Diplomarbeit Christoph Scherer 1 „Villa rustica“ im Binger Stadtwald 1.1 Strategische Funktion Bingens und der „Villa rustica“ Bingen war bedingt durch seine besondere geographische Lage (Nahemündung am Rhein) militärisch als auch zivil ein wichtiger Stützpunkt der Römer. Einige Funde in den vergangenen Jahrhunderten deuteten darauf hin. Auf jeden Fall bekannt ist, daß in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts Hilfstruppen ( „cohors I Pannoniorum“ und „cohors I Sagittariorium“ )1 in Bingen stationiert waren und daß als Schutz gegen einfallende Germanenstämme die 14. und 22. Legion aus Mainz nach Bingen abkommandiert wurden, um auch die oben schon erwähnte Fernstraße Mainz – Köln zu schützen. Im Zuge der Stationierung römischer Truppen wurde auch die „Villa Rustica“ im Binger Stadtwald errichtet. Sie wurde ca. 250 Jahre ab dem 1. Jahrhundert nach Christi bewohnt und war Teil eines dicht gespannten Netzes von landwirtschaftlich orientierten Gutshöfen im rheinhessischen Gebiet, deren Hauptaufgabe es war, die Garnisions- und Provinzhauptstadt Mainz („Mogontiacum“) sowie zahlreiche kleiner Siedlungen mit Nahrungsmitteln und Baumaterialen zu versorgen. So befindet sich wenige Kilometer entfernt im heutigen Bingen-Kempten ebenfalls ein römischer Gutshof, der aber auf das 3. – 4. Jahrhundert nach Chr. datiert ist. Mit den anfangs schon erwähnten Übergriffen der Germanenstämmen und dem fortlaufenden wirtschaftlichen Verfall des Römischen Reiches ab dem 4. Jahrhundert nach Chr. fanden auch die Gutshöfe ihr Ende. 1 [3] 1 Diplomarbeit Christoph Scherer 1.2 Aufbau des Hofareals Das Areal umfaßte ein Fläche von ca. 100 x 300 m mit einem Herrenhaus, Badehaus, Scheune, Remise und Gesindehaus und wurde von einer mächtigen Hofmauer mit einer Höhe von 2,00 - 2,50 m und einer Breite von 80 cm eingefriedet. 1.2.1 Hauptgebäude und Badehaus Hauptgebäude (40 x 25 m) und Bad waren die zentralen Gebäude des Grundstücks. Es stellte das massivste Gebäude der Hofanlage dar und bestand aus zwei Risaliten sowie aus zahlreichen Seitenflügeln und einem Innenhof. Nord Nord Abb. 1-2 Abb. 1-1 Die Grundform des Herrenhauses ist sehr einheitlich. Es war in der Weise angelegt, daß dessen Schauseite sich zur Südost-Seite hin öffnete und gar zum Rheingau hin sichtbar war. Sie bestand aus einer portikusartigen Halle und einem Mitteleingang, der beidseits von einem vorspringenden Eckrisaliten flankiert wird. Durch die Portikus gelangt man in eine große zentrale Halle, von der aus die Räume des Gebäudes direkt oder über Korridore erreichbar sind. Die zentrale Halle war der Ort hauswirtschaftlicher Aktivitäten im Herrenhaus, während die Portikus und die Eckrisaliten unterkellert waren und als Lagerräume dienten. Je nach Lebensstandard des Besitzers wurden so viel wie mögliche hauswirtschaftliche Tätigkeiten in die Nebengebäude verlegt, um dann freien Raum privat mehr nutzen zu können. Indiz für den etwas gehoberen Lebensstandard der 2 Diplomarbeit Christoph Scherer Besitzer der “Villa rustica“ in Bingen sind die zahlreichen Nebengebäuden der Hofanlage als auch die teureren Arbeitsmaterialen, mit denen die Fassade gebaut und verputzt wurde. Außerdem deutet die Mächtigkeit der Einfriedungsmauer auf die gehobene Bedeutung hin. 1.2.2 Nebengebäude Auf dem Areal befanden sich 8 Nebengebäude mit verschiedenen Nutzungsarten in der oben angedeuteten Anordnung auf dem Anwesen. Je nach Wirtschaftsform hatte jedes Nebengebäude eine bestimmte Funktion. Vorherrschend waren in der Regel Getreidespeicher, die zu 70–90% Dinkel, dem Grundnahrungsmittel der Soldaten, lagerten. Andere Nebengebäude wurden höchstwahrscheinlich zu dessen Weiterverarbeitung verwandt. So ist anzunehmen, daß Gebäude III (siehe Plan) wegen seiner Lage in der Nähe des Kreuzbaches eine Mühle darstellte. Für die Viehzucht wurden Ställe und Heuschober gebraucht. In jedem Fall gab es auf der Anlage Stallungen für Gespanne und Wohngebäude für die Arbeiter, in denen auch Saisonarbeiter untergebracht wurden. Es ist auch nicht auszuschließen, daß am Gutshof auch einige Produktionstätten, wie Schmieden oder Töpfereien ansässig waren. Der Fall einer Schmiede wäre recht wahrscheinlich, da sich in unmittelbarer Nähe große Eisenerzvorkommen befanden und der Eigenbedarf an Schmiedeprodukten sehr groß war. Eine Töpferei wäre aus dem Grunde unwahrscheinlich, daß der Eigenbedarf an Töpferware zu gering wäre, um eine dauerhafte Produktion durchzuführen. Wie anfangs schon angedeutet, spielte auch die Forstwirtschaft ein große Rolle. Einerseits wurden die Rodungsflächen für Ackerbau und Viehzucht verwendet, andererseits wurde das Holz als Brennstoff bzw. als Baumaterial genutzt. Holz als Rohstoff fand in der damaligen Zeit reißenden Absatz, da es zum Gebäude-, Schiffs- und Gerätebau benötigt wurde. Außerdem florierte der Export nach Italien, das wegen zügellosen Raubbaus fast jegliche Holzresourcen aufgebraucht hatte. Aus diesen Gründen ist zu vermuten, daß einige der Nebenbäude sicherlich Holzlagerstätten waren bzw. als Köhlereien für die Herstellung von Holzkohle als Heizstoff (siehe Hypokaustanlagen) dienten. 3 Diplomarbeit Christoph Scherer Für die Versorgung des Gutshofes wurden ständig große Mengen an Wasser benötigt, mit einem ausgeklügelten System von einer unbekannten Anzahl von Zisternen (bisher drei nachgewiesen) und Brunnen gewonnen wurde. Im Normalfall wurde das Wasser für die römischen Villen von einer höher gelegenen Quelle gefördert, das mit Hilfe von Schöpfrädern oder Pumpen in Verbindung mit Zisternen dem Gebiet zugeführt wurde. Das Badehaus war quasi in das Hauptgebäude integriert und der Westseite als Wetterseite zugewandt. Konstruiert wurde es nach dem üblichen Schema. Es gab einen Umkleideraum („apodyterium“), Kaltbad („frigidarium“), Laubad („tepidarium“) und Warmbad („caldarium“). Nord Risalit Badetrakt 4