Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin Rilpivirin (Edurant ) Seit Mitte Januar 2012 sind zwei Fertigarzneimittel mit dem neuen Arzneistoff Rilpivirin in Deutschland im Handel. In Edurant liegt Rilpivirin als einziger Arzneistoff vor, im Kombinationspräparat Eviplera sind neben Rilpivirin auch noch Emtricitabin und Tenofovir enthalten. Edurant ist in Kombination mit anderen antiretroviralen Medikamenten im Rahmen der Hochaktiven Antiretroviralen Therapie (HAART) indiziert zur Behandlung von HIV-1-Infektionen bei nicht antiretroviral vorbehandelten Patienten mit einer Viruslast von maximal 100000 HIV-1-RNS-Kopien pro Milliliter. Das Kombinationspräparat Eviplera ermöglicht es nun HIV-Patienten, nur eine Tablette pro Tag einzunehmen. Dies war bisher nur mit dem Präparat Atripla (Arzneistoffe: Efavirenz, Emtricitabin und Tenofovir) möglich. Allerdings ist Atripla nicht für den Therapiestart zugelassen., sondern hier muss die Viruslast für mindestens drei Monate unterhalb der Nachweisgrenze (<50 HIV-1-RNS-Kopien pro Milliliter) liegen (Fachinformation Atripla 2011, Fachinformation Edurant 2011, Fachinformation Eviplera 2011). Rilpivirin (Abbildung 1) ist nach Nevirapin (Viramune), Efavirenz (Sustiva), Etravirin (Intelence) und Delavirdin (noch nicht in Europa zugelassen, USA: Rescriptor) der nunmehr fünfte Vertreter aus der Gruppe der Nichtnucleosidischen Reverse Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) (Strukturformeln bisheriger NNRTIs s. Abbildung 2, Zusammenfassung s. Tabelle 1). N N HN NH N N Rilpivirin Abbildung 1 Die Reverse Transkriptase ist ein den Retroviren (wie z.B. dem HI-Virus) gemeinsames Enzym. Sie kopiert die einzelsträngige virale RNS in doppelsträngige DNS, die dann nachfolgend durch eine Integrase in die Wirtszell-DNS eingebaut wird. Die Reverse Transkriptase besitzt zwei Enzymaktivitäten: eine PolymeraseAktivität, die in der Lage ist, entweder RNS oder DNS zu kopieren sowie eine Ribonuklease-H-Aktivität. Diese kann den RNS-Strang von RNS-DNS-Intermediaten, die während der viralen Synthese entstehen, abbauen. Die HIV-1-Reverse Transkriptase ist aus zwei verschiedenen Untereinheiten aufgebaut (p66 und p51) (Kohlstaedt et al. 1992). Beide haben denselben NTerminus, die p51-Einheit entsteht durch C-terminale Proteolyse aus der p66-Einheit. 1 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin O F F HN F Cl N N O N N H Nevirapin O Efavirenz N N HN S O O NH O N N NH N Br O N NH2 Delavirdin Abbildung 2: NH N Etravirin Bisherige Nichtnukleosidische Reverse Transkriptase-Inhibitoren mit Zulassung Die größere p66-Einheit enthält sowohl eine N-terminale Polymerase- als auch eine C-terminale Ribonuklease-H-Domäne. Letztere fehlt der p51-Untereinheit. Die Polymerase-Domäne von p66 bzw. p51 besitzt vier Subdomänen, die als Finger-, Handflächen-, Daumen- und Verbindungs-Domänen bezeichnet werden. Trotz ihrer chemischen Heterogenität binden alle NNRTIs an derselben Stelle innerhalb der Reversen Transkriptase. Alle NNRTIs hemmen die Reverse Transkriptase nichtkompetitiv, sie binden im Gegensatz zu den nukleosidischen Inhibitoren nicht an das aktive Zentrum. Die allosterische Bindungsstelle ist hydrophob und liegt in der Handflächen-Domäne der p66-Untereinheit in der Nähe des aktiven Zentrums der Polymerase (Distanz ca. 10Å). In den Kristallstrukturen von Reverser Transkriptase ohne Ligand ist die NNRTI-Bindungstasche nicht vorhanden (Kohlstaedt et al. 1992). Tatsächlich wird sie erst durch die Bindung eines Inhibitors und daraus resultierender Konformationsänderung freigelegt. Konformationsänderungen sind es auch, die für die nichtkompetitive Hemmwirkung verantwortlich gemacht werden. Insbesondere die Lage dreier katalytischer Aspartate im aktiven Zentrum wird geändert und das Enzym hierdurch im inaktiven Zustand fixiert (Esnouf et al. 1995, Ren et al. 1995, Ren und Stammers 2008). Der Ursprung der Arzneistoffklasse der NNRTIs liegt mehr als 20 Jahre zurück. Die ersten NNRTIs waren die sogenannten HEPT- (Baba et al. 1989) und TIBO-Derivate (Pauwels et al. 1990, Debyser et al. 1991). In der Folge wurden mehr als 30 2 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin verschiedene nichtnukleosidische Substanzklassen identifiziert, die hochspezifisch an die HIV-1-Reverse Transkriptase binden und diese nichtkompetitiv hemmen (Prajapati et al. 2009). Allein diese Anzahl verdeutlicht anschaulich die chemische Heterogenität der NNRTIs. NNRTI Fertigarzneimittel Nevirapin Viramune Chemische Substanzklasse Dipyridodiazepinon Efavirenz Sustiva Benzoxazinon Delavirdin Etravirin Rilpivirin Diheteroarylpiperazin Rescriptor (nur Nordamerika) Diarylpyrimidin Intelence (DAPY) Diarylpyrimidin Edurant (Mono) (DAPY) Eviplera (Kombi) Tabelle 1 Der erste NNRTI, der 1998 in Deutschland zugelassen wurde, war Nevirapin (Hargrave et al. 1991). Chemisch handelt es sich um ein Dipyridodiazepinon, was eine strukturelle Verwandtschaft zu trizyklischen Antidepressiva und dem Neuroleptikum Clozapin erahnen lässt. Dem Nevirapin folgte 1999 das Benzoxazinon Efavirenz (Young et al. 1995, Cocuzza et al. 2001). Es ist die einzige chirale Verbindung und liegt als (S)-Enantiomer vor. Delavirdin ist bislang nur in Nordamerika auf dem Markt. Chemisch gehört es zur Gruppe der Diheteroarylpiperazine (Dueweke et al. 1993). Es ist sperriger und voluminöser als die anderen NNRTIs. Kristallstrukturen von HIV-1-Reverser Transkriptase mit Delavirdin zeigen, dass es aus der NNRTI-Bindungstasche herausragt, was zu einem im Vergleich zu anderen NNRTIs veränderten und einzigartigen Resistenzprofil führt (Esnouf et al. 1997). Das größte Defizit der NNRTIs der ersten Generation wie Nevirapin und Efavirenz besteht in der schnellen Resistenzentwicklung - insbesondere dann, wenn sie als Monotherapeutikum eingesetzt werden. Eine Resistenzentwicklung gegen einen der frühen NNRTIs führt dabei unweigerlich zu einer Resistenz gegenüber der gesamten Stoffklasse. Dementsprechend war und ist die Suche nach NNRTIs groß, die durch ihre Bindung am sich ständig verändernden Target der Reversen Transkriptase ein verbessertes Resistenzprofil aufweisen. Mit dem NNRTI der zweiten Generation Etravirin schien im Jahr 2008 dieses Ziel verwirklicht. Etravirin gehört wie auch das neue Rilpivirin zur Klasse der DAPYs (= Diarylpyrimidine) (Ludovici et al. 2001). Die Diarylpyrimidine als NNRTIs sind das Ergebnis einer ständigen Weiterentwicklung ausgehend von den starren trizyklischen TIBO-Derivaten (Tetrahydroimidazobenzodiazepinone) über αAnilinophenylacetamide (α-APAs) und Imidoylthioharnstoffe (ITUs) hin zu immer flexibleren Verbindungen wie den Diaryltriazinen (DATAs), die als direkte Vorläufer der DAPYs angesehen werden können (Prajapati et al. 2009). DAPYs unterscheiden sich von den DATAs grundsätzlich nur durch den Austausch eines Stickstoff-Atoms im zentralen Triazin-Ring gegen ein Kohlenstoff-Atom (Abbildung 3). 3 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin O HN Cl O N N H2N TIBO Cl O Cl H N Cl NH H N S N ITU alpha-APA N N NH O N H N Cl N N DATA Abbildung 3: N Br DAPY NH2 N NH N NH2 Entwicklung der NNRTI-Klasse der DAPYs nach Prajapati et al. 2009 Die DAPYs Etravirin und Rilpivirin besitzen am zentralen Pyrimidin-Ring zwei konformativ flexible aromatische Substituenten. Etravirin besitzt am Pyrimidin in 5und 6-Position zusätzlich noch einen Brom-Substituenten sowie eine Amino-Gruppe, die beim Rilpivirin fehlen (s. Abbildung 4). Die beiden flexiblen Substituenten an 2und 4-Position des Pyrimidins erlauben es diesen Substanzen, in der NNRTIBindungstasche verschiedene Konformationen einzunehmen und somit trotz einzelner Aminosäure-Mutationen innerhalb der Bindungstasche und einem sich ständig verändernden Target weiterhin inhibitorisch wirksam zu sein („strategic flexibility“) (s. Abbildung 5) (Das et al. 2004, Das et al. 2008). Der Dimethylphenyl-Ring an Position 4 des Pyrimidins ist beim Etravirin über eine Sauerstoffbrücke mit dem Pyrimidin verbunden, beim Rilpivirin über eine Aminobrücke. Hinsichtlich der Rotationsmöglichkeiten um die Einfachbindungen und damit auch für die Flexibilität der aromatischen Substituenten bedeutet diese Strukturmodifikation aber anscheinend keinen Unterschied. Für Etravirin und Rilpivirin ergeben sich für die Torsionswinkel annähernd gleiche Energiebarrieren (s. Abbildung 5) (Das et al. 2008). Beim Etravirin tragen beide Phenyl-Ringe eine Cyano-Gruppe, beim Rilpivirin sitzt eine der beiden Cyano-Gruppen nicht direkt am Phenyl-Ring, bildet also kein Benzonitril, sondern hier liegt ein verlängertes Vinylnitril vor. Diese funktionelle Gruppe liegt nicht in anderen DAPY-Derivaten vor. Kristallstrukturdaten von Reverser Transkriptase im Komplex mit Rilpivirin deuten an, dass es genau diese CyanovinylGruppe ist, die dafür sorgt, dass Rilpivirin stärker wirksam ist als Etravirin: sie passt sich genau einem hydrophoben Tunnel an, der aus den aromatischen oder mit einer hydrophoben aliphatischen Seitenkette ausgestatteten Aminosäuren Tyrosin188, Phenylalanin227, Tryptophan229 und Leucin234 gebildet wird (Das et al. 2008). 4 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin Diarylpyrimidine (DAPYs) Vinylnitril Nitril N N N N N O NH 4 Br HN 2 5 6 NH N 4 N1 2 N 5 NH2 1 6 Etravirin Rilpivirin Etravirin trägt am zentralen Pyrimidin-Ring in 6-Position eine Amino-Gruppe, Rilpivirin besitzt an dieser Position keinen Substituenten. Etravirin hat in 5-Position des Pyrimidins einen Brom-Substituenten, Rilpivirin ist hier nicht substituiert. Etravirin besitzt am aromatischen Substituenten in 4-Position des Pyrimidins eine Sauerstoffbrücke, Rilpivirin besitzt an dieser Stelle eine Aminobrücke. Etravirin trägt am aromatischen Substituenten in 4-Position des Pyrimidins eine NitrilGruppe, die beim Rilpivirin zum Vinylnitril verlängert ist. Abbildung 4: Strukturvergleich Etravirin und Rilpivirin konformativ flexible aromatische Substituenten N N HN 4 N 2 NH N Abbildung 5 Rotationsmöglichkeiten und Strukturflexibilität des Rilpivirins (nach Das et al. 2008) 5 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin Die schnelle Resistenzentwicklung durch Aminosäure-Mutationen spielt für den Wirkungsverlust der NNRTIs wie erwähnt eine große Rolle. Die Mutation von Lysin103 zu Asparagin103 sowie Mutationen an den Aminosäuren Tyrosin181 und Tyrosin182 führen bei den NNRTIs der ersten Generation wie Nevirapin und Efavirenz zu einer Resistenz, da insbesondere die beiden Tyrosine mit ihren aromatischen Seitenketten und den daraus resultierenden starken π-πWechselwirkungen mit den aromatischen Ringsystemen der älteren NNRTIs für eine starke Fixierung in der NNRTI-Bindungstasche unerlässlich sind (De Clercq 1994). Durch die molekulare Flexibilität der neuen Substanzen Etravirin und Rilpivirin scheinen die Wechselwirkungen mit den beiden Phenyl-Ringen von Tyrosin 181 bzw. 188 weniger bedeutsam zu sein (Das et al. 2008). Gerade beim Rilpivirin mit seinem verlängerten Vinylnitril-Arm kommt es anscheinend zu einer starken Wechselwirkung mit dem Indol-Ring des Tryptophan229. Somit scheint auch das Rilpivirin bei einer Reihe von Etravirin-resistenten Virusformen wirksam zu sein (Fulco und McNicholl 2009). Allerdings muss erwähnt werden, dass auch beim Etravirin schon zahlreiche Resistenzen aufgetreten sind (Schiller und Youssef-Bessler 2009), so dass die therapeutische Überlegenheit des Rilpivirins erst noch im klinischen Alltag bewiesen werden muss. In vitro zeigt Rilpivirin jedenfalls ein Resistenzprofil, das vergleichbar mit dem des Etravirins ist (Rimsky et al. 2009). Die Absorption des Rilpivirins weist eine ausgesprochene Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Einnahme auf. Wird Rilpivirn im nüchternen Zustand eingenommen, so verringert sich die AUC um etwa 40% gegenüber der Einnahme mit einer Mahlzeit. Ebenso führt die Einnahme zusammen mit einer sehr proteinreichen Mahlzeit zu einer Abnahme der AUC um etwa die Hälfte (Ford et al. 2011). Dementsprechend wird empfohlen, die Edurant-Filmtabletten zusammen mit einer Mahlzeit mit wenig Proteingehalt einzunehmen (Fachinformation Edurant 2011). Bei Etravirin wird derselbe Effekt hinsichtlich der Einnahme mit oder ohne Nahrung beobachtet (Fachinformation Intelence 2011). Die Pharmakokinetik und im Besonderen die lange terminale Halbwertszeit von 34 bis 55 Stunden (Ford et al. 2011) erlauben beim Rilpivirn eine Einmalgabe pro Tag, was sicherlich ein Vorteil gegenüber Etravirin ist, das zweimal täglich gegeben werden muss. Hinsichtlich der Metabolisierung und des Abbaus weist Rilpivirn gegenüber Etravirin keine Vorteile auf. Letzteres wird in der Leber hauptsächlich über CYP3A4, CYP2C9 und CYP2C19 metabolisiert (Fachinformation Intelence 2011). Besonders die Verstoffwechslung über CYP3A4 bedeutet hierbei ein hohes Risiko für Arzneimittelinteraktionen. Rilpivirn wird fast ausschlieslich über CYP3A4 abgebaut. Dementsprechend bestehen natürlich auch hier ähnliche Risiken für Interaktionen mit anderen Arzneimitteln (Brown et al. 2009, Ford et al. 2011). Literatur: Baba, M. et al. Biochem Biophys Res Commun 1989, 165, 1375 Brown, K.C. et al. Clin Pharmacokinet 2009, 48, 211 Cocuzza, A.J. et bal. Bioorg Med Chem Lett 2001, 11, 1177 Das, K. et al. J Med Chem 2004, 47, 2550 Das, K. et al. Proc Natl Acad Sci USA 2008, 105, 1466 Debyser, Z. et al. Proc Natl Acad Sci USA 1991, 88, 1451 De Clercq, E. Biochem Pharmacol 1994, 47, 155 Dueweke, T.J. et al. Antimicrob Agents Chemother 1993, 37, 1127 6 CA 16.2.2012 Pharmazeutische Chemie - Rilpivirin Esnouf, R.M. et al. Nat Struct Biol 1995, 2, 303 Esnouf, R.M. et al. Proc Natl Acad Sci USA 1997, 94, 3987 Fachinformation Atrpla 2011 Bristol-Myers Squibb and Gilead Sciences Limited Fachinformation Edurant 2011 Janssen-Cilag International NV Fachinformation Eviplera 2011 Gilead Sciences International Limited Fachinformation Intelence 2011 Janssen-Cilag International NV Ford, N. et al. HIV AIDS (Auckl.) 2011, 3, 35 Fulco, P.P. und McNicholl, I.R Pharmacotherapy 2009, 29, 281 Hargrave, K.D. et al. J Med Chem 1991, 34, 2231 Kohlstaedt, L.A. et al. Science 1992, 256, 1783 Ludovici, D.W. et al. Bioorg Med Chem Lett 2001, 11, 2235 Pauwels, R. et al. Nature 1990, 343, 470 Prajapati, D.G. et al. Bioorg Med Chem 2009, 17, 5744 Ren, J. et al. Nat Struct Biol 1995, 2, 293 Ren, J. und Stammers D.K. Virus Res 2008, 134, 157 Rimsky, L.T. et al. Antiviral Ther 2009, 14(Suppl 1), A141 (Abstract 120) Schiller, D.S. und Youssef-Bessler, M. Clin Ther 2009, 31, 692 Young, S.D. et al. Antimicrob Agents Chemother 1995, 39, 2602 7 CA 16.2.2012