Die Geschichte davor

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Die Geschichte davor
Baden und Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert
Vom schwierigen Umgang mit der (badischen) Geschichte
Geschichte und Vergangenheit spielten in der Auseinandersetzung um
den Südweststaat ebenso wie in späteren Behandlungen des Themas
eine wichtige Rolle. Ohne Verweise auf Geschichte und historisches Bewusstsein kam kaum eine der zahlreichen Reden und Appelle in den
Jahren 1946–1952 und danach aus. Einige der Argumente werden uns in
diesem Buch immer wieder begegnen.
Deswegen wollen wir diesen Gebrauch von Geschichte an einigen
beredten Beispielen illustrieren, um anschließend doch noch einen
Überblick über das zu geben, was als »Erbe« insbesondere Badens ins
Feld geführt wurde. Es wird sich zeigen, dass diese Geschichte Südwestdeutschlands weder von einer kontinuierlichen Idee, noch von den stets
gleichen Figuren beherrscht wurde. Nur eines verband alle historischen
Akteure zu allen Zeiten: Ihre Zukunft war ihnen unbekannt und ihre
Handlungsmöglichkeiten daher vielfältiger als dies in vielen geschichtlichen Rückblicken deutlich wird.
In diesen historischen Rückblicken insbesondere der ersten zwei
Jahrzehnte nach 1952 wird gerne behauptet, dass sich die damaligen
Akteure selbst als Teil einer besonderen historischen Mission wähnten
und entsprechend handelten. Insbesondere dem badischen Staatspräsidenten Leo Wohleb attestieren wohlmeinende Biografen ausgeprägte historische Verantwortung: »Zu ›seinem‹ badischen Staat ist Wohleb
nicht aus partikularistischer oder separatistischer Rechthaberei, nicht
aus Konfessionalismus oder Kirchturmspolitik geführt worden, sondern
aus dem Bewusstsein heraus, dass dieser zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene Staat seine geschichtliche Aufgabe erfüllt habe und
in der Lage sei, sie weiterhin zu erfüllen«, so schrieb der Historiker Karl
S. Bader im Jahr 1969. Was die geschichtliche Aufgabe eines Landes sei,
wer diese Aufgabe stellt und wen sie betrifft, ließ der Autor geflissentlich offen.
Dabei bezeichnet »badisch« nicht mehr nur eine Staatszugehörigkeit, sondern auch gleich eine besondere Charaktereigenschaft: »Leo
Wohleb war ein weltoffener, im besten, ich wäre fast versucht zu sagen:
im ›badischen‹ Sinne des Wortes ein liberal denkender und handelnder
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Mensch«, so versicherte der einstige Freiburger Oberregierungsdirektor
Rolf Kiefer im selben Jahr (Kiefer, S. 93).
Ein Freiburger Universitätslehrer, der Wohleb als Hochschulreferent
im badischen Ministerium für Kultus und Unterricht kennen gelernt hatte, griff dann noch weit über das 19. Jahrhundert aus und sah den Kämpfer für ein vereinigtes Altbaden als Träger frühmittelalterlicher Tugenden: »Seine im alemannischen Volkstum verwurzelte Eigenständigkeit
brauchte sich nicht einem Extrem zu verschreiben« (Vincke, S. 55). Je
nach rhetorischem Bedarf wurde wahlweise auf die mittelalterliche Geschichte, auf die neuere des Großherzogtums oder auf beide verwiesen,
um Wohleb und die badische Eigenständigkeit in der deutschen Historie zu verankern. Eine weitere Stimme: »Leo Wohleb sah das Volk im südlichen Teil Badens als ›Treuhänder der alten badischen Tradition‹ an. Er
erreichte es, dass diese Formel sogar in die Präambel der neuen Verfassung gesetzt wurde. In der Tat hatte sich in den hundert Jahren, seitdem
das Großherzogtum in seiner modernen Gestalt gewachsen war, eine
echte Tradition bilden können. Sie war gekennzeichnet durch die Einheit des alemannischen und des fränkischen Volksteils, durch die Treue
zur Gemeinschaft aller deutschen Staaten und durch eine freiheitliche
kulturelle Einstellung. Das Bewusstsein, dass die Hilfe anderer deutscher
Staaten es war, die in der wirren Ausartung einer zutiefst hoffnungsvollen Bewegung in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Land Baden und den Thron seiner Großherzoge gerettet hatte, war der Ausgangspunkt einer lebhaft empfundenen Reichsfreudigkeit.« Ob die Niederschlagung des Heckerzuges in Baden 1848 tatsächlich allenthalben
als nationales Fest gesehen wurde, darf bezweifelt werden. Skepsis beschlich offenbar auch den Autor dieses Zitats. Denn nur wenige Zeilen
später schrieb er wiederum über die badische Tradition: »Die Revolution
von 1848 war trotz ihres tragischen Endes die Quelle einer freiheitlichen
Grundhaltung des Volkes. Sie lebte im Bewusstsein nicht als ein unterdrückter Aufstand weiter, sondern als Ausdruck einer auf Grundrechte
gegen den übermächtigen Staat bedachten Volksmeinung.« (Maunz,
S. 77). Diese Sätze stammen von Theodor Maunz, dem bekannten
Grundgesetzkommentator, der seine Fachkompetenz schon erfolgreich
dem Dritten Reich angedient hatte.
Im selben Duktus wurde über Leo Wohleb geschrieben: »Das Bewusstsein, einer solchen, durch mehrere Generationen gewachsenen
politischen Einheit anzugehören, war so stark, dass Leo Wohleb den
Weg der Rückgewinnung Badens der anderen Möglichkeit vorzog,
aus dem Zusammenschluss der alemannischen Bevölkerung Südbadens und der ihr stammesmäßig verwandten schwäbischen Bevölkerung von Südwürttemberg und Hohenzollern eine neue staatliche Ein-
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heit aufzubauen« (Kopf, S. 141 f.).
Von historischer Dauer scheint hier
nur die alte und unselige Tradition
zu sein, von deutschen »Stämmen«
zu sprechen, die noch lange nach
dem Ende völkischer Alpträume regional- und heimatgeschichtliche
Darstellungen (und nicht nur die)
in ganz Deutschland prägte. Eigenständigkeit, Föderalismus oder nationale Verbundenheit – für alles
bot die badische Geschichte also
genügend Argumente.
Die obigen Beispiele sind einem
Buch entnommen, das 1969 dem
verstorbenen Wohleb ein literarisches Denkmal setzen wollte. Doch
auch der Geehrte selbst griff gerne Leo Wohleb (1888–1955), von 1947 bis
historische Argumente auf und be- 1952 Staatspräsident des Landes Baden
zeichnete den »badischen Geist« als
den des »Ausgleichswillens und der psychologischen Einfühlung«. (Dementsprechend dürfte sich die halbe Welt als Badener fühlen wollen.) Wie
beliebig derartige Zuschreibungen sind, belegt eine Rede von Heinrich
Köhler zum Gedenken an die Revolution von 1848 im Mai 1948. Köhler
war schon vor dem Krieg badischer Staatspräsident und Reichsfinanzminister gewesen, nach 1945 wurde er Landespräsident von Nordbaden, Wirtschaftsminister, Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident von Württemberg-Baden. Er gilt als »badischer Vater des Südweststaates«. Geschichte war für ihn die Mahnung zur deutschen Einheit und zu einem föderalen Deutschland als Vorbild für künftige »Vereinigte Staaten von Europa«. Auch Köhler sah in Baden den besonderen
»Geist« am Werke: »Es ist keine rednerische Überheblichkeit, wenn Baden für sich in Anspruch nimmt, Quelle und Schlagader des deutschen
demokratischen Lebens von jeher gewesen zu sein. [...] jeder Badener
ist auch heute noch von Geburt aus in seiner Weltoffenheit vor allem
anderen zuerst einmal tolerant, human und liberal.« (Zilken/Lindemann,
S. 53). Gerne wurde der Bogen von 1806 bis zum Südweststaat gespannt. So betonte Kurt Georg Kiesinger als baden-württembergischer
Ministerpräsident 1962: »Zehn Jahre besteht nun dieses Land, [...] weil
das Auf und Ab der Geschichte des deutschen Südwestens auf dem langen Wege von der ursprünglichen Einheit in die völlige Zersplitterung
und aus ihr wieder sich mühsam Stufe um Stufe neugliedernd im Jahre
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1952 zu einer neuen Einheit Baden-Württemberg gedieh.« Der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke meinte: »Erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts entstanden dann die beiden deutschen Staaten
Württemberg und Baden, die sich 1952 zusammen mit Hohenzollern
zu einem neuen kraftvolleren Bundesland vereint haben.« Und Theodor Eschenburg, Politikwissenschaftler und in der Südweststaatszeit aktiver Mitgestalter in Württemberg-Hohenzollern, schrieb in seinen Erinnerungen: »Die Deutschen hätten das [die Neugliederung der Bundesländer nach dem Krieg, d. V.] nicht zustande gebracht, wie die Entwicklung nach 1949 gezeigt hat. Es war eine Leistung, die man nur mit jener
›Flurbereinigung‹ vergleichen kann, mit der Napoleon hundertfünfzig
Jahre früher geholfen hat, die deutsche Zersplitterung zu überwinden.«
(Eschenburg 2000, S. 91).
Vorgeschichte und Geschichte davor
Zu Recht verneint der Historiker Klaus-Jürgen Matz derartige Zusammenhänge, wenn er darauf beharrt, dass Baden-Württemberg 1952
nicht aus den alten Ländern zusammengefügt, sondern aus ihren Trümmern aufgebaut wurde.
Zu behaupten, die Geschichte Badens und Württembergs sei die Vorgeschichte zu ihrer späteren Vereinigung im heutigen Bundesland, ist
also historisch verwegen. Verwegen nicht aufgrund bestimmter dafür
sprechender oder dagegen haltender Fakten. Aber die Idee einer »Vorgeschichte« unterstellt, dass der »Geschichte« so etwas wie eine bestimmte Richtung, ein bestimmtes Ziel oder ein bestimmter Sinn innewohnt. Diese Vorstellungen sind irrig. Geschichte ist das, was wir Gegenwärtigen tun. Ihr Zweck ist Orientierung in der Gegenwart. Meist gewinnen wir dabei die Erkenntnis, dass heute vieles ganz anders ist als einst
und dieses auch schon einmal anders war als davor. Im Gegensatz zu
verbreiteten Vorstellungen baut Geschichte Distanz und nicht Nähe zur
Vergangenheit auf, indem das Heute und das Gestern verglichen werden. Baden und Württemberg im 19. Jahrhundert sind also gänzlich andere Gesellschaften und Umstände als die Besatzungszone nach 1945.
Und doch waren Badener und Württemberger aus historischen (und anderen) Gründen an einer Wiedervereinigung ihrer Länder (zunächst nur
der einzelnen Länder) interessiert. Diese Suche nach der Wiederkehr der
Vergangenheit oder von Teilen davon, beschreibt man üblicherweise
als Tradition. Sie dient nicht der Suche, sondern der Bestätigung. Der
Blick in die Geschichte erfüllte in der Auseinandersetzung um den Südweststaat eher diesen Zweck und entsprach anderen Wünschen als un-
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ser Unternehmen hier. Uns hat interessiert, wie die »Geschichte davor«
(nicht die Vorgeschichte) beider Länder aussieht, um mehr über die politischen Gebilde zu erfahren, mit denen wir es in der Südweststaatsfrage zu tun haben.
Kindeskinder der Revolution
Knapp 140 Jahre bevor die Besatzungsmächte die Auflösung Badens
und Württembergs durch die Teilung der alten Länder entlang einer
Ost-West-Achse verantworteten, hatten ebenfalls Franzosen diese Länder gegründet. Es waren andere Franzosen als 1945, es waren die Parteigänger Napoleons und nicht zuletzt er selbst. Baden und Württemberg
waren Ergebnisse strategischer Planungen ihrer Landesherren und des
»Empereur«, wie sich Napoleon nach seiner Eigenkrönung 1804 nennen
ließ.
Am 5. Mai 1789 wurden in Paris am Ende einer längeren innenpolitischen Spannungsperiode die Generalstände einberufen, erstmals seit
1614. Was von König Ludwig XVI. als innenpolitische Krisenstrategie gedacht war, geriet bald außer Kontrolle. Der 14. Juli 1789 ging wegen der
symbolträchtigen Erstürmung der Bastille in die Geschichte ein, wenngleich durch die Aktion selbst lediglich vier Falschmünzer, ein angeblicher Sittlichkeitsverbrecher und zwei Geistesgestörte »befreit« wurden.
Für Südwestdeutschland gewann das Großereignis, durch die so genannten Koalitionskriege, in denen sich England, Russland, Österreich,
Spanien, Preußen und andere Kontinentalmächte in wechselnden Allianzen gegen das revolutionäre Frankreich zusammenschlossen, besondere Bedeutung. Zumindest in den ersten beiden dieser Kriege 1792
bis 1797 und 1799 bis 1802 wurde der Grenzraum zum Elsass sowie zur
Schweiz wiederholt zum Aufmarsch- und Kampfgebiet französischer,
russischer und österreichischer Truppen, die sich entsprechend den damaligen Gepflogenheiten aus dem Feld versorgten und nur wenig Rücksichten auf die betroffene Zivilbevölkerung nahmen. Südwestdeutschland, das war damals ein buntes Mosaik aus großen, mittleren und
kleinsten Herrschaften und Territorien. Verfassungsrechtlich waren sie
im Schwäbischen Reichskreis als einem von zehn Reichskreisen zusammengeschlossen. Die Kreise fungierten als Verwaltungseinheiten des
Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Um 1800 lebten etwa
eine Million Menschen im Schwäbischen Reichskreis. Vom Kreis bemerkten sie zumeist erst etwas, wenn im Kriegsfall die so genannten Kreistruppen ausgehoben wurden. Die flächenmäßig bedeutendsten Territorien waren das Herzogtum Württemberg unter Herzog Friedrich I. und
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die Markgrafschaft Baden mit ihrem Schwerpunkt zwischen Pforzheim,
Bühl und dem Gebiet nördlich von Karlsruhe. Karl Friedrich, Markgraf
von Baden, ergriff 1765 die Gelegenheit, die Spaltung der Familie in die
Häuser Baden-Baden und Baden-Durlach zu überwinden. 1789 endeten
erfolgreich alle Prozesse und Diplomatieakte um diese Zusammenführung.
Auch die anderen großen und kleinen Machthaber versuchten durch
Verträge, Heiratspolitik, Rechtsstreitigkeiten aber auch durch Gewalt
den Zusammenschluss der bisweilen weit verstreuten Besitzungen oder
deren Ausweitung zu bewerkstelligen.
Die Stadt Konstanz gehörte seit 1548 zu Vorderösterreich, war seit
1753 sogar Sitz einer Repräsentation und Kammer für Vorderösterreich.
Neben Freiburg, das zum Zentrum des vorderösterreichischen Justizwesens wurde, war Konstanz ein wichtiger Stützpunkt der Zivilverwaltung
der Vorlande. Damit stand die Stadt in den Kriegen der 1790er Jahre auf
der Seite der Koalition.
Noch im Verlauf des ersten dieser Kriege hatte man in Baden die strategischen Gefahren aber auch die territorialen Chancen der unsicheren
Lage erkannt, nachdem insbesondere über die Pfalz französische Truppen immer wieder auch auf badisches Gebiet vorgedrungen waren. Sigismund von Reitzenstein (1766–1847) übernahm es, im Auftrag des badischen Markgrafen Karl Friedrich 1796 in Frankreich Verhandlungen
über einen Sonderfrieden Badens mit der Republik zu führen, die am 22.
August 1796 mit einem Friedensvertrag abgeschlossen wurden. Diese
oft als Weitsicht beschriebene Taktik war indes ein Gebot der Stunde.
Der französische General Moreau hatte am 24. Juni die Rheingrenze bei
Kehl überschritten und die schwäbischen Kreistruppen geschlagen. Sie
zogen sich daraufhin nach Oberschwaben zurück. Am 20. Juli schloss
der Reichskreis mit dem französischen General Vandamme einen Waffenstillstand, die restlichen Kreistruppen wurden am 29. Juli bei Biberach entwaffnet.
Markgraf Karl Friedrich zögerte die Ratifizierung des Vertrags jedoch
noch bis zum 15. Dezember 1797 hinaus. Inzwischen war Napoleon erfolgreich durch Oberitalien gezogen und hatte die Österreicher geschlagen. Im Frieden von Campo Formio musste Österreich seine linksrheinischen Besitzungen an Frankreich abtreten und verlor damit immerhin
eine über 60.000 km2 große Fläche und 3,5 Millionen Untertanen. Mehr
noch: Die Bereitschaft der Einzelstaaten zur Gebietsabtretung stellte
den Beginn der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation dar, das seit 1648 bestanden hatte.
Ein Kriegsziel Frankreichs war indes erreicht: Der Rhein wurde zur
Ostgrenze, und damit gerieten auch die jenseits gelegenen Territorien
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in das Blickfeld der französischen Außenpolitik. 1799 begannen erneut
Kampfhandlungen zwischen Frankreich und einer östereichisch-britisch
geführten Koalitionsarmee. Wieder war der deutsche Südwesten Kampfgebiet und auch der Bodensee selbst wurde zum Schauplatz militärischer Aktionen einer kleinen britischen Flottille. Nach seiner erneuten
Niederlage musste Österreich in Lunéville 1801 den Frieden von Campo
Formio bestätigen. Baden und Württemberg hatten sich weitgehend an
die 1796 ausgehandelten Sonderverträge gehalten. Erst ab 1802 wurde
die territoriale Umgestaltung des deutschen Raumes konkret. Dabei vergaß Napoleon auch nicht die politischen Zugeständnisse alter Verbündeter wie Baden und Württemberg. Seine Ziele waren eindeutig: Die
Auflösung des Reiches und die Installierung einiger mittelgroßer deutscher Staaten als Gegengewicht zu Österreich. Um die Machthaber an
sich zu binden, belohnte Napoleon sie mit Territorien, die er insbesondere dem Klerus nahm. Das war sowohl revolutionäres Gedankenerbe
als auch raffinierte Strategie.
Der so genannte Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar
1803 zementierte diese Politik des Gebietstausches. Zahllose geistliche
Territorien, alle reichsunmittelbaren Städte (mit wenigen Ausnahmen)
und weitere Herrschaften wurden an die verteilt, die sich Frankreich gegenüber verhandlungsbereit gezeigt hatten. So kam der badische Markgraf Karl Friedrich in den Genuss des Titels eines Kurfürsten. Mit diesem
Titel oblag ihm die Würde, den deutschen Kaiser zu »küren« – bis dato
ein Privileg, das seit Jahrhunderten nur wenigen Fürsten zukam. Nutzen
konnte er diese Ehre nicht mehr. Denn 1804 nahm Erzherzog Franz II.
von Habsburg den Titel als österreichischer Kaiser an und nannte sich
Kaiser Franz I. Seinen legitimen Anspruch auf den deutschen Kaisertitel
hatte er damit aufgegeben. Nach dem Frieden von Pressburg, geschlossen nach einer kurzen Erhebung Österreichs gegen Frankreich, wurden
Bayern und Württemberg Königreiche, 1806 wurde Baden Großherzogtum. Zudem erhielt Baden die rechtsrheinischen Gebiete der bayrischen
Kurpfalz mit Mannheim und Heidelberg. Diese Machtverschiebungen
wurden 1806 vorläufig durch die Gründung des so genannten Rheinbundes, einer mit Frankreich alliierten Staatengruppe mit Mainz, Bayern, Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt und anderen, beendet.
Dieser Akt besiegelte letztlich das Ende des heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation. Nach den so geschaffenen Tatsachen verzichtete am
6. August 1806 Franz II. auf die deutsche Kaiserkrone, womit das Reich
auch institutionell am Ende war (als Franz I., Kaiser von Österreich, amtete er noch bis 1835).
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Zwischen Föderalismus und Eigenständigkeit
Die Umwälzungen hatten Baden die Vervierfachung seiner Grundfläche beschert, es gewann unter anderem das Bistum Konstanz, die
rechtsrheinischen Besitzungen der Klöster Basel, Straßburg, Speyer und
Worms, sowie auch die Abteien Salem und Petershausen, die einstigen
Reichsstädte Offenburg, Gengenbach, Überlingen und Pfullendorf sowie das Fürstentum Fürstenberg. Württemberg hatte seine Fläche nahezu verdoppelt, was angesichts der Tatsache, dass Herzog Friedrich
erst 1801 in das französische Lager gewechselt hatte, ein durchaus »zufriedenstellendes« Ergebnis war.
Damit waren die Länder Baden, Württemberg und Hohenzollern in
den Grenzen etabliert, in denen 146 Jahre später das Bundesland Baden-Württemberg gebildet werden sollte. Mit dem Frieden von Pressburg waren die rechtsrheinischen Teile Vorderösterreichs sowie Konstanz Baden zugeschlagen worden. Dass nicht alle Konstanzer den Identitätswechsel ohne weiteres vollzogen, zeigt eine Begebenheit aus dem
Jahr 1809. Damals wurden einige Konstanzer bestraft, weil sie österreichischen Soldaten bei einem Handstreich gegen die badische Garnison in Konstanz behilflich gewesen sein sollen.
Nach der Niedererlage Napoleons bei Waterloo trafen sich die europäischen Potentaten 1814/15 auf dem Wiener Kongress, um Europas
Länder und Bevölkerungen neu zu verteilen. Baden und Württemberg
gelang es, ihre noch jungen Territorien zu sichern. Nicht zuletzt auf
ihr Betreiben hin wurde 1815 der Deutsche Bund gegründet, der bis
1866 Bestand haben sollte. Der Deutsche Bund war kein Nationalstaat,
sondern vielmehr ein loser Zusammenschluss einzelner Bundesstaaten.
Daraus eine historische Neigung der badischen Bevölkerung zu unabhängigen Staatsgebilden abzuleiten, geht allerdings fehl. Denn es waren die Monarchen, die hier ihre eigenen Herrschaftsinteressen sicherten.
Aus der napoleonischen Zeit übernahmen die beiden ehemaligen
Rheinbundstaaten Baden und Württemberg nicht nur ihre Landgewinne und ein modernes Zivilrecht, sondern auch die vergleichsweise modernen Verwaltungssysteme. Fachbeamte, Behörden und andere heute
wohl vertraute Merkmale der Bürokratie sollten damals die Steigerung
staatlicher Effizienz und Leistung garantieren. Gleichzeitig sicherten sie
der Einkommenselite die wirtschaftliche Entfaltung und das sorgte wiederum für Steuern. Staat, Markt und Beamtentum waren aufeinander
angewiesen und begannen sich einzuspielen. Und das hieß in erster Linie, die Bürokratie zu optimieren und die Bevölkerung zu integrieren,
um den Staat zu stabilisieren. Optimierung, Effizienz, Integration und
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Stabilität – in den Fremdwörtern steckt der Importcharakter dieser Vorstellungen aus der Aufklärung und aus dem Liberalismus.
In der Gründungsakte des Deutschen Bundes wurden alle beteiligten
Länder dazu verpflichtet, sich Verfassungen zu geben. In Baden wurde
dies am 22. August 1818, in Württemberg am 25. September 1819 umgesetzt. Zwei Parlamente mit je zwei Kammern wurden in Baden und
Württemberg eingerichtet. Einmal im Jahr kamen die Parlamente für
eine mehrwöchige Sitzungsperiode zusammen, bisweilen blieben auch
diese Treffen aus. Dennoch ermöglichten beide Staatsführungen ihren
Bürgern nach Innen, was sie selbst nach Außen praktizierten: eine weitgehende Autonomie und Souveränität.
Dieses Souveränitätsbewusstsein nach Innen und Außen hinderte
Baden freilich nicht, 1866/67 deutliche Sympathien mit Bismarcks Unionsplänen zu hegen, während Württemberg sich eher reserviert zeigte. So befand der badische Großherzog Friedrich I. Preußen als »am berufensten zur Führung Deutschlands«, während sich der württembergische König Wilhelm I. kategorisch gab: »Einem Hohenzollern unterwerfe
ich mich nicht«. Es war schließlich die Zustimmung der württembergischen Untertanen zum Deutschen Reich, die des Königs Standhaftigkeit
bröckeln ließ.
Insbesondere der badische Großherzog aber unterließ kaum eine
Gelegenheit, sein Land in das neue Reich einzubringen, auch wenn dies
die Preisgabe eigenständiger Rechte bedeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg gaben sich beide Länder auf der Basis allgemeiner und freier Wahlen im April 1919 Verfassungen als »Demokratische Republik Baden« und
als »Freier Volksstaat Württemberg«. Beide wurden 1933 im Zuge von
Machtergreifung und Gleichschaltung der Länder de facto abgeschafft.
Im April 1933 wurden so genannte Reichsstatthalter eingesetzt, die allerdings keine Interessenvertretung von unten nach oben wahrnahmen,
sondern umgekehrt Befehle »von oben« auszuführen hatten. 1934 wurden die Landesregierungen auch formell direkt dem Reich unterstellt,
1935 wurde auch die Gemeindeselbstverwaltung beseitigt. Von da an
stand ein staatlich verordneter Ortsvorsteher an der Spitze der kommunalen Behörden.
In der Südweststaatsdebatte galten historische Argumente viel. Traditionen wurden aufgerufen und hergestellt, um Liberalismus, Freigeist
und Unabhängigkeit, aber auch die enge historische Verbindung zwischen Württemberg und Baden zu belegen. Der kurze historische Abriss
der vorigen Seiten sollte verdeutlichen, dass die Gründung Badens und
Württembergs um 1800 als reines Machtspiel der beteiligten Fürsten,
Militärs und Machthungrigen vollzogen wurde. Rücksicht auf die betroffene Bevölkerung nahm dabei keiner der Potentaten. Diese Staatsgrün-
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dungen von oben sind kaum mit dem vergleichbar, was bei den Volksabstimmungen 1950 und 1951 stattfand. Es war ein langwieriger Prozess, die damals frisch gebackenen »Badener« und ehemaligen Fürstenberger, Vorderösterreicher, Reichsstädter oder Untertanen von Klöstern
und Hochstiften mit einer neuen Identität zu versöhnen. Dieser Prozess
ist bisher noch kaum untersucht. Zu verführerisch war es lange Zeit, von
der großen Tradition badischen Freisinns und südwestdeutscher Demokratie zu sprechen und dabei doch Dinge gleichzusetzen, die kaum vergleichbar sind. Denn sowohl nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden die Bewohner der Länder selbständig über
ihre Zukunft.
Was bleibt dann noch von Traditionen? Immerhin die Gewissheit,
dass sie gerne zum politischen Argument werden und dass Geschichte
vielleicht auch insofern ein beruhigender Blick zurück sein kann, weil
dabei sichtbar wird, wie weit und zufallsbehaftet der Weg war, der inzwischen zurückgelegt wurde.
Fabio Crivellari / Patrick Oelze
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