut seinem SS-Ausweis im März 1943
nach Sobibór abkommandiert.
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Tafel 51 | III. Fazit und Ausblick | 121
3
Mit John Demjanjuk wurde vor dem Landgericht München II 2009 zum ersten Mal überhaupt in Deutschland ein nichtdeutscher „Trawniki“ angeklagt, dazu noch ohne konkreten Einzeltatnachweis. Die Staatsanwaltschaft bezichtigte ihn der Beihilfe zum Mord
in mindestens 27.900 Fällen, errechnet nach der Dauer seiner mutmaßlichen Anwesenheit im Vernichtungslager Sobibór. Im Mai 2011 wurde Demjanjuk, auf dem Bild im
Gerichtssaal auf einem Krankenbett liegend, zu fünf Jahren Haft verurteilt.
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122 | III. Fazit und Ausblick | Tafel 52
Preußischer Justizminister Hanns Kerrl im Referendarlager Jüterbog 1933.
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Tafel 53 | III. Fazit und Ausblick | 123
Fassadeninschrift am Frankfurter Landgericht.
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