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Sonderausgabe
g
2007
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung
Editorial
Pressemeldungen und wissenschaftliche Studienergebnisse
über die zunehmende Bedeutung von Übergewicht und Adipositas häuften sich bis vor kurzem vorwiegend jenseits des
Atlantik oder Ärmelkanals. Von dort kamen auch Berichte über
stets neue Gegenstrategien: Die „Lebensmittel-Ampel“ auf
Ernährungsprodukten, gesundes Schulessen, Werbeverbote im
Kinderfernsehen, Volksläufe und auch die operative Magenverkleinerung. Eine – wie wir in einem Beitrag zeigen – sehr
oberflächliche Datensammlung über die Verbreitung von Übergewicht in den EU-Ländern und daraus abgeleitete Schlagzeilen („Deutsche sind die dicksten Europäer“) brachten dann
jedoch auch in Deutschland eine neue Präventionsdebatte ins
Rollen.
Übergewicht und Adipositas:
Fakten zur neuen deutschen
Präventions-Debatte
von PD Dr. Uwe Helmert und Friedrich Schorb
Es geschah im April 2007, als eine Meldung der hierzulande weithin
unbekannten „International Association for the Study of Obesity
(IASO)“ in den Schlagzeilen nahezu aller TV-Sender, Tages- und
Wochenzeitschriften auftauchte. „Deutsche sind die dicksten Europäer“ hieß es da (Süddeutsche Zeitung), „Deutsche holen zweifelhaften Rekord – Europameister im Dicksein!“ (Tagesschau) oder
sprachverspielter: „Deutsche haben in Moppel-Liga den Bauch vorn“
(Spiegel online).
Dabei blieb es nicht bei wissenschaftlichen Diskursen. Mit der
zügigen (manche Kritiker sagen: „überstürzten“) Verabschiedung eines „Nationalen Aktionsplans Fit statt Fett“ rief die
Bundesregierung alte Interventionsprogramme wieder ins
Leben zurück und startete zugleich neue. Man muss kein
Prophet sein, um vorherzusagen, dass „Übergewicht“ das
präventions- und versorgungspolitische Leitthema der nächsten Zukunft sein wird, nachdem für das Thema „Nikotinabhängigkeit“ mit dem Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen nun eine gewisse Sättigung in Medien wie Politik eingetreten ist. Umso wichtiger erscheint es uns daher, die
wissenschaftlichen Ausgangsdaten und Erkenntnisse ebenso
wie die von Politikern und Verbänden vorgestellten Konzepte
zu überprüfen.
Was war der Hintergrund? Die „IASO“ hatte eine Pressemitteilung
herausgegeben und im Internet eine zweiseitige Tabelle veröffentlicht, in der Daten zur Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas
in 25 EU-Ländern dargestellt waren (IASO 2007). Am Schluss der
Tabelle tauchten einige Hinweise auf: Dass die Stichproben der
Länder hinsichtlich der Altersgruppen voneinander abweichen,
dass unterschiedliche Erhebungsjahre vorliegen, dass (schwer
vergleichbare) Ergebnisse aus Messungen und aus Befragungen
verwendet wurden. Doch diese Hinweise wurden übergangen oder
blieben unverstanden, war doch aus der Tabelle klar abzulesen,
dass 75,4 Prozent der deutschen Männer einen BMI-Wert von über
25 aufweisen und damit auf der Europa-Rangliste für Übergewicht
auf Platz 1 liegen.
Dies geschieht in diesem Newsletter durch:
■ einen Überblick über die nationalen und internationalen
Daten zur Häufigkeit und Verteilung von Übergewicht und
Adipositas und eine Analyse zu deren zeitlicher Entwicklung
2002 bis 2006 in Deutschland anhand der im Gesundheitsmonitor erfassten Daten (Helmert/Schorb)
■ eine Übersicht zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft der
Bevölkerung an Präventionsmaßnahmen zu diesem Thema
und zur Wirksamkeit der vielfältigen Interventionen (Braun)
■ einige Beispiele zu Inhalten, Umfang und Wirksamkeit vergleichbarer Programme in anderen Ländern (Braun).
Auf die damit in Gang gesetzte Diskussion über Ursachen und
Präventionsmöglichkeiten für die „neue Epidemie Übergewicht“ hat
die Bundesregierung überaus schnell reagiert und am 15. Mai 2007
einen nationalen Aktionsplan „Gesunde Ernährung und Bewegung –
Schlüssel für mehr Lebensqualität“ beschlossen. Der Plan traf jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung, sondern wurde von vielen
Seiten als unzureichend kritisiert, von Oppositionsparteien ebenso
wie Verbraucherverbänden oder Wissenschaftlern. Auf Grund der
bisweilen wenig sachgerechten wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Beiträge in dieser bis heute anhaltenden ÜbergewichtsDebatte sollen im Folgenden einige neuere und bislang unveröffent➔
lichte Daten zur Verbreitung von Übergewicht und Adipositas in
health policy monitor
gesundheitsmonitor
Glossar
Adipositas: Adipositas und Übergewicht
sind definiert als kritisch überhöhter Fettanteil an der Gesamtkörpermasse. Als
Grenzwerte für Übergewicht gelten bei
Männern 20 Prozent und bei Frauen 25
Prozent. Für die Adipositas liegen die
Werte bei 25 Prozent für Männer und
30 Prozent für Frauen. Den Fettanteil an
der Körpermasse zu messen, ist allerdings
sehr aufwändig. In der Praxis wird daher
meist der Kennwert „BMI“ verwendet, da
er unproblematisch zu bestimmen ist und
eine ungefähre Schätzung des Fettanteils
an der Gesamtkörpermasse ermöglicht.
BMI: Der „Body-Mass-Index“ ist die mit
Abstand wichtigste Kennzahl zur Abschätzung von Übergewicht und Adipositas. Er
findet in praktisch allen nationalen und
internationalen Erhebungen Verwendung.
Der BMI wird so errechnet: Körpergewicht
in kg / (Körpergröße in m)2. Der BMI kann
als Schätzwert verwendet werden, da eine
relativ hohe Korrelation mit dem Fettanteil
an der Körpermasse besteht (r = 0,7 bis
0,8). 1996 führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Grenzwerte
weltweit verbindlich ein: BMI ≥ 25: Übergewicht, BMI ≥ 30: Adipositas.
Prävalenz: Bezeichnet die Häufigkeit des
Auftretens insbesondere einer Krankheit
(z. B. Bluthochdruck) oder eines bestimmten Verhaltens (z. B. Rauchen). Die Prävalenzrate ist eine relative Kennzahl und
wird bestimmt durch die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Zahl der Untersuchten (z. B. gesamte Bevölkerung oder auch
eine eingegrenzte Untersuchungsgruppe).
Rechenformel: Prävalenzrate in Prozent =
(Anzahl der Kranken in der Untersuchungsgruppe / Anzahl aller Untersuchungsteilnehmer) x 100.
2
Deutschland vorgestellt werden. Dabei
gehen wir insbesondere auf folgende
Fragen ein:
■ Trifft die aufgrund der IASO-Daten
weit verbreitete Meldung tatsächlich
zu, dass Deutschland das EU-Land mit
den meisten übergewichtigen Erwachsenen ist?
■ Lässt sich ein zeitlicher Trend feststellen, dass die Zahl der Übergewichtigen
weiter ansteigt, und hat sich der Anteil
der adipösen Erwachsenen in Deutschland in den letzten fünf Jahren weiter
erhöht?
■ Gibt es Bevölkerungsgruppen in
Deutschland, die stärker als andere vom
Risiko der Adipositas betroffen sind?
Daten zur Häufigkeit von Übergewicht
und die Problematik der IASO-Tabelle
Die eingangs zitierte Veröffentlichung der
„International Association for the Study
of Obesity (IASO)“ ist nur einer von vielen Beiträgen der letzten Jahre, mit denen
versucht wurde, die zunehmende Verbreitung von Übergewicht und Adipositas und
die damit einher gehende gesundheitliche
Problematik anhand von Datenmaterial
zu dokumentieren. Bereits am 15. März
2005 hatte die „International Obesity
Task Force“ der Europäischen Union
(IOTF 2005) über die Häufigkeit des Auftretens von Übergewicht und Adipositas
in den 25 EU-Mitgliedsländern informiert.
Aus dem Papier geht hervor, dass der Anteil übergewichtiger und adipöser erwachsener Männer bereits in sieben europäischen Ländern (neben Finnland, Griechenland, Zypern, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Malta auch
Deutschland) höher ist als in den USA,
jenem Land, das bis dahin am stärksten
von der Übergewichtsproblematik betroffen war. Daher verkündete der Luxemburgische Gesundheitsminister Mars Di
Bartolomeo: „Jene Zeiten, zu denen man
glaubte, Übergewicht sei ein Problem
jenseits des Atlantik, sind vorbei.“ (CBS
News 2005), und der EU-Gesundheitskommissar Markos Kyprianos ergänzte
besorgt: „Wir müssen unter Umständen
mit katastrophalen Folgen rechnen, die
durch das Übergewicht verursacht werden: Für die Gesundheit ebenso wie für
die Volkswirtschaft.“ (ebenda).
Deutsche Politiker hatten zuvor schon Betroffenheit artikuliert. „Es gibt aber noch
andere Fakten, die einen beeindrucken
können. Eine britische Studie besagt zum
Beispiel, dass die heutige junge Generation (wegen ihrer Körperfülle) die erste
Generation sein wird, die vor ihren Eltern
stirbt“, führte die damalige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast
in ihrer Regierungserklärung vom
17.06.2004 „Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland“ aus (Künast 2004:
10322). Belege zur wissenschaftlichen
Fundierung der zitierten, aber nicht weiter benannten britischen Studie unterblieben indes. Man konnte im Jahre 2004 den
Eindruck gewinnen, dass die Bundesregierung ebenso be- wie überstürzt auf die
Vielzahl der Meldungen in den Massenmedien zur Adipositas-Problematik reagiert hat. Denn in Anbetracht der seit
über 100 Jahren steigenden mittleren Lebenserwartung in Deutschland gibt es
bislang keinerlei wissenschaftliche Hinweise dafür, dass dieser Trend sich in absehbarer Zeit umkehren könnte.
Im April 2007 schlugen die Wogen der
deutschen Bestürzung dann erneut hoch,
obwohl die Zahlen auch nach Aussage
der IASO selbst für Ländervergleiche nur
sehr beschränkt tauglich sind. Das entscheidende Manko besteht darin, dass
hier Daten nebeneinander gestellt werden, die teilweise auf objektiven Messungen von Körpergewicht und Körpergröße
beruhen, teilweise aber auch aus Befragungen stammen. Studien zum Körpergewicht, die auf Befragungsdaten beruhen,
3
Adipositas-Prävalenz (BMI ≥ 30) in 24 OECD-Staaten nach Geschlecht
tauchten in den Medien meist nur die
Häufigkeiten für alle Personen mit Übergewicht oder Adipositas auf, also einem
BMI-Wert von 25 und mehr. Ob jedoch
ein leichtes Übergewicht (BMI 25 - 29,9)
tatsächlich ein gravierendes Gesundheitsrisiko darstellt, ist wissenschaftlich
überaus umstritten.
Messdaten
3,0
Südkorea
1,7
3,3
2,9
Japan
11,9
Niederlande
10,2
29,9
Türkei
12,9
13,5
13,0
Spanien
19,9
Polen
15,7
28,1
Mexiko
18,6
22,0
Australien
19,4
23,5
Finnland
21,2
23,2
21,9
Neuseeland
29,9
Griechenland
26,0
33,2
USA
31,1
Befragungsdaten
5,8
6,8
7,5
7,9
8,7
9,3
9,1
9,8
9,5
10,4
Norwegen
Schweiz
Italien
Dänemark
Schweden
13,4
11,9
12,3
12,4
12,3
13,6
Belgien
Island
Deutschland
16,3
Tschechien
13,7
13,9
Kanada
15,9
18,2
17,1
Ungarn
25,4
Irland
19,8
Angaben in Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre
Quelle: aufbereitet nach WHO (2007)
Frauen
Männer
Abbildung 1
führen jedoch zu einer systematischen
Unterschätzung des tatsächlichen Übergewichts (Helmert und Strube 2004).
Darüber hinaus wurden die Daten zu
sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben (z.B. Dänemark 1992, Österreich
2005/2006) und auch die einbezogenen
Altersgruppen weichen voneinander ab.
In der IASO-Tabelle, so ist unter dem
Ber tels m a n n St if t u n g
Strich festzuhalten, wurden deutsche
Äpfel mit französischen Birnen und griechischen Aprikosen verglichen.
Übergewicht = hohes Gesundheitsund Sterblichkeits-Risiko?
Obwohl in dieser Datentabelle auch die
Zahlen für Adipositas, also BMI-Werte
von 30 und mehr aufgeführt waren,
In zwei deutschen Längsschnittstudien ergab sich nach der Kontrolle weiterer Einflussfaktoren auch für Personen mit BMIWerten ≥30 keine statistisch signifikant
erhöhte Sterblichkeit. Bei diesen beiden
Studien handelt es sich zum einen um das
Augsburger MONICA-Projekt (Schneider
2002) und eine Nachfolgestudie der Befragung „Leben und Gesundheit in Deutschland“ aus den Jahren 1984 -1986 (Helmert
und Voges 2002). Auch Berger (2000)
gelangt zu einer eher zurückhaltenden
Einschätzung hinsichtlich der Auswirkungen der Adipositas auf die Sterblichkeit:
„Die weiterhin propagierten Mortalitätsund Morbiditätsrisiken der Adipositas erscheinen – abgesehen von morbiden Ausmaßen der Fettsucht (BMI > 40) und von
Hochrisikogruppen hinsichtlich Diabetes,
Hypertonie, metabolischem Syndrom,
Schlafapnoe – übertrieben“ (ebenda: 129).
In einer US-amerikanischen Veröffentlichung zeigte sich unlängst bei drei
großen Studien mit insgesamt über
450.000 Teilnehmern zwar ein erhöhtes
Sterblichkeitsrisiko für Adipositas und
ebenso auch für Untergewicht. In der
Gruppe mit leichtem Übergewicht
(BMI 25 - 29,9) ergab sich jedoch im
Gegenteil sogar ein leicht reduziertes
Sterblichkeitsrisiko (Flegal et al. 2005).
Trotz der fehlenden wissenschaftlichen
Belege für eine erhöhte vorzeitige Sterblichkeit von Personen mit geringem
Übergewicht setzte sich die DeutscheAdipositas-Gesellschaft in ihrer neuen
Leitlinie zur Adipositas-Therapie gleich-
health policy monitor
gesundheitsmonitor
wohl dafür ein, dass die Behandlung
bereits bei einem BMI von 25 beginnen
sollte (Reincke et al. 2006). Die Folgekrankheiten beleibter Menschen würden
immense Kosten verursachen, so wurde
argumentiert und weiterhin sogar bemängelt, dass die Adipositas in der deutschen
Sozialgesetzgebung bislang noch nicht
als Krankheit anerkannt ist. Dies führe
immer wieder zum Streit zwischen
Patienten und Krankenkassen um die
Kostenerstattung bei notwendigen Therapie-Maßnahmen. Undiskutiert bleibt dort
allerdings, welche Kosten eine bevölkerungsweite Umsetzung der neuen
Leitlinien zur Adipositas-Therapie in
Deutschland im Vergleich dazu verursachen würden. Denn bei strikter Anwendung der Leitlinie würden medizinische
Behandlungskosten etwa für die Hälfte
aller deutschen Frauen und für etwa zwei
Drittel der deutschen Männer entstehen.
4
Übergewicht und Adipositas in Deutschland 2002 bis 2006
Frühjahr
70
Herbst
60
50
Frauen BMI ≥ 25
Männer BMI ≥ 25
Frauen BMI ≥ 30
Männer BMI ≥ 30
Frauen BMI ≥ 35
Männer BMI ≥ 35
40
30
20
10
0
2002
2003
2004
2005
2006
2002
2003
2004
2005
2006
Angaben in Prozent
Internationaler Vergleich zur Adipositas
in den OECD-Staaten: Deutsche sind
nicht die dicksten Europäer
Aufgrund der geschilderten Problematik
der IASO-Daten für internationale Vergleiche soll im Folgenden eine andere,
verlässlichere Datenquelle herangezogen
werden, um zu ermitteln, wie Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen hinsichtlich der Übergewichtsproblematik einzustufen ist. Basierend
auf den aktuellen Daten des „Weltgesundheitsberichts der WHO 2007“ (WHO
2007) werden in Abbildung 1 die Prävalenzen für die Adipositas (BMI ≥ 30) für
24 der 30 OECD-Länder dargestellt. Berücksichtigt wird in allen Ländern die
Altersgruppe der über 15-Jährigen. Allerdings handelt es sich nicht um alterstandardisierte Werte, also die unterschiedliche Altersstruktur der Länder wurde
statistisch nicht angeglichen und vergleichbar gemacht. Es wird jedoch zwischen Befragungsdaten und tatsächlichen
Messdaten unterschieden.
Daten des Gesundheitsmonitors
Abbildung 2
Wie aus Abbildung 1 zu erkennen ist,
ergibt sich für Länder mit Messdaten im
Mittel eine deutlich höhere AdipositasHäufigkeit als für Länder mit Befragungsdaten. Die USA weisen insgesamt
mit Abstand die höchste Rate auf (Männer 31,1 Prozent, Frauen 33,2 Prozent).
Die beiden folgenden Ränge nehmen
Griechenland und Neuseeland ein.
Deutschland befindet sich unter den
Ländern mit Befragungsdaten im Mittelfeld (Männer Rang 5, Frauen Rang 6).
Es kann also keinesfalls davon gesprochen werden, dass Deutschland im Hinblick auf die Adipositas im internationalen Vergleich eine exponierte Stellung
einnimmt.
Auffällig ist weiterhin, dass in allen
Ländern mit Messdaten die Adipositas-
Werte der Frauen höher sind als die der
Männer. In den Ländern mit Befragungsdaten sind die geschlechtsspezifischen
Unterschiede weitaus geringer ausgeprägt als in den Ländern mit Messdaten.
Insgesamt am größten sind die geschlechtsspezifischen Differenzen in
der Türkei (Frauen 29,9 Prozent, Männer
18,6 Prozent) und in Mexiko (Frauen
28,1 Prozent, Männer 18,6 Prozent).
Übergewicht und Adipositas in
Deutschland 2002 bis 2006: Zahl der
Übergewichtigen ist weiter gestiegen
Im Folgenden sollen neuere Befragungsdaten zur Verbreitung von Übergewicht
und Adipositas in Deutschland vorgestellt
werden. Die Daten entstammen den Befragungswellen 2 bis 11 des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann-Stiftung aus
5
Veränderungen einzelner Kennwerte für das Körpergewicht 2002/2003 bis 2005/2006
31,8
1,5
BMI ≥ 35
21,5
0,7
22,3
3,7
BMI ≥ 30
17,1
2,8
7,6
3,5
BMI ≥ 25
3,7
2,2
2,0
0,5
BMI Mittelwert
1,3
0,4
2,0
1,4
Gewicht (kg)
Mittelwert
2,0
1,7
0
Frauen relative Differenz
in den Jahren 2002 bis 2006 dargestellt.
Auf Grund der jahreszeitlichen Schwankungen des Körpergewichts zwischen
Frühjahr und Herbst, mit in der Regel höheren Werten für das Frühjahr („Winterspeck“), erfolgt die grafische Darstellung
dabei getrennt für die beiden Zeiträume.
5
10
Frauen absolute Differenz
15
Männer relative Differenz
20
25
30
Männer absolute Differenz
Die absoluten Differenzen besagen: Um so und so viel Prozentpunkte (bzw. Kilogramm, BMI-Punkte) hat sich der Wert zwischen 2002/03 und 2005/06
verändert. Die relativen Differenzen gehen von den Werten 2002/03 als Basis aus und beziffern die Veränderung (in diesem Fall durchgängig die Steigerung)
der Werte in Prozent.
Daten des Gesundheitsmonitors
Abbildung 3
den Jahren 2002 bis 2006 und stellen
jeweils unabhängige und für die Bevölkerung in Deutschland im Alter von 18-79
Jahren repräsentative Stichproben dar.
Pro Jahr wurde jeweils eine schriftliche
Befragung im Frühjahr und eine im
Herbst von TNS Healthcare (München)
mit jeweils etwa 1.500 Personen durchgeführt. Die Beteiligungsraten lagen bei
etwa 70 Prozent. Nähere Details zur
Stichprobenziehung, zur Erhebungsmethodik und zu Qualitätsaspekten der
Befragung sind an anderer Stelle beschrieben (Güther 2006).
Es ist erkennbar, dass zwischen 2002
und 2005 für die drei gewählten Gewichtsklassen bei beiden Geschlechtern
ein deutlicher Anstieg der AdipositasQuoten und ein leichter Anstieg der
Übergewichts-Quoten (BMI ≥ 25) zu verzeichnen ist. Für das Jahr 2006 verringerten sich die verschiedenen Werte dagegen zumeist wieder etwas im Vergleich
zum Vorjahr. Eine schlüssige Erklärung
für diesen gegenläufigen Befund für das
Jahr 2006 ließ sich nicht finden. Erste Ergebnisse des Gesundheitsmonitors aus
dem Frühjahr 2007 deuten jedoch nicht
darauf hin, dass sich die Prävalenz von
Übergewicht und Adipositas in Deutschland verringert.
Ber tels m a n n St if t u n g
Das relative Körpergewicht, basierend
auf den Selbstangaben der Befragten,
wird in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der WHO mittels des BMI in
folgende vier Gewichtsklassen eingeteilt:
kein Übergewicht (BMI < 25), leichtes
Übergewicht (BMI 25 – 29,9), moderate
Adipositas (BMI 30 – 34,9) und starke
Adipositas (BMI ≥ 35).
In Abbildung 2 wird die geschlechtsspezifische Häufigkeit für das Übergewicht inklusive Adipositas (BMI ≥ 25),
sowie für die moderate Adipositas (BMI ≥
30) und die starke Adipositas (BMI ≥ 35)
Um genauer zu quantifizieren, in welchem Maße die Kennwerte für das Körpergewicht im Beobachtungszeitraum
angestiegen sind, wurden die Daten der
Befragungswellen aus den Jahren 2002
und 2003 sowie 2005 und 2006 zusammengefasst (siehe Abbildung 3).
Es zeigt sich bei beiden Geschlechtern
durchgängig ein Anstieg für alle fünf
Indikatoren. Der Mittelwert des Körpergewichts hat sich im Zeitraum von 2002/
2003 bis 2005/2006 bei den Männern
um 1,7 kg erhöht. Der entsprechende
Anstieg bei den Frauen beträgt 1,4 kg.
Dieser Anstieg des mittleren Körpergewichts im Beobachtungszeitraum führt
zu einem mittleren Anstieg des BMI von
0,4 bei den Männern und 0,5 bei den
Frauen. Dieser scheinbar nur relativ
geringfügige Anstieg des BMI hat allerdings beträchtliche Auswirkungen auf
health policy monitor
gesundheitsmonitor
6
Kennwerte für Körpergewicht, Übergewicht und Adipositas nach Sozialschicht
(zusammengefasst für die Jahre 2002 bis 2006)
148,6
5,5
BMI ≥ 35
63,3
1,9
97,0
13,1
BMI ≥ 30
schichten, definiert über das Bildungsniveau, Einkommen und die Stellung im
Beruf, weisen in höherem Umfang Risikofaktoren und Erkrankungsraten auf.
Damit stellt sich die Frage, ob dieser Zusammenhang auch für die oben vorgestellten neueren Daten zur Verbreitung
von Übergewicht und Adipositas in
Deutschland gilt.
57,0
9,0
45,4
17,7
BMI ≥ 25
4,1
2,6
9,2
2,3
BMI Mittelwert
2,7
0,7
6,5
4,5
Gewicht (kg)
Mittelwert
0,5
0,4
0
20
40
60
80
100
Frauen relative Differenz Oberschicht-Unterschicht
Frauen absolute Differenz Oberschicht-Unterschicht
Männer relative Differenz Oberschicht-Unterschicht
Männer absolute Differenz Oberschicht-Unterschicht
120
140
Daten des Gesundheitsmonitors
Abbildung 4
die zeitliche Veränderung insbesondere
für die Adipositas. So findet sich bei den
Männern für die Adipositas insgesamt
(BMI ≥ 30) ein relativer Anstieg um 17,1
Prozent und bei der starken Adipositas
(BMI ≥ 35) ein relativer Anstieg um 21,5
Prozent. Die entsprechenden Werte bei
den Frauen fallen mit 22,3 Prozent und
31,8 Prozent sogar noch höher aus.
Insgesamt belegen diese Ergebnisse eindeutig, dass in dem relativ kurzen Beobachtungszeitraum von 2002/2003 bis
2005/2006 bei Männern und Frauen im
Alter von 18 bis 79 Jahren die Prävalenz
Ber tels m a n n St if t u n g
der moderaten und starken Adipositas
in Deutschland weiter angestiegen sind.
Damit setzt sich der seit 1984 nachgewiesene Trend in Deutschland weiter fort.
Übergewicht: Volkskrankheit oder
Problem unterer Sozialschichten?
In vielen deutschen wie internationalen
Studien zur Verbreitung von chronischen
Erkrankungen oder auch Aspekten gesundheitlichen Risikoverhaltens (wie z. B.
Rauchen, ungesunde Ernährung) ist
deutlich geworden, dass nach wie vor
Effekte sozialer Ungleichheit zu beobachten sind: Angehörige unterer Sozial-
Dazu sind in Abbildung 4 die fünf Gewichts-Indikatoren nach Sozialschichtzugehörigkeit aufgeführt. Es zeigt sich,
dass bei Männern wie Frauen in unteren
Sozialschichten höhere Werte für das
Körpergewicht und den Body-Mass-Index
beobachtbar sind als in oberen Sozialschichten. Das Ausmaß dieses Effekts ist
dabei bei Frauen deutlich größer als bei
Männern. So ist der mittlere BMI bei
Frauen aus der Unterschicht um 2,3
Punkte (9,2 Prozent) höher als bei Frauen aus der Oberschicht, bei Männern dagegen nur um 0,7 Punkte (2,7 Prozent)
höher. Dies gilt auch für die Verbreitung
von Adipositas: Die Prävalenz der Adipositas insgesamt (BMI ≥ 30) ist bei Frauen
aus der Unterschicht nahezu doppelt so
hoch wie in der Oberschicht. Bei Männern aus der Unterschicht ist sie um etwa die Hälfte höher als bei Männern aus
der Oberschicht. Ähnliches gilt für die
starke Adipositas (BMI ≥ 35). Ein besonders besorgniserregender Befund ist
dabei, dass bei Unterschichtangehörigen
für etwa jede vierte Frau ein BMI ≥ 30
und für fast jede zehnte Frau ein
BMI ≥ 35 festgestellt wurde.
Betroffen von Übergewicht und Adipositas sind somit überdurchschnittlich oft
sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, so dass es bei gesundheitspolitischen Maßnahmen darauf ankäme,
Prävention stärker auf diese Gruppen
auszurichten. Es scheint fraglich, ob der
von der Bundesregierung im Mai 2007
verabschiedete nationale Aktionsplan
7
große Wirkung entfalten kann: Informationskampagnen sind mittelschicht-orientiert, und überdies hat sich die Effizienz
von Kampagnen zur Prävention von
Übergewicht und Adipositas, die auf Informationsvermittlung setzen und nicht
zugespitzt sind auf konkrete Zielgruppen, als überaus gering erwiesen.
Der starke Einfluss der Schichtzugehörigkeit ist erneut ein unmissverständlicher
Hinweis, dass die komplexen sozialen
und kulturellen Hintergründe für die
Verbreitung von Übergewicht und Adipositas meist viel zu wenig berücksichtigt
werden. Schon im Jahr 1990 hatten
Niehoff und Wolters (1990) Überlegungen zu präventionstheoretischen Problemen im Bereich Ernährung und Übergewicht angestellt. Wünschenswert wäre
auch, dass man in Deutschland die intensive, aber auch sehr kontrovers geführte
wissenschaftliche Debatte über die
Adipositas-Problematik in den USA stärker berücksichtigt (Schlesinger 2005).
Denn sicherlich macht es sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE)
zu einfach, wenn sie am 5. Juni 2007
anlässlich der überbordenden öffentlichen Debatte zum Übergewicht lapidar
feststellt: „Ursachen für Übergewicht und
Fettsucht sind hinreichend bekannt“
(DGE 2007). Diese Feststellung mag
ernährungsphysiologisch zwar korrekt
sein. Die für eine wirksame Prävention
weitaus bedeutsameren, aber zugleich
auch sehr viel weniger erforschten sozialen und kulturellen Hintergründe einer
„ungesunden Ernährung“ werden jedoch
ausgeblendet.
Literatur
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Schneider, Sven, 2002: Lebensstil und
Mortalität. Welche Faktoren bedingen
ein langes Leben? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
WHO, 2007: World Health Report 2007.
Genf: World Health Organisation.
Hinweis: Leser, die an weiteren Details
interessiert sind, finden ausführliche
Befragungsergebnisse zu diesem Thema
in Tabellenform unter www.gesundheitsmonitor.de (Rubrik Downloads, Newsletter Sonderausgabe Adipositas).
health policy monitor
gesundheitsmonitor
8
Eine Bilanz der Interventionsstudien zum Übergewicht:
Mehr Bescheidenheit in der Zielsetzung wäre angeraten
Von Dr. Bernard Braun
Spätestens mit dem Eckpunktepapier
zweier Bundesministerien zur Prävention
von Fehlernährung, Bewegungsmangel,
Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten (39)* und der dazu
am 10. Mai 2007 geführten Bundestagsdebatte bekam auch in Deutschland die
Diskussion zu Übergewicht und Adipositas, damit verbundenen Gesundheitsrisiken und Präventionsmöglichkeiten einen
weiteren Schub. Nachdem für das Thema
„Rauchen“ mit den gesetzlichen Beschlüssen zum Rauchverbot in öffentlichen Räumen und Gaststätten eine
gewisse Sättigung der Aktionsneigungen
eingetreten war, scheint die Präventionsthematik nun einen gewichtigen Nachfolger zu haben. Die zahllosen Aktivitäten
und Kampagnen von Krankenkassen,
Kommunen, Landesregierungen,
Patientenverbänden aber auch Fernsehsendern erwecken den Eindruck, dass
nunmehr ein breites Bündnis von Interessenvertretern alles in die Wege geleitet
hat, um der neuen „Epidemie“ Übergewicht alsbald Herr zu werden.
Damit steht ein Veränderungsvorhaben
auf der Tagesordnung, das aufgrund der
Verbreitung von Übergewicht in der Bevölkerung von erheblicher Bedeutung ist.
Zugleich scheint es so, dass zumindest
die im individuellen Verhalten anzusiedelnden Verursachungsmechanismen
(falsche Ernährung und Bewegungsmangel) klar identifiziert und somit auch
einer Veränderung zugänglich sind.
Daher scheinen die im Eckpunktepapier
genannten Ziele ebenso folgerichtig wie
umsetzungsrelevant: „Zentrales Ziel ist
* Siehe hierzu auch den Hinweis auf S. 12
es, bis 2020: - das Ernährungs- und
Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern, – die Zunahme von Übergewicht
bei Kindern zu stoppen und – die Verbreitung von Übergewicht zu verringern.“ (39, S. 5)
Die Vielzahl und Vielfalt der Träger und
der unterschiedlichen Maßnahmen zur
Übergewichts-Prävention hat durchaus
Entwarnungscharakter: Ein so breites
Bündnis von Initiatoren und eine solch
breite Palette angekündigter Umsetzungswege, von Schulsport und Lebensmittel-Kennzeichnung über Forschungsinitiativen und die Gestaltung bewegungsfreundlicher Lebensräume bis hin
zu Bildungs- und Informationsmaßnahmen wird es schon richten.
Es gibt indes vielfältige Hinweise, die
zeigen, dass Präventionsmaßnahmen
zwischen der Formulierung von Zielvorstellungen und der Zielerreichung zahlreiche Hürden und Stolpersteine zu überwinden haben. Besucherstrukturen von
Gesundheitsförderungskursen der Krankenkassen dokumentieren dies ebenso
wie Pressemitteilungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
über oftmals nur zögerliche oder mit der
Zeit verblassende Erfolge ihrer Aufklärungskampagnen.
Leitfragen
Die Übergewichtsproblematik wurde nun
allerdings nicht erst am 10. Mai 2007 im
Deutschen Bundestag als Problem erkannt, sondern dazu gibt es umfangreiche nationale und internationale, politische wie wissenschaftliche Vorerfahrungen. Aus diesem Grunde möchten wir im
vorliegenden Beitrag auf zwei Fragen
näher eingehen:
■ Welche wissenschaftlich gesicherten
Belege (welche „Evidenz“) gibt es, dass
die derzeit initiierten Präventionskonzepte tatsächlich auch in nennenswertem Umfang jene Bevölkerungsgruppen erreichen und zur Teilnahme
bewegen, die als Zielgruppe definiert
sind, also am häufigsten von Übergewicht und Adipositas und damit
verbundenen potentiellen Erkrankungsrisiken betroffen sind?
■ Und sofern diese Eingangsvoraussetzung einer Teilnahme größerer Bevölkerungskreise erfüllt sein sollte, stellt
sich die zweite Frage: Welche Belege
gibt es für die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Interventionen und der
damit beabsichtigten Verhaltens- und
Verhältnisänderungen?
Zur Beantwortung dieser Fragen haben
wir jene Antworten zusammengestellt,
die von systematischen wissenschaftlichen Studien und Evaluationen geliefert
werden. Als Maßstab der Relevanz solcher Antworten dient uns ihr „Evidenzgrad“, also ihre inhaltliche Aussagekraft
9
und methodische Fundierung, die
wissenschaftlichen Kriterien tatsächlich
Stand halten kann. Wir stützen uns dabei
vorrangig auf Antworten aus randomisierten und kontrollierten Untersuchungen („RCTs“) und Reviews, im Idealfall
also solchen Studien, die bei quantitativ
großen Teilnehmer-Stichproben mit Kontrollgruppen und einer zufälligen Zuweisung der Teilnehmer zur Untersuchungsbzw. Kontrollgruppe gearbeitet haben.
Damit sollen systematische Verzerrungen
der Ergebnisse bzw. zufällige Ergebnisse
mit ungewisser Verallgemeinerbarkeit
ausgeschlossen werden. Als Material dienen vor allem so genannte „CochraneReviews“ (benannt nach der „Cochrane
Collaboration“, bekannt wegen ihres sehr
hohen methodischen Anspruchs) sowie
andere Berichte, die diesen methodischen Standards verpflichtet sind.
Dieser strenge Maßstab hat neben den
genannten Vorteilen allerdings auch einige Schwachstellen: Wie im Folgenden
deutlich wird, liefern RCTs bisweilen
durchaus auch inkonsistente oder sogar
widersprüchliche Ergebnisse. Auch sind
diese Studien nicht völlig frei von methodischen Defiziten: Schließlich sind die
Teilnehmer an RCTs mehrfachen Filterungsprozessen im Rahmen der Rekrutierung unterworfen und überdies zumeist stark motiviert, was die Studienöinhalte anbetrifft – ein Merkmal, das
für flächendeckend eingesetzte Präventionskampagnen und Interventionen (wie
z. B. „Täglich 3.000 Schritte extra“) kaum
unterstellt werden kann.
Der Kern der verfügbaren Erkenntnisse
auf diesem Qualitätsniveau befindet sich
in der Cochrane Library. Über das Stichwort „obesity“ wurden dort im Juli 2007
32 Cochrane Reviews, 69 andere Reviews, 4.527 clinical trials, 16 method
studies, 80 technology assessments und
172 economic evaluations gefunden.
Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft von Übergewichtigen
Zu den gesicherten Erkenntnissen über
die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft von Personen für Anti-Übergewichtsprogramme und deren Wirksamkeit gehören vor allem folgende Studienergebnisse. Es gibt eine durch internationale (38) und nationale (11) Untersuchungen belegte hohe Evidenz, dass
nur ein verschwindend kleiner Teil jener
Personengruppen, die aufgrund ihres
BMI oder anderer Indikatoren zur Zielgruppe von ÜbergewichtsreduktionsProgrammen gehören, auch zur Teilnahme an einem Programm (ganz gleich
welcher Thematik), mobilisiert werden
kann.
Dies beruht auf einer doppelten und deshalb hochgradig wirksamen Barriere, die
aus Passivität und Desinteresse einerseits besteht und einer offensiv dargelegten Überzeugung und Teilnahmeverweigerung andererseits. „Mitmach-Appelle“
versagen vor dieser „verschlossenen und
verschlüsselten“ Grundhaltung ebenso
wie argumentationsgestützte Strategien,
die auf die vermeintliche Überzeugungs-
kraft von „stichhaltigen“ Informationen
und wissenschaftlichen Befunden verweisen.
Wirksamkeit von Interventionen
Etwa die Hälfte und bis zu zwei Drittel
der in verschiedenen Ländern in Reviews
bewerteten Studien zur Wirksamkeit
unterschiedlichster Interventionsformen
(z. B. Individual- oder Settingansätze in
Gemeinde, Schule oder Familie; Einzelmaßnahmen oder Maßnahmenbündel),
deren Ziel die Reduktion von Übergewicht war, können keinen messbaren
oder keinen statistisch signifikanten
Effekt auf das Übergewicht (33) (36) (42)
oder andere Faktoren wie beispielsweise
die Lebensqualität (25) nachweisen.
Die Basis der Reviews umfasst dabei
Hunderte wissenschaftlicher Studien. Bei
jenen Studien, die entgegen dieser generellen Tendenz gleichwohl einen Erfolg
aufzeigen können, zeigt sich: Es sind
„kleine“, „minimale“, „bescheidene“,
„sehr limitierte“ oder „statistisch nicht
signifikante“ Effekte (5) (6) (9) (14) (28)
(29) (41) (42). Einige der in meist älteren
(z. B. 1969 bis 1994) Reviews berichteten
positiven Effekte müssen wegen der
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Herkunft aus Beobachtungsstudien oder
anderen methodischen Schwächen in jeder Hinsicht mit großer Vorsicht bewertet
werden (26) (27) (28).
Erwähnenswert bleibt folgender Befund
zu Diäten, auch wenn er schon in vielen
Veröffentlichungen bekannt gemacht
wurde: Die Effekte monofaktorieller Diäten wie etwa der Anti-Fett- oder Kohlenhydratdiäten (22), sind meist schon zu
Beginn relativ gering, verschwinden aber
nach längerer Zeit fast vollständig (35).
Selbst die in einer im Frühjahr 2007
veröffentlichten Studie (34) konstatierten
Erfolge der sog. „Atkins-Diät“ sind in
einer jüngeren Untersuchung von 31
Langfriststudien über diätetische Gewichtsabnahme erheblich eingeschränkt
worden (35). Bei derartigen Diäten häufen sich außerdem Hinweise auf langfristige Folgeschäden im Herz-Kreislaufsystem (35). „Mode-Diäten“ wie beispielsweise die Fettreduktions-Diät sind zum
Erreichen langfristiger Reduktionsziele
(12 und 18 Monate) nicht signifikant
wirksamer als andere wie vor allem die
Kalorienreduktions-Diäten (4). Die Wirksamkeit von kommerziellen oder „modernen“ Abnehmprogrammen erwies sich in
Untersuchungen der internet-basierten
kommerziellen Angebote in den USA als
„suboptimal“ bzw. „insufficient“ (3).
Die Bewertung als suboptimal trifft insgesamt auch für andere Selbsthilfe- oder
medizinbegleitete Programme zu. Diese
könnten aber für Personen mit einem
BMI von 30 und größer doch noch angemessen sein (3).
Zahlreiche Reviews von Studien warnen
wegen verschiedener methodischer Mängel oder aufgrund der Intransparenz von
Studiendesigns vor zu eindeutig positiven Interpretationen und Schlussfolgerungen (5) (6) (23) (30) (41). Bei der
Frage nach dem richtigen Vorgehen und
dabei insbesondere der Frage, ob einzel-
10
ne Maßnahmen (z. B. Ratschläge, Schulung, körperliche Aktivitäten (29), Diät)
weniger Wirkungen erzielen als gebündelte oder Mehrfach-Maßnahmen, gibt es
paradoxerweise in gleich hochwertigen
Untersuchungen Belege für beide Interventions-Designs, wobei sich meist die
jeweils andere Variante als wirkungslos(er) erwiesen hat (10) 19) (32). Ob es
sich dabei um methodische Artefakte
handelt, ist weder berichtet noch den
Ergebnissen anzusehen.
Die Nichtwirkung von an sich schon
komplexen Interventionen wie etwa den
dominant kognitiv orientierten schulbasierten Maßnahmen gegen das Übergewicht von Kindern und Jugendlichen
wird häufig mit dem Fehlen begleitender
Aktivitäten im häuslichen oder kommunalen Umfeld und in der Freizeit der
Kinder und Jugendlichen erklärt (36).
Die Erwartung, dass gemeindeorientierte
Präventionsprogramme Einfluss auf alle
möglichen Risikofaktoren von Herz-Kreislauferkrankungen und darunter auch den
Risikofaktor Übergewicht haben, erwies
sich aber in der großen deutschen „HerzKreislauf-Präventionsstudie (DHP)“ einzig für das Übergewicht als falsch. Die
Prävalenz des Übergewichts nahm sogar
zu (43) (44) (45).
Methodische Mängel in den
Studiendesigns
Die meisten Studien haben eine überaus
mager anmutende Definition von „Wirkung“: Sie verzichten von vornherein darauf, mögliche Wirkungen ihrer übergewichtsbezogenen Interventionen auf harte Endpunkte der Morbidität und Mortalität zu erheben (6) (16) (14) (18), sondern beobachten lediglich die Veränderung von Risikofaktoren oder Indikatoren
wie Übergewicht, Blutfettwerte, Bluthochdruck. Dies geschieht zumeist, um einer
oft geäußerten Kritik an kurzen Interventionslaufzeiten aus dem Wege zu gehen.
Für viele dieser Faktoren ist aber keineswegs wissenschaftlich gesichert, ob sie
zwingend zu bestimmten Erkrankungen
führen und in welchem Maße dies der
Fall ist.
Die Befunde über das positiv auf die
Sterblichkeit wirkende „leichte Übergewicht“ (40) deuten sogar eine unter Umständen risikosenkende Wirkung für Personen in diesem Übergewichtsbereich an.
Für manche mit Plausibilitäts-Annahmen
aufgestellten oder aus der Physiologie hergeleiteten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken des Übergewichts wie beispielsweise
den Schlaganfall (15) gibt es bei genauer
Überprüfung entweder keine wissenschaftliche Belege oder keine starke wissenschaftliche Evidenz (46). Die wenigen
Studien mit langjähriger Beobachtungsdauer, wie beispielsweise die „WhitehallStudy“ (46) zeigen teilweise keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
oder zeigen deren Abhängigkeit von der
gesundheitlichen Verfassung der Patienten zum Studienbeginn.
In einigen Studien zeigen sich auch
Schwächen durch die ausschließliche
Konzentration auf den Indikator „Übergewicht“. So können sich z. B. durch Aktivitäten, mit denen Übergewicht reduziert
werden soll, andere Risikofaktoren oder
auch die wahrgenommene Lebensqualität
verändern, ohne dass es einen Gewichtsverlust gibt (u. a. durch den Umbau von
Fett- und Muskelmasse) (16) (24). Auch
wenn sich bei Präventionsprogrammen
gegen Gewichtszunahme keine Veränderung des Gewichts zeigt, gibt es oft noch
positive Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten und der körperlichen Aktivität (10).
Die „Zuflucht“ zu klassischen medizinischen Methoden in der ÜbergewichtsTherapie und dabei insbesondere auch
11
zu chirurgischen Interventionen, besitzt
keinerlei „automatische“ Evidenz: So führen zwar verschiedene chirurgische Eingriffe bei krankhaftem Übergewicht auch
langfristig zu einem größeren Gewichtsverlust als nicht-chirurgische Maßnahmen. Unklar sind aber die Sicherheit und
Nebenwirkungen einiger Eingriffe und
welche Methode die wirksamste ist (8).
Für die bei „Super-Übergewichtigen mit
hohem Risiko“ als letztmögliche Intervention nach dem Versagen aller anderer
Programme angesehene Methode der
Implantation eines so genannten „Magenballons“ erbrachte das Review von 19
RCTs mit 395 Patienten keine „überzeugende Evidenz“ für den dadurch gegenüber anderen Methoden erreichten
Gewichtsverlust (7).
riert. Dies ist insofern problematisch,
weil Wirkungsstudien zeigen, dass die
tatsächlichen sozialen Rahmenbedingungen die angestrebten Effekte einfacherer
Interventionen verhindern oder behindern (36) (37) oder die meisten anfänglich beobachteten Effekte nach Ende der
Intervention in kürzester Zeit wieder
Bessere Wirkung bei komplexen und
zielgerichteten Interventionen
Über Verbesserungsmöglichkeiten im
Hinblick auf Organisation und Management der Versorgung übergewichtiger
Personen – z. B. durch Erinnerungshilfen
für Teilnehmer, Kurztrainings, Koordination ambulanter mit stationären Einrichtungen – gibt es bisher wenig Untersuchungen. Diese zeigen aber durchaus
Effekte, die reinen Aufklärungs- und
Verhaltensansätzen überlegen sind (17).
Viele Studien, die keine oder keine nachhaltige Wirkungen aufzeigen konnten,
weisen in der Diskussion ihrer Befunde
auf die „leider“ unberücksichtigt gebliebene soziale Komplexität von Elternhaus,
Freizeit und Gesellschaft hin. Insbesondere bei Kinder und Jugendlichen müssten
Studien in ihrem Design die Vielfalt der
unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen und Personen (Schule, Eltern, PeerGroups) mitberücksichtigen. Trotz der
Häufung solcher Hinweise wird diese
Komplexität von Einflussfaktoren jedoch
in den meisten Programmen und Interventionen theoretisch wie praktisch igno-
versiegen. Wenn die soziale Komplexität
in Programmen mitberücksichtigt wird,
ist dieses Untersuchungsvorgehen zwar
um ein Vielfaches (personell, zeitlich,
finanziell, organisatorisch) aufwändiger,
zeigt aber zumindest in der Interventionszeit positive Effekte (32).
Eine Meta-Analyse von 49 veröffentlichten Interventionsstudien, die mit unterschiedlichsten Konzepten und Anreizen
zur Förderung körperlicher Bewegung
arbeiteten, konnte nicht feststellen, dass
eine bestimmte Methode oder Vorgehensweise besonders erfolgreich war und
ebenso blieb offen, ob bestimmte Multiplikatoren oder Veranstalter (Ärzte, Sportlehrer usw.) effektiver sind als andere
(47). Zwei allgemeine Aspekte des Vorgehens erwiesen sich jedoch relativ durchgängig als wichtig, um Teilnehmer zu
mehr Bewegung zu animieren: Gezielte
Teilnehmer-Auswahl und konzeptionelle
Orientierung an der Zielgruppe. Der erste
Aspekt bedeutet, dass meist solche Studien erfolgreicher waren, die eine klare
Zielgruppe angesprochen hatten und sich
nicht diffus an die Bevölkerung wendeten. Der zweite Aspekt bedeutet, dass
man sich bei den Informationsmaterialien, den organisatorischen Rahmenbedingungen usw. sehr genau auf die Voraussetzungen und Motive der jeweiligen
Adressaten einlässt und das Interventions-Programm auf sie zuschneidet.
Wer mit Interventionen nachhaltige
Wirkungen erzielen will, steht vor dem
Problem, dass die meisten Untersuchungen nur selten über 12 oder 24 Monate
hinaus durchgeführt werden, oftmals
auch nur einen Zeitraum von wenigen
Monaten umfassen (10) (36). Schon deshalb gibt es meist keine wissenschaftliche Evidenz für eine langfristige Wirksamkeit der meisten Interventionen.
Selbst in der Laufzeit von Programmen,
die sehr massive und umfassende Interventionen beinhalten, gibt es Anzeichen
für schwindende Wirkungen im längeren
Zeitverlauf (32). Und leider gibt es sogar
eine Reihe wissenschaftlicher Belege für
deutliche Rückfall-Effekte bei größeren
Teilnehmergruppen an verschiedenen
Übergewichts-Reduktionsprogrammen –
ein Indiz für bislang weithin fehlende
nachhaltige Wirkungen (20) (21) (23)
(41) selbst aufwändiger Programme.
Studienteilnehmer und Aussteiger
Ein Problem ist darüber hinaus erkennbar in der Teilnehmerzahl und Aussteigerquote. Die meisten nachweisbar wirksamen Interventionsprogramme hatten entweder von Beginn an sehr wenige Teilnehmer (damit möglicherweise auch eine
nicht mehr komplett nach dem Zufallsprinzip konstruierte Untersuchungsgruppe) (9) (24) (28) (30) (31) (36), führ-
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gesundheitsmonitor
12
Arbeits-, Bildungs- und Lebensbedingungen, die dieses Verhalten mit
beeinflussen.
ten zu einer spürbaren Aussteigerquote
oder erforderten einen so enormen Aufwand und ein so starkes Engagement
zahlreicher Betroffener und Akteure,
dass die Verallgemeinerbarkeit für die
gesamte Risikogruppe in der Bevölkerung zweifelhaft ist (9) (14) (30) (32).
Nicht selten wird in Studien und MetaStudien nur wenig über die Heterogenität
der Untersuchungs- oder Interventionsgruppen gesagt, also die Vergleichbarkeit
der Teilnehmer im Hinblick auf Gesundheitszustand, Motivation, sozialstatistische Voraussetzungen usw. Dies erschwert die Bewertung der gefundenen
Ergebnisse ganz erheblich. Ähnliches gilt
für die fehlende Dokumentation von Abbrecherraten in Programmen, die nach
den veröffentlichten Werten oftmals bei
20 bis 30 Prozent liegen kann. Bei einem
Review von über 17 RCTs mit 1.291 Teilnehmern (1), der zumindest für einige
Interventionen respektable absolute
Gewichtsabnahmen zeigte, hielten die
Reviewer des „Centre for Reviews and
Dissemination“ die Ergebnisse und positiven Schlussfolgerungen des Autors
wegen der erkennbar unterschiedlichen
BMI-Werte zu Studienbeginn für möglicherweise unzuverlässig („not be reliable“).
Fazit
Wie bereits dargelegt, stammen die meisten der hier zusammengestellten Erkenntnisse aus randomisierten und kontrollierten Studien und Reviews derartiger
Studien und Interventionsprogramme mit
ohnehin schon motivierteren und optimal
betreuten Teilnehmergruppen. Dies bedeutet, dass ihre Ergebnisse fast durchweg besser sind als in nicht-randomisierten, quasi-experimentellen (z. B. Gemeindestudien), unkontrollierten und „frei angebotenen“ Übergewichtsprogrammen,
die unter Alltagsbedingungen realisierbar
sind. Wenn aber schon bis zu zwei Drittel
dieser Interventionen keine messbaren
Effekte erzielen und bei weiteren auch
unter „Labor“-Bedingungen durchgeführten Programmen die zahlreichen genannten Einschränkungen der Wirksamkeit
gelten, muss der Anteil nichtwirksamer
Interventionen in Alltagsprojekten noch
wesentlich höher liegen.
Will man eine auch perspektivisch
orientierte kurze Bilanz über unterschiedliche Erfolgschancen von Präventionsmaßnahmen ziehen, dann erscheinen diese als am ehesten erfolgversprechend,
wenn sie:
■ sich um eine Einbettung in die soziale
Realität der Untersuchungsteilnehmer
bemühen unter Einbeziehung der alltäglichen Lebensräume (Arbeit, Schule,
Familie, Peer-Groups),
■ nicht an anonyme, wenig überschaubare Bevölkerungskreise appellieren,
sondern eine gezielte Teilnehmer-Auswahl treffen und dabei eine klare
konzeptionelle Orientierung auf die
spezielle Zielgruppe entwickeln,
■ nicht nur (wie schon so oft im Kontext
Prävention) die Umsteuerung individueller Verhaltensstile anpeilen, sondern in zumindest demselben Umfang
die Veränderung jener konkreten
Allgemeinere Schlussfolgerungen für
geplante oder schon eingeleitete Präventionsmaßnahmen, die sich aus der skizzierten Literaturübersicht ergeben, sind
darüber hinaus folgende:
■ Die Akzeptanz einer mit den bislang
entwickelten Konzepten nur begrenzt
zu erwartenden Reichweite und Effektivität von Präventionsmaßnahmen und
die Kommunikation dieser Sachlage
bei der Planung, Ankündigung und
Durchführung von Anti-Übergewichtsinterventionen
■ Die Vermeidung von falschen Erwartungen und Hoffnungen bei Veranstaltern und Teilnehmern und in der
Öffentlichkeit sowie die Anerkennung
eines hohen Aufwands für wirksame
und insbesondere nachhaltig wirksame
Interventionen
■ Die ergebnisoffene Realisierung weiterer methodisch hochwertiger Studien
zu durchgeführten Programmen mit
einer langfristigen Evaluation über
den Studienabschluss hinaus
■ Eine gründlicher als bislang durchgeführte Reflexion und Diskussion
über den individuellen und gesellschaftlichen Stellenwert von Gewicht
und Übergewicht und über die teilweise auch von Partialinteressen
geleiteten Hintergründe ihrer gesellschaftlichen Thematisierung und
Bearbeitung.
Hinweis: Die zahlreichen Literaturquellen
in diesem Beitrag wurden aus Platzgründen mit Nummern versehen. Die
Literaturliste haben wir im Internet unter
www.gesundheitsmonitor.de (Rubrik
Downloads, Newsletter Sonderausgabe
Adipositas) bereit gestellt.
13
Internationale Erfahrungen
Von Dr. Bernard Braun
Wie bereits im vorangegangenen Artikel
deutlich wurde, ist schon die Zahl der
wissenschaftlichen Studien zur Intervention gegen Übergewicht und Adipositas
nur noch schwer überschaubar. Dies gilt
umso mehr für jene Programme und Aktivitäten, die sich aus unterschiedlichsten
Gründen (aber ohne den Anspruch einer
wissenschaftlichen Evaluation), dem
Kampf gegen Übergewicht und Adipositas verschrieben haben. Ein Überblick
über diese Programme und Einzelinitiativen in anderen Ländern kann an dieser
Stelle daher nicht viel mehr als illustrativen Charakter haben und soll primär
die „bunte Palette“ der Vorgehensweisen
skizzieren.
Konkrete Details zu den geplanten Maßnahmen werden im „Blueprint on Aboriginal Health“ nicht genannt, jedoch gibt
es Schwerpunktfelder. Dazu gehören eine
stärkere Berücksichtigung des GenderAspekts bei Forschungsaktivitäten und
politischen Vorhaben sowie der Aufbau
eines Informationsnetzwerks, um
„Models of Good Practice“ bekannt zu
machen. Die Maßnahmen sollen in einer
Vielzahl von Bereichen angesiedelt
werden: Bildung und Erziehung, Wohnungsbau, Nahrungsmittel-Sicherheit,
Gewalt gegen weibliche Ureinwohner,
Kinder und Senioren, Trinkwasserqualität und Belastungen durch UmweltSchadstoffe.
Kanada
USA
startete die Förderinitiative der Bundeseinrichtung „Centers for Disease Control
and Prevention (CDC)“, ein von der „NIH
Obesity Research Task Force“ des „National Institute of Health“ entwickelter strategischer Plan mit vielfältigen Präventions- und Behandlungsansätzen. Ziel ist
es, die Prävalenz von Adipositas bei Erwachsenen bis 2010 um 15 Prozent zu
senken. Zu nennen ist weiterhin das
„Calories Count“-Programm der „Food and
Drug Administration (FDA)“ von 2004, ein
im gleichen Jahr gestartetes Werbe- und
Erziehungsprogramm des „Department of
Health and Human Services (HHS)“ oder
die 2005 von führenden Mitgliedern der
„National Governors Association“ ins
Leben gerufenen Initiative „Healthy America“.
In Kanada konzentriert sich das 2005
vereinbarte 10-Jahres-Regierungsprogramm „The Blueprint on Aboriginal
Health“ unter anderem darauf, das
Adipositas-Risiko der drei Ureinwohnergruppen „first nations, Métis und Inuit“
zu verringern. Das Programm ist mit
einem Fünf-Jahres-Budget von 5 Milliarden kanadischen Dollar (etwa 3,5 Milliarden Euro) ausgestattet. Davon werden
knapp ein Drittel für Erziehung und
knapp ein Sechstel zur Stabilisierung
der traditionellen Gesundheitssysteme
der Inuit und first nations ausgegeben.
Der Anteil adipöser und an Diabetes
erkrankter Kinder soll innerhalb von
fünf Jahren um 20 Prozent und nach
zehn Jahren um 50 Prozent verringert
werden. Die Umsetzung des Programms
wurde zwischenzeitlich durch die im
Jahre 2006 gebildete neue Regierung
verzögert. Ergebnisse werden frühestens
im Jahr 2010 erwartet.
Die USA haben aufgrund des Problemdrucks früh mit systematischen Aktivitäten zur Prävention und Behandlung von
Übergewicht und Adipositas begonnen.
Es gibt etliche Beispiele für bundes- und
landesweite Programme. Im Jahr 2000
Am Beispiel der Entwicklung der letzten
Jahre im Bundesstaat Kalifornien kann
die bereits eingangs angedeutete Fülle
von Programmen in den USA etwas genauer illustriert werden. 2004 startete
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mit dem „California Childhood Obesity
Prevention Act“ im US-Bundesstaat Kalifornien der weltweit umfassendste Versuch, „ungesunde“ und das Übergewicht
fördernde Getränke aus Schulen zu verbannen („soda ban“-Programm) und
durch „gesunde“ Getränke wie Wasser,
Milch und ungesüßte Fruchtsaftgetränke
zu ersetzen. Das Programm beinhaltet
keine formale Evaluation seiner Wirkungen. Die dennoch durchgeführten Bewertungen der ökonomischen und gesundheitlichen Erfolge hatten keine eindeutigen Ergebnisse. So ist unklar, ob das
Programm auch außerhalb der Schule zu
einer Veränderung des Trinkverhaltens
führt.
Ebenfalls in Kalifornien existiert seit dem
Haushaltsjahr 2005/2006 eine mit jährlich 6 Millionen US-Dollar (etwa 4.4 Mio
Euro) ausgestattete „Anti-obesity initiative“ des Gouverneurs Schwarzenegger. Die
staatlichen Programme wurden und werden durch zahlreiche public-private-Initiativen begleitet oder durch private bzw. von
privaten Stiftungen getragene Aktivitäten
mehr oder weniger aufeinander abgestimmt. Dabei handelt es sich beispielsweise um das Projekt LEAN („Leaders Encouraging Activity and Nutrition“), einer
Gemeinschaftsinitiative von Ministerien,
Stiftungen, Forschungseinrichtungen und
Netzwerken oder um das Programm der
privaten Stiftung „California Endowment“
zur Unterstützung kommunaler Ernährungs- und Bewegungsinitiativen.Über die
Erfolge dieser Interventionen liegen
wiederum wenig belastbare oder verallgemeinerbare Daten vor. Teilweise ist eine
Evaluation offiziell nicht vorgesehen, teils
gehen die realistischen Selbsteinschätzungen der Programme von langfristig eher
bescheidenen Wirkungen aus.
Die von Gesundheitsforschern der Universität Berkeley explizit gezogene Parallele zum Anti-Tabakprogramm, das 18
14
Jahre brauchte, um durch eine vergleichbare Vielfalt von Initiativen und mit
massiver staatlicher Hilfe erste Erfolge
zu erzielen, ist ein Beispiel für solchen
Interventions-Realismus. Am Beispiel der
USA stellt sich allerdings auch die Frage,
ob eine solche Vielzahl und Vielfalt sinnvoll ist oder im Gegenteil durch auf die
Aufsplitterung von finanziellen Ressourcen und Forschungsaktivitäten nicht sogar kontraproduktiv ist.
Spanien
In Spanien wurde der sehr detaillierte
Plan „Nutrition, Physical Activity, and Obesity Prevention (NAOS)“ ins Leben gerufen, der sich an die Gesamtbevölkerung,
speziell aber auch an Kinder und Jugendliche richtet. Getragen werden sollen die
von vielen Institutionen gemeinsam geplanten Aktivitäten durch über 80 gesellschaftliche Organisationen, Universitäten,
Grundschulen, Berufsschulen, Wissenschaftler und Stiftungen. Dazu gehört
Polen
Eines der 19 Ziele im „National Health
Program 2006-2015“ ist es, die Ernährungsgewohnheiten zu verändern und
damit – sowie durch eine Verbesserung
der Lebensmittelqualität – die Anzahl der
übergewichtigen und adipösen Polen zu
verringern. Das Programm benennt keine
konkreten Maßnahmen und Interventionsprogramme, es werden jedoch vielfältige
(insgesamt 19) Politikfelder aufgezählt, in
denen Schwerpunkte für notwendige Veränderungen gesehen werden. Zu diesen
sehr allgemein gehaltenen Zielsetzungen
zählen neben der Eingrenzung von Übergewicht durch mehr Bewegung und
gesündere Ernährung auch eine Senkung
der Raucher-Quote und des Alkoholkonsums, Verbesserungen im sanitären
und Hygiene-Bereich, geringere Unfallzahlen, Prävention und bessere Versorgung psychischer Erkrankungen.
Das Programm enthält wie viele andere
weltweit existierende Programme keine
speziellen Anreize, mit denen seine Ziele
erreicht werden können. Auch noch lange
Zeit nach seiner Verabschiedung enthielt
es keine Hinweise, wie die für seine Umsetzung notwendigen finanziellen Mittel
erbracht werden sollen. Auch zur konkreten Implementierung der Maßnahmen in
die verschiedenen Politikfelder oder zur
Evaluation der Zielerreichung finden sich
keine näheren Erläuterungen.
auch eine ausdrücklich hervorgehobene
Koalition mit dem Verband der Nahrungsmittel- und Getränkehersteller. NAOS will
durch ein Bündel unterschiedlichster
Vorgehensweisen und Interventionen sowohl einen aktiveren Lebensstil fördern
als auch eine Veränderung der täglichen
Essgewohnheiten erreichen.
Zu den einzelnen Maßnahmen des Plans
gehören unter anderem: die Verbannung
„ungesunder“ Getränke in Getränkeautomaten aus Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die Einführung neuer Standards für Schulmahlzeiten oder die
15
Kooperation mit Hotelketten, die ein „gesünderes“ Essen anbieten wollen. Weitere
Maßnahmen sind vermehrter Schulsport
und umfangreichere Informationen für
Schulkinder über eine gesundere Ernährung und der Aufbau von Internetseiten
zur Ernährungsberatung für erwachsene
Spanier. Auch eine Kennzeichnungspflicht
für Lebensmittel und eine Einschränkung
von Werbemaßnahmen für Lebensmittel,
die sich an Kinder richten, gehören zu
den Vorhaben. Zur Überprüfung des Programmerfolgs existiert ein so genannter
„Observatory of Obesity“. Über den Erfolg
des Programms existieren noch keine detaillierten Ergebnisse.
richts auf Felder gehen und Gemüse anbauen. Über Effekte dieser Bemühungen
ist nichts bekannt, da sie nicht systematisch gemessen werden.
Hinweis: Die Informationen zu den hier
vorgestellten Länderberichten stammen
aus dem Internationalen Netzwerk
Gesundheitspolitik der Bertelsmann
Stiftung. Sie können unter www.hpm.org
mit dem Stichwort „obesity“ gesucht und
heruntergeladen werden.
Japan
Mit dem Vordringen „westlicher“ Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsmittel
sowie einem zunehmenden Leistungsdruck in der japanischen Gesellschaft
und Wirtschaft – so japanische Gesundheitswissenschaftler – erkennt man auch
in Japan neuerdings Probleme durch
Übergewicht und Adipositas. Die Gegenaktivitäten sind im Moment noch vereinzelt, aber durchaus handfester Natur: Ab
2008/2009 sind nach einem neuen Gesetz zur Reform des Gesundheitssystems
Unternehmen verpflichtet, alle Beschäftigte für die eine Firmen-Gesundheitsversicherung besteht, untersuchen zu lassen
und dabei auch den Bauchumfang der
über 40-jährigen Mitarbeiter zu messen.
Wer dabei ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und seine möglichen Folgeerkrankungen zeigt, muss sich zu Themen
wie Fitness und Ernährung beraten lassen. Außerdem hofft die japanische Regierung, über ein „gesundes“ Schulessen
auch die außerschulischen Ernährungsweisen verändern zu können. Bereits seit
einigen Jahren hat jede Schule dazu eine
in Nahrungsmittelkunde geschulte Lehrkraft, und ältere Bürger können mit den
Schülern im Rahmen des Schulunter-
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Gemeinsam gegen Übergewicht
Aktivitäten der Bertelsmann Stiftung in Schulen
Im Rahmen ihres Projektes „Anschub.de –
für die gute gesunde Schule“ arbeitet die
Bertelsmann Stiftung zusammen mit Partnern auch an der Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und
Jugendlichen. Ausgewählte Schulen im
sozialen Brennpunkt Berlin-Mitte erproben
dazu im Rahmen von Modellprojekten geeignete Maßnahmen, die von Wissenschaftlern und Praktikern zusammen mit
den Zielgruppen entwickelt werden. Dabei
wird viel Wert auf einen umfassenden
Ansatz gelegt, der nicht nur das Verhalten
von Schülern, Eltern und Lehrern berücksichtigt, sondern auch die für die Entstehung von Übergewicht entscheidenden
Lebensverhältnisse einbezieht.
Je nach Bedarf gehören zu den Maßnahmen z.B. mehr Bewegungsmöglichkeiten
für eine aktive Tagesgestaltung (bewegte
Pausen, bewegter Unterricht), bessere
Verpflegungsangebote in Schulen, Fortbildung von Lehrern zum Führen von
Elterngesprächen bei übergewichtigen
Kindern, aber auch Veranstaltungen für
Eltern, die Entwicklung von Informationsmaterialien sowie die Umgestaltung von
Räumen und Schulhöfen. Parallel sollen
wirksame Strukturen und Unterstützungssysteme in der Kommune aufgebaut
werden, z.B. durch die Zusammenarbeit
und Vernetzung von Kitas, Schulen, Freizeiteinrichtungen und Öffentlichem Gesundheitsdienst im Stadtteil.
Eingebunden sind die Aktivitäten in ein
ganzheitliches Konzept der schulischen
Gesundheitsförderung, in dem Gesundheit
nicht isoliert sondern immer zusammen
mit dem Bildung- und Erziehungsauftrag
der Schule verstanden wird und so einen
Beitrag zur Schulentwicklung leistet.
„Schwere Zeiten, neue Wege – Gemeinsam
aktiv für die Prävention von Übergewicht
und Adipositas in der Schule“ (Download
unter www.anschub.de, Rubrik Module).
Weitere Informationen unter
www.anschub.de.
Ansprechpartner: Rüdiger Bockhorst
([email protected])
health policy monitor
Themenfeld Gesundheit
Carl-Bertelsmann-Str. 256
33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich
Robert Amhof
Autoren
Dr. Bernard Braun
PD Dr. Uwe Helmert
Friedrich Schorb
Alle Autoren arbeiten
am Zentrum für Sozialpolitik der Universität
Bremen
Redaktion
Dr. Gerd Marstedt
Robert Amhof
Kerstin Blum
Bildnachweis
Veit Mette, Bielefeld
Imagesource
Photodisc
Kontakt
Heike Clostermeyer
Tel.: (05241) 81-8 13 81
Fax: (05241) 81-68 13 81
[email protected]
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