Felicitas Hillmann Marginale Urbanität

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Felicitas Hillmann
Marginale Urbanität
Vortrag im Rahmen der Veranstaltung Marginale Urbanität oder: Wie gehören
Migration, Diversität und Stadtentwicklung zusammen?
Stiftung Leben und Umwelt, Hannover
Stand: 12.08.2013
Historisch sind die Be- und Verarbeitung des Fremden in der Stadt, der Umgang mit
„Differenz“, ein Kernelement des Städtischen. Städte haben immer davon gelebt, dass sie
Migrant_Innen aufgenommen, spezielle Stadtteile für sie geschaffen und Formen für den
Umgang mit dem „Fremden“ gefunden haben. Dieser Umgang erfolgte entweder in Form von
Ausgrenzung: Den Migrant_Innen wurden besondere Orte in der Stadt zugewiesen, häufig
übernahmen diese Orte für die Gesamtstadt die Rolle der ersten Eingliederung der
Migrant_Innen. Dies ist bis heute so geblieben: gerade die schnell wachsenden Megacities in
den Ländern des globalen Südens besitzen solche Stadtteile, meist sind es die
Marginalsiedlungen am Stadtrand, die erster Aufnahmeort für die Migrant_Innen sind. Doch
auch in den europäischen Städten gibt es solche Stadtteile, die besonders eng mit der
Zuwanderungsgeschichte des jeweiligen Landes verknüpft sind und die teilweise die soziale
und politische Ausgrenzung reproduzieren.
In diesem Beitrag geht es darum, die Dynamiken zwischen der verstärkten Diversität in den
Städten im Kontext der Stadtentwicklungspolitik zu betrachten. Es wird argumentiert, dass
sich ein Trend weg von einer „urbanen Marginalität“, in der Migration und Migrant_Innen
vornehmlich als „Problem“ konzipiert wurden, hin zu „marginaler Urbanität“ vollzieht, die
Vielfalt und Diversität als positive Ansatzpunkte für Stadtentwicklung ansieht. Verändert
haben sich nicht nur die Stadtgesellschaften selbst (beispielsweise durch die
demographische Komposition der Bevölkerung, durch stärkere soziale und ökonomische
Ungleichheiten zwischen den Stadtbewohner_Innen, durch neue
Geschlechterarrangements). Auch unsere Vorstellungen von Urbanität haben sich verändert.
In welcher Form sind Migrant_Innen Teil von Stadtentwicklung? Vorgestellt wird zunächst die
Periode der „urbanen Marginalität“, die zur Herausbildung neuer Stadtentwicklungspolitiken,
vornehmlich partizipativer Ansätze, führte. Dann wird gezeigt, wie sich die Großstädte in
Deutschland gewandelt haben und wie bedeutsam hierfür die Rolle von migrantischen
Ökonomien gewesen ist. Sie sind weit mehr als ein „Standortfaktor“ für die Großstädte –
Migrant_Innen stellen in einigen Städten heute die Mehrheit der Gewerbean- und
abmeldungen. Sie sind Teil der Umstellung der städtischen Arbeitsmärkte hin zu
postindustriellen, europäisierten Formen der Arbeitsmarktintegration, die die Städte
zunehmend prägt und die einen veränderten Umgang mit Mobilität und Migration
provozieren.
Urbane Marginalität
Die Wirtschaftsgeschichte Westdeutschlands seit der Nachkriegszeit ist eng mit der
Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem Ausland verbunden. Seit 1955 hatte die
deutsche Wirtschaft angefangen, Arbeitskräfte zunächst aus Italien zur
landwirtschaftlichen Saisonarbeit nach Deutschland zu holen, ab Anfang der 1960er
Jahre geschah dies massenhaft für die Industriearbeitsplätze. Die Unterbringung der
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sogenannten Gastarbeiter_Innen (ganz überwiegend aus Südeuropa) in den Städten
war genauso provisorisch wie ihr Aufenthaltsstatus. Anfangs lebten sie in
Sammelunterkünften. Sie waren Teil der Arbeitswelt, nicht aber Teil der Stadt. Auch
im politischen Raum durchlebten die Gastarbeiter_Innen eine Zeit der „Integration auf
Widerruf“, so lautete die ausländerpolitische Leitlinie der Bundesregierung im Jahre
1974. Zeitgleich mit dem Anwerbestopp 1973, erfolgte eine gewisse Stabilisierung
der provisorischen Aufenthaltssituation. Viele, die vielleicht zurück in ihr
Herkunftsland gegangen wären, blieben nun lieber in Deutschland – man konnte ja
nicht sicher sein, nochmals eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
Familienmitglieder wurden nachgeholt.
Die „Ausländer_Innen“ zogen in billige, fabriknahe Wohnungen oder in
Sanierungsgebiete in der Innenstadt. Nicht wenige Vermieter_Innen nutzten diese
Situation aus: Sie vermieteten ihre Wohnungen an die Ausländer_Innen, ließen die
Wohnungen verfallen und bekamen so die angestrebte Abbruchgenehmigung, mit
der sie rentablere Bürogebäude errichten konnten. In einigen Städten entstand so
etwas wie „Einwandererkolonien“, denen eine doppelte Funktion zukam: Für
Neuankömmlinge wirkten sie als Integrationsschleuse in die neue Gesellschaft und
gleichzeitig als Ort der Orientierung und des Halts in der Herkunftskultur.
Die Wahrnehmung der Ausländer_Innen durch Öffentlichkeit, Planung und
Sozialpolitiker_Innen blieb insgesamt auf die defizitorientierte Seite der Migration
fokussiert. Es war lange kein Platz für eine Wahrnehmung von Migrant_Innen als
eigenständige Akteur_Innen, vielmehr blieben sie auf die Zuschauerränge am Rande
der Stadtgesellschaft verwiesen. Diese polarisierte Entwicklung bildete den
Ausgangspunkt für eine stadtsoziologische Analyse, die mehr oder weniger explizit
auf den angelsächsischen Diskurs über ‚urbane Marginalität‘ rekurrierte und ihn für
die deutsche Debatte fruchtbar machte.
Ein wichtiger Impulsgeber für die Analyse der Situation in den deutschen Städten war
das angelsächsische stadtsoziologische Konzept „urban marginality“. Damit wurde
die zunehmende Peripherisierung und Stigmatisierung armer Nachbarschaften
beschrieben, die in der Folge unter eine Verwaltung der Segregation und Integration
gerieten. Diese Segregation wirkte sozial kontrollierend mit dem Ziel die
wohlhabenden Klassen zu schützen.
Die Massenproduktion und der Massenkonsum der Nachkriegszeit waren an die
Entwicklung des Wohlfahrtsstaates gekoppelt und mit dem Ende dieses Regimes
zogen auch neue Formen der Armut in die Städte ein, bestimmte Stadtbezirke und
ihre Bevölkerung, so nahm man an, würden isoliert, eine neue Ghettoisierung sei zu
beobachten. Für diese Armut würden neue Etiketten benutzt: „Underclass“ in
Amerika und England, „Neue Armut“ in den Niederlanden, Deutschland und
Norditalien, „Exklusion“ in Frankreich. Staaten funktionierten nicht mehr als
„Stratifikationsmaschinen“, die räumliche Entwicklung war jetzt stärker geprägt von
Konzentration und Stigmatisierung. Europaweit wurde mit einer zwiespältigen
Kombination sozialarbeitsorientierten Ansätzen und repressiven, polizeilichen
Maßnahmen reagiert. Die Herausbildung von marginalen öffentlichen Räumen wurde
in Verbindung gesetzt mit den sich in den 1990er Jahren verstärkt abzeichnenden
sozialen, ethnischen und kulturellen Unterschieden. Sie traten nun auf engstem
Raum auf und betrafen bereits ‚schwierige‘ Stadtteile am stärksten. Viele
Stadtsoziolog_Innen gingen davon aus, dass nicht nur die Lebenschancen der
Bewohner_Innen durch die Segregation behindert werden würden, sondern dass es
auch zu einer Abnahme des sozialen Zusammenhalts käme, dass immer mehr
Menschen an die „Ränder der Städte“ rücken würden. Vielerorts in Europa
schwenkte die Stadtpolitik jetzt auf „area-based“ orientierte Handlungsansätze um.
Die Stadtpolitiker_Innen erkannten, dass sich die Strukturkrise an den
Arbeitsmärkten kaum beeinflussen ließ, dass man aber versuchen könnte, vor Ort
neue Instrumente gegen die vermutete „Abwärtsspirale“ einzusetzen. Damit rückte
das Quartier in den Mittelpunkt der Maßnahmen und man hoffte durch die Aktivierung
der Bewohner_Innen auf eine gewisse Stabilisierung der Lebenssituation vor Ort.
Verschiedene Stadtentwicklungsprogramme reagierten durch sozialräumliche,
quartiersbezogene Ansätze und Befähigung (empowerment). Eine gewisse
Kompensation der Marginalisierung sollte durch Kontaktangebote, durch
Unterstützungsnetzwerke und durch über das Quartiersmanagement organisierte
Gremien erreicht werden. Schließlich wurden Monitoring und Evaluation der
durchgeführten Maßnahmen und Projekte zunehmend Teil der Stadtentwicklung.
Durch die Einführung des Programms der „Sozialen Stadt“ (einem Teil der
Städtebauförderung) richteten sich viele Stadtentwicklungsaktivitäten auf die
‚benachteiligten Stadtteile‘ aus. Man bezog erstmals auch dezidiert Migrant_Innen in
die Maßnahmen ein, vor allem auch die migrantischen Ökonomien.
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Hin zu einer „marginalen Urbanität
Heute gehört die Präsenz der migrantischen Ökonomien zum Bild aller deutschen
Großstädte. Trotz vieler Schwierigkeiten und der häufig prekären Situation der
Unternehmer_Innen, ist das migrantische Unternehmertum inzwischen in vielen
Städten fester Bestandteil der Ökonomie und der Urbanität geworden, die
Gewerbean- und abmeldungen stellen zum Beispiel für die Stadtstaaten Berlin,
Bremen und Hamburg die Mehrheit aller Meldungen dar. Häufig sind die
Unternehmer_Innen Ansprechpartner_Innen für Institutionen und tragen insgesamt
zu einer Stabilisierung der Stadtteile bei. Nur so lässt sich das starke Interesse
verschiedener Träger wie dem SVR (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für
Integration und Migration) („Wirtschaftliche Selbständigkeit als Integrationsstrategie“)
oder aber der vielen Studien zur „Standortentwicklung“ verstehen. Man erhofft sich
von den migrantischen Ökonomien, dass sie die bessere Hinzuziehung ihrer
Potenziale die Wirtschaftsstruktur allgemein, aber auch die Ausbildungssituation,
stärken könnten. Hier wirkt ein Umgang mit dem „Fremden/dem Anderen“ fort, der
typisch ist für den Umgang mit dem „Fremden“ in Deutschland: Das Andere wird
jeweils dann akzeptiert, wenn es eine ökonomische Verwertungslogik gibt. Das
„Ethnische“, das „Migrantische“ wird zum Vermarktungsfaktor in der
Stadtentwicklung, wenn es irgendwie erfolgreich ist. Ein solches „Erfolgreich-Sein“
kann sich sogar nur auf die Oberfläche der migrantischen Unternehmen beziehen:
Für das Stadtmarketing reichen die bunten Fassaden, die Kreuzberg und Neukölln
für Tourist_Innen interessant machen. Hierin liegt ein der Stadt Berlin eigenes
Potential der Urbanität („arm aber sexy. Bunt“) In einigen europäischen Städten,
beispielsweise in London mit seiner Brick Lane oder aber in Amsterdam hat sich ein
solches Image um die von migrantischen Ökonomien geprägten Stadtteile gebildet,
das „place brandings“, einem stadtpolitischen Instrument in new urban governance
Manier. Festivals und Paraden sind in diesen Städten ein weiterer Berührungspunkt
von Migration und Stadtentwicklung und sorgen dafür, dass auch die Stadtteile
multikulturell zelebriert werden und leiten eine Kommerzialisierung ein, die
mittlerweile schon wieder kontraproduktiv wirkt. Der „Karneval der Kulturen“ in Berlin
ist ein Massenevent, das auch in diesem Jahr mit einem Umzug und 76
teilnehmenden Gruppen wohl die größte Parade ihrer Art in Deutschland ist. Was in
anderen Städten erst nach und nach übernommen wird, leidet in Berlin unter
Verschleißerscheinungen. In diesem Jahr haben verschiedene Gruppen, darunter die
afro-brasilianische Gruppe Afoxé Loni, die traditionell an der Spitze des Zuges läuft,
ihre zukünftige Teilnahme in Frage gestellt. In der entsprechenden Pressemitteilung
heißt es, dass die Hochkultur mit Millionenbeträgen gefördert würde, dass jedoch die
migrantische Kultur als „minderwertige Folklore“ abgetan werde und keinerlei
Förderung erhalte. Seit 18 Jahren engagierten sich die Migrant_Innen ehrenamtlich,
viele könnten sich dies nicht länger leisten. Es handele sich deshalb um eine
„Kulturpolitik der Missachtung, Instrumentalisierung und Ausbeutung von kultureller
Vielfalt“ – so die Initiator_Innen. Es gibt daneben aber auch kleinere
Veranstaltungen, wie beispielsweise das seit circa zehn Jahren laufende „48Stunden Neukölln“, bei denen man sich von stadtpolitischer Seite aktiv um eine
Einbeziehung von Migrant_Innen bemüht und die genauso auf dem
Selbstausbeutungsprinzip beruhen. Dies wird von den beteiligten Akteur_Innen
durchaus kritisch gesehen, denn man weiß, dass die Gefahr besteht, dass man
gerade die schon prekär situierten Migrant_Innen und Künstler_Innen in gewisser
Weise ‚ausnutzt‘ – entweder persönlich oder als Begründung für den Anspruch auf
mehr Stadtentwicklungsgelder.
Fazit
Wahrscheinlich ergibt es mehr Sinn, von einer „marginalen Urbanität“ anstatt von
„urbaner Marginalität“ in Städten wie Berlin auszugehen – ohne damit vorhandene
strukturelle Ungleichgewichte beschönigen zu wollen. Gemeint ist, dass die
Migrant_Innen (und Mobilität überhaupt) einen stärkeren Stellenwert für die
städtische Entwicklung besitzen, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Die
Betonung von „Potentialen“ im Zuge der politisch gewünschten Diversitätsdebatte
richtet sich viel weniger als noch in den 1990er Jahren nur auf die Defizite, auf die
Stabilisierung von sozialen Brennpunkten oder auf Fragen des Moscheebaus,
sondern versucht Migrant_Innen stärker einzubinden. Dies hat nicht nur damit zu tun,
dass die „Menschen mit Migrationshintergrund“ in einigen Städten in den jungen
Alterskohorten bereits die Mehrheitsbevölkerung stellen, sondern auch weil die
Wahrnehmung sich allmählich verändert: Die Präsenz von migrantischen Kulturen im
Stadtraum gilt immer öfter als „normal“ und es wird nicht mehr nur mit „Exotik“ oder
„Problemen“ assoziiert. Und doch bleiben die Leistungen und Innovationen durch die
migrantische Bevölkerung im Bewusstsein vieler Stadtbewohner_Innen noch
‚marginal‘ und sind auch noch nicht selbstverständlicher Teil von Stadtentwicklung.
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Einen großen Beitrag zur dieser „Normalisierung“ hat die eingeleitete
Sozialraumorientierung anstelle einer defizitorientierten sektoralen Stadtpolitik
geleistet. Erstmals wurden Migrant_Innen hier nicht mehr nur mit ‚Maßnahmen‘ quasi
beliefert. Die Kiezbewohner_Innen selbst sollten ihre Kräfte und Vernetzungen
aktivieren, auch Paraden und Festivals basierten auf der starken Präsenz von
migrantischen Gruppen – undenkbar ist zum Beispiel ein Karneval der Kulturen in
Zehlendorf. Städte mit traditionell starken Einwanderervierteln wie London und
Amsterdam bewerben ihre „ethnischen Distrikte“ bereits, sie konzentrieren Teile ihres
Stadtmarketings auf diese Gebiete.
Gerade auch die migrantische Selbstständigkeit ist ein wichtiger Teil der atypischen
Beschäftigungsverhältnisse in den Städten – was entweder als Ausdruck einer
Notlösung angesichts fehlender Möglichkeiten der Menschen am Arbeitsmarkt
interpretiert werden kann oder aber als Potential im Sinne einer von den
Migrant_Innen selbst gestalteten Existenzsicherung. Der springende Punkt ist, dass
sie ein dynamisches Element der städtischen Entwicklung darstellen.
Auch wenn Migration und Mobilität im Sinne einer „marginalen Urbanität“ die Städte
immer stärker prägen, bleiben viele Fragen offen: Wie geht man damit um, dass auch
transitäre Formen von Mobilität, deren Träger den bewohnten Raum nicht
zwangsläufig als steten Aufenthaltsort ansehen, großen Einfluss gewinnen?
Wie sich eine Stadtentwicklung unter Einbeziehung auch migrantischer und
transitärer Bewohner_Innen erreichen lässt, dies ist bislang noch Zukunftsmusik.
Denn der zugestandene Grad der Einmischung und Partizipation der
Stadtbewohner_Innen, ganz unabhängig davon, ob sie Migrant_Innen sind oder
nicht, rührt am Grundverständnis der demokratischen Gesellschaften, er erfordert
eine breiter angelegte Debatte über Partizipation und urban citizenship.
Zum Weiterlesen & Anschauen & Hören:
Hillmann, Felicitas (Hg.) (2011): Marginale Urbanität. Migrantisches Unternehmertum
und Stadtentwicklung. Transcript Verlag. Bielefeld
Hillmann, Felicitas (2012): Wie gehören Stadtentwicklung, Diversität und Migration
zusammen?, zuletzt gesehen am 12.8.2013.
Hillmann, Felicitas (2013): “From urban marginality towards marginal urbanity”, MaxPlanck Lecture online, zuletzt gesehen am 12.8.2013.
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