Biographieforschung 35 Gabriele Rosenthal 35.1 Biographie und biographische Thematisierungen Der Begriff „Biographie“ (Griechisch: „Leben“ & „schreiben“) bezieht sich nicht nur auf Geschriebenes, sondern ebenso auf in Gesprächen mitgeteilte biographische Selbst- oder Fremdbeschreibungen. Biographische Beschreibungen werden sowohl in informellen Zusammenhängen, als auch in unterschiedlichen formal organisierten oder durch Institutionen regulierten Kontexten mündlich geäußert oder schriftlich verfasst. Dies erfolgt zum Beispiel in Anhörungen und Aktenvermerken bei Behörden, in Gerichtsverfahren, in Bewerbungsgesprächen, im ärztlichen Setting, in religiösen Handlungszusammenhängen, in der massenmedialen Kommunikation, im Kontext Sozialer Arbeit oder im Rahmen von Konfliktmanagement und Friedensförderung sowie in vielen weiteren sozialen Feldern. Je nachdem, ob jemand gesteuert durch bestimmte Vorgaben und Fragen seine Biographie als „traurige Geschichte“ zur Erreichung bestimmter Ziele präsentiert oder in einer Freundschaftsbeziehung über in der Vergangenheit Erlittenes spricht, fällt die biographische Selbstpräsentation sehr unterschiedlich aus. Diese unterschiedlichen Kontexte haben ihrerseits unterschiedliche Effekte: sowohl für biographische Thematisierungen der Zukunft, als auch für die Konstruktion der Vergangenheit. Die Settings, in denen biographische Thematisierungen eingefordert oder sozial erwünscht oder gerade nicht erwünscht sind, unterscheiden sich ebenso wie die sozialen Regeln, welche Lebensbereiche und -phasen wie thematisiert werden dürfen oder sollten und welche nicht, von Kultur zu Kultur, von Milieu zu Milieu. So haben zum Beispiel MigrantInnen, die in unterschiedlichen Kulturen und politischen Verbänden (bspw. Staaten) sozialisiert sind, zum Teil sehr divergente soziale Regeln für biographische Thematisierungen erlernt und internalisiert. Gesellschaftliche, institutionelle und familiale Regeln bzw. die Regeln unterschiedlicher Diskurse geben vor, was und was nicht sowie wie, wann und in welchen Kontexten etwas thematisiert werden darf. N. Baur, J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, DOI 10.1007/978-3-531-18939-0_35, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 509 510 Gabriele Rosenthal Die in unterschiedlichen Situationen hergestellten biographischen Selbst- wie auch Fremdthematisierungen führen dazu, dass Menschen im Laufe ihres Lebens biographische Konstruktionen ausbilden, die ihnen dazu verhelfen, ihr Leben zu deuten, d.h. ihrer Vergangenheit, Gegenwart und anvisierten Zukunft eine Bedeutung zu geben und damit eine Orientierung in ihren Handlungs- wie Lebensentwürfen zu gewinnen. Ähnliche Funktionen haben diese Konstruktionen in den Prozessen des Fremdverstehens (Knoblauch, Kapitel 36 in diesem Band), in denen versucht wird, den lebensgeschichtlichen Prozess des So-Gewordenseins bei Anderen nachzuvollziehen. Diese vom einzelnen Biographen in sozialen Interaktionen immer wieder neu zu leistende Konstruktionsarbeit erfolgt mit Hilfe von gesellschaftlich (also durch ein Kollektiv oder vielmehr durch mehrere Kollektive) vorgegebenen, teilweise institutionalisierten und teilweise im Lauf der Sozialisation internalisierten Mustern. Weder diese Muster noch die mit ihrer Hilfe vollzogene Konstruktionsarbeit sind dabei als ein (nur) individuelles Geschehen zu begreifen. Diese Konstruktionen können sich zwar im Laufe des Lebens verfestigen, jedoch werden sie auch immer wieder modifiziert und vor allem erfordern sie in veränderten und krisenhaften Lebenssituationen entsprechend der veränderten Gegenwart und Zukunft eine Reinterpretation der Vergangenheit. Die Biographie des jeweiligen Individuums entsteht somit jeweils immer wieder neu in den Gegenwarten des Erzählens oder Schreibens. 35.2 Ziele und Methodologie soziologischer Biographieforschung Eine von dem US-amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas und dem polnischen Soziologen Znaniecki (1918-1920/1958) durchgeführte Untersuchung zu polnischen MigrantInnen in den USA markiert den Beginn der soziologischen Biographieforschung. Neben Dokumenten zum Migrationsprozess analysierten sie hauptsächlich aus Polen oder in die Heimat gesandte Briefe (Ernst, Kapitel 63 in diesem Band) und eine auf ihre Bestellung geschriebene Biographie eines Migranten. Thomas und Znaniecki vertraten die Forderung, dass die sozialen Probleme von Einwanderern nicht nur aus der Perspektive der „objektiven“ Rahmenbedingungen, sondern auch auf der Basis der „subjektiven“ Sichtweisen der MigrantInnen sowie ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen – vor und nach der Einwanderung – zu untersuchen seien. Für die gegenwärtige Biographieforschung zu den unterschiedlichsten Gruppierungen von Menschen ist diese Forderung immer noch forschungsleitend. Mittlerweile hat sich der biographietheoretische Ansatz national wie auch international insbesondere in der Soziologie (Fuchs-Heinritz 2005; Rosenthal 1995; Völter et. al. 2005) und in den Erziehungswissenschaften (Krüger/Marotzki 1999) als eine Teildisziplin mit einer genuin eigenen Theoriegrundlage und Methodologie etabliert, die in der Bundesrepublik vor allem im Ansatz des Sozialkonstruktivismus verankert ist, der durch Berger und Luckmann formuliert wurde. Damit verbindet sich die methodologische und forschungspraktische Forderung, die „subjektiven“ Erfahrungen und Perspektiven der 35 Biographieforschung 511 Alltagshandelnden als Ausgangspunkt der Analyse zu nehmen und deren lebensgeschichtliche Genese zu rekonstruieren. Zentrales Anliegen der soziologischen Biographieforschung ist es dabei, der gegenseitigen Konstitution von Individuen und Gesellschaften gerecht zu werden. Lebensgeschichtliche und kollektivgeschichtliche Prozesse werden in ihren „Wechselwirkungen“ und unhintergehbaren Verflechtungen empirisch untersucht. Biographie wird also nicht als etwas rein Individuelles oder bloß Subjektives, sondern als ein soziales Konstrukt verstanden, das auf kollektive Regeln, Diskurse (Traue et al., Kapitel 34 in diesem Band) und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist und sowohl in seiner Entwicklung als auch im deutenden Rückblick immer beides zugleich ist: ein individuelles und ein kollektives Produkt. Mit einem biographietheoretischen Ansatz sind neben dem von den Biographien und Handlungsgeschichten von Individuen ausgehenden Versuch, diesen „Wechselwirkungen“ gerecht zu werden, noch zwei weitere Prämissen verbunden. Zum einen ist dies die Forderung, die Bedeutungen von Erfahrungen nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte zu interpretieren, und zum anderen der Anspruch einer Prozessanalyse, die den historischen Verlauf der Entstehung, Aufrechthaltung und Veränderung von sozialen Phänomenen im Kontext der Erforschung von Lebensverläufen rekonstruiert. Das methodische Postulat einer konsequenten Einbettung der einzelnen Biographie in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext wurde in den letzten 20 Jahren vor allem durch die Wende zu Mehrgenerationenanalysen in der Biographieforschung zunehmend umgesetzt (Bertaux/Bertaux-Wiame 1991; Hildenbrand 1999; Rosenthal 2005). Ein auf mehrere Generationen ausgedehnter Zeithorizont der Untersuchung ermöglicht es, die Genese sozialer einschließlich kollektiver Phänomene wie der kulturellen Praxis des Erinnerns über einen längeren Zeitraum hin zu erforschen. Angestrebt wird eine Rekonstruktion der individuellen Erfahrungsgeschichte in ihrer „Wechselbeziehung“ mit dem langfristigen Wandel der gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen und vice versa dieses Wandels im Zusammenhang mit den Veränderungen biographischer Verläufe und (Selbst-)Thematisierungen. Der Einsatz der Methoden biographischer Forschung hat sich in sehr unterschiedliche Untersuchungsfelder ausdifferenziert. Zum einen kann es um die Analyse des gelebten Lebens bzw. spezifischer Lebensbereiche oder -phasen von bestimmten Personengruppen oder gesellschaftlichen Gruppierungen in bestimmten historischen Zeiträumen gehen (wie z.B. von MigrantInnen in der Untersuchung von Thomas & Znaniecki). Zum anderen geht es um die Rekonstruktion bestimmter sozialer Settings aus der Perspektive der Handelnden in spezifischen historischen Epochen und soziokulturellen Kontexten (z.B. eine Milieustudie über einen sozialen Brennpunkt in einer Großstadt). Ein weiteres Ziel ist die Analyse biographischer Selbst- und Fremdthematisierungen in sozialen Interaktionen (z.B. biographische Thematisierungen von KlientInnen auf Ämtern). Für die gegenwärtige soziologische Biographieforschung sind weitere wichtige Anliegen die Analyse der biographischen Konstruktionen und der biographischen Selbstpräsentation in der Gegenwart (z.B.: Was sind die Regeln biographischer Selbstthematisierungen von Überlebenden kollektiver Gewalt aus Bosnien oder von ehemaligen Psychiatriepatienten?) und damit verbunden die 512 Gabriele Rosenthal Rekonstruktion der Genese und Transformationen dieser Konstruktionen, wobei auch der Frage nachgegangen wird, inwiefern biographische Thematisierungen in der Vergangenheit innerhalb bestimmter Settings (wie z.B. im Kontext eines Asylverfahrens oder eines Gesprächs in der Psychiatrie) einen nachhaltigen Einfluss auf die Konstruktionen in anderen Situationen und sozialen Kontexten haben. 35.3 Methoden der Biographieforschung Aus den bisher diskutierten Anliegen der Biographieforschung folgen bestimmte Erfordernisse an die Untersuchungsmethoden. Im Unterschied zu anderen qualitativen Methoden sollen nicht nur die Deutungen der befragten Personen in der Gegenwart der Befragung offengelegt werden, sondern es wird gezielt versucht, einen Einblick in die Genese dieser Deutungen und in die sequenzielle Gestalt der erlebten Lebensgeschichte zu erhalten sowie die Rekonstruktion von Handlungsabläufen in der Vergangenheit und des damaligen Erlebens zu ermöglichen. Das biographisch-narrative Interview (Küsters, Kapitel 40 in diesem Band) wird diesen Erfordernissen in besonderem Maße gerecht und das von der Autorin vorgestellte Auswertungsverfahren biographischer Fallrekonstruktionen ist vor allem dem Anliegen geschuldet, in analytisch getrennten Auswertungsschritten sowohl die Gegenwartsperspektive des Handelnden als auch dessen Perspektiven in der Vergangenheit vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen und historischen Kontexte zu rekonstruieren. 35.4 Das biographisch-narrative Interview Das narrative Interview (Küsters, Kapitel 40 in diesem Band) basiert auf der Annahme, dass selbsterlebte Ereignisse sich am überzeugendsten in Erzählungen darstellen lassen (Schütze 1977). Lässt sich der Befragte auf eine Stegreiferzählung und einen Prozess des Erzählens von Geschichte zu Geschichte und damit auch auf einen Erinnerungsfluss ein, ermöglicht dies mehr Nähe zur damals erlebten – nicht einer vermeintlich wirklichen – Vergangenheit als bei anderen Formen der Selbstpräsentation (wie z.B. dem kondensierten Berichten, dem Argumentieren über Bestandteile der Vergangenheit oder Belegerzählungen), die stärker durch die Gegenwartsperspektive und die jetzige Interaktion mit den Zuhörern geprägt werden. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Erzählung sich jemals mit dem Erleben in der Vergangenheit decken könnte, sondern nur, dass die Erzählung eine größere Annäherung an den Handlungsablauf und das Erleben in der damaligen Situation ermöglicht als andere Formen der sprachlichen Darstellung. Vor allem ist es möglich, dass in dem durch das Erzählen geforderten oder induzierten Erinnerungsvorgang Eindrücke, Gefühle, sinnliche und leibliche Empfindungen oder bisher zurückgedrängte Komponenten der erinnerten Situationen vorstellig werden, an die man sich lange nicht mehr erinnert oder über 35 Biographieforschung 513 die man noch nie gesprochen hat. Dazu können auch solche gehören, die mit der Gegenwartsperspektive nicht kompatibel sind oder nicht dem jetzigen Präsentationsinteresse des Biographen und den Regeln der gegenwärtig wirksamen kollektiven Diskurse (Traue et al., Kapitel 34 in diesem Band) entsprechen. Dieses Phänomen der durch den Erzähl- und Erinnerungsvorgang ausgelösten zunehmenden Nähe des Autobiographen (Ernst, Kapitel 63 in diesem Band) zur erlebten Vergangenheit nutzen wir in der Biographieforschung mit der zuerst von Schütze entwickelten Technik des biographisch-narrativen Interviews (Küsters, Kapitel 40 in diesem Band), die mittlerweile in sehr unterschiedlichen thematischen, aber auch unterschiedlichen geographischen Kontexten erprobt und weiterentwickelt wurde (Rosenthal 2011: 151ff.). Gezielt wird bei einer narrativen Gesprächsführung versucht, die Befragten zu längeren biographischen Erzählungen oder, allgemeiner formuliert, zu autonom gestalteten Präsentationen ihrer Lebensgeschichte aufzufordern und dabei zu unterstützen. Schütze (1983), der dieses Instrument im Kontext einer Untersuchung von Machtstrukturen in Gemeinden in den 1970er Jahren entwickelt hatte, führte es in späteren Jahren in die Biographieforschung ein und schlug vor, unabhängig von dem thematischen Schwerpunkt der empirischen Untersuchung zur Erzählung der gesamten Lebensgeschichte aufzufordern. So wird es möglich, einzelne Lebensbereiche oder -phasen im Gesamtzusammenhang des Lebens betrachten zu können. Die ForscherInnen orientieren sich zunächst an den Relevanzen der Befragten und deren alltagsweltlichen Konstruktionen. Aus diesem Anspruch ergibt sich ein Gesprächsverlauf, bei dem erst in der dritten Phase des Interviews die Relevanzen der WissenschaftlerInnen für die Gesprächsführung dominant werden: • In der ersten Phase des Interviews wird den Befragten die Möglichkeit gegeben, ohne Zwischenfragen ihre Familien- und Lebensgeschichte oder bestimmte Phasen und Bereiche ihres Lebens zu erzählen bzw. darzustellen. Diese so genannte Eingangserzählung wird nicht durch Detaillierungsfragen unterbrochen, sondern sie wird nur durch parasprachliche Bekundungen wie „mhm“, durch Blickkontakt und andere leibliche Aufmerksamkeitsbekundungen oder (bei Stockungen in der Erzählung) durch motivierende Aufforderungen zum Weitererzählen wie „Und wie ging es dann weiter?“ unterstützt. • Erst in der zweiten Phase des Gesprächs, nach erkennbarer Beendigung der Haupterzählung durch die Befragten, werden Fragen gestellt. Zunächst werden nur erzählinterne Nachfragen gestellt, d.h. Fragen zu bereits Erwähntem, die auf den während der Haupterzählung gemachten protokollförmigen Notizen beruhen. In diesem ersten Nachfrageteil des Interviews werden keine Themenbereiche angesteuert, die nicht schon von den Erzählenden selbst ins Gespräch eingeführt wurden. • Erst in der dritten Phase des Interviews werden erzählexterne Fragen zu bisher nicht erwähnten Themen gestellt (die die ForscherInnen interessieren). Dank dieser Abfolge von erzählinternen und erzählexternen Nachfragen und der zeitlichen Trennung zwischen den entsprechenden Interviewphasen können wir bei der 514 Gabriele Rosenthal Auswertung der Frage nachgehen, welche Themen an welcher Stelle im Gespräch von den Befragten selbst eingeführt wurden, welche Themen vermieden wurden und was die Bedeutung von Thematisierung wie Nichtthematisierung sein kann. Unter anderem um die Bedeutung von Auslassungen erschließen zu können, bedarf es jedoch einer Phase mit erzählexternen Nachfragen. 35.5 Biographische Fallrekonstruktionen Die für diese Auswertung am häufigsten verwendete Datengrundlage sind biographischnarrative Interviews (Küsters, Kapitel 40 in diesem Band), häufig auch in Verbindung mit anderen biographischen Texten. Ebenso wird mit niedergeschriebenen Autobiographien, biographischen Thematisierungen in Alltags- oder Organisationskontexten, (familien-) biographischen Dokumenten (Fotoalben, Tagebücher, Briefe etc.) (Ernst, Kapitel 63 in diesem Band) und personenbezogenen Akten (Lebensläufe in Gerichtsverfahren, Personalakten in Parteien, Anamneseakten etc.) (Salheister, Kapitel 62 in diesem Band) sowie mit der Kombination dieser Materialien gearbeitet. Die von Schütze (1983) vorgeschlagene textanalytische Auswertung biographischer Interviews kann – wie das von der Autorin vorgeschlagene Verfahren – in modifizierter Form auch auf andere Texte angewendet werden. Bei der Textanalyse nach Schütze sind die Unterscheidung nach Textsorten (Erzählung, Argumentation und Beschreibung) und die Analyse ihrer Funktion bedeutsam. Dieses Verfahren wurde von einigen AutorInnen abgewandelt und mit anderen interpretativen Verfahren kombiniert, insbesondere mit der von Oevermann entwickelten „Objektiven Hermeneutik“ (Hildenbrand 1995; WohlrabSahr 1998; Rosenthal 1995). Gemeinsam ist diesen Verfahren ihr rekonstruktives und sequenzielles Vorgehen. Mit „rekonstruktiv“ ist gemeint, dass einzelne Segmente eines Textes nicht unter Kategorien subsumiert werden, sondern die Bedeutung dieser Teile im konkreten Gesamtzusammenhang eines bestimmten Textes erschlossen wird. Dies heißt auch, die Rolle (bzw. „Funktion“) und Position dieser Teile im Prozess der interaktiven Konstitution des Textes in der Gegenwart des Sprechens herauszuarbeiten. Unter einem „sequenziellen Vorgehen“ (Kurt/ Herbrik, Kapitel 33 in diesem Band) wird ein Vorgehen verstanden, bei dem der Text bzw. kleinere Texteinheiten entsprechend ihrer sequenziellen Gestalt, also in der Ordnung der Abfolge ihres Entstehens, interpretiert werden. Das von der Autorin vorgestellte Verfahren biographischer Fallrekonstruktionen (Rosenthal 1995; 2011) orientiert sich an der Objektiven Hermeneutik in einer Verknüpfung mit dem textanalytischen Verfahren nach Schütze und der phänomenologischgestalttheoretischen Feldanalyse nach Gurwitsch (1974). Eine sequenzielle Auswertung erfolgt hierbei hinsichtlich der zeitlichen Struktur sowohl der erlebten als auch der erzählten bzw. präsentierten Lebensgeschichte, die auch in erster Linie in Argumentationen oder Beschreibungen dargestellt sein kann. 35 Biographieforschung 515 Einerseits wird versucht, die Chronologie der biographischen Erfahrungen im Lebensverlauf und deren Bedeutungen für den Biographen zu rekonstruieren. Andererseits wird die zeitliche Struktur der Lebenserzählung analysiert, d.h. der Frage nachgegangen, in welcher Reihenfolge, in welcher Ausführlichkeit und in welcher Textsorte die BiographInnen ihre Erfahrungen im Kontext der Textproduktion (in einem Interview oder auch in einem anderen Rahmen, wie z.B. einem Familiengespräch oder einer niedergeschriebenen Biographie) präsentieren. Bei diesem Analyseschritt, der sich auf die aktuelle Präsentation der Lebensgeschichte konzentriert, wird vor allem der Interaktionsverlauf zwischen Befragten und Zuhörern bzw. zwischen Autobiographen und imaginierten Lesern rekonstruiert. Entscheidend bei dieser Auswertungsmethode ist es also, zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte zu differenzieren und den beständigen Wandel von Bedeutungen im Lebensverlauf zu berücksichtigen. Um dies zu ermöglichen, ist es erforderlich, zunächst in getrennten Analyseschritten den beiden verflochtenen, aber dennoch verschiedenen Phänomenen der erzählten und der erlebten Lebensgeschichte nachzugehen. Das heißt: Ziel der Rekonstruktion ist sowohl die biographische Bedeutung des in der Vergangenheit Erlebten, als auch die Bedeutung der Selbstpräsentation in der Gegenwart. Wird bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte nach der biographischen Bedeutung einer Erfahrung zur damaligen Zeit gefragt, so stellt sich bei der Rekonstruktion der Lebenserzählung die Frage nach der Funktion der jetztzeitigen Darstellung des Erlebens für die interviewte Person in ihrem gegenwärtigen sozialen Kontext. Die Autorin geht davon aus, dass man damit methodisch kontrolliert den Wechselwirkungen zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem gerecht werden kann (Rosenthal 1995). Bei der Auswertung der erzählten Lebensgeschichte bzw. der in der Gegenwart des Gesprächs präsentierten Biographie wird deshalb gezielt danach gefragt, inwiefern sich die in der Gegenwart des Sprechens erinnerte Vergangenheit durch die Gegenwartsperspektive, die institutionelle und interaktive Rahmung des Gesprächs sowie den aktuellen Zukunftshorizont des Biographen konstituiert, aber auch, wie die erlebte Vergangenheit die Gegenwarts- und Zukunftsperspektive mitbestimmt. Beim kontrastiven Vergleich der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte geht es zum Abschluss der Fallrekonstruktion um mögliche Erklärungen für die Differenz zwischen diesen beiden Ebenen, d.h. zwischen der Vergangenheits- und der Gegenwartsperspektive. So stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Bedeutung in der Gegenwart des Erzählens es für eine Migrantin aus der ehemaligen Sowjetunion hat, wenn sie die in der Sowjetunion erlebten Diskriminierungen als ethnisch Deutsche betont und versucht, dazu passende Erlebnisse erzählerisch auszubauen, ihr ehemaliges parteipolitisches Engagement in der Sowjetunion jedoch nur am Rande bzw. zwischen den Zeilen andeutet. Mit der Rekonstruktion der Gegenwartsperspektive, die die für die Einreise nach Deutschland im Kontext des Aufnahmeverfahrens notwendigen Reinterpretationen der Vergangenheit, die stärkere Betonung der deutschen Abstammung und der Belege von Diskriminierungen deutlich macht, wird es möglich, die in der Darstellung ausgebauten Situationen von Diskriminierung nicht als Abbild des Erlebens in der Vergangenheit zu verstehen. Und ebenso kann die Gegenwartsperspektive durch die Rekonstruktionen der Erlebnisse in der Vergangenheit 516 Gabriele Rosenthal auf ihre Bedeutungen bzw. ihre biographische Funktion hin befragt und vielleicht erklärt werden (Rosenthal 2010). Wie erfolgt nun diese Auswertung im Einzelnen, bevor (zum Abschluss der Analyse) die Annahmen zu der in der Gegenwart präsentierten und die zur erlebten Lebensgeschichte miteinander kontrastiert werden? 35.5.1 Sequenzielle Analyse der biographischen Daten Ganz entscheidend für eine analytische Distanzierung der InterpretInnen von der präsentierten Lebensgeschichte und für die Konzentration auf die Perspektiven in der Vergangenheit ist der erste Auswertungsschritt der sequenziellen Analyse der biographischen Daten (Rosenthal 2011; Kurt/Herbrik, Kapitel 33 in diesem Band), der von Ulrich Oevermann (et. al. 1980) vorgestellt wurde und in seiner Logik, sich zunächst auf die Strukturdaten eines Falles zu beschränken, dem Vorgehen der Objektiven Hermeneutik entspricht. Zunächst werden die nur in geringem Maße an die Interpretationen der Biographen gebundenen Daten (z.B. zur Familienkonstellation, zum Ausbildungsverlauf oder zu Krankheiten) in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf analysiert. Diese Daten werden aus dem transkribierten Interview wie aus allen anderen zur Verfügung stehenden Quellen (Archivmaterial, Interviews mit Familienangehörigen oder anderen Bezugspersonen, Arztberichten, behördlichen Akten, z.B. Gerichtsakten) entnommen. Historische bzw. sozio-politische Daten, die für den vorliegenden Fall relevant sein könnten, werden ebenso in diese Liste aufgenommen. Damit wird gleich zu Beginn der Analyse einer Biographie eine gezielte Einbettung der lebensgeschichtlichen Erfahrungen in die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexte vorgenommen und so eine individualisierende Herangehensweise vermieden (Radenbach/Rosenthal 2012). Mit diesem Analyseschritt soll vor allem auch einer vorschnellen Übernahme der gegenwärtigen Selbstdeutungen und -darstellungen der Interviewten entgegengewirkt werden. Angestrebt ist hier vielmehr das Auffinden bzw. die Konstruktion von Hypothesen über die möglichen Bedeutungen der verschiedenen biographischen Stationen für die Biographen zum Zeitpunkt des Erlebens, und das heißt nicht zuletzt über die sich mit jedem Datum sowohl eröffnenden als auch verschließenden Handlungsoptionen. Bei jedem Datum wird danach gefragt, welche Handlungsmöglichkeiten die Biographin oder der Biograph in einer bestimmten Situation hatte, welche er oder sie auswählte und welcher mögliche weitere biographische Verlauf daraus hätte folgen können. 35.5.2 Text- und thematische Feldanalyse Der zweite Auswertungsschritt – die Text- und thematische Feldanalyse – erfolgt ebenfalls in der Logik einer sequenziellen Analyse im Sinne der Objektiven Hermeneutik (Hinrichsen et al. 2013; Rosenthal 2011). Die Hypothesenbildung orientiert sich an Schützes 35 Biographieforschung 517 Vorschlägen zur Sequenzierung des Textes nach Textsorten und an der thematischen Feldanalyse nach Gurwitsch. Ziel ist es, die Regeln für die Gestaltung der in der Gegenwart des Interviews präsentierten biographischen Selbstpräsentation herauszufinden. Die Analyse konzentriert sich auf die Frage, weshalb sich ein Biograph oder eine Biographin – ob nun bewusst intendiert oder latent gesteuert – so und nicht anders darstellt. Zur Vorbereitung der Analyse wird das transkribierte Interview (oder andere biographische Texte) gemäß der zeitlichen Abfolge in der Form eines stichwortartigen Überblicks in Analyseeinheiten gegliedert. Kriterien für die Sequenzierung, d.h. für die Definition, wann eine Sequenz beginnt und wann sie endet, sind: Redewechsel, Änderungen der Textsorte und inhaltliche Modifikationen. Die Hypothesenbildung bei der sequenziellen Analyse der einzelnen Einheiten orientiert sich an den Fragen, wann und wie ein Inhalt präsentiert wird, inwiefern dies durch die aktuelle Interaktionssituation bedingt ist und was das Thema der einzelnen Sequenzen bzw. das thematische Feld sein kann, das die Sequenzen verbindet. Die Frage, ob die einzelnen Sequenzen untereinander in einem Beziehungszusammenhang stehen, orientiert sich an Gurwitschs (1974: 4) Konzeption des „thematischen Feldes“, das er definiert als „die Gesamtheit der mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, die als sachlich mit dem Thema zusammenhängend erfahren werden und den Hintergrund oder Horizont bilden, von dem sich das Thema als Zentrum abhebt“. Bei jeder Sequenz geht es in der Analyse um das Auffinden der inhärenten Verweisungen auf mögliche thematische Felder und um den hypothetischen Entwurf der jeweils anschlussfähigen weiteren Sequenzen. Im Fortgang der Analyse zeigt sich dann, welche thematischen Felder von den Biographen (breiter) ausgestaltet werden, welche sich potenziell anbietenden Bestände dieser Felder nicht entwickelt oder nur andeutend thematisiert werden. Ebenso wird dabei deutlich, welche Felder vermieden werden. 35.5.3 Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte Im dritten Schritt der Auswertung, der Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte, wird in Verbindung mit den bei der Analyse der biographischen Daten formulierten Hypothesen wieder nach der biographischen Bedeutung eines Erlebnisses zum Zeitpunkt des Erlebens gefragt. Die Hypothesen zu den einzelnen biographischen Daten werden jetzt mit den dazu vorliegenden Aussagen der Biographen kontrastiert. Die bereits abgeschlossene thematische Feldanalyse verhilft hierbei zu einem quellenkritischen Blick (Salheiser, Kapitel 62 in diesem Band), der vermeidet, die durch die Gegenwart neu konstituierte Perspektive auf die Vergangenheit naiv als Abbildung des Erlebens in der Vergangenheit zu verstehen. Wissen wir z.B., dass die vermutlich hinter dem Rücken der Biographin wirksam werdende Gestaltung einer biographischen Selbstpräsentation im thematischen Feld „Ich wurde als Deutsche in der Sowjetunion diskriminiert” vor allem Ausdruck einer sozial eingeforderten Selbstdarstellung ist, sind wir offen für andere 518 Gabriele Rosenthal Lesarten auf der Ebene der erlebten Lebensgeschichte und können damit z.B. die Auslassung der Thematisierung eines erfolgreichen Bildungsaufstiegs in der Sowjetunion in der Haupterzählung vor diesem Hintergrund interpretieren. Sequenzielle Feinanalysen einzelner Textsequenzen in Anlehnung an die Objektive Hermeneutik (Oevermann 1983) dienen bei diesem Analyseschritt des Weiteren zur Überprüfung und Erweiterung von aus den bisherigen Auswertungsschritten gewonnenen Hypothesen. 35 Biographieforschung 519 Literatur Klassische Grundlagentexte Fuchs-Heinritz, Werner (2005): Biographische Forschung. Wiesbaden: VS-Verlag Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hg.) (1999): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen: Leske + Budrich Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Frankfurt a.M.: Campus Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3: 283-293 Völter, Bettina/Dausien, Bettina/Lutz, Helma/Rosenthal, Gabriele (Hg.) (2005): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden: VS Verlag Zur Kombination von Diskurs- und Biographieanalyse Pohn-Weidinger, Maria (2013): Heroisierte Opfer? Wiesbaden: VS Verlag Wundrak, Rixta (2010): Die chinesische Community in Bukarest. Wiesbaden: VS Verlag Zur Kombination von Biographieforschung und Ethnographie Köttig, Michaela (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen. Gießen: Psychosozial Verlag Zur Kombination von Biographieforschung und Videoanalyse Witte, Nicole (2010): Ärztliches Handeln im Praxisalltag. Frankfurt a.M.: Campus Zur Kombination biographischer Interviews und Gruppendiskussionen Miethe, Ingrid (1999): Frauen in der DDR-Opposition. Opladen: Leske + Budrich Zur Kombination biographischer Interviews mit Familiengesprächen Hildenbrand, Bruno (1999): Fallrekonstruktive Familienforschung. Opladen: Leske + Budrich Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Gießen: Psychosozial Verlag Zur Auswertung von geschriebenen Autobiographien Müller-Botsch, Christine (2009): „Den richtigen Mann an die richtige Stelle“. Frankfurt a.M.: Campus Völter, Bettina (2003): Judentum und Kommunismus. Opladen: Leske + Budrich 520 Gabriele Rosenthal Weitere Literatur Bertaux, Daniel/Bertaux-Wiame, Isabelle (1991): „Was du ererbt von deinen Vätern ...“. Transmissionen und soziale Mobilität über fünf Generationen. In: BIOS 4 (1): 13-40 Gurwitsch, Aron (1957/1974): Das Bewußtseinsfeld. Berlin/New York: De Gruyter Hildenbrand, Bruno (1995): Fallrekonstruktive Forschung. In: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Keupp, Heiner/von Rosenstiel, Lutz/Wolff, Stephan (Hg.): Handbuch qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz. 256-259 Hinrichsen, Hendrik/Rosenthal, Gabriele/Worm, Arne (2013): Biographische Fallrekonstruktionen. Zur Rekonstruktion der Verflechtung ‚individueller’ Erfahrung, biographischer Verläufe, Selbstpräsentationen und ‚kollektiver’ Diskurse. PalästinenserInnen als RepräsentantInnen ihrer Wir-Bilder. In: Sozialer Sinn (2), 157-183 Oevermann, Ulrich (1983): Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse. In: Friedeburg, Ludwig von/Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 234-289 Oevermann, Ulrich/Allert, Tilmann/Konau, Elisabeth (1980): Zur Logik der Interpretation von Interviewtexten. In: Heinze, Thomas/Klusemann, Hans-W./Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretationen einer Bildungsgeschichte. Bensheim: päd.-extra-Buchverlag. 15-69 Radenbach, Niklas / Rosenthal, Gabriele (2012): Das Vergangene ist auch Gegenwart, das Gesellschaftliche ist auch individuell. Zur Notwendigkeit der Analyse biographischer und historischer Rahmendaten. In: Sozialer Sinn, 3-37 Rosenthal, Gabriele (2005): Die Biographie im Kontext der Familien- und Gesellschaftsgeschichte. In: Völter, Bettina et. al. (Hg.): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden: VS Verlag. 46-64 Rosenthal, Gabriele (2010): Die erlebte und erzählte Lebensgeschichte. In: Griese, Birgit (Hg.): Subjekt – Identität – Person? Wiesbaden: VS Verlag. 197-218 Rosenthal, Gabriele (2011): Interpretative Sozialforschung. Weinheim/München: Juventa (Kap. 5.4.: Narratives Interview und narrative Gesprächsführung; Kap. 6.: Biographieforschung und Fallrekonstruktionen) Schütze, Fritz (1977): Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien. In: Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien der Universität Bielefeld 1. Bielefeld: Fakultät für Soziologie Thomas, William Isaac/Znaniecki, Florian (1958): The Polish Peasant in Europe and America. 2 Bände. New York (Neuausgabe der 2. Auflage von 1928, zuerst 1918-1920) Wohlrab-Sahr, Monika (1998). Konversion zum Islam. Frankfurt a.M.: Campus