Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Hay 48487 / p. 1 /9.5.2012
VERLAG KARL ALBER
A
Hay 48487 / p. 2 /9.5.2012
Ziel dieser Arbeit ist eine genealogische Rekonstruktion des Tragischen
und seiner Bedeutung in Schellings Philosophie. Zunächst wird das
Tragische in Bezug auf Schellings Ästhetik untersucht, d. h. also in Bezug auf seine Auslegung der Tragödie in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst. Dabei kommt eine gewisse Logik, die sich als die
Struktur des Tragischen zu verstehen gibt, zum Vorschein. Diese erlaubt eine Analyse von Schellings Philosophie, in welcher das Tragische
nun nicht mehr das Objekt der Betrachtung ist, sondern vielmehr die
Logik ihrer Realisierung zum Ausdruck bringt. So können Schellings
Werke (von den Philosophischen Briefen bis hin zu den in Erlangen
gehaltenen Vorlesungen) von seiner Auffassung des Tragischen her
neu reflektiert und gelesen werden.
Die Autorin:
Katia Hay (geboren 1981, Madrid) hat Philosophie und Literatur in
Madrid, München, Paris und London studiert. 2008 schloss sie ihre
Dissertation im Rahmen einer doppelten Promotion über Schelling
und das Tragische an der Ludwig-Maximiliens-Universität München
und der Universität Sorbonne, Paris-IV ab. Sie hat an der New School
for Social Research in New York und an der Universität Freiburg gelehrt. Zurzeit arbeitet sie an einer Monographie zu Nietzsche, Humor
und Sprache.
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Katia Hay
Die Notwendigkeit
des Scheiterns
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2
BEITRÄGE ZUR
SCHELLING-FORSCHUNG
Herausgegeben von
Lore Hühn (Freiburg)
Paul Ziche (Utrecht)
Philipp Schwab (Freiburg)
Hay 48487 / p. 5 /9.5.2012
Katia Hay
Die Notwendigkeit
des Scheiterns
Das Tragische als Bestimmung
der Philosophie bei Schelling
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Hay 48487 / p. 6 /9.5.2012
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48487-6
Hay 48487 / p. 7 /9.5.2012
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist eine für den Druck geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2008
von der Ludwig-Maximilians-Universität (München) und von der Universität Sorbonne, Paris-IV angenommen wurde. Nach der mündlichen
Prüfung wurde sie von Prof. Dr. Jörg Jantzen (München), Prof. Dr.
Jean-François Courtine (Paris), Prof. Dr. Lore Hühn (Freiburg) und
Prof. Dr. Emmanuel Cattin (Clermont-Ferrand) mit summa cum laude
bewertet.
Ohne die Weisheit und das Wissen, ohne die Unterstützung, Geduld, Sorge, Freude, Ironie und Liebe von allen, die mich bei der Realisierung dieses, meines Traumes begleitet haben, wäre dieses Buch niemals entstanden. Allein dafür, dass ich tatsächlich über dieses Thema
arbeiten und schreiben durfte, bin ich unendlich dankbar. Deshalb
möchte ich mich zuerst bei Jörg Jantzen und Jean-François Courtine
ganz herzlich bedanken: Danke für die philosophischen Gespräche, die
Inspiration, die treue Unterstützung und das mir entgegengebrachte
Vertrauen. Ebenfalls bedanke ich mich bei Emmanuel Cattin für sein
Engagement. Bei Lore Hühn, die mich in der Publikationsphase in so
vielen Hinsichten weiterhin unterstützt hat, möchte ich mich besonders herzlich bedanken, genauso wie bei Thomas Kisser, der eine unerschöpfliche Quelle philosophischer Anregungen für mich gewesen
ist. Ohne seine Seminare wäre meine intensive Auseinandersetzung
mit der deutschen Philosophie so nicht möglich gewesen.
Diese Arbeit habe ich im Rahmen einer Cotutelle geschrieben, was
mit einem ständigen Ortswechsel einhergeht. Doch meine Freunde waren immer da: danke. Danke für Euer unglaubliches Verständnis und
Eure Hilfe. Danke für die philosophischen Diskussionen, danke für die
Welten, die ich mit Euch entdeckt habe, die Unterhaltungen, die Museen, die Spaziergänge: Hugo, Magali, Sabine, Alois, Teresa, Julian,
Claudia. Danke Bernd für mein zweites Zuhause. Danke Martín: Ohne
VII
Hay 48487 / p. 8 /9.5.2012
Vorwort
die Spanisch-Kurse hätte ich mein Studium nicht finanzieren können.
También quisiera agradecer el apoyo incondicional de mis padres y de
Talia. A mi padre, gracias por haber insistido tanto en que aprendiera
alemán, mucho antes de que conociera mi destino. Dafür, dass Deutsch
jetzt meine adoptierte Sprache geworden ist, bin ich sehr dankbar:
herzlichen Dank also auch an Volker, Isabella, Markus, Eike und Mildred, die die verschiedenen Versionen und Kapitel meiner Arbeit gelesen und korrigiert haben: danke für Eure Aufmerksamkeit und Euren
Enthusiasmus: Philipp, ich danke auch Dir für die Hilfe bei den letzten
Schritten.
Nicht zuletzt bedanke ich mich bei Prof. Dr. Carlos João Correia
(Lissabon) und für die finanzielle Unterstützung, die ich während der
Zeit der Bearbeitung des ersten Manuskriptes von der Fundação para a
Ciência e a Tecnologia in Portugal bekommen habe.
VIII
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Teil I
Philosophie der Kunst:
Schellings Deutung der Tragödie (1802–1803)
I-(1)
Der Auftritt der Sittlichkeit: Echos zu den
Philosophischen Briefen . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Götter, Stoff der Kunst . . . . . . . . . . . . .
b) Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie .
Die Tragödie: Darstellung des Erhabenen,
erhabenste Darstellung . . . . . . . . . . .
2.1. Inszenierung der Indifferenz . . . . . . . .
a) Das Drama . . . . . . . . . . . . . . .
b) Einheit der Handlung, Stetigkeit der Zeit
c) Der Chor . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Das Symbol oder das lebendige Band . . . .
13
13
19
I-(2)
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Einweihung in das Tragische: die existenzielle Lektüre
der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1. Schellings Deutung des Tragödienschicksals von 1803 .
a) Hamartía . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Shakespeare oder das Schicksal als Charakter im
modernen Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Die Verinnerlichung des Schicksals . . . . . . . . .
3.2. Der Triumph der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Deutung der Freiheit in der griechischen Tragödie
28
35
35
39
43
52
I-(3)
61
62
62
72
81
87
95
IX
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Inhalt
Teil II
Die Struktur des Tragischen
II-(4) Das Tragische: Eine philosophische Betrachtung . .
a) Die Struktur des Tragischen . . . . . . . . . . .
b) Frei-Werden = Bewusst-Werden . . . . . . . . .
c) Die Reichweite des Tragischen . . . . . . . . . .
.
.
.
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.
.
.
.
103
108
112
116
Teil III
Die tragische Logik in Schellings Philosophie
III-(5) Die Entwicklung der Philosophie als verinnerlichende
Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1. Die Philosophischen Briefe: Titanen oder Menschen? . .
5.2. Das System von 1800: Schicksal und Genie . . . . . . .
a) Die Erscheinung der Freiheit . . . . . . . . . . . . .
b) Die Kunst im System des transscendentalen Idealismus
c) Das Genie oder jene dunkle unbekannte Macht . . .
d) Übergang zu Schellings Freiheitsschrift . . . . . . .
III-(6) Philosophische Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freiheit: Vom Schicksal zum Grund . . .
a) Das Gute ist das Böse: Der wahre Sinn der Copula . .
b) Die Metapher des Grundes: Vom Absoluten zu einem
persönlichen Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Die Sünde: Folge oder Bedingung der menschlichen
Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III-(7) Die Weltalter: Auf der Suche nach dem Grund . .
a) Wollen ist Ursein . . . . . . . . . . . . . . .
b) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit . . . .
c) Die Erzählung: Die eigentliche Darstellung des
Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schlusswort: Die Erlanger Vorträge
X
129
130
140
140
146
151
165
168
168
176
187
199
. . . 219
. . . 219
. . . 232
. . . 240
. . . . . . . . . . . . . . 247
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Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
259
262
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
XI
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Einleitung
[E]s ist ein Widerspruch, den wir nicht aufzuheben, den wir im Gegentheil
zu erkennen haben, dem wir nur den rechten Ausdruck suchen müssen.
Er ist im Vorhergehenden schon angedeutet dieser Ausdruck. Das Loos
der Welt und der Menschheit ist von Natur ein tragisches, und alles was
im Lauf der Welt Tragisches sich ereignet, ist nur Variation des Einen
großen Themas, das sich fortwährend erneuert; die Handlung, von welcher alles Leid sich herschreibt, ist nicht einmal geschehen, sondern das
immer und ewig Geschehende […]. (SW XI, 485 f.)
Wir möchten mit dem Anfang anfangen und doch können wir es nicht,
denn der Anfang geht immer von der Mitte aus. 1 Wir suchen ihn, wir
meinen ihn gefunden zu haben, wir stellen ihn fest und gleich erweist
es sich, dass das, was wir nun ergriffen haben, weder der absolute Anfang ist noch jemals der absolute Anfang war. Im Nachhinein stellt sich
heraus, dass dasjenige, was uns als Anfang erschien, dasjenige, was wir
als Anfang und somit als erstes Prinzip der Dinge gesetzt haben, eine
dunkle, eine noch nicht betrachtete Seite verborgen hielt. Hinter dem
Grund entdeckt man nicht ohne Schrecken den Urgrund. Hinter der
ersten freien und bewussten Tat findet man eine blinde Ur-Tätigkeit,
eine Ur-Entscheidung, die sowohl frei als auch notwendig zu sein
scheint. Unterhalb der Schwelle des Bewusstseins pulsiert das absolut
abgründige Unbewusste. Dies ist zumindest die Erfahrung, die wir in
Diesen Gedanken, den wir als einen Schellingschen Gedanken betrachten können,
finden wir auch bei Friedrich Schlegel. So erläutert es jedenfalls Manfred Frank: »Genetisch (›der Entstehung nach‹) kann die Philosophie nicht gleich mit ›Einem‹ Satz anfangen; jeder beliebige kann ihr zum Ausgangspunkt werden; sie kann daher mediis ex
rebus beginnen (›in der Mitte‹)« (Frank 2007, 106). »Daher muß die Philosophie wie
das epische Gedicht in der Mitte anfangen, und es ist unmöglich dieselbe so vorzutragen
und Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das Erste für sich vollkommen begründet
und erklärt wäre« (KFSA XVIII, 518).
1
1
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Einleitung
der Auseinandersetzung mit Schellings Werk machen. 2 Schellings
Werk verrät eine philosophische Produktivität, welche sich im Grunde
genommen als das Resultat der Suche nach dem Anfang betrachten
lässt. 3 Es ist, als ob die Basis der Realität und der Anfang der Zeit
grundsätzlich unbestimmt und unbestimmbar wären: eine dunkle Urmasse, ein Wirbel von entgegengesetzten Kräften, die aber allmählich
eine Form annehmen, ans Licht treten, und zwar dadurch, dass sie zur
Sprache gebracht werden. Hätte der Anfang diese dunkle Seite nicht
bzw. wäre er völlig durchsichtig, so würde aus ihm nichts heraustreten
können, das mit Bewegung, Widerstreit und Begierde durchdrungen
sein könnte, wovon sowohl das organische als auch das geistige Leben
durchdrungen sind. Und trotzdem kann dies, so Schelling, nicht wirklich das Erste sein. Hinter der Bewegung, dem Widerstreit und der
Begierde verbirgt sich eine noch tiefer liegende Dimension: der Anfang
vor dem Anfang.
Wäre die Philosophie eine reine Spekulation über dieses erste Eine,
d. h. also über das, was keinen Anfang hat und keine Differenzen kennt,
so würde sie von diesem Problem, nämlich dem Problem der Bestimmung des wahren Anfangs, unberührt bleiben. Aber Schellings Philosophie ist sicherlich nicht nur eine Philosophie über jenes Eine, welches weder wirklich bzw. ein Seiendes noch auf irgendeine Weise von
der Differenz betroffen ist. Und außerdem, selbst wenn Schellings Philosophie eine solche zu sein scheint, nämlich eine Philosophie der Identität oder eine Philosophie des Absoluten (welches Absolute, wie Lore
Hühn betont, bei Schelling immerhin als »Anfangsfigur« oder »tragende[r] Grund« zu betrachten ist); 4 selbst wenn er behauptet, sein
Standpunkt sei der Standpunkt der Vernunft oder der Identität, von
welchem Standpunkt aus »[n]ichts […] an sich betrachtet endlich«
(AA I,10, 121) ist; selbst dann ist er immer schon in der Differenz. 1801
behauptet Schelling, die Philosophie könne nur vom Standpunkt des
Absoluten aus gedacht werden; 5 von diesem Standpunkt ausgehend
Den Gedanken, dass die Philosophie als Erfahrung oder Mitteilung einer Erfahrung zu
deuten sei, finden wir spätestens in den Weltaltern. Siehe dazu Kap. 7: »und wenn nun
dieses wieder recht im Geiste betrachtet wird, entdecken sich auch an ihm neue Abgründe und nicht ohne eine Art von Entsetzen« (WA I, 12 f.; Herv. v. Verf.).
3
»Das Thema des Anfangs ist in der Philosophie Schellings in recht unterschiedlicher
Weise präsent« (Hühn 2007, 203).
4
Ebd.
5 »Es giebt keine Philosophie, als vom Standpunct des Absoluten, darüber wird bey
2
2
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Einleitung
seien alle Differenzen nicht nur relative oder quantitative Differenzen
(vgl. AA I,10, 125 f.), sondern schlechthin nichts, da sie nur in »Ansehung des einzelnen Seyns« (AA I,10, 127) oder nach der Reflexion
vorkommen. Doch selbst in diesem früheren Werk Schellings finden
wir den Gedanken, dass die Existenz (und demzufolge auch die Existenz der Philosophie) ohne die quantitativen Differenzen unmöglich
wäre. Anders gesagt: Gäbe es im engeren Sinne nur Identität, so würde
nichts existieren können: »Das Absolute existirt also nicht actualiter,
wenn nicht eine Differenz sowohl in Ansehung jener höheren Form –
Idealen und Realen – als der Subjektivität und Objektivität gesetzt
wird« (AA I,10, 128). Das Absolute oder, wie er es später nennen wird,
diese reine Lauterkeit kann eigentlich nur aus der Differenz betrachtet,
oder genauer gesagt, es kann nur in der Differenz dargestellt werden,
nämlich in der Differenz, welche die Sprache, d. h. die Darstellung
selbst konstituiert. 6
Wir haben also mit dem Anfang gleich zwei Grundprobleme oder
Grundmotive gefunden, welche Schellings ganzes Werk durchziehen:
nämlich einerseits das Problem der Bestimmung oder der Erkenntnis
des Anfangs und die Tatsache, dass die Suche in gewisser Weise unendlich wird, insofern wir immer etwas Neues finden, was uns vorher notwendig unbekannt war; andererseits das Problem der Darstellung, welches sich seinerseits zugleich in der Form einer permanenten Suche
nach der besten oder der angemessensten Darstellungsform manifestieren wird. Gewiss ist Schelling für seine proteische Verwandlungsgabe
bekannt. 7 Briefe, Dialoge, transzendentale Systeme, Untersuchungen,
Epos… Schelling scheint ständig auf der Suche nach der absoluten
dieser ganzen Darstellung gar kein Zweifel statuirt: die Vernunft ist das Absolute« (AA
I,10, 117).
6 Hierin liegt sicherlich die Schwierigkeit oder mindestens der Anfang der Problemstellungen der Identitätsphilosophie, so wie sie in der Darstellung meines Systems 1801
eingeleitet wird, nämlich mit der Behauptung: »Die absolute Identität IST nur unter
der Form des Satzes A = A, oder, diese Form ist unmittelbar durch ihr Seyn gesetzt.
Denn sie ist nur unbedingt und kann nicht auf bedingte Art seyn, das unbedingte Seyn
kann aber nur unter der Form jenes Satzes gesetzt werden« (AA I,10, 121). Denn nicht
nur enthält der Satz A = A immer schon den Satz A = B (da das erste und das zweite A,
wenn nicht absolut verschieden sind, doch auf verschiedene Weise auftauchen, und zwar
bald als Subjekt bald als Prädikat (vgl. AA I,10, 119)), sondern überhaupt, weil hiermit
implizit eine Differenz gesetzt wird zwischen der Identität oder dem Absoluten und dem
Ausdruck bzw. der Darstellung der Identität.
7 Siehe z. B. Tilliette 1970, 12.
3
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Einleitung
Form der Darstellung der Philosophie gewesen zu sein, sodass man
eigentlich sagen könnte, Schelling habe sich fortlaufend mit einem ästhetischen Problem, nämlich dem Problem der Form der Darstellung
seiner Gedanken beschäftigt. 8 Weder das erste noch das zweite Problem werden eine endgültige Lösung finden, denn hiermit würde man,
wie Manfred Frank zu Recht betont, »etwas Unmögliches von der Philosophie verlangen«. 9 Dieses Unmögliche dennoch zu verlangen, oder
dieses notwendige und letztlich selbstbewusste Scheitern der Philosophie ist es, was wir im Allgemeinen mit dem Begriff des Tragischen
bezeichnen wollen. Das Ziel dieser Arbeit ist, zu zeigen, inwiefern der
Begriff des Tragischen uns in der Auslegung von Schellings Philosophieren und vor allem bei der Explikation der Entwicklung seines Denkens behilflich sein kann.
Dass das Tragische eine gewisse Präsenz in Schellings Philosophie
hat, scheint unzweifelhaft zu sein – vor allem seit Szondis Versuch über
das Tragische, 10 wo wir die so oft zitierte Stelle finden: »Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie
des Tragischen«. 11 Doch dies bedeutet, dass der Begriff des Tragischen
auf zwei verschiedene Weisen mit Schellings Philosophie verbunden
ist: erstens als dasjenige, was Schellings Philosophie charakterisiert
oder charakterisieren kann; 12 zweitens, als ein Begriff oder ein Konzept, das Schelling selbst erfunden hat. 13 Das genauere Ziel dieser Arbeit besteht nun darin, beide Aspekte zu untersuchen und vor allem
festzustellen, ob und inwiefern es nach dem in seinen Schriften explizit
Zurecht sagt Manfred Frank, obwohl er dies eigentlich nur in Bezug auf Schellings
System des transscendentalen Idealismus behauptet: »Die ganze Aufgabe der Philosophie besteht nur darin, die intellektuelle Anschauung zum Erscheinen zu bringen, sie
objektiv, oder besser, intersubjektiv mitteilbar zu machen« (Frank 1989, 160). Sicherlich
finden wir Begriffe wie die »intellektuelle Anschauung« in Schellings späterem Werk
nicht mehr. Doch das Grundproblem bleibt meines Erachtens dasselbe, und zwar nicht so
sehr ein Problem des Anschauens oder des Erkennens – das Problem der Mitwissenschaft, wie etwa Xavier Tilliette in seinem Buch über die intellektuelle Anschauung
behauptet (Tilliette 1995) –, sondern vielmehr das Problem der Darstellung.
9 Frank 1989, 160.
10 Siehe Szondi 1961. Siehe auch Escola 2002, 22.
11 Szondi 1961, 7.
12
Vgl. hierzu Hühn 1999. Siehe auch Jantzen 1998 und Roux 2001, 61–80.
13 Dies wird vor allem in Bezug auf Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus
und Kriticismus diskutiert. Siehe Szondi 1961; Courtine 1990, 75–110; Hühn 1998, 95–
128.
8
4
Hay 48487 / p. 17 /9.5.2012
Einleitung
deduzierten Konzept des Tragischen überhaupt angemessen ist, den
Begriff des Tragischen auf Schellings eigene Philosophie anzuwenden.
Die Ausrichtung einer solchen Arbeit, die zugleich eine Reflexion auf
das Philosophieren selbst unternehmen will, rechtfertigt sich bereits
dadurch, dass man in einem Buch über »Philosophie und Tragödie« 14
oder »Schicksal und Geschichte« 15 Sektionen über Hegel, Nietzsche,
Hölderlin, Heidegger und Benjamin finden wird, aber kein Kapitel
über Schelling; und dies, obwohl die Verbindung zwischen dem Tragischen und der Philosophie Schellings irgendwie selbstverständlich
ist. Dieses Thema soll hier mit der These verbunden behandelt werden,
dass Schellings Philosophieren sich als tragische Entwicklung verstehen lässt.
Nun liegt das erste Problem, das uns begegnet, gewiss darin, die
genaue (Schellingsche) Definition des Tragischen zu rekonstruieren.
Das Problematische daran ist nicht so sehr die Abwesenheit einer einfachen Definition des Tragischen bei Schelling, sondern eine dem Begriff des Tragischen wesentliche Besonderheit, nämlich, dass es weder
eine rein philosophische noch eine rein künstlerische Kategorie ist, sondern irgendwo zwischen den beiden Bereichen schwebt, d. h. also zwischen Philosophie und Kunst. Das Tragische ist mit der Tragödie und
der Auslegung der Tragödie unmittelbar verbunden, sodass es in der Tat
unmöglich wäre, das Tragische zu analysieren, ohne die Tragödie in
Betracht zu ziehen und umgekehrt. 16 Doch hieraus sollte man keinesfalls schließen, dass das Tragische von irgendeinem Plot und damit von
der in einer Tragödie erzählten Geschichte allein abzuleiten wäre. Denn
man sollte die unvermeidliche Ambiguität des Dramas nicht vergessen,
dass nämlich dieselbe Geschichte sowohl als tragisch als auch als komisch betrachtet werden kann, 17 genauso, wie man dieselbe BegebenBeistegui/Sparks 2000. Zwar taucht Schelling in verschiedenen Aufsätzen auf, aber es
gibt in diesem Buch keine Sektion, die sich spezifisch auf Schelling konzentriert.
15 Pöggeler 2004. Die Abwesenheit einer Anerkennung der Bedeutung Schellings für
das Problem der Beziehung zwischen dem Tragischen und der Philosophie fällt hier
besonders auf.
16 So bemerkt Gouhier zu Recht: »Mais demander à la tragédie le sens du tragique ou à
la comédie le sens du comique, n’est-ce point tourner en rond? Ne faudrait-il pas savoir
ce qu’est le tragique pour écrire ou reconnaître une tragédie? ce qu’est le comique pour
écrire ou reconnaître une comédie. Il y a cercle, mais nullement vicieux: c’est le cercle de
la connaissance précise« (Gouhier 1991, 10).
17
So wurde z. B. die Legende von Thisbe und Pyramus von Shakespeare ein Mal komisch gedeutet, in A Midsummer’s Night Dream, und ein anderes Mal tragisch, näm14
5
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Einleitung
heit in verschiedenen Situationen für tragisch oder komisch halten
kann. Das heißt, das ›Tragische‹ entsteht im Zusammenhang mit einer
gewissen Interpretation oder als Resultat einer bestimmten Einstellung
gegenüber der Tragödie, die sowohl vom Text als auch vom Zuschauer
abhängig ist. In Kürze: Das Tragische ist keine notwendige Folge der
Tragödie, es gehört weder der Tragödie allein noch dem Betrachter, weder dem Objekt noch dem Subjekt allein an, sondern entsteht zwischen
den beiden, d. h. in der Auslegung.
Wenn also behauptet wird, Schelling sei der Erfinder oder Pionier
einer Philosophie des Tragischen, wie wir seit Peter Szondis Versuch
über das Tragische immer wieder lesen können, sollte man nicht vergessen, dass Schelling hiermit zum Erfinder einer bestimmten Lektüre
der Tragödie geworden ist. Szondi macht dies auch deutlich, indem er
sagt, dass mit Schellings »Deutung des König Ödipus und der griechischen Tragödie […] die Geschichte der Theorie des Tragischen« 18
beginne. Zugleich bedeutet dies aber, dass es ohne eine genaue Betrachtung von Schellings eigenartiger und in keinem Sinn selbstverständlicher Auslegung der Tragödie unmöglich wird, den Begriff des
Tragischen auch nur mit einer minimalen Präzision zu erfassen. Dies
jedoch, d. h. den Begriff des Tragischen von jeglichem generalisierenden, unpräzisen Verständnis des Tragischen zu entbinden, ist wiederum von fundamentaler Wichtigkeit, wenn jene allgemein akzeptierte
Aussage – seit Schelling gäbe es zum ersten Mal eine Philosophie des
Tragischen 19 – auch tatsächlich etwas bedeuten bzw. überhaupt etwas
über Schellings Philosophie sagen soll. Wenn das Tragische offenkundig ein so bedeutendes Element in Schellings Philosophie sein soll, wie
Lore Hühn in ihrem Aufsatz »Die Philosophie des Tragischen« 20 oder
Jean François Courtine in »Tragédie et Sublimité« 21 völlig zu Recht
betont haben, dann scheint eine gründliche Erläuterung des Konzepts
des Tragischen nur umso wichtiger zu sein.
Jedenfalls haben wir nun zwei verschiedene Fragen exponiert, welche die folgende Arbeit in zwei grundsätzliche Teile strukturieren:
einerseits die Frage nach der Bedeutung des Tragischen in Schellings
lich in seiner Tragödie Romeo and Juliet. Siehe dazu die Anmerkungen bei Greenblatt
1997, 865–871.
18
Szondi 1961, 12 (Herr. v. Verf.).
19 Szondi 1961, 7.
20
Hühn 1998.
21 In Courtine 1990.
6
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Einleitung
Philosophie und anderseits die Frage nach dem Gewinn, den wir für die
Auslegung der Philosophie Schellings unter Rekurs auf diesen Begriff
verbuchen können. 22 Demzufolge versuche ich im ersten Teil (Kap. 1–
3) meiner Arbeit die einer Definition des Tragischen wesentliche Elemente zusammenzustellen, und zwar im Ausgang von Schellings Auslegung der Tragödie in seinen Vorlesungen über Philosophie der Kunst
(1802–1803). 23 Die Frage oder das Problem der Darstellung erweist
sich dabei als eine der zentralen Fragen dieser Arbeit: Dieses Problem
scheint bei Schelling zuerst die Kunst allein zu betreffen, 24 allmählich
aber erweist es sich als das grundlegende Problem der Philosophie
überhaupt.
Der Grund, warum ich den Begriff des Tragischen zunächst aus
Schellings Philosophie der Kunst und nicht aus seinen Philosophischen
Briefen zu gewinnen versuche, liegt hauptsächlich darin, dass sich so
etwas wie eine ausgearbeitete »Theorie des Tragischen« in Schellings
Philosophie, wenn es sie denn gibt, im Abschnitt »Von der Tragödie«
und nicht vorher finden lässt, 25 wie ich im Laufe meiner Arbeit zeigen
möchte. Außerdem scheint mir dieser Ansatz auch systematisch interessanter zu sein, da dies zugleich bedeutet, dass wir von der Interpretation eines vorhandenen existierenden Kunstwerkes und nicht (nur)
von der reinen Abstraktion gleichsam entseelter Begriffe ausgehen
werden. 26 Damit tragen wir zugleich Schellings eigener Einsicht RechDiesen beiden Fragen wird in den Teilen I und III nachgegangen; dem sehr viel kürzeren zweiten Teil, der die Ergebnisse des ersten Teils noch einmal rekonstruiert, kommt
die Funktion eines Übergangs oder Zwischenspiels zu.
23 Nicht alle Teile der Philosophie der Kunst sind gleichzeitig entstanden. Für eine ausführliche Genealogie von Schellings so genannter »Philosophie der Kunst« siehe Adam
1907, 41–71.
24 Doch schon beim frühen Schelling konstituiert die Form der Darstellung der Philosophie einen sehr wichtigen Aspekt der Philosophie, wie wir in der Einleitung zu den
Philosophischen Briefen lesen: »Solchen Verwirrungen, die für die wahre Philosophie
gewöhnlich weit schädlicher sind, als das allerverdeblichste, aber dabei consequente,
philosophische System, in Zeiten vorzubeugen, ist zwar kein angenehmes, aber gewiß
ein nicht unverdienstliches Geschäft. – Der Verf. wählte die Briefform, weil er glaubte,
seine Ideen in dieser deutlicher, als in einer andern Form darstellen zu können« (AA I,3,
49 f.).
25 Die Abhandlung über die Tragödie ist außerdem einer der wenigen Teile der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, den Schelling für druckwürdig hielt. So jedenfalls das Vorwort des Herausgebers K. F. A. Schelling in SW V, XVII.
26
Denn, wie Hogrebe zu Recht betont: Schellings »terminologisches Register ist uns
heute fremd geworden« (Hogrebe 1989, 9).
22
7
Hay 48487 / p. 20 /9.5.2012
Einleitung
nung, nämlich dass »ohne alle Kunst und Erkenntnis der Schönheit
Philosophie undenkbar« (SW V, 383) ist.
Die Tragödie wird zwar nicht erst in Schellings Philosophie der
Kunst von 1802–1803 zum Gegenstand seines philosophischen Denkens, aber sie wird hier wohl zum ersten Mal konstruiert. Das heißt,
unter der allgemeinen Voraussetzung, 27 jedes einzelne Kunstwerk stelle das Absolute real dar, werden hier einerseits die Bedingungen einer
solchen Darstellung expliziert und andererseits wird, je nachdem wie
die einzelnen Werke das Absolute (das All, die absolute Identität oder
Totalität) tatsächlich widerspiegeln, der Grad ihrer Vollkommenheit
bemessen: ihre Stelle im Universum wird bestimmt. 28 Diese Konstruktion ist daher keine Rekonstruktion der Kunstgeschichte, sondern vielmehr eine veritable Hervorbringung des Philosophen, in der jedes
Kunstwerk bzw. jede »poetische Gattung« durch eine interne Logik
quasi abgeleitet oder genauer gesagt eben konstruiert wird. 29 Obwohl
es sich im Grunde genommen nur um eine Untersuchung über das
Tragische handelt, möchte ich nichtsdestoweniger Schellings Kunsttheorie wenigstens in groben Zügen darstellen. Denn ohne die interne
Logik des Ganzen zu kennen, wäre das Verständnis seiner Tragödiendeutung unmöglich.
In Schellings Konstruktion der Kunst wird die griechische Tragödie
als Paradigma des Kunstwerkes vorgeführt: Die griechische Tragödie,
sagt Schelling, sei die erhabenste Erscheinung der Kunst, sie sei »die
höchste Erscheinung des An-sich und des Wesens aller Kunst« (SW V,
Diesen neuen Ansatz Schellings in der Philosophie der Kunst hat Max Adam als
»de[n] Standpunkt Schellings der Kunst als besonderer gegenüber«, der »am freiesten
und daher objektivsten ist«, beschrieben (Adam 1907, 41).
28 »Die Kunst Construiren heißt, ihre Stelle im Universum bestimmen« (SW V, 373).
29 »Die Aufgabe der Konstruktion […] ist nicht damit erfüllt, die Stellung der Kunst
überhaupt und im Allgemeinen darzulegen. Sie muß vielmehr die verschiedenen Formen der Kunst in ihrem Verhältnis zur Einheit des Absoluten bestimmen. Darin liegt
ihre eigentliche Aufgabe und ihr Problem« (Hennigfeld 1973, 46). Szondi sieht dies eher
als eine Deduktion der verschiedenen Kunstgattungen an. Er konzipiert Schellings
Konstruktion der Kunst als eine deduktive Poetik, in der jedes Kunstwerk, je nach dem,
wie es die Indifferenz zwischen Allgemeinem und Besonderem, Subjekt und Objekt
darstellt, deduziert wird: »Für die Definition der poetischen Gattungen und allgemein
für das System der Philosophie der Kunst besagt dies, daß die einzelnen Gattungen, wie
auch die einzelnen Künste, sich dadurch unterscheiden, daß in ihnen, sei’s das Subjektive, d. h. das Reale, sei’s das Objektive, d. h. das Ideale überwiegt, oder aber die Indifferenz beider sich herstellt« (Szondi 1974, 234 f.).
27
8
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Einleitung
687); sie sei die einzig »wahrhaft symbolische« Kunstform überhaupt
(vgl. SW V, 707 f.). Und darüber hinaus ist die Tragödie formal betrachtet als Synthesis aller anderen Gattungen (bzw. von Lyrik und Epik)
konzipiert (vgl. SW V, 687). 30 All dies gilt eben darum, weil die Tragödie die Indifferenz in ihrer höchsten Form darstellt, nämlich die Indifferenz zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Schellings Deutung der
Tragödie zu verstehen, bedeutet also zunächst, solche Attribute oder
Begriffe wie Indifferenz, Darstellung und Symbol zu verdeutlichen.
Und eben deswegen ist die Frage, die unserer ganzen Untersuchung
zugrunde liegt, die Frage nach der Indifferenz: was sie bedeutet und
wo sie sich zeigt, wie sie erkennbar wird oder warum die Tragödie ihre
höchste Darstellung ist. Dies stellt freilich keine leichte Aufgabe dar,
denn gerade diejenigen Begriffe, die ursprünglich der philosophischen
Anstrengung entspringen, sind paradoxerweise in demselben philosophischen Bereich durch den häufigen Gebrauch oder Missbrauch säkularisiert worden: Sie haben ihren Sinn durch die Häufigkeit ihrer Wiederholung und damit durch ihre scheinbare Selbstverständlichkeit
eingebüßt. Ihre Iterabilität entleert sie gleichsam, indem sie zur Gedankenwährung werden. Bei Schelling werden die Begriffe, die wir untersuchen, hingegen allererst geprägt – ein Faktum, auf das Schelling
selbst ständig reflektiert. Wir können eben darum nicht beanspruchen,
den ursprünglichen Sinn der Begriffe zu demaskieren. Wir sind allein
mit einem Text konfrontiert und unsere Aufgabe ist es, einen möglichen Sinn, eine mögliche Deutung zu schaffen mit der Absicht, eine
aufschlussreiche und inspirierende Lektüre Schellings zu produzieren.
Allerdings können wir hier nicht alle Begriffe grundsätzlich erläutern.
Wir gehen davon aus, dass jeder Schelling-Leser z. B. mit dem Begriff
Schellings Analyse der Lyrik und des Epos wird an sich betrachtet jedenfalls nicht
Gegenstand unserer Untersuchungen werden. Denn, obwohl alle Gattungen – qua
Kunstwerke – das Absolute darstellen, konstituiert die Tragödie die einzige, die erhabenste Kunstart überhaupt. Vgl. dazu A. W. Schlegels Vorlesungen über philosophische Kunstlehre: »[D]as Drama [kann] als eine absolute Synthesis der beiden andern
entgegengesetzten Hauptgattunhgen, der epischen und lyrischen, betrachtet werden«
(KAV I, 83). Dass Schelling Schlegels Vorlesungen über Ästhetik (1798–1799) gelesen
hat, ist offenkundig, wobei der philosophische bzw. systematische Einfluss Schellings
auf Schlegel wiederum nicht übersehen werden darf. Siehe Szondi 1974, 200, vgl. auch
Schelling an A. W. Schlegel, 4. Oktober 1802, Plitt I, 408 f.: »Ihr Heft der Aesthetik
macht mir ein unnennbares Vergnügen; es entzückt mich zu lesen. Einen Theil davon
lasse ich wirklich abschreiben, einen anderen lese ich mit der Feder in der Hand«. Vgl.
dazu u. a. Adam 1907, 42; Tilliette 1970, 439 und Jaeschke 1999a, 1–11.
30
9
Hay 48487 / p. 22 /9.5.2012
Einleitung
des Absoluten vertraut ist, obwohl das Absolute zu denjenigen Begriffen gehört, die dringend eine moderne Übersetzung bräuchten. Denn –
und auch das werde ich andeuten – Schellings Konstruktion der Kunst
ist nicht irrelevant für eine zeitgenössische Kunsttheorie.
Im zweiten Teil (Kap. 4) geht es um die Rekonstruktion der Struktur oder Logik des Tragischen; im dritten Teil (Kap. 5–8) versuche ich
erstens zu zeigen, dass das Tragische qua philosophisches Konzept als
das Resultat einer bestimmten Entwicklung in Schellings Philosophie
verstanden werden muss (Kap. 5). Ich beziehe mich dabei grundsätzlich
auf Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus und auf sein System des transscendentalen Idealismus. Anderseits
versuche ich (Kap. 6–8) diese Entwicklung in Schellings mittleren Werken zu verfolgen, nämlich in der Freiheitsschrift, den Weltaltern und
den Erlanger Vorträgen. Das heißt, wir steigen mit der Philosophie der
Kunst ein, um später einen Blick zurück und nach vorne zu werfen.
Denn letzten Endes versuchen wir, die Spuren der viel diskutierten,
aber in vielerlei Hinsicht noch keineswegs enthüllten Entwicklung
von Schellings Philosophie vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Tragödie neu zu beleuchten.
10
Hay 48487 / p. 23 /9.5.2012
Teil I
Philosophie der Kunst:
Schellings Deutung der Tragödie
(1802–1803)
Hay 48487 / p. 24 /9.5.2012
Hay 48487 / p. 25 /9.5.2012
I-(1) Der Auftritt der Sittlichkeit:
Echos zu den Philosophischen Briefen
a) Die Götter, Stoff der Kunst
Um in Schellings Darlegung der Tragödie und sein konzeptuelles Universum einzudringen, ist es sinnvoll, zuerst die tragische Sphäre oder
den Rahmen, in welchem die Tragödie vorkommt, zu charakterisieren.
Dieser Rahmen wird zum ersten Mal in der Philosophie der Kunst,
interessanterweise in jenem der »Konstruktion des Stoffs der Kunst«
gewidmeten Teil, bestimmt, in dem es Schelling eigentlich nur darum
geht, zu zeigen, woher der Künstler die ewige und formlose Materie
für die Herstellung des Kunstwerkes zu nehmen hat. In den folgenden
Abschnitten möchte ich diese Materie oder, etwas präziser ausgedrückt,
den Stoff der Kunst sowie die Beziehung zwischen Kunst und Philosophie in Schellings Philosophie der Kunst kurz skizzieren.
Die unsterbliche Quelle der Hervorbringung des Kunstwerkes, die
Urmasse der Kunst, ist durch die Welt der Götter gegeben: »Mythologie ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst«
(SW V, 405). Der Hauptgedanke hier ist jedoch nicht nur, dass die Götter (der olympischen Götterwelt Homers) als solche das Kunstwerk an
sich ausmachen oder dass sich die Kunst gewissermaßen von den Gestalten der Mythologie nährt; 1 der wesentliche Gedanke und die wesentliche Analogie ist, dass, so wie die Ideen für die Philosophie, die
Götter für die Kunst ein Gewebe von Urbildern und Urformen, eine
Urschönheit flechten, welche der Künstler dann für die objektive Erscheinung, für die reelle Herstellung des Kunstwerkes noch in eine
bestimmtere Form bringen muss. Die Götter konstituieren – und dies
ist ihre wahre Bestimmung – die Ur-masse der Kunst. Diese noch nicht
zum Kunstwerk gewordenen Götterbildungen oder Urbilder, so lässt
Für die Bedeutung der griechischen Mythologie als Quelle und Stoff der Kunst bei
Hegel und Schelling siehe Jamme 1999.
1
13
Hay 48487 / p. 26 /9.5.2012
Der Auftritt der Sittlichkeit
sich der Gedanke erläutern, sind also wie das noch unausgesprochene
Wort oder die noch nicht zum Ausdruck gebrachten Ideen in der Philosophie: »Was für die Philosophie Ideen sind, sind für die Kunst Götter, und umgekehrt« (SW V, 391). Die Urbilder, die Götter oder die
Ideen sind gewiss nicht die Dinge an sich, sondern eher das Prinzip
der Dinge und der Stoff der Kunst. Demzufolge können wir nicht daran
zweifeln, ob sie existieren: Ihr Wesen und ihre Existenz sind eins.
Schellings Behauptung, die Götter seien für die Kunst wie die Ideen
für die Philosophie, sollte allerdings nicht unterschätzt werden, denn
die entscheidende Pointe dieser schwärmerischen, ja für uns heute sogar anscheinend leeren Behauptung liegt nicht in der platonischen
Analogie zwischen den Göttern und den Ideen, die sicherlich auch eine
wichtige Rolle spielt, nämlich vermittels des Gedankens, dass man das
Schöne anschaut, sofern man die Ideen anschaut, oder dass die Wahrheit, wenn überhaupt, dann nur als Schönheit anschaubar ist, und dass
diese angeschaute Schönheit das Göttliche oder die Götter selbst sei. 2
Wichtiger noch ist der hiermit gesetzte Unterschied (da jede Analogie
uns zur einen Differenz zurückführt) zwischen der Urmaterie der
Kunst und den Urbildern der Philosophie. Denn auf dieser Differenz
allein beruht letzten Endes der Grund, warum die Kunst weder als
Nachahmung oder Imitation der Natur noch als eine der Philosophie
unterlegene Repräsentation des Absoluten verstanden werden darf.
Die Behauptung, die Götter seien für die Kunst wie die Ideen für die
Philosophie, bedeutet zunächst, dass die Götter, d. h. der Stoff der
Kunst und hiermit die Kunst selber, keineswegs von den Ideen abzuleiten sind. Die Götter bedeuten die Ideen bzw. das Absolute nicht, sondern sie sind an sich. 3 Die Götter sind konkret, individuell, besonders,
lebendig und besitzen eine selbständige Existenz. 4 Dies hat aber zur
»Wie für die Philosophie das Absolute das Urbild der Wahrheit – so für die Kunst das
Urbild der Schönheit« (SW V, 370).
3 »Die Forderung einer Mythologie ist ja aber gerade, nicht daß ihre Symbole bloß
Ideen bedeuten, sondern daß sie für sich selbst bedeutend, unabhängige Wesen seyen«
(SW V, 447). Damit distanziert sich Schelling von der weit verbreiteten Behauptung, die
Mythologie sei metaphorisch zu deuten. Siehe dazu Hennigfeld 1973, 63 und Gabriel
2006, 234–266.
4 »Die Ideen also, sofern sie als real angeschaut werden, sind der Stoff und gleichsam die
allgemeine und absolute Materie der Kunst, aus welcher alle besonderen Kunstwerke als
vollendete Gewächse erst hervorgehen. Diese realen, lebendigen und existirenden Ideen
sind die Götter; die allgemeine Symbolik oder die allgemeine Darstellung der Ideen als
realer ist demnach in der Mythologie gegeben […] In der That sind die Götter jeder
2
14
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Die Götter, Stoff der Kunst
Folge, dass die Kunst, genauso wie das in Schellings Bruno-Dialog rekonstruierte Universum, grundsätzlich und von vornherein anschaulich bzw. reell ist. Nicht umsonst ist die Kunst die einzige reelle Darstellung des Absoluten: Sie stellt das Absolute, wie Schelling es
ausdrückt, »im Besonderen« (SW V, 406) dar, und dies im Gegensatz
zu einer ideellen Darstellung des Absoluten, welche die Philosophie ist.
Da die Götter aber als konkrete Formen oder Urformen der Kunst zu
verstehen sind, dürfen sie keineswegs als ein abgründiges Ewiges verstanden werden. Ihre Unendlichkeit – denn die Götter sind ja unendlich
– kann nur als eine entstandene und insofern auch zugleich konkret
gewordene Unendlichkeit gedacht werden. Schelling erklärt dies, indem er auf Hesiods theogonische These zurückgreift und neu bedenkt,
dass die Götter aus der Region des Formlosen und Ungeheueren geboren sind, und dass »der gemeinschaftliche Keim der Götter und der
Menschen […] das absolute Chaos Nacht, Finsterniß« (SW V, 394) ist.
In Kürze: Durch jene grundlegende Analogie zwischen den Göttern
und den Ideen wird von Anfang an deutlich festgestellt, dass es in der
Kunst keineswegs darum geht, die Ideen der Philosophie nachzubilden,
sondern darum, das Absolute in seiner reellen Seite darzustellen. Ferner wird deutlich, dass diese Darstellung (deren besondere Bedeutung
nicht aus den Augen verloren werden soll), da sie keine Nachahmung
oder Imitation ist, im Grunde genommen ein Akt der Kreation, der
Erzeugung, oder mit Dieter Henrich gesagt ein »Schaffensakt ist«. 5
Noch dazu möchten wir auch gleich darauf aufmerksam machen, dass
Schellings Philosophie der Kunst den modernen Künstlern durch diese
recht phantasievolle, wenn nicht gar entzückte Art entgegenkommt:
Tatsächlich lassen sich derart Künstler wie David Lynch viel besser verstehen als durch viele säkularisierte Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Man höre nur Lynchs folgende Aussage über den künstlerischen
Ansatz seiner Filme: »Einzutauchen und bis ins Herz der Kreativität zu
gelangen, scheint mir das Höchste für einen Künstler zu sein. Von
hierher kommen die Ideen […]. Sie sind allesamt Samen und in vielen
Hinsichten wie die Veden, die Gesetze der Natur«. 6
Mythologie nichts anderes als die Ideen der Philosophie nur objektiv oder real angeschaut« (SW V, 370).
5
»Schelling fasst Kunst zunächst als einen Akt der Einbildung des Unendlichen in die
Endlichkeit, als einen Akt der Darstellung durch Produktion. Kunst ist somit weniger
Einsicht als Tätigkeit« (Henrich 1969, 132 f.).
6 Lynch 2005.
15
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Der Auftritt der Sittlichkeit
Es ist anderseits auch wichtig zu betonen, dass Schelling hiermit
einen brisanten Abstand zwischen Kunst und Philosophie feststellt:
Durch die Ideen betrachtet die Philosophie die Dinge, wie sie an sich
sind; die Kunst hingegen stellt das Absolute durch die Götter realiter
bzw. »synthesirt mit der Begrenzung« (SW V, 398) dar. So wird die
Wahrheit zur Wurzel und zum Gipfel für die Philosophie, für die
Kunst hingegen ist die Schönheit Ziel und Form. Denn, wie Schelling
noch in seinem System des transscendentalen Idealismus sagte: »ohne
Schönheit [d. h. Darstellung des Unendlichen im Endlichen, K. H.] ist
kein Kunstwerk« (AA I,9, 321). 7 Diese Differenzierung zwischen
Kunst und Philosophie wurde schon im Bruno getroffen 8 und dennoch
erhält sie in der Philosophie der Kunst eine neue Nuancierung, denn
hier wird die Philosophie selbst als eine ideelle Darstellung (i. e. Veräußerlichung) und nicht als eine reine Anschauung oder Erkenntnis
(i. e. Verinnerlichung) konzipiert. Man könnte behaupten, diese Nuance sei eigentlich nur eine sprachliche Lappalie, aber in Wahrheit deutet
sie auf einen sehr wichtigen Aspekt hin, welcher beide Positionen erheblich voneinander distanziert: Der Position des Bruno zufolge erkennt die Philosophie die Dinge an sich, aber sie reflektiert nicht über
ihre eigene Leistung (in diesem Fall, das Schreiben des Dialogs selbst);
nach der Position der Philosophie der Kunst hingegen, der zufolge die
Philosophie als Darstellung und Konstruktion der Dinge, wie sie an
sich sind, konzipiert wird, ist die Konstruktion der Kunst selbst mit
einbezogen.
Oder anders gewendet, indem Schellings Philosophie der Kunst
über die Darstellung (= Veräußerung oder Schreiben) des Wesens der
Dinge reflektiert, reflektiert sie (mehr oder weniger bewusst) über sich
selbst, über ihre Existenz als Text. Doch, indem die Kunst sich selbst
nicht verstehen kann, ist die Kunst der Philosophie untergeordnet,
denn nur in der Philosophie der Kunst werden ihre Bedeutung und ihr
Wesen erfassbar. 9
Siehe auch SW V, 370 f.
Der Hervorbringende (der Künstler also) ist derjenige, der die »schöne[n] Dinge« darstellt, seine Tätigkeit ist deswegen exoterisch. Die Philosophie dagegen, indem sie »die
Urbilder der Dinge an und für sich selbst« zu erkennen strebt, ist esoterisch (vgl. SW IV,
231 f.).
9 Zu Recht betont Kisser, inwiefern dies wiederum den Grund ausmacht, warum die
Philosophie der Kunst für das Problem der für eine wahre Theorie der Wirklichkeit
notwendigen Selbstreferenz eine viel bessere Lösung anbietet als das System des trans7
8
16
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Die Götter, Stoff der Kunst
Schelling geht in der Tat sehr sorgfältig vor, wenn er im § 31 der
Philosophie der Kunst feststellt, die Götter dürften weder durch die
Vernunft noch durch den Verstand, sondern könnten nur durch Phantasie aufgefasst werden (vgl. SW V, 395). Denn dieser Verweis auf die
Phantasie darf keineswegs als eine bloß ornamentale Rhetorik verstanden werden. Im Gegenteil: die Phantasie ist Ausdruck für einen ganz
besonderen Bereich, in welchem die Funktion und Bedeutung der Götterbildungen in Schellings gesamter Kunsttheorie erst zu verstehen
sein werden. Dass die Götter nur durch Phantasie erfasst werden können, deutet zunächst darauf hin, dass die gegenbildliche oder konkrete
Synthese zwischen dem Absoluten und der Begrenzung (dasjenige
also, was die Götter sind) nur durch eine hervorbringende Macht, eine
kreative Einbildungskraft, möglich ist. Die Tätigkeit der Phantasie ist
keine passive, sondern eine schöpferische: Die Phantasie entdeckt, sie
enthüllt nichts, was schon gegeben war, sondern erzeugt etwas Neues.
Oder anders gesagt, die Götter, der Urstoff der Kunst, sind nicht durch
den Künstler zu finden, sondern zu erfinden. Das heißt, die Götter sind
grundsätzlich und von vornherein als etwas Reelles (d. h. Besonderes)
und zugleich als etwas (durch Phantasie) Entstandenes zu verstehen,
weswegen aber nicht ausgeschlossen werden darf, dass sie nicht auch
eine reale Spiegelung des Absoluten sind.
Dass die Götter bzw. der Stoff der Kunst begrenzte Gegenbilder
oder Anblicke des Absoluten – des Alls und Geheimnisses der Welt –
sind, bedeutet keineswegs, dass sie an irgendeiner Begrenztheit oder
einem Mangel leiden. Im Gegenteil, die Götter sind, obschon in einer
besonderen Gestalt gebildet, in ihrer Totalität und Vollständigkeit unendlich. Ferner gilt: Sie sind insofern unendlich und absolut, als sie
konkret und in sich selbst begrenzt sind. Das heißt, sie sind beides,
Allgemeines und Besonderes zugleich; oder anders gewendet: Die Götter sind in ihrer Besonderheit absolut und in ihrer Absolutheit besonders. »Reine Begrenzung von der einen und ungetheilte Absolutheit
von der andern Seite ist das bestimmende Gesetz jeder einzelnen Göttergestalt, eben so wie der Götterwelt im Ganzen« (SW V, 288), sagt
scendentalen Idealismus: »Denn die Philosophie der Kunst kommt im Gefüge der Identitätsphilosophie jetzt zweimal vor. Einmal steht sie in Parallelität zur Kunst und drückt
[…] dasselbe auf verschiedene Weise aus. […] Zugleich aber vermag die Philosophie
hier auf den Ort der Identität selbst Bezug zu nehmen und den Ursprung von Kunst
und Philosophie zu beobachten. Das ist der Gewinn der Identitätsphilosophie« (Kisser
2005, 146 f.). Siehe dazu auch Kap. 2.2.
17
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Der Auftritt der Sittlichkeit
Schelling in der achten Vorlesung über die Methode des academischen
Studium. Die Götter sind: Sie sind absolut, sie bilden eine Totalität und
besitzen, wie Schelling sich ausdrückt, eine »unabhängige poetische
Existenz« (SW V, 399). Dies bedeutet zugleich, dass die Götter niemals
außerhalb ihrer selbst sind, sondern mit sich selbst immer und ständig
identisch bleiben. Bei ihnen herrscht die reinste Identität, und ihre Besonderheit liegt eben darin, dass sie die Identität oder das Absolute reell
leben, weil sie diese Totalität und Identität wirklich sind.
Mit den Göttern oder der Mythologie denkt Schelling klarerweise
also an etwas viel Abstrakteres als z. B. an die konkrete (Homerische)
griechische Mythologie. Doch in Schellings Konstruktion des Stoffs
der Kunst, in seinen Überlegungen über die Mythologie als Urbild der
Kunst, werden die Götter nicht nur auf diese abstrakte Weise thematisiert, sondern – und hierin liegt eben das Schwierige und mitunter Verwirrende der ganzen Untersuchung – sie werden auch als Kunstwerk
für sich und Inspiration für die Kunstproduktion betrachtet. 10 D. h. einerseits scheint Schelling mit Mythologie eine Art Ur-Stoff der Kunst
zu meinen, welcher die Bedingung für die Realität und Konkretheit der
Kunst erfüllt, an sich aber eher unbestimmt zu denken sein müsste;
andererseits aber bezieht er sich in der Tat auf die Homerische Götterwelt als die wahre Quelle der Kunst, die nach der Antike vergessen
wurde oder verloren gegangen sei, wie es auch Goethe und Schiller
betont hatten. 11 Diese Ambivalenz – eine Ambivalenz zwischen Devon Hartmann 1886, 42.
Für die Modernen entsteht »eine besondere Schwierigkeit […], weil wir für die Wunderschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht
leicht Ersatz finden« (Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller: Über die Epische und
Dramatische Dichtung, zitiert in: Szondi 1974, 104). Schelling betont mehrmals, dass
die Moderne eine neue Mythologie braucht, und zwar nicht nur für die Kunst, sondern
eben auch für die Philosophie und die Wissenschaften im Allgemeinen. Siehe z. B.
Schellings System des transscendentalen Idealismus: »Wie aber eine neue Mythologie,
welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter
gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann, selbst entstehen könne, dieß ist ein
Problem, dessen Auslösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt, und dem
weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist« (AA I,9, 329). Die Idee, dass es eine
Zeit geben wird, wo Mythologie oder Poesie und Philosophie wieder eins werden,
kommt wieder in den Weltaltern vor (siehe dazu Kap. 7). F. Schlegel schien auch optimistischer als Goethe zu sein, indem er in seiner Rede über die Mythologie schrieb:
»Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir sind nahe daran, eine zu erhalten, oder vielmehr, es wird Zeit, dass wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen« (KFSA II, 312).
10
11
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Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
skription und Konstruktion, die Schellings gesamtes Werk durchzieht –
drückt Schelling selber aus, wenn er bemerkt, dass die Götter »selbst
schon Poesie und doch für sich wieder Stoff und Element der Poesie«
(SW V, 406) sind.
Schellings Konstruktion des Stoffs der Kunst ist also auch zum Teil
eine reine (Re-)Konstruktion der Welt der griechischen Mythologie;
eine Erläuterung über ihre Natur, ihre Formen, ihren Gegensatz zum
Menschen und ihre Wirkung und Einfluss in der antiken Kunst. Nun
kommt, gerade weil sich Schelling inmitten der Konstruktion der Götterwelt zum ersten Mal auf die Tragödie bezieht, dieser seiner Betrachtung der Welt der Göttergestalten noch eine besondere Bedeutung für
unsere Untersuchung zu. Durch diese erste flüchtige, in vielerlei Hinsicht noch beiläufige Erwähnung der Tragödie werden wir bereits imstande sein, die Ebene des Tragischen und der tragischen Handlung im
systematischen Ganzen platzieren und demarkieren zu können.
b) Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; nur die Menschen
halten das eine für gerecht, das andere für ungerecht.
Heraklit, Diels/Kranz, B 102
Die Götter, erinnert uns Schelling, sind schlechthin jenseits aller Sittlichkeit, sie sind »an sich weder sittlich noch unsittlich, sondern losgesprochen von diesem Verhältniß, absolut selig« (SW V, 396). Das
Absolute, das Göttliche, die Seligkeit der Götter, genauso wie die Natur,
ist, d. h. es ist hier niemals von einem Sollen die Rede. 12 Das Sittliche
hingegen schwebt ständig in einem ewigen Streben. Denn »Sittlichkeit
wie Unsittlichkeit beruht auf Entzweiung« (SW V, 396), und dies besagt zugleich: Sittlichkeit beruht auf Nicht-Sittlichkeit und auf dem
Kampf gegen das Unsittliche. Oder anders formuliert, nur im Bereich
des Nichtidentischen und der Disjunktion können wir über Sittlichkeit
Vgl. dazu Kant: »Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen
Willen keine Imperative; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon
von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist« (GMS, AA 4, 414). Der wichtige
Unterschied ist dennoch, dass bei Kant die Heiligkeit der Götter darin besteht, dass sie
den apriori gegebenen Gesetzen der Vernunft automatisch folgen, während es bei Schelling vielmehr darum geht, dass sie schlicht genau so sind, wie sie sind.
12
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Der Auftritt der Sittlichkeit
und/oder Unsittlichkeit reden. Nur in Entgegensetzung lässt sich das
Sittliche ergreifen und begreifen. Deswegen ist die Sittlichkeit an sich
nicht das Höchste und könnte nach Schelling niemals den Göttern zugeschrieben werden. Die Welt der Sittlichkeit ist die Welt des menschlichen Handelns, in der die Trennung und die Zerrissenheit herrschen.
Nur in der Differenz ist es überhaupt möglich, eine Ahnung von und
eine Sehnsucht nach Einheit und Identität zu denken. Es ist die Welt
der Sehnsucht, des Hungers, des ewigen Werdens und der ewigen Zersetzung. Doch genau dieser und kein anderer ist der Bereich des Ethos,
welcher das Szenario der Tragödie ausmacht.
Um diesen Gegensatz zwischen der Seligkeit der Götter und der
Entzweiung der menschlichen Sittlichkeit zu beleuchten, zitiert Schelling inmitten seiner Konstruktion der Götterwelt Sophokles’ Oedipus
auf Kolonos:
O theurer Sohn des Aegeus, nur den Göttern ist
Gegeben nie zu altern noch zu sterben je;
Das andre alles aber mischt die Macht der Zeit. 13
Hier wird der Gegensatz zwischen Menschen und Göttern auf der Ebene der Zeitlichkeit gestaltet: Nur den Göttern ist gegeben nie zu altern
noch zu sterben je. Die Götter sind jenseits aller Zeitlichkeit, sie sind
unendlich, sie sind ewig. Ferner: Die Götter sind in gar keinem Sinne
der »Macht der Zeit« unterworfen. Doch die Macht der Zeit ist die
Macht der Differenz oder der Trennung (zwischen Vergangenheit und
Gegenwart, Leben und Tod), sodass der Zeit unterworfen zu sein, unmittelbar bedeutet, der Differenz unterworfen zu sein. Das heißt, die
Götter kennen in sich keine Veränderungen, keine Entgegensetzungen,
keine »Mischung«, keine Spaltung zwischen wahr und falsch, Treue
und Untreue, Sein und Nicht-Sein; sondern nur die ewig reine Lauterkeit. Deswegen sind sie auch ewig mit sich selber identisch, während
der eigentliche Bereich oder die Sphäre der Tragödie durch ihre Zwischenstellung geprägt ist: zwischen dem Göttlichen und Irdischen, zwischen Entzweiung und Identität, zwischen Zerrissenheit und Versöhnung. Der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen ist sicherlich
auch ein wichtiges Element im Epos. Trotzdem wird Sophokles hier
nicht willkürlich erwähnt. Wie wir später verstehen werden, erfolgt
der Verweis auf Sophokles gerade darum, weil (Schellings Darlegung
13
Sophokles, Ödipus auf Kolonos, vv. 607–609; zitiert in SW V, 397.
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Hay 48487 / p. 33 /9.5.2012
Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
zufolge) nur die Tragödie fähig ist, denjenigen Gegensatz darzustellen,
welcher innerhalb der sittlichen Handlung selbst durchbricht und die
handelnde Person innerlich zerreißt. Die Tragödie stellt keine ungeteilte Welt dar, in welcher »Götter und Menschen eins sind« (SW V, 702),
sondern eine durch Gegensatz und Entzweiung zerrissene Welt.
In der Götterwelt ist überhaupt kein Selbstwiderspruch, kein Gegensatz zwischen Besonderem und Allgemeinem, keine Spaltung zwischen Ideellem und Reellem zu denken: Die Götter sind jenseits von
jeglichem Unterschied zwischen Idealität und Realität, Möglichkeit
und Wirklichkeit, Sein und Sollen – sowohl in ihrem Sein als auch in
ihrem Handeln. Und in dem Sinne, wie sie absolut sind, müssen eben
auch ihre Handlungen als absolut verstanden werden, was eigentlich
bedeutet, dass ihre Handlungen frei von jeder Modalität (etwa gut/böse; sittlich/unsittlich; frei/notwendig; etc.) sind. Deswegen fallen Sittlichkeit und Unsittlichkeit in der Götterwelt zusammen und auf diesem
Zusammenfallen oder dieser Prä–Differenzierung des Sittlichen und
des Unsittlichen beruht ihre absolute Seligkeit. Und ebenso wie sie
weder sittlich noch unsittlich sein können, weil sie außerhalb der Sphäre dieses Gegensatzes stehen, sind ihre Handlungen weder als frei noch
als notwendig, sondern als absolut frei und absolut befreit von jeglicher
Entgegensetzung zu betrachten. 14 Daher sind sie auch als Ausdruck
einer höheren Identität zu verstehen, nämlich derjenigen von Freiheit
und Notwendigkeit; nicht aber weil die Entgegensetzung in den Götterbildungen aufgehoben wäre, sondern weil sie überhaupt nicht entstanden ist: Die Götter sind von jeglicher Entzweiung unberührbar. Im
Grunde genommen stehen wir hier vor einem der wesentlichen Gedanken von Schellings Identitätsphilosophie, der – obzwar auf verschiedenen Ebenen und in verschieden Formen – immer wiederkehrt; und den
wir hier nur andeutungsweise als die Radikalität oder Unberührbarkeit des Absoluten bezeichnen wollen.
Durch diesen ersten Auftritt des Sophokleischen Ödipus eröffnet
sich uns also die Sphäre der Tragödie, die sich zunächst im Gegensatz
zur Welt des göttlichen Seins als die Dimension des Werdens und Handelns bzw. als die Dimension der Sittlichkeit zeigt. Inmitten von Schel»Sie handeln innerhalb ihrer Begrenzung so frei und nothwendig zugleich […]; frei,
weil es ihre Natur ist, so zu handeln und sie kein anderes Gesetz kennen als ihre Natur,
notwendig, aus demselben Grunde, weil ihr Handeln ihnen durch ihre Natur vorgeschrieben ist« (SW V, 396).
14
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Der Auftritt der Sittlichkeit
lings Konstruktion der Götterwelt taucht zum ersten Mal die Tragödie
auf, doch lediglich um den Riss aufzuzeigen, welcher zwischen der
Welt der absoluten Seligkeit der Götter und der Welt der Sittlichkeit
menschlicher Handlungen klafft. Darüber hinaus betrachtet Schelling
die Tragödie als die höchste Thematisierung der Sittlichkeit; die griechische Tragödie ist »ganz sittlich und auf die höchste Sittlichkeit
eigentlich gegründet« (SW V, 702). Vielleicht könnte man noch hinzufügen: Nur indem die Tragödie auf dieser Ebene bleibt – auf der
Ebene der Sittlichkeit bzw. der Differenz, der Entgegensetzung zwischen Freiheit und Notwendigkeit und des Kampfes mit dem Unsittlichen – ist sie Schellings Auffassung nach erhaben und im eigentlichen
Sinne wahrhaft tragisch. 15
Der Tragödienheld schwebt in der Zwischenstellung der Nichtidentität; er ist irgendwie gefangen in einem ewigen Streben. Mit den Worten Zarathustras ließe sich sagen, er sei »ein gefährliches Hinüber, ein
gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben«. 16 Er allein muss jene Versöhnung erzeugen, 17 in der die Entgegengesetzten ihre wahre Identität
erhalten, nämlich jene Identität, mit der Schelling das Absolute identifiziert. Aber der Konflikt oder die Verwirrung, die Unentschiedenheit,
kann nicht von außen, durch eine Art externe Allmacht aufgelöst werden. Der Tragödienheld ist allein und muss sich ganz auf sich allein
gestellt mit der Nichtidentität einer Existenz konfrontieren. 18 Das
heißt, er allein muss die Kluft oder den Gegensatz zwischen Unendlichem und Endlichem, Möglichkeit und Wirklichkeit, Freiheit und
Notwendigkeit überbrücken. Er muss sich durch sein eigenes Handeln
So werden z. B. die Tragödien des Euripides, in welchen »die hohe sittliche Stimmung
vorbei« ist, der hohen Sittlichkeit und absoluten Reinheit der Sophokleischen Werke
gegenüber, als ein Abstieg hin zur vergänglichen Schönheit angesehen (SW V, 709 und
711).
16 Z I, »Vorrede«, KSA 4, 16.
17 Vgl. mit der schöpferischen Leistung der Künstler, der auch eine Identität (die zwischen Allgemeinem und Besonderem) erzeugen muss. Die Analogie zwischen der Tätigkeit des Künstlers und einer sittlichen Handlung wird Schelling selber mit dem Geniebegriff andeuten (vgl. SW III, 549).
18
In Vom Ich schreibt Schelling: »so muß das Moralgesetz im endlichen Wesen diese
Identität nicht als Seyend, sondern als Gefordert vorstellen, und das höchste Gesetz für
das endliche Wesen ist demnach dieses: Seye absolut-identisch mit dir selbst« (AA I,2,
126).
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Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
entscheiden: Sein oder Nichtsein, 19 so lautet das Mantra des Tragödienhelden. Es geht in der Tat darum, eine Entscheidung zu treffen:
Dies ist das Dilemma, mit dem der Tragödienheld konfrontiert ist. 20
Überdies darf der Tragödienheld in dieser Unentschiedenheit nicht
lange verharren: Er muss sich entscheiden und er muss die richtige
Entscheidung treffen, nämlich diejenige, welche die Entgegensetzung
auflöst. Er darf nicht in der Verzweiflung bleiben; denn die Unentschiedenheit ist der Zustand der Entgegensetzung, des ewigen Streits und
des eigensinnigen Unglücks – eine Einsicht, die Schellings gesamte
Philosophie prägt. 21 Der tragische Held muss also aus diesem Zustand
heraus und er muss gerade dasjenige tun, wodurch die Einheit und
Identität zwischen Sein und Sollen erlangt wird. Denn Sittlichkeit ist
nicht der Widerstreit allein, sondern gleichzeitig und vor allem Streben, Sehnsucht und Ahnung von Versöhnung.
Sittlichkeit bedeutet ja in gewisser Weise das Streben selbst – das
Streben nach einer göttlichen Einheit, welche nicht von außen durch
eine übersittliche (da übermenschliche) Macht gegeben sein kann. Die
Sittlichkeit muss, wenn überhaupt, in der Handlung, d. h. im Rahmen
der Entgegensetzung selbst realisiert werden. Wahre Sittlichkeit kann
niemals von der Kraft oder dem Willen eines schlechthin äußerlichen
Gottes abhängig sein. Und wenn also die Tragödie Ausdruck der höchsten Sittlichkeit sein soll, so dürfen hier die Götter selbstverständlich
keine entscheidende Rolle spielen (vgl. SW V, 703). In der durch die
Tragödie dargestellten sittlichen Sphäre des ewigen Werdens und des
Nichtidentischen darf die Allmacht der Götter keinen Einfluss haben,
weil sonst die angestrebte Versöhnung der Entgegensetzung eben keine durch sittliche und freie Handlung erlangte Versöhnung, sondern
eine Gnade wäre. Aber die Tragödie stellt das aus der Autonomie des
handelnden Subjektes notwendig entstehende Dilemma dar. Das heißt,
Schelling bezieht sich zwei Mal in den Philosophischen Briefen (AA I,3 89 und 109)
auf Hamlets Monolog: To be or not to be (Shakespeare, Hamlet. Prince of Denmark,
Akt 3, Szene 1), ohne das Werk oder den Autor zu erwähnen und er bezieht sich auf
dieses Dilemma als die »letzte große Frage« (AA I,3, 109).
20 Die Bedeutung des Sich-Entscheidens für die Realisierung der Sittlichkeit bzw. der
menschlichen Freiheit spielt eine sehr wichtige Rolle sowohl in der Freiheitsschrift als
auch in den Weltaltern. Siehe Kap. 6–7.
21
»Unglück ist nur, so lange der Wille der Nothwendigkeit noch nicht entschieden und
offenbar ist. Sobald der Held selbst im Klaren ist, und sein Geschick offen vor ihm
daliegt, gibt es für ihn keinen Zweifel mehr, oder wenigstens darf es für ihn keinen
Zweifel mehr geben« (SW V, 398).
19
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Der Auftritt der Sittlichkeit
wenn überhaupt wahre Sittlichkeit (so wie wahres Unglück) auftritt, so
darf sie nicht durch die Hand der Götter, sondern muss aus der Handlung bzw. aus der inneren Zerrissenheit der handelnden Person selbst
entstehen:
[D]er Held der Tragödie soll und muß den Kampf für sich allein ausfechten; nur durch die sittliche Größe seiner Seele soll er ihn bestehen, und die
äußere Heilung und Hülfe, welche Götter ihm gewähren können, genügt
nicht einmal seinem Zustande. Sein Verhältniß kann sich nur innerlich
lösen […]. (SW V, 702 f.)
Laut Schelling darf der Tragödienheld von den Göttern weder gerettet
noch verdammt werden; ihre Einmischung in sein Dilemma (sei es als
Rettung oder Verdammung) würde die Gnade, das Wunderliche, das
Unbegreifliche einführen, was aber in einer wahren Darstellung der
Sittlichkeit, in der wahren Tragödie, niemals auftreten soll, wobei nun
das Normative und Deskriptive wieder ineinandergreifen. Sofern das
Wunder für Schelling schlechthin dem Christentum und hiermit zugleich den modernen Tragödien eigen ist (vgl. SW V, 439), wird die
Tatsache, dass Euripides eine Art Deus ex machina in seinen Stücken
gebraucht, keineswegs als Zeichen eines Mangels in seiner eigenen
(d. h. Schellings) Konstruktion der Kunst betrachtet, sondern vielmehr
als ein Zeichen von Euripides’ Misslingen (vgl. SW V, 467).
Bevor wir uns die Frage stellen, ob diese Anmerkungen Schellings
das Wesen der Tragödie treffen, wollen wir untersuchen, inwiefern
Schellings Konstruktion der Tragödie aus der Überlegung über die Bedingungen der Darstellung der Sittlichkeit hervorgeht. Dabei ist die
Kunst an sich selbst nicht unbedingt sittlich (wie bei Schiller), so wenig
wie sie als Dienerin der Sittlichkeit zu betrachten ist, sondern sie ist
schön bzw. erhaben, was für Schelling bedeutet, dass sie Darstellung
des Unendlichen, Verkörperung des Absoluten ist: »Das Unendliche
endlich dargestellt ist Schönheit […], und ohne Schönheit ist kein
Kunstwerk« (AA I,9, 321). Indem die Kunst die Sittlichkeit darstellt,
stellt sie die Möglichkeit einer Form von Einheit dar, auf welche die
Sittlichkeit verweist, ohne sie unmittelbar realisieren zu können, aber
die Kunst an sich bleibt indessen von einem möglichen erziehenden
Zweck unberührt. 22 Und nichtsdestotrotz verbinden sich in Schellings
Die Kunst ist Ort der sittlichen Versöhnung, aber trotzdem bleibt sie, wie Eduard von
Hartmann sagt: »frei losgelöst von aller Dienstbarkeit gegen die Sittlichkeit« (von Hartmann 1886, 44).
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Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
Konstruktion der Kunst beide Ebenen: die Ebene der Schönheit und des
Erhabenen oder der Ästhetik einerseits und die Ebene der Sittlichkeit
und des Handelns andererseits.
In dieser Hinsicht können wir die in Schellings Konstruktion der
Kunst abgeleiteten Gedanken über die Sittlichkeit mit den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795), insbesondere mit dem ersten Brief, in Parallele setzen. Denn hier – im ersten Brief
– wird, inmitten einer rein theoretischen Diskussion über die grundlegenden Bedingungen für eine wahre Sittlichkeit und ein wahres sittliches Handeln, die Idee eines moralischen Gottes oder eines Deus ex
Machina um der Sittlichkeit selbst willen vollkommen abgelehnt. Und
zwar nicht nur aus theoretischen Gründen, sondern bemerkenswerterweise auch aus rein ästhetischen Gründen. 23 So erklärt Schelling, inwiefern die Annahme eines Deus ex Machina, d. h. eines Gottes, welcher von außen her für die Sittlichkeit und das Gute im menschlichen
Handeln sorgt und diese sogar etabliert, in Ansehung der Ästhetik bzw.
in Ansehung der Kunst und des Erhabenen, sowie in Ansehung der
Philosophie und der Wahrheit schlechthin, schädlich ist: »Wir haben
mit seiner Annahme [sc. eines moralischen Gottes, K. H.] zugleich das
eigentliche Prinzip der Ästhetik verloren« (AA I,3, 51). 24
Es ist nun zu betonen, inwiefern in beiden Texten das Ästhetische
mit der Sittlichkeit eingebunden wird, sodass beide – die Schönheit und
das Gute – sich gegenseitig bestimmen: In den Briefen von 1795 wird
die Sittlichkeit oder Moralität in gewisser Weise durch das Prinzip des
Erhabenen bestimmt und in der Konstruktion der Kunst von 1802–
1803 wird das wahre Schöne oder Erhabene durch das Prinzip des wahren Guten bestimmt. Schellings Auffassung, wonach die Götter zu
»Hülfe« zu rufen, für das ganze »Wesen der Tragödie zerstörend« und
»eversiv« sei, 25 findet sich entsprechend auch schon im ersten Brief:
»Betrachten wir also die Idee eines moralisches Gottes von dieser Seite (der ästhetischen), so ist unser Urtheil bald gefällt. Wir haben mit seiner Annahme zugleich das
eigentliche Princip der Ästhetik verloren« (AA I,3, 51).
24 Siehe auch AA I,3, 284: »Ich verstehe Sie, theurer Freund! Es dünkt Ihnen größer,
gegen eine absolute Macht zu kämpfen und kämpfend unterzugehen, als sich zum voraus gegen alle Gefahr durch einen moralischen Gott zu sichern«.
25 »Dasjenige Uebel, was Götter als solche durch ihre bloße Dazwischenkunft heilen
können, ist an sich selbst kein wahrhaft tragisches Uebel. Umgekehrt; wo ein solches
vorhanden ist, vermögen sie nichts, und wenn sie dennoch herbeigerufen werden, so ist
dieß, was man den Deus ex machina nennt, und was allgemein als eversiv für das Wesen
der Tragödie erkannt ist« (SW V, 703).
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Der Auftritt der Sittlichkeit
Sobald nach einem moralischen Gott gerufen werde, falle das Erhabene
und somit das Philosophische schlechthin weg. 26 Und so zeigt sich nun,
dass Schellings Auslegung der Tragödie in den Jenaer Vorlesungen auf
mehr als eine Weise gleichsam ein Echo zu den Philosophischen Briefen darstellt. Die Parallele zwischen den Briefen und der Philosophie
der Kunst scheint durch ihren gemeinsamen Bezug auf die griechische
Tragödie nochmals verstärkt zu werden. 27 Dennoch zeigen sich gerade
auf der Ebene der Tragödiendeutung auch wichtige Differenzen zwischen den beiden Texten, wie wir noch sehen werden. Dasjenige, was
bleibt, ist trotz allem das Leitmotiv, welches Schellings Philosophieren
geprägt hat, nämlich die platonische Interdependenz oder das Geflecht
des Schönen, Wahren und Guten, d. h. also die Einheit von Kunst,
Theorie und Leben. 28
Dort, wo Differenz, Entzweiung, Gegensatz und Kampf nach der
höchsten Identität streben, da befindet sich die Sphäre der Sittlichkeit.
Darin besteht auch das Sittliche in der Tragödie; aber nicht nur darin,
sondern auch in der Realisierung eines Unausführbaren, d. h. in der
endgültigen Verwirklichung der Einheit oder Identität der Entgegengesetzten. Denn, dass die Sittlichkeit, wie wir gesehen haben, erst
durch die Handlung oder genauer im Vollzug der Handlung selbst entsteht, deutet zugleich darauf hin, dass sie nicht als etwas schon Gegebenes zu verstehen ist, sondern als dasjenige, was nur in seiner Realisierung oder in der Bewegung, es selbst zu werden, auftaucht. Das wird
eigentlich auch schon im achten Brief dargelegt: »Moralität kann nicht
selbst das Höchste, kann nur Annährung sein zum absoluten Zustande« (AA I,3, 91). Sittlichkeit, sowie Schönheit und Erhabenheit (und
bei Schelling wird hierdurch die Philosophie selbst mit gedacht) sind
nicht ein für alle Mal fixierte Gegenstände, gegebene oder erreichbare
»So weit sind wir einig, mein Freund. Jene Idee eines moralischen Gottes hat schlechterdings keine Ästhetische Seite; aber ich gehe noch weiter, sie hat nicht mal eine philosophische Seite, sie enthält nicht nur nichts Erhabenes, sondern sie enthält überhaupt
nichts« (AA I,3, 51).
27 Tatsächlich wird z. B. der zweite Paragraph des zehnten Briefes fast wörtlich in der
Philosophie der Kunst wiederholt (siehe SW V, 696 f.).
28 »Wie Gott über den Ideen der Wahrheit, der Güte und der Schönheit als ihr Gemeinsames schwebt, so die Philosophie. Die Philosophie behandelt weder allein die Wahrheit,
noch bloß die Sittlichkeit, noch bloß die Schönheit, sondern das Gemeinsame aller, und
leitet sie aus Einem Urquell her. […] Sie [sc. die Philosophie, K. H.] ist Wissenschaft,
aber von der Art, daß in ihr Wahrheit, Güte und Schönheit, also Wissenschaft, Tugend
und Kunst selbst sich durchdringen« (SW V, 382 f.).
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Die Ohnmacht der Götter in der Welt der Tragödie
Zustände, sondern sind lebendig und existierend und beruhen notwendig auf einem gewissen Mangel: einer Art Ungleichgewicht, welches
allein die Bewegung zu ihrer vollständigen Realisierung antreibt.
Für unser erstes Eindringen in die Dimension der Tragödie haben
wir uns auf die Philosophischen Briefe bezogen; nicht nur weil die Tragödie hier zum ersten Mal in Schellings Texten erwähnt und behandelt
wird, sondern auch, weil es hier grundsätzlich um die Möglichkeit sittlicher und freier Handlung geht – eine Problematik, die in seinen künftigen Schriften sowie in seiner späteren Auslegung der Tragödie immer
wieder behandelt wird. Der Verweis auf die Briefe soll uns also darauf
aufmerksam machen, inwiefern die Essenz von Schellings frühen Gedanken auch seine späteren Werke noch beseelt und wie seine Philosophie, obwohl in ständiger Bewegung und Entwicklung, von identisch
bleibenden Grundideen geprägt ist. Die Untersuchung von Schellings
Begriff der Tragödie ist aber auch und vor allem deswegen interessant,
weil diese auch als Beweis für den philosophischen Charakter von
Schellings Betrachtung der Kunst insgesamt gelten kann, was Schelling in der Einleitung der Philosophie der Kunst ausdrücklich beansprucht: »Für diejenigen, die mein System der Philosophie kennen,
wird die Philosophie der Kunst nur die Wiederholung desselben in der
höchsten Potenz seyn« (SW V, 363). Die philosophische Betrachtung
der Kunst, die Philosophie der Kunst, ist also zuerst und vor allem Philosophie, und könnte nie etwas anderes sein als Philosophie. 29
»Der Grundgedanke dieser ganzen Philosophie ist doch, daß alle Dinge wahrhaft Eins
seien und auch die Philosophie nur wahrhaft Eine, und allein das Absolute und die
Dinge nur, inwiefern sie absolut sind, die Philosophie interessieren« (Adam 1907, 44).
Oder in den Worten Schellings: »Dieß ist das Wesentliche; daß sie eben Philosophie
seyn soll in Beziehung auf Kunst, ist das Zufällige unseres Begriffs […]. Es ist nur Eine
Philosophie und Eine Wissenschaft der Philosophie; was man verschiedene philosophische Wissenschaften nennt, ist entweder etwas ganz Schiefes, oder es sind nur Darstellungen des Einen und ungetheilten Ganzen der Philosophie in verschiedenen Potenzen
oder unter verschiedenen ideellen Bestimmungen« (SW V, 365). Siehe auch O’Meara
1994, 121.
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