Sonderausgabe g 2007 Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung Editorial Pressemeldungen und wissenschaftliche Studienergebnisse über die zunehmende Bedeutung von Übergewicht und Adipositas häuften sich bis vor kurzem vorwiegend jenseits des Atlantik oder Ärmelkanals. Von dort kamen auch Berichte über stets neue Gegenstrategien: Die „Lebensmittel-Ampel“ auf Ernährungsprodukten, gesundes Schulessen, Werbeverbote im Kinderfernsehen, Volksläufe und auch die operative Magenverkleinerung. Eine – wie wir in einem Beitrag zeigen – sehr oberflächliche Datensammlung über die Verbreitung von Übergewicht in den EU-Ländern und daraus abgeleitete Schlagzeilen („Deutsche sind die dicksten Europäer“) brachten dann jedoch auch in Deutschland eine neue Präventionsdebatte ins Rollen. Übergewicht und Adipositas: Fakten zur neuen deutschen Präventions-Debatte von PD Dr. Uwe Helmert und Friedrich Schorb Es geschah im April 2007, als eine Meldung der hierzulande weithin unbekannten „International Association for the Study of Obesity (IASO)“ in den Schlagzeilen nahezu aller TV-Sender, Tages- und Wochenzeitschriften auftauchte. „Deutsche sind die dicksten Europäer“ hieß es da (Süddeutsche Zeitung), „Deutsche holen zweifelhaften Rekord – Europameister im Dicksein!“ (Tagesschau) oder sprachverspielter: „Deutsche haben in Moppel-Liga den Bauch vorn“ (Spiegel online). Dabei blieb es nicht bei wissenschaftlichen Diskursen. Mit der zügigen (manche Kritiker sagen: „überstürzten“) Verabschiedung eines „Nationalen Aktionsplans Fit statt Fett“ rief die Bundesregierung alte Interventionsprogramme wieder ins Leben zurück und startete zugleich neue. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass „Übergewicht“ das präventions- und versorgungspolitische Leitthema der nächsten Zukunft sein wird, nachdem für das Thema „Nikotinabhängigkeit“ mit dem Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen nun eine gewisse Sättigung in Medien wie Politik eingetreten ist. Umso wichtiger erscheint es uns daher, die wissenschaftlichen Ausgangsdaten und Erkenntnisse ebenso wie die von Politikern und Verbänden vorgestellten Konzepte zu überprüfen. Was war der Hintergrund? Die „IASO“ hatte eine Pressemitteilung herausgegeben und im Internet eine zweiseitige Tabelle veröffentlicht, in der Daten zur Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas in 25 EU-Ländern dargestellt waren (IASO 2007). Am Schluss der Tabelle tauchten einige Hinweise auf: Dass die Stichproben der Länder hinsichtlich der Altersgruppen voneinander abweichen, dass unterschiedliche Erhebungsjahre vorliegen, dass (schwer vergleichbare) Ergebnisse aus Messungen und aus Befragungen verwendet wurden. Doch diese Hinweise wurden übergangen oder blieben unverstanden, war doch aus der Tabelle klar abzulesen, dass 75,4 Prozent der deutschen Männer einen BMI-Wert von über 25 aufweisen und damit auf der Europa-Rangliste für Übergewicht auf Platz 1 liegen. Dies geschieht in diesem Newsletter durch: ■ einen Überblick über die nationalen und internationalen Daten zur Häufigkeit und Verteilung von Übergewicht und Adipositas und eine Analyse zu deren zeitlicher Entwicklung 2002 bis 2006 in Deutschland anhand der im Gesundheitsmonitor erfassten Daten (Helmert/Schorb) ■ eine Übersicht zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft der Bevölkerung an Präventionsmaßnahmen zu diesem Thema und zur Wirksamkeit der vielfältigen Interventionen (Braun) ■ einige Beispiele zu Inhalten, Umfang und Wirksamkeit vergleichbarer Programme in anderen Ländern (Braun). Auf die damit in Gang gesetzte Diskussion über Ursachen und Präventionsmöglichkeiten für die „neue Epidemie Übergewicht“ hat die Bundesregierung überaus schnell reagiert und am 15. Mai 2007 einen nationalen Aktionsplan „Gesunde Ernährung und Bewegung – Schlüssel für mehr Lebensqualität“ beschlossen. Der Plan traf jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung, sondern wurde von vielen Seiten als unzureichend kritisiert, von Oppositionsparteien ebenso wie Verbraucherverbänden oder Wissenschaftlern. Auf Grund der bisweilen wenig sachgerechten wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Beiträge in dieser bis heute anhaltenden ÜbergewichtsDebatte sollen im Folgenden einige neuere und bislang unveröffent➔ lichte Daten zur Verbreitung von Übergewicht und Adipositas in health policy monitor gesundheitsmonitor Glossar Adipositas: Adipositas und Übergewicht sind definiert als kritisch überhöhter Fettanteil an der Gesamtkörpermasse. Als Grenzwerte für Übergewicht gelten bei Männern 20 Prozent und bei Frauen 25 Prozent. Für die Adipositas liegen die Werte bei 25 Prozent für Männer und 30 Prozent für Frauen. Den Fettanteil an der Körpermasse zu messen, ist allerdings sehr aufwändig. In der Praxis wird daher meist der Kennwert „BMI“ verwendet, da er unproblematisch zu bestimmen ist und eine ungefähre Schätzung des Fettanteils an der Gesamtkörpermasse ermöglicht. BMI: Der „Body-Mass-Index“ ist die mit Abstand wichtigste Kennzahl zur Abschätzung von Übergewicht und Adipositas. Er findet in praktisch allen nationalen und internationalen Erhebungen Verwendung. Der BMI wird so errechnet: Körpergewicht in kg / (Körpergröße in m)2. Der BMI kann als Schätzwert verwendet werden, da eine relativ hohe Korrelation mit dem Fettanteil an der Körpermasse besteht (r = 0,7 bis 0,8). 1996 führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Grenzwerte weltweit verbindlich ein: BMI ≥ 25: Übergewicht, BMI ≥ 30: Adipositas. Prävalenz: Bezeichnet die Häufigkeit des Auftretens insbesondere einer Krankheit (z. B. Bluthochdruck) oder eines bestimmten Verhaltens (z. B. Rauchen). Die Prävalenzrate ist eine relative Kennzahl und wird bestimmt durch die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Zahl der Untersuchten (z. B. gesamte Bevölkerung oder auch eine eingegrenzte Untersuchungsgruppe). Rechenformel: Prävalenzrate in Prozent = (Anzahl der Kranken in der Untersuchungsgruppe / Anzahl aller Untersuchungsteilnehmer) x 100. 2 Deutschland vorgestellt werden. Dabei gehen wir insbesondere auf folgende Fragen ein: ■ Trifft die aufgrund der IASO-Daten weit verbreitete Meldung tatsächlich zu, dass Deutschland das EU-Land mit den meisten übergewichtigen Erwachsenen ist? ■ Lässt sich ein zeitlicher Trend feststellen, dass die Zahl der Übergewichtigen weiter ansteigt, und hat sich der Anteil der adipösen Erwachsenen in Deutschland in den letzten fünf Jahren weiter erhöht? ■ Gibt es Bevölkerungsgruppen in Deutschland, die stärker als andere vom Risiko der Adipositas betroffen sind? Daten zur Häufigkeit von Übergewicht und die Problematik der IASO-Tabelle Die eingangs zitierte Veröffentlichung der „International Association for the Study of Obesity (IASO)“ ist nur einer von vielen Beiträgen der letzten Jahre, mit denen versucht wurde, die zunehmende Verbreitung von Übergewicht und Adipositas und die damit einher gehende gesundheitliche Problematik anhand von Datenmaterial zu dokumentieren. Bereits am 15. März 2005 hatte die „International Obesity Task Force“ der Europäischen Union (IOTF 2005) über die Häufigkeit des Auftretens von Übergewicht und Adipositas in den 25 EU-Mitgliedsländern informiert. Aus dem Papier geht hervor, dass der Anteil übergewichtiger und adipöser erwachsener Männer bereits in sieben europäischen Ländern (neben Finnland, Griechenland, Zypern, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Malta auch Deutschland) höher ist als in den USA, jenem Land, das bis dahin am stärksten von der Übergewichtsproblematik betroffen war. Daher verkündete der Luxemburgische Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo: „Jene Zeiten, zu denen man glaubte, Übergewicht sei ein Problem jenseits des Atlantik, sind vorbei.“ (CBS News 2005), und der EU-Gesundheitskommissar Markos Kyprianos ergänzte besorgt: „Wir müssen unter Umständen mit katastrophalen Folgen rechnen, die durch das Übergewicht verursacht werden: Für die Gesundheit ebenso wie für die Volkswirtschaft.“ (ebenda). Deutsche Politiker hatten zuvor schon Betroffenheit artikuliert. „Es gibt aber noch andere Fakten, die einen beeindrucken können. Eine britische Studie besagt zum Beispiel, dass die heutige junge Generation (wegen ihrer Körperfülle) die erste Generation sein wird, die vor ihren Eltern stirbt“, führte die damalige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast in ihrer Regierungserklärung vom 17.06.2004 „Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland“ aus (Künast 2004: 10322). Belege zur wissenschaftlichen Fundierung der zitierten, aber nicht weiter benannten britischen Studie unterblieben indes. Man konnte im Jahre 2004 den Eindruck gewinnen, dass die Bundesregierung ebenso be- wie überstürzt auf die Vielzahl der Meldungen in den Massenmedien zur Adipositas-Problematik reagiert hat. Denn in Anbetracht der seit über 100 Jahren steigenden mittleren Lebenserwartung in Deutschland gibt es bislang keinerlei wissenschaftliche Hinweise dafür, dass dieser Trend sich in absehbarer Zeit umkehren könnte. Im April 2007 schlugen die Wogen der deutschen Bestürzung dann erneut hoch, obwohl die Zahlen auch nach Aussage der IASO selbst für Ländervergleiche nur sehr beschränkt tauglich sind. Das entscheidende Manko besteht darin, dass hier Daten nebeneinander gestellt werden, die teilweise auf objektiven Messungen von Körpergewicht und Körpergröße beruhen, teilweise aber auch aus Befragungen stammen. Studien zum Körpergewicht, die auf Befragungsdaten beruhen, 3 Adipositas-Prävalenz (BMI ≥ 30) in 24 OECD-Staaten nach Geschlecht tauchten in den Medien meist nur die Häufigkeiten für alle Personen mit Übergewicht oder Adipositas auf, also einem BMI-Wert von 25 und mehr. Ob jedoch ein leichtes Übergewicht (BMI 25 - 29,9) tatsächlich ein gravierendes Gesundheitsrisiko darstellt, ist wissenschaftlich überaus umstritten. Messdaten 3,0 Südkorea 1,7 3,3 2,9 Japan 11,9 Niederlande 10,2 29,9 Türkei 12,9 13,5 13,0 Spanien 19,9 Polen 15,7 28,1 Mexiko 18,6 22,0 Australien 19,4 23,5 Finnland 21,2 23,2 21,9 Neuseeland 29,9 Griechenland 26,0 33,2 USA 31,1 Befragungsdaten 5,8 6,8 7,5 7,9 8,7 9,3 9,1 9,8 9,5 10,4 Norwegen Schweiz Italien Dänemark Schweden 13,4 11,9 12,3 12,4 12,3 13,6 Belgien Island Deutschland 16,3 Tschechien 13,7 13,9 Kanada 15,9 18,2 17,1 Ungarn 25,4 Irland 19,8 Angaben in Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre Quelle: aufbereitet nach WHO (2007) Frauen Männer Abbildung 1 führen jedoch zu einer systematischen Unterschätzung des tatsächlichen Übergewichts (Helmert und Strube 2004). Darüber hinaus wurden die Daten zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben (z.B. Dänemark 1992, Österreich 2005/2006) und auch die einbezogenen Altersgruppen weichen voneinander ab. In der IASO-Tabelle, so ist unter dem Ber tels m a n n St if t u n g Strich festzuhalten, wurden deutsche Äpfel mit französischen Birnen und griechischen Aprikosen verglichen. Übergewicht = hohes Gesundheitsund Sterblichkeits-Risiko? Obwohl in dieser Datentabelle auch die Zahlen für Adipositas, also BMI-Werte von 30 und mehr aufgeführt waren, In zwei deutschen Längsschnittstudien ergab sich nach der Kontrolle weiterer Einflussfaktoren auch für Personen mit BMIWerten ≥30 keine statistisch signifikant erhöhte Sterblichkeit. Bei diesen beiden Studien handelt es sich zum einen um das Augsburger MONICA-Projekt (Schneider 2002) und eine Nachfolgestudie der Befragung „Leben und Gesundheit in Deutschland“ aus den Jahren 1984 -1986 (Helmert und Voges 2002). Auch Berger (2000) gelangt zu einer eher zurückhaltenden Einschätzung hinsichtlich der Auswirkungen der Adipositas auf die Sterblichkeit: „Die weiterhin propagierten Mortalitätsund Morbiditätsrisiken der Adipositas erscheinen – abgesehen von morbiden Ausmaßen der Fettsucht (BMI > 40) und von Hochrisikogruppen hinsichtlich Diabetes, Hypertonie, metabolischem Syndrom, Schlafapnoe – übertrieben“ (ebenda: 129). In einer US-amerikanischen Veröffentlichung zeigte sich unlängst bei drei großen Studien mit insgesamt über 450.000 Teilnehmern zwar ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko für Adipositas und ebenso auch für Untergewicht. In der Gruppe mit leichtem Übergewicht (BMI 25 - 29,9) ergab sich jedoch im Gegenteil sogar ein leicht reduziertes Sterblichkeitsrisiko (Flegal et al. 2005). Trotz der fehlenden wissenschaftlichen Belege für eine erhöhte vorzeitige Sterblichkeit von Personen mit geringem Übergewicht setzte sich die DeutscheAdipositas-Gesellschaft in ihrer neuen Leitlinie zur Adipositas-Therapie gleich- health policy monitor gesundheitsmonitor wohl dafür ein, dass die Behandlung bereits bei einem BMI von 25 beginnen sollte (Reincke et al. 2006). Die Folgekrankheiten beleibter Menschen würden immense Kosten verursachen, so wurde argumentiert und weiterhin sogar bemängelt, dass die Adipositas in der deutschen Sozialgesetzgebung bislang noch nicht als Krankheit anerkannt ist. Dies führe immer wieder zum Streit zwischen Patienten und Krankenkassen um die Kostenerstattung bei notwendigen Therapie-Maßnahmen. Undiskutiert bleibt dort allerdings, welche Kosten eine bevölkerungsweite Umsetzung der neuen Leitlinien zur Adipositas-Therapie in Deutschland im Vergleich dazu verursachen würden. Denn bei strikter Anwendung der Leitlinie würden medizinische Behandlungskosten etwa für die Hälfte aller deutschen Frauen und für etwa zwei Drittel der deutschen Männer entstehen. 4 Übergewicht und Adipositas in Deutschland 2002 bis 2006 Frühjahr 70 Herbst 60 50 Frauen BMI ≥ 25 Männer BMI ≥ 25 Frauen BMI ≥ 30 Männer BMI ≥ 30 Frauen BMI ≥ 35 Männer BMI ≥ 35 40 30 20 10 0 2002 2003 2004 2005 2006 2002 2003 2004 2005 2006 Angaben in Prozent Internationaler Vergleich zur Adipositas in den OECD-Staaten: Deutsche sind nicht die dicksten Europäer Aufgrund der geschilderten Problematik der IASO-Daten für internationale Vergleiche soll im Folgenden eine andere, verlässlichere Datenquelle herangezogen werden, um zu ermitteln, wie Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen hinsichtlich der Übergewichtsproblematik einzustufen ist. Basierend auf den aktuellen Daten des „Weltgesundheitsberichts der WHO 2007“ (WHO 2007) werden in Abbildung 1 die Prävalenzen für die Adipositas (BMI ≥ 30) für 24 der 30 OECD-Länder dargestellt. Berücksichtigt wird in allen Ländern die Altersgruppe der über 15-Jährigen. Allerdings handelt es sich nicht um alterstandardisierte Werte, also die unterschiedliche Altersstruktur der Länder wurde statistisch nicht angeglichen und vergleichbar gemacht. Es wird jedoch zwischen Befragungsdaten und tatsächlichen Messdaten unterschieden. Daten des Gesundheitsmonitors Abbildung 2 Wie aus Abbildung 1 zu erkennen ist, ergibt sich für Länder mit Messdaten im Mittel eine deutlich höhere AdipositasHäufigkeit als für Länder mit Befragungsdaten. Die USA weisen insgesamt mit Abstand die höchste Rate auf (Männer 31,1 Prozent, Frauen 33,2 Prozent). Die beiden folgenden Ränge nehmen Griechenland und Neuseeland ein. Deutschland befindet sich unter den Ländern mit Befragungsdaten im Mittelfeld (Männer Rang 5, Frauen Rang 6). Es kann also keinesfalls davon gesprochen werden, dass Deutschland im Hinblick auf die Adipositas im internationalen Vergleich eine exponierte Stellung einnimmt. Auffällig ist weiterhin, dass in allen Ländern mit Messdaten die Adipositas- Werte der Frauen höher sind als die der Männer. In den Ländern mit Befragungsdaten sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede weitaus geringer ausgeprägt als in den Ländern mit Messdaten. Insgesamt am größten sind die geschlechtsspezifischen Differenzen in der Türkei (Frauen 29,9 Prozent, Männer 18,6 Prozent) und in Mexiko (Frauen 28,1 Prozent, Männer 18,6 Prozent). Übergewicht und Adipositas in Deutschland 2002 bis 2006: Zahl der Übergewichtigen ist weiter gestiegen Im Folgenden sollen neuere Befragungsdaten zur Verbreitung von Übergewicht und Adipositas in Deutschland vorgestellt werden. Die Daten entstammen den Befragungswellen 2 bis 11 des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann-Stiftung aus 5 Veränderungen einzelner Kennwerte für das Körpergewicht 2002/2003 bis 2005/2006 31,8 1,5 BMI ≥ 35 21,5 0,7 22,3 3,7 BMI ≥ 30 17,1 2,8 7,6 3,5 BMI ≥ 25 3,7 2,2 2,0 0,5 BMI Mittelwert 1,3 0,4 2,0 1,4 Gewicht (kg) Mittelwert 2,0 1,7 0 Frauen relative Differenz in den Jahren 2002 bis 2006 dargestellt. Auf Grund der jahreszeitlichen Schwankungen des Körpergewichts zwischen Frühjahr und Herbst, mit in der Regel höheren Werten für das Frühjahr („Winterspeck“), erfolgt die grafische Darstellung dabei getrennt für die beiden Zeiträume. 5 10 Frauen absolute Differenz 15 Männer relative Differenz 20 25 30 Männer absolute Differenz Die absoluten Differenzen besagen: Um so und so viel Prozentpunkte (bzw. Kilogramm, BMI-Punkte) hat sich der Wert zwischen 2002/03 und 2005/06 verändert. Die relativen Differenzen gehen von den Werten 2002/03 als Basis aus und beziffern die Veränderung (in diesem Fall durchgängig die Steigerung) der Werte in Prozent. Daten des Gesundheitsmonitors Abbildung 3 den Jahren 2002 bis 2006 und stellen jeweils unabhängige und für die Bevölkerung in Deutschland im Alter von 18-79 Jahren repräsentative Stichproben dar. Pro Jahr wurde jeweils eine schriftliche Befragung im Frühjahr und eine im Herbst von TNS Healthcare (München) mit jeweils etwa 1.500 Personen durchgeführt. Die Beteiligungsraten lagen bei etwa 70 Prozent. Nähere Details zur Stichprobenziehung, zur Erhebungsmethodik und zu Qualitätsaspekten der Befragung sind an anderer Stelle beschrieben (Güther 2006). Es ist erkennbar, dass zwischen 2002 und 2005 für die drei gewählten Gewichtsklassen bei beiden Geschlechtern ein deutlicher Anstieg der AdipositasQuoten und ein leichter Anstieg der Übergewichts-Quoten (BMI ≥ 25) zu verzeichnen ist. Für das Jahr 2006 verringerten sich die verschiedenen Werte dagegen zumeist wieder etwas im Vergleich zum Vorjahr. Eine schlüssige Erklärung für diesen gegenläufigen Befund für das Jahr 2006 ließ sich nicht finden. Erste Ergebnisse des Gesundheitsmonitors aus dem Frühjahr 2007 deuten jedoch nicht darauf hin, dass sich die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in Deutschland verringert. Ber tels m a n n St if t u n g Das relative Körpergewicht, basierend auf den Selbstangaben der Befragten, wird in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der WHO mittels des BMI in folgende vier Gewichtsklassen eingeteilt: kein Übergewicht (BMI < 25), leichtes Übergewicht (BMI 25 – 29,9), moderate Adipositas (BMI 30 – 34,9) und starke Adipositas (BMI ≥ 35). In Abbildung 2 wird die geschlechtsspezifische Häufigkeit für das Übergewicht inklusive Adipositas (BMI ≥ 25), sowie für die moderate Adipositas (BMI ≥ 30) und die starke Adipositas (BMI ≥ 35) Um genauer zu quantifizieren, in welchem Maße die Kennwerte für das Körpergewicht im Beobachtungszeitraum angestiegen sind, wurden die Daten der Befragungswellen aus den Jahren 2002 und 2003 sowie 2005 und 2006 zusammengefasst (siehe Abbildung 3). Es zeigt sich bei beiden Geschlechtern durchgängig ein Anstieg für alle fünf Indikatoren. Der Mittelwert des Körpergewichts hat sich im Zeitraum von 2002/ 2003 bis 2005/2006 bei den Männern um 1,7 kg erhöht. Der entsprechende Anstieg bei den Frauen beträgt 1,4 kg. Dieser Anstieg des mittleren Körpergewichts im Beobachtungszeitraum führt zu einem mittleren Anstieg des BMI von 0,4 bei den Männern und 0,5 bei den Frauen. Dieser scheinbar nur relativ geringfügige Anstieg des BMI hat allerdings beträchtliche Auswirkungen auf health policy monitor gesundheitsmonitor 6 Kennwerte für Körpergewicht, Übergewicht und Adipositas nach Sozialschicht (zusammengefasst für die Jahre 2002 bis 2006) 148,6 5,5 BMI ≥ 35 63,3 1,9 97,0 13,1 BMI ≥ 30 schichten, definiert über das Bildungsniveau, Einkommen und die Stellung im Beruf, weisen in höherem Umfang Risikofaktoren und Erkrankungsraten auf. Damit stellt sich die Frage, ob dieser Zusammenhang auch für die oben vorgestellten neueren Daten zur Verbreitung von Übergewicht und Adipositas in Deutschland gilt. 57,0 9,0 45,4 17,7 BMI ≥ 25 4,1 2,6 9,2 2,3 BMI Mittelwert 2,7 0,7 6,5 4,5 Gewicht (kg) Mittelwert 0,5 0,4 0 20 40 60 80 100 Frauen relative Differenz Oberschicht-Unterschicht Frauen absolute Differenz Oberschicht-Unterschicht Männer relative Differenz Oberschicht-Unterschicht Männer absolute Differenz Oberschicht-Unterschicht 120 140 Daten des Gesundheitsmonitors Abbildung 4 die zeitliche Veränderung insbesondere für die Adipositas. So findet sich bei den Männern für die Adipositas insgesamt (BMI ≥ 30) ein relativer Anstieg um 17,1 Prozent und bei der starken Adipositas (BMI ≥ 35) ein relativer Anstieg um 21,5 Prozent. Die entsprechenden Werte bei den Frauen fallen mit 22,3 Prozent und 31,8 Prozent sogar noch höher aus. Insgesamt belegen diese Ergebnisse eindeutig, dass in dem relativ kurzen Beobachtungszeitraum von 2002/2003 bis 2005/2006 bei Männern und Frauen im Alter von 18 bis 79 Jahren die Prävalenz Ber tels m a n n St if t u n g der moderaten und starken Adipositas in Deutschland weiter angestiegen sind. Damit setzt sich der seit 1984 nachgewiesene Trend in Deutschland weiter fort. Übergewicht: Volkskrankheit oder Problem unterer Sozialschichten? In vielen deutschen wie internationalen Studien zur Verbreitung von chronischen Erkrankungen oder auch Aspekten gesundheitlichen Risikoverhaltens (wie z. B. Rauchen, ungesunde Ernährung) ist deutlich geworden, dass nach wie vor Effekte sozialer Ungleichheit zu beobachten sind: Angehörige unterer Sozial- Dazu sind in Abbildung 4 die fünf Gewichts-Indikatoren nach Sozialschichtzugehörigkeit aufgeführt. Es zeigt sich, dass bei Männern wie Frauen in unteren Sozialschichten höhere Werte für das Körpergewicht und den Body-Mass-Index beobachtbar sind als in oberen Sozialschichten. Das Ausmaß dieses Effekts ist dabei bei Frauen deutlich größer als bei Männern. So ist der mittlere BMI bei Frauen aus der Unterschicht um 2,3 Punkte (9,2 Prozent) höher als bei Frauen aus der Oberschicht, bei Männern dagegen nur um 0,7 Punkte (2,7 Prozent) höher. Dies gilt auch für die Verbreitung von Adipositas: Die Prävalenz der Adipositas insgesamt (BMI ≥ 30) ist bei Frauen aus der Unterschicht nahezu doppelt so hoch wie in der Oberschicht. Bei Männern aus der Unterschicht ist sie um etwa die Hälfte höher als bei Männern aus der Oberschicht. Ähnliches gilt für die starke Adipositas (BMI ≥ 35). Ein besonders besorgniserregender Befund ist dabei, dass bei Unterschichtangehörigen für etwa jede vierte Frau ein BMI ≥ 30 und für fast jede zehnte Frau ein BMI ≥ 35 festgestellt wurde. Betroffen von Übergewicht und Adipositas sind somit überdurchschnittlich oft sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, so dass es bei gesundheitspolitischen Maßnahmen darauf ankäme, Prävention stärker auf diese Gruppen auszurichten. Es scheint fraglich, ob der von der Bundesregierung im Mai 2007 verabschiedete nationale Aktionsplan 7 große Wirkung entfalten kann: Informationskampagnen sind mittelschicht-orientiert, und überdies hat sich die Effizienz von Kampagnen zur Prävention von Übergewicht und Adipositas, die auf Informationsvermittlung setzen und nicht zugespitzt sind auf konkrete Zielgruppen, als überaus gering erwiesen. Der starke Einfluss der Schichtzugehörigkeit ist erneut ein unmissverständlicher Hinweis, dass die komplexen sozialen und kulturellen Hintergründe für die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas meist viel zu wenig berücksichtigt werden. Schon im Jahr 1990 hatten Niehoff und Wolters (1990) Überlegungen zu präventionstheoretischen Problemen im Bereich Ernährung und Übergewicht angestellt. Wünschenswert wäre auch, dass man in Deutschland die intensive, aber auch sehr kontrovers geführte wissenschaftliche Debatte über die Adipositas-Problematik in den USA stärker berücksichtigt (Schlesinger 2005). Denn sicherlich macht es sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) zu einfach, wenn sie am 5. Juni 2007 anlässlich der überbordenden öffentlichen Debatte zum Übergewicht lapidar feststellt: „Ursachen für Übergewicht und Fettsucht sind hinreichend bekannt“ (DGE 2007). Diese Feststellung mag ernährungsphysiologisch zwar korrekt sein. Die für eine wirksame Prävention weitaus bedeutsameren, aber zugleich auch sehr viel weniger erforschten sozialen und kulturellen Hintergründe einer „ungesunden Ernährung“ werden jedoch ausgeblendet. Literatur ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Berger, Michael, 2000: Perspektiven und Grenzen der Adipositasbehandlung. Der Chirurg 71: 129-133. CBS News, 2005: Europeans’ mirth over girth ends. Brussels, March 15, 2005. DGE, 2007: DGE beklagt Verunsicherung durch plakatives Infotainment. Deutsche Gesellschaft für Ernährung, DGE-aktuell, 05.06.2007. Flegal, Katherine M., Barry I. Graubard, David F. Williamson, Mitchell H. Gail, (2005): Excess Deaths Associated With Underweight, Overweight, and Obesity; JAMA. 2005;293:1861-1867, (http://jama.ama-assn.org/cgi/reprint/293/15/1861.pdf) Güther, Bernd, 2006: Gesundheitsmonitor – Stichprobe und Erhebungsmethode sowie Qualitätsaspekte der Ergebnisse. In: Böcken, Jan, Bernard Braun, Robert Amhof, Melanie Schnee (Hg.): Gesundheitsmonitor 2006. Gesundheitsversorgung und Gestaltungsoptionen aus der Perspektive von Bevölkerung und Ärzten. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 309-322. Helmert, Uwe und Helga Strube, 2004: Die Entwicklung der Adipositas in Deutschland im Zeitraum 1985 bis 2002. Das Gesundheitswesen 66: 409415. Helmert, Uwe und Wolfgang Voges, 2002: Einflussfaktoren für die Mortalitätsentwicklung bei 50-69-jährigen Frauen und Männer. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 35: 450-462. IASO, 2007: International Association for the Study of Obesity: Adult overweight and obesity in the European Union (EU25), http://www.iotf.org/ documents/Europeandatatable_000.pdf IOTF, 2005: EU Platform on Diet, Physical Activity and Health. International Obesity Task Force: EU Platform Briefing Paper prepared in collaboration with the European Association for the ■ ■ ■ ■ ■ ■ Study of Obesity. Brussels, March 15, 2005. http://ec.europa.eu/health/ ph_determinants/life_style/nutrition/ documents/iotf_en.pdf Künast, Renate, 2004: Deutscher Bundestag. 15. Wahlperiode. 114. Sitzung am 17. Juni 2004. Niehoff, Jens-Uwe und Paul Wolters, 1990: Ernährung und Prävention. Körpergewichte – ein Beispiel präventionstheoretischer Probleme. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin. Band P90-205. Reincke, Martin, F. Beuschlein, M. Slawik, 2006: Die Behandlung sollte bei einem BMI von 25 beginnen. Neue Leitlinien zur Adipositas-Therapie. Münchner Medizinische Wochenschrift 148: 2-7. Schlesinger, Mark, 2005 (ed.): The politics of obesity. Journal of Health Politics, Policy and Law 30. Schneider, Sven, 2002: Lebensstil und Mortalität. Welche Faktoren bedingen ein langes Leben? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. WHO, 2007: World Health Report 2007. Genf: World Health Organisation. Hinweis: Leser, die an weiteren Details interessiert sind, finden ausführliche Befragungsergebnisse zu diesem Thema in Tabellenform unter www.gesundheitsmonitor.de (Rubrik Downloads, Newsletter Sonderausgabe Adipositas). health policy monitor gesundheitsmonitor 8 Eine Bilanz der Interventionsstudien zum Übergewicht: Mehr Bescheidenheit in der Zielsetzung wäre angeraten Von Dr. Bernard Braun Spätestens mit dem Eckpunktepapier zweier Bundesministerien zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten (39)* und der dazu am 10. Mai 2007 geführten Bundestagsdebatte bekam auch in Deutschland die Diskussion zu Übergewicht und Adipositas, damit verbundenen Gesundheitsrisiken und Präventionsmöglichkeiten einen weiteren Schub. Nachdem für das Thema „Rauchen“ mit den gesetzlichen Beschlüssen zum Rauchverbot in öffentlichen Räumen und Gaststätten eine gewisse Sättigung der Aktionsneigungen eingetreten war, scheint die Präventionsthematik nun einen gewichtigen Nachfolger zu haben. Die zahllosen Aktivitäten und Kampagnen von Krankenkassen, Kommunen, Landesregierungen, Patientenverbänden aber auch Fernsehsendern erwecken den Eindruck, dass nunmehr ein breites Bündnis von Interessenvertretern alles in die Wege geleitet hat, um der neuen „Epidemie“ Übergewicht alsbald Herr zu werden. Damit steht ein Veränderungsvorhaben auf der Tagesordnung, das aufgrund der Verbreitung von Übergewicht in der Bevölkerung von erheblicher Bedeutung ist. Zugleich scheint es so, dass zumindest die im individuellen Verhalten anzusiedelnden Verursachungsmechanismen (falsche Ernährung und Bewegungsmangel) klar identifiziert und somit auch einer Veränderung zugänglich sind. Daher scheinen die im Eckpunktepapier genannten Ziele ebenso folgerichtig wie umsetzungsrelevant: „Zentrales Ziel ist * Siehe hierzu auch den Hinweis auf S. 12 es, bis 2020: - das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern, – die Zunahme von Übergewicht bei Kindern zu stoppen und – die Verbreitung von Übergewicht zu verringern.“ (39, S. 5) Die Vielzahl und Vielfalt der Träger und der unterschiedlichen Maßnahmen zur Übergewichts-Prävention hat durchaus Entwarnungscharakter: Ein so breites Bündnis von Initiatoren und eine solch breite Palette angekündigter Umsetzungswege, von Schulsport und Lebensmittel-Kennzeichnung über Forschungsinitiativen und die Gestaltung bewegungsfreundlicher Lebensräume bis hin zu Bildungs- und Informationsmaßnahmen wird es schon richten. Es gibt indes vielfältige Hinweise, die zeigen, dass Präventionsmaßnahmen zwischen der Formulierung von Zielvorstellungen und der Zielerreichung zahlreiche Hürden und Stolpersteine zu überwinden haben. Besucherstrukturen von Gesundheitsförderungskursen der Krankenkassen dokumentieren dies ebenso wie Pressemitteilungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über oftmals nur zögerliche oder mit der Zeit verblassende Erfolge ihrer Aufklärungskampagnen. Leitfragen Die Übergewichtsproblematik wurde nun allerdings nicht erst am 10. Mai 2007 im Deutschen Bundestag als Problem erkannt, sondern dazu gibt es umfangreiche nationale und internationale, politische wie wissenschaftliche Vorerfahrungen. Aus diesem Grunde möchten wir im vorliegenden Beitrag auf zwei Fragen näher eingehen: ■ Welche wissenschaftlich gesicherten Belege (welche „Evidenz“) gibt es, dass die derzeit initiierten Präventionskonzepte tatsächlich auch in nennenswertem Umfang jene Bevölkerungsgruppen erreichen und zur Teilnahme bewegen, die als Zielgruppe definiert sind, also am häufigsten von Übergewicht und Adipositas und damit verbundenen potentiellen Erkrankungsrisiken betroffen sind? ■ Und sofern diese Eingangsvoraussetzung einer Teilnahme größerer Bevölkerungskreise erfüllt sein sollte, stellt sich die zweite Frage: Welche Belege gibt es für die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Interventionen und der damit beabsichtigten Verhaltens- und Verhältnisänderungen? Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir jene Antworten zusammengestellt, die von systematischen wissenschaftlichen Studien und Evaluationen geliefert werden. Als Maßstab der Relevanz solcher Antworten dient uns ihr „Evidenzgrad“, also ihre inhaltliche Aussagekraft 9 und methodische Fundierung, die wissenschaftlichen Kriterien tatsächlich Stand halten kann. Wir stützen uns dabei vorrangig auf Antworten aus randomisierten und kontrollierten Untersuchungen („RCTs“) und Reviews, im Idealfall also solchen Studien, die bei quantitativ großen Teilnehmer-Stichproben mit Kontrollgruppen und einer zufälligen Zuweisung der Teilnehmer zur Untersuchungsbzw. Kontrollgruppe gearbeitet haben. Damit sollen systematische Verzerrungen der Ergebnisse bzw. zufällige Ergebnisse mit ungewisser Verallgemeinerbarkeit ausgeschlossen werden. Als Material dienen vor allem so genannte „CochraneReviews“ (benannt nach der „Cochrane Collaboration“, bekannt wegen ihres sehr hohen methodischen Anspruchs) sowie andere Berichte, die diesen methodischen Standards verpflichtet sind. Dieser strenge Maßstab hat neben den genannten Vorteilen allerdings auch einige Schwachstellen: Wie im Folgenden deutlich wird, liefern RCTs bisweilen durchaus auch inkonsistente oder sogar widersprüchliche Ergebnisse. Auch sind diese Studien nicht völlig frei von methodischen Defiziten: Schließlich sind die Teilnehmer an RCTs mehrfachen Filterungsprozessen im Rahmen der Rekrutierung unterworfen und überdies zumeist stark motiviert, was die Studienöinhalte anbetrifft – ein Merkmal, das für flächendeckend eingesetzte Präventionskampagnen und Interventionen (wie z. B. „Täglich 3.000 Schritte extra“) kaum unterstellt werden kann. Der Kern der verfügbaren Erkenntnisse auf diesem Qualitätsniveau befindet sich in der Cochrane Library. Über das Stichwort „obesity“ wurden dort im Juli 2007 32 Cochrane Reviews, 69 andere Reviews, 4.527 clinical trials, 16 method studies, 80 technology assessments und 172 economic evaluations gefunden. Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft von Übergewichtigen Zu den gesicherten Erkenntnissen über die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft von Personen für Anti-Übergewichtsprogramme und deren Wirksamkeit gehören vor allem folgende Studienergebnisse. Es gibt eine durch internationale (38) und nationale (11) Untersuchungen belegte hohe Evidenz, dass nur ein verschwindend kleiner Teil jener Personengruppen, die aufgrund ihres BMI oder anderer Indikatoren zur Zielgruppe von ÜbergewichtsreduktionsProgrammen gehören, auch zur Teilnahme an einem Programm (ganz gleich welcher Thematik), mobilisiert werden kann. Dies beruht auf einer doppelten und deshalb hochgradig wirksamen Barriere, die aus Passivität und Desinteresse einerseits besteht und einer offensiv dargelegten Überzeugung und Teilnahmeverweigerung andererseits. „Mitmach-Appelle“ versagen vor dieser „verschlossenen und verschlüsselten“ Grundhaltung ebenso wie argumentationsgestützte Strategien, die auf die vermeintliche Überzeugungs- kraft von „stichhaltigen“ Informationen und wissenschaftlichen Befunden verweisen. Wirksamkeit von Interventionen Etwa die Hälfte und bis zu zwei Drittel der in verschiedenen Ländern in Reviews bewerteten Studien zur Wirksamkeit unterschiedlichster Interventionsformen (z. B. Individual- oder Settingansätze in Gemeinde, Schule oder Familie; Einzelmaßnahmen oder Maßnahmenbündel), deren Ziel die Reduktion von Übergewicht war, können keinen messbaren oder keinen statistisch signifikanten Effekt auf das Übergewicht (33) (36) (42) oder andere Faktoren wie beispielsweise die Lebensqualität (25) nachweisen. Die Basis der Reviews umfasst dabei Hunderte wissenschaftlicher Studien. Bei jenen Studien, die entgegen dieser generellen Tendenz gleichwohl einen Erfolg aufzeigen können, zeigt sich: Es sind „kleine“, „minimale“, „bescheidene“, „sehr limitierte“ oder „statistisch nicht signifikante“ Effekte (5) (6) (9) (14) (28) (29) (41) (42). Einige der in meist älteren (z. B. 1969 bis 1994) Reviews berichteten positiven Effekte müssen wegen der health policy monitor gesundheitsmonitor Herkunft aus Beobachtungsstudien oder anderen methodischen Schwächen in jeder Hinsicht mit großer Vorsicht bewertet werden (26) (27) (28). Erwähnenswert bleibt folgender Befund zu Diäten, auch wenn er schon in vielen Veröffentlichungen bekannt gemacht wurde: Die Effekte monofaktorieller Diäten wie etwa der Anti-Fett- oder Kohlenhydratdiäten (22), sind meist schon zu Beginn relativ gering, verschwinden aber nach längerer Zeit fast vollständig (35). Selbst die in einer im Frühjahr 2007 veröffentlichten Studie (34) konstatierten Erfolge der sog. „Atkins-Diät“ sind in einer jüngeren Untersuchung von 31 Langfriststudien über diätetische Gewichtsabnahme erheblich eingeschränkt worden (35). Bei derartigen Diäten häufen sich außerdem Hinweise auf langfristige Folgeschäden im Herz-Kreislaufsystem (35). „Mode-Diäten“ wie beispielsweise die Fettreduktions-Diät sind zum Erreichen langfristiger Reduktionsziele (12 und 18 Monate) nicht signifikant wirksamer als andere wie vor allem die Kalorienreduktions-Diäten (4). Die Wirksamkeit von kommerziellen oder „modernen“ Abnehmprogrammen erwies sich in Untersuchungen der internet-basierten kommerziellen Angebote in den USA als „suboptimal“ bzw. „insufficient“ (3). Die Bewertung als suboptimal trifft insgesamt auch für andere Selbsthilfe- oder medizinbegleitete Programme zu. Diese könnten aber für Personen mit einem BMI von 30 und größer doch noch angemessen sein (3). Zahlreiche Reviews von Studien warnen wegen verschiedener methodischer Mängel oder aufgrund der Intransparenz von Studiendesigns vor zu eindeutig positiven Interpretationen und Schlussfolgerungen (5) (6) (23) (30) (41). Bei der Frage nach dem richtigen Vorgehen und dabei insbesondere der Frage, ob einzel- 10 ne Maßnahmen (z. B. Ratschläge, Schulung, körperliche Aktivitäten (29), Diät) weniger Wirkungen erzielen als gebündelte oder Mehrfach-Maßnahmen, gibt es paradoxerweise in gleich hochwertigen Untersuchungen Belege für beide Interventions-Designs, wobei sich meist die jeweils andere Variante als wirkungslos(er) erwiesen hat (10) 19) (32). Ob es sich dabei um methodische Artefakte handelt, ist weder berichtet noch den Ergebnissen anzusehen. Die Nichtwirkung von an sich schon komplexen Interventionen wie etwa den dominant kognitiv orientierten schulbasierten Maßnahmen gegen das Übergewicht von Kindern und Jugendlichen wird häufig mit dem Fehlen begleitender Aktivitäten im häuslichen oder kommunalen Umfeld und in der Freizeit der Kinder und Jugendlichen erklärt (36). Die Erwartung, dass gemeindeorientierte Präventionsprogramme Einfluss auf alle möglichen Risikofaktoren von Herz-Kreislauferkrankungen und darunter auch den Risikofaktor Übergewicht haben, erwies sich aber in der großen deutschen „HerzKreislauf-Präventionsstudie (DHP)“ einzig für das Übergewicht als falsch. Die Prävalenz des Übergewichts nahm sogar zu (43) (44) (45). Methodische Mängel in den Studiendesigns Die meisten Studien haben eine überaus mager anmutende Definition von „Wirkung“: Sie verzichten von vornherein darauf, mögliche Wirkungen ihrer übergewichtsbezogenen Interventionen auf harte Endpunkte der Morbidität und Mortalität zu erheben (6) (16) (14) (18), sondern beobachten lediglich die Veränderung von Risikofaktoren oder Indikatoren wie Übergewicht, Blutfettwerte, Bluthochdruck. Dies geschieht zumeist, um einer oft geäußerten Kritik an kurzen Interventionslaufzeiten aus dem Wege zu gehen. Für viele dieser Faktoren ist aber keineswegs wissenschaftlich gesichert, ob sie zwingend zu bestimmten Erkrankungen führen und in welchem Maße dies der Fall ist. Die Befunde über das positiv auf die Sterblichkeit wirkende „leichte Übergewicht“ (40) deuten sogar eine unter Umständen risikosenkende Wirkung für Personen in diesem Übergewichtsbereich an. Für manche mit Plausibilitäts-Annahmen aufgestellten oder aus der Physiologie hergeleiteten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken des Übergewichts wie beispielsweise den Schlaganfall (15) gibt es bei genauer Überprüfung entweder keine wissenschaftliche Belege oder keine starke wissenschaftliche Evidenz (46). Die wenigen Studien mit langjähriger Beobachtungsdauer, wie beispielsweise die „WhitehallStudy“ (46) zeigen teilweise keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder zeigen deren Abhängigkeit von der gesundheitlichen Verfassung der Patienten zum Studienbeginn. In einigen Studien zeigen sich auch Schwächen durch die ausschließliche Konzentration auf den Indikator „Übergewicht“. So können sich z. B. durch Aktivitäten, mit denen Übergewicht reduziert werden soll, andere Risikofaktoren oder auch die wahrgenommene Lebensqualität verändern, ohne dass es einen Gewichtsverlust gibt (u. a. durch den Umbau von Fett- und Muskelmasse) (16) (24). Auch wenn sich bei Präventionsprogrammen gegen Gewichtszunahme keine Veränderung des Gewichts zeigt, gibt es oft noch positive Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten und der körperlichen Aktivität (10). Die „Zuflucht“ zu klassischen medizinischen Methoden in der ÜbergewichtsTherapie und dabei insbesondere auch 11 zu chirurgischen Interventionen, besitzt keinerlei „automatische“ Evidenz: So führen zwar verschiedene chirurgische Eingriffe bei krankhaftem Übergewicht auch langfristig zu einem größeren Gewichtsverlust als nicht-chirurgische Maßnahmen. Unklar sind aber die Sicherheit und Nebenwirkungen einiger Eingriffe und welche Methode die wirksamste ist (8). Für die bei „Super-Übergewichtigen mit hohem Risiko“ als letztmögliche Intervention nach dem Versagen aller anderer Programme angesehene Methode der Implantation eines so genannten „Magenballons“ erbrachte das Review von 19 RCTs mit 395 Patienten keine „überzeugende Evidenz“ für den dadurch gegenüber anderen Methoden erreichten Gewichtsverlust (7). riert. Dies ist insofern problematisch, weil Wirkungsstudien zeigen, dass die tatsächlichen sozialen Rahmenbedingungen die angestrebten Effekte einfacherer Interventionen verhindern oder behindern (36) (37) oder die meisten anfänglich beobachteten Effekte nach Ende der Intervention in kürzester Zeit wieder Bessere Wirkung bei komplexen und zielgerichteten Interventionen Über Verbesserungsmöglichkeiten im Hinblick auf Organisation und Management der Versorgung übergewichtiger Personen – z. B. durch Erinnerungshilfen für Teilnehmer, Kurztrainings, Koordination ambulanter mit stationären Einrichtungen – gibt es bisher wenig Untersuchungen. Diese zeigen aber durchaus Effekte, die reinen Aufklärungs- und Verhaltensansätzen überlegen sind (17). Viele Studien, die keine oder keine nachhaltige Wirkungen aufzeigen konnten, weisen in der Diskussion ihrer Befunde auf die „leider“ unberücksichtigt gebliebene soziale Komplexität von Elternhaus, Freizeit und Gesellschaft hin. Insbesondere bei Kinder und Jugendlichen müssten Studien in ihrem Design die Vielfalt der unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen und Personen (Schule, Eltern, PeerGroups) mitberücksichtigen. Trotz der Häufung solcher Hinweise wird diese Komplexität von Einflussfaktoren jedoch in den meisten Programmen und Interventionen theoretisch wie praktisch igno- versiegen. Wenn die soziale Komplexität in Programmen mitberücksichtigt wird, ist dieses Untersuchungsvorgehen zwar um ein Vielfaches (personell, zeitlich, finanziell, organisatorisch) aufwändiger, zeigt aber zumindest in der Interventionszeit positive Effekte (32). Eine Meta-Analyse von 49 veröffentlichten Interventionsstudien, die mit unterschiedlichsten Konzepten und Anreizen zur Förderung körperlicher Bewegung arbeiteten, konnte nicht feststellen, dass eine bestimmte Methode oder Vorgehensweise besonders erfolgreich war und ebenso blieb offen, ob bestimmte Multiplikatoren oder Veranstalter (Ärzte, Sportlehrer usw.) effektiver sind als andere (47). Zwei allgemeine Aspekte des Vorgehens erwiesen sich jedoch relativ durchgängig als wichtig, um Teilnehmer zu mehr Bewegung zu animieren: Gezielte Teilnehmer-Auswahl und konzeptionelle Orientierung an der Zielgruppe. Der erste Aspekt bedeutet, dass meist solche Studien erfolgreicher waren, die eine klare Zielgruppe angesprochen hatten und sich nicht diffus an die Bevölkerung wendeten. Der zweite Aspekt bedeutet, dass man sich bei den Informationsmaterialien, den organisatorischen Rahmenbedingungen usw. sehr genau auf die Voraussetzungen und Motive der jeweiligen Adressaten einlässt und das Interventions-Programm auf sie zuschneidet. Wer mit Interventionen nachhaltige Wirkungen erzielen will, steht vor dem Problem, dass die meisten Untersuchungen nur selten über 12 oder 24 Monate hinaus durchgeführt werden, oftmals auch nur einen Zeitraum von wenigen Monaten umfassen (10) (36). Schon deshalb gibt es meist keine wissenschaftliche Evidenz für eine langfristige Wirksamkeit der meisten Interventionen. Selbst in der Laufzeit von Programmen, die sehr massive und umfassende Interventionen beinhalten, gibt es Anzeichen für schwindende Wirkungen im längeren Zeitverlauf (32). Und leider gibt es sogar eine Reihe wissenschaftlicher Belege für deutliche Rückfall-Effekte bei größeren Teilnehmergruppen an verschiedenen Übergewichts-Reduktionsprogrammen – ein Indiz für bislang weithin fehlende nachhaltige Wirkungen (20) (21) (23) (41) selbst aufwändiger Programme. Studienteilnehmer und Aussteiger Ein Problem ist darüber hinaus erkennbar in der Teilnehmerzahl und Aussteigerquote. Die meisten nachweisbar wirksamen Interventionsprogramme hatten entweder von Beginn an sehr wenige Teilnehmer (damit möglicherweise auch eine nicht mehr komplett nach dem Zufallsprinzip konstruierte Untersuchungsgruppe) (9) (24) (28) (30) (31) (36), führ- health policy monitor gesundheitsmonitor 12 Arbeits-, Bildungs- und Lebensbedingungen, die dieses Verhalten mit beeinflussen. ten zu einer spürbaren Aussteigerquote oder erforderten einen so enormen Aufwand und ein so starkes Engagement zahlreicher Betroffener und Akteure, dass die Verallgemeinerbarkeit für die gesamte Risikogruppe in der Bevölkerung zweifelhaft ist (9) (14) (30) (32). Nicht selten wird in Studien und MetaStudien nur wenig über die Heterogenität der Untersuchungs- oder Interventionsgruppen gesagt, also die Vergleichbarkeit der Teilnehmer im Hinblick auf Gesundheitszustand, Motivation, sozialstatistische Voraussetzungen usw. Dies erschwert die Bewertung der gefundenen Ergebnisse ganz erheblich. Ähnliches gilt für die fehlende Dokumentation von Abbrecherraten in Programmen, die nach den veröffentlichten Werten oftmals bei 20 bis 30 Prozent liegen kann. Bei einem Review von über 17 RCTs mit 1.291 Teilnehmern (1), der zumindest für einige Interventionen respektable absolute Gewichtsabnahmen zeigte, hielten die Reviewer des „Centre for Reviews and Dissemination“ die Ergebnisse und positiven Schlussfolgerungen des Autors wegen der erkennbar unterschiedlichen BMI-Werte zu Studienbeginn für möglicherweise unzuverlässig („not be reliable“). Fazit Wie bereits dargelegt, stammen die meisten der hier zusammengestellten Erkenntnisse aus randomisierten und kontrollierten Studien und Reviews derartiger Studien und Interventionsprogramme mit ohnehin schon motivierteren und optimal betreuten Teilnehmergruppen. Dies bedeutet, dass ihre Ergebnisse fast durchweg besser sind als in nicht-randomisierten, quasi-experimentellen (z. B. Gemeindestudien), unkontrollierten und „frei angebotenen“ Übergewichtsprogrammen, die unter Alltagsbedingungen realisierbar sind. Wenn aber schon bis zu zwei Drittel dieser Interventionen keine messbaren Effekte erzielen und bei weiteren auch unter „Labor“-Bedingungen durchgeführten Programmen die zahlreichen genannten Einschränkungen der Wirksamkeit gelten, muss der Anteil nichtwirksamer Interventionen in Alltagsprojekten noch wesentlich höher liegen. Will man eine auch perspektivisch orientierte kurze Bilanz über unterschiedliche Erfolgschancen von Präventionsmaßnahmen ziehen, dann erscheinen diese als am ehesten erfolgversprechend, wenn sie: ■ sich um eine Einbettung in die soziale Realität der Untersuchungsteilnehmer bemühen unter Einbeziehung der alltäglichen Lebensräume (Arbeit, Schule, Familie, Peer-Groups), ■ nicht an anonyme, wenig überschaubare Bevölkerungskreise appellieren, sondern eine gezielte Teilnehmer-Auswahl treffen und dabei eine klare konzeptionelle Orientierung auf die spezielle Zielgruppe entwickeln, ■ nicht nur (wie schon so oft im Kontext Prävention) die Umsteuerung individueller Verhaltensstile anpeilen, sondern in zumindest demselben Umfang die Veränderung jener konkreten Allgemeinere Schlussfolgerungen für geplante oder schon eingeleitete Präventionsmaßnahmen, die sich aus der skizzierten Literaturübersicht ergeben, sind darüber hinaus folgende: ■ Die Akzeptanz einer mit den bislang entwickelten Konzepten nur begrenzt zu erwartenden Reichweite und Effektivität von Präventionsmaßnahmen und die Kommunikation dieser Sachlage bei der Planung, Ankündigung und Durchführung von Anti-Übergewichtsinterventionen ■ Die Vermeidung von falschen Erwartungen und Hoffnungen bei Veranstaltern und Teilnehmern und in der Öffentlichkeit sowie die Anerkennung eines hohen Aufwands für wirksame und insbesondere nachhaltig wirksame Interventionen ■ Die ergebnisoffene Realisierung weiterer methodisch hochwertiger Studien zu durchgeführten Programmen mit einer langfristigen Evaluation über den Studienabschluss hinaus ■ Eine gründlicher als bislang durchgeführte Reflexion und Diskussion über den individuellen und gesellschaftlichen Stellenwert von Gewicht und Übergewicht und über die teilweise auch von Partialinteressen geleiteten Hintergründe ihrer gesellschaftlichen Thematisierung und Bearbeitung. Hinweis: Die zahlreichen Literaturquellen in diesem Beitrag wurden aus Platzgründen mit Nummern versehen. Die Literaturliste haben wir im Internet unter www.gesundheitsmonitor.de (Rubrik Downloads, Newsletter Sonderausgabe Adipositas) bereit gestellt. 13 Internationale Erfahrungen Von Dr. Bernard Braun Wie bereits im vorangegangenen Artikel deutlich wurde, ist schon die Zahl der wissenschaftlichen Studien zur Intervention gegen Übergewicht und Adipositas nur noch schwer überschaubar. Dies gilt umso mehr für jene Programme und Aktivitäten, die sich aus unterschiedlichsten Gründen (aber ohne den Anspruch einer wissenschaftlichen Evaluation), dem Kampf gegen Übergewicht und Adipositas verschrieben haben. Ein Überblick über diese Programme und Einzelinitiativen in anderen Ländern kann an dieser Stelle daher nicht viel mehr als illustrativen Charakter haben und soll primär die „bunte Palette“ der Vorgehensweisen skizzieren. Konkrete Details zu den geplanten Maßnahmen werden im „Blueprint on Aboriginal Health“ nicht genannt, jedoch gibt es Schwerpunktfelder. Dazu gehören eine stärkere Berücksichtigung des GenderAspekts bei Forschungsaktivitäten und politischen Vorhaben sowie der Aufbau eines Informationsnetzwerks, um „Models of Good Practice“ bekannt zu machen. Die Maßnahmen sollen in einer Vielzahl von Bereichen angesiedelt werden: Bildung und Erziehung, Wohnungsbau, Nahrungsmittel-Sicherheit, Gewalt gegen weibliche Ureinwohner, Kinder und Senioren, Trinkwasserqualität und Belastungen durch UmweltSchadstoffe. Kanada USA startete die Förderinitiative der Bundeseinrichtung „Centers for Disease Control and Prevention (CDC)“, ein von der „NIH Obesity Research Task Force“ des „National Institute of Health“ entwickelter strategischer Plan mit vielfältigen Präventions- und Behandlungsansätzen. Ziel ist es, die Prävalenz von Adipositas bei Erwachsenen bis 2010 um 15 Prozent zu senken. Zu nennen ist weiterhin das „Calories Count“-Programm der „Food and Drug Administration (FDA)“ von 2004, ein im gleichen Jahr gestartetes Werbe- und Erziehungsprogramm des „Department of Health and Human Services (HHS)“ oder die 2005 von führenden Mitgliedern der „National Governors Association“ ins Leben gerufenen Initiative „Healthy America“. In Kanada konzentriert sich das 2005 vereinbarte 10-Jahres-Regierungsprogramm „The Blueprint on Aboriginal Health“ unter anderem darauf, das Adipositas-Risiko der drei Ureinwohnergruppen „first nations, Métis und Inuit“ zu verringern. Das Programm ist mit einem Fünf-Jahres-Budget von 5 Milliarden kanadischen Dollar (etwa 3,5 Milliarden Euro) ausgestattet. Davon werden knapp ein Drittel für Erziehung und knapp ein Sechstel zur Stabilisierung der traditionellen Gesundheitssysteme der Inuit und first nations ausgegeben. Der Anteil adipöser und an Diabetes erkrankter Kinder soll innerhalb von fünf Jahren um 20 Prozent und nach zehn Jahren um 50 Prozent verringert werden. Die Umsetzung des Programms wurde zwischenzeitlich durch die im Jahre 2006 gebildete neue Regierung verzögert. Ergebnisse werden frühestens im Jahr 2010 erwartet. Die USA haben aufgrund des Problemdrucks früh mit systematischen Aktivitäten zur Prävention und Behandlung von Übergewicht und Adipositas begonnen. Es gibt etliche Beispiele für bundes- und landesweite Programme. Im Jahr 2000 Am Beispiel der Entwicklung der letzten Jahre im Bundesstaat Kalifornien kann die bereits eingangs angedeutete Fülle von Programmen in den USA etwas genauer illustriert werden. 2004 startete health policy monitor gesundheitsmonitor mit dem „California Childhood Obesity Prevention Act“ im US-Bundesstaat Kalifornien der weltweit umfassendste Versuch, „ungesunde“ und das Übergewicht fördernde Getränke aus Schulen zu verbannen („soda ban“-Programm) und durch „gesunde“ Getränke wie Wasser, Milch und ungesüßte Fruchtsaftgetränke zu ersetzen. Das Programm beinhaltet keine formale Evaluation seiner Wirkungen. Die dennoch durchgeführten Bewertungen der ökonomischen und gesundheitlichen Erfolge hatten keine eindeutigen Ergebnisse. So ist unklar, ob das Programm auch außerhalb der Schule zu einer Veränderung des Trinkverhaltens führt. Ebenfalls in Kalifornien existiert seit dem Haushaltsjahr 2005/2006 eine mit jährlich 6 Millionen US-Dollar (etwa 4.4 Mio Euro) ausgestattete „Anti-obesity initiative“ des Gouverneurs Schwarzenegger. Die staatlichen Programme wurden und werden durch zahlreiche public-private-Initiativen begleitet oder durch private bzw. von privaten Stiftungen getragene Aktivitäten mehr oder weniger aufeinander abgestimmt. Dabei handelt es sich beispielsweise um das Projekt LEAN („Leaders Encouraging Activity and Nutrition“), einer Gemeinschaftsinitiative von Ministerien, Stiftungen, Forschungseinrichtungen und Netzwerken oder um das Programm der privaten Stiftung „California Endowment“ zur Unterstützung kommunaler Ernährungs- und Bewegungsinitiativen.Über die Erfolge dieser Interventionen liegen wiederum wenig belastbare oder verallgemeinerbare Daten vor. Teilweise ist eine Evaluation offiziell nicht vorgesehen, teils gehen die realistischen Selbsteinschätzungen der Programme von langfristig eher bescheidenen Wirkungen aus. Die von Gesundheitsforschern der Universität Berkeley explizit gezogene Parallele zum Anti-Tabakprogramm, das 18 14 Jahre brauchte, um durch eine vergleichbare Vielfalt von Initiativen und mit massiver staatlicher Hilfe erste Erfolge zu erzielen, ist ein Beispiel für solchen Interventions-Realismus. Am Beispiel der USA stellt sich allerdings auch die Frage, ob eine solche Vielzahl und Vielfalt sinnvoll ist oder im Gegenteil durch auf die Aufsplitterung von finanziellen Ressourcen und Forschungsaktivitäten nicht sogar kontraproduktiv ist. Spanien In Spanien wurde der sehr detaillierte Plan „Nutrition, Physical Activity, and Obesity Prevention (NAOS)“ ins Leben gerufen, der sich an die Gesamtbevölkerung, speziell aber auch an Kinder und Jugendliche richtet. Getragen werden sollen die von vielen Institutionen gemeinsam geplanten Aktivitäten durch über 80 gesellschaftliche Organisationen, Universitäten, Grundschulen, Berufsschulen, Wissenschaftler und Stiftungen. Dazu gehört Polen Eines der 19 Ziele im „National Health Program 2006-2015“ ist es, die Ernährungsgewohnheiten zu verändern und damit – sowie durch eine Verbesserung der Lebensmittelqualität – die Anzahl der übergewichtigen und adipösen Polen zu verringern. Das Programm benennt keine konkreten Maßnahmen und Interventionsprogramme, es werden jedoch vielfältige (insgesamt 19) Politikfelder aufgezählt, in denen Schwerpunkte für notwendige Veränderungen gesehen werden. Zu diesen sehr allgemein gehaltenen Zielsetzungen zählen neben der Eingrenzung von Übergewicht durch mehr Bewegung und gesündere Ernährung auch eine Senkung der Raucher-Quote und des Alkoholkonsums, Verbesserungen im sanitären und Hygiene-Bereich, geringere Unfallzahlen, Prävention und bessere Versorgung psychischer Erkrankungen. Das Programm enthält wie viele andere weltweit existierende Programme keine speziellen Anreize, mit denen seine Ziele erreicht werden können. Auch noch lange Zeit nach seiner Verabschiedung enthielt es keine Hinweise, wie die für seine Umsetzung notwendigen finanziellen Mittel erbracht werden sollen. Auch zur konkreten Implementierung der Maßnahmen in die verschiedenen Politikfelder oder zur Evaluation der Zielerreichung finden sich keine näheren Erläuterungen. auch eine ausdrücklich hervorgehobene Koalition mit dem Verband der Nahrungsmittel- und Getränkehersteller. NAOS will durch ein Bündel unterschiedlichster Vorgehensweisen und Interventionen sowohl einen aktiveren Lebensstil fördern als auch eine Veränderung der täglichen Essgewohnheiten erreichen. Zu den einzelnen Maßnahmen des Plans gehören unter anderem: die Verbannung „ungesunder“ Getränke in Getränkeautomaten aus Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die Einführung neuer Standards für Schulmahlzeiten oder die 15 Kooperation mit Hotelketten, die ein „gesünderes“ Essen anbieten wollen. Weitere Maßnahmen sind vermehrter Schulsport und umfangreichere Informationen für Schulkinder über eine gesundere Ernährung und der Aufbau von Internetseiten zur Ernährungsberatung für erwachsene Spanier. Auch eine Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel und eine Einschränkung von Werbemaßnahmen für Lebensmittel, die sich an Kinder richten, gehören zu den Vorhaben. Zur Überprüfung des Programmerfolgs existiert ein so genannter „Observatory of Obesity“. Über den Erfolg des Programms existieren noch keine detaillierten Ergebnisse. richts auf Felder gehen und Gemüse anbauen. Über Effekte dieser Bemühungen ist nichts bekannt, da sie nicht systematisch gemessen werden. Hinweis: Die Informationen zu den hier vorgestellten Länderberichten stammen aus dem Internationalen Netzwerk Gesundheitspolitik der Bertelsmann Stiftung. Sie können unter www.hpm.org mit dem Stichwort „obesity“ gesucht und heruntergeladen werden. Japan Mit dem Vordringen „westlicher“ Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsmittel sowie einem zunehmenden Leistungsdruck in der japanischen Gesellschaft und Wirtschaft – so japanische Gesundheitswissenschaftler – erkennt man auch in Japan neuerdings Probleme durch Übergewicht und Adipositas. Die Gegenaktivitäten sind im Moment noch vereinzelt, aber durchaus handfester Natur: Ab 2008/2009 sind nach einem neuen Gesetz zur Reform des Gesundheitssystems Unternehmen verpflichtet, alle Beschäftigte für die eine Firmen-Gesundheitsversicherung besteht, untersuchen zu lassen und dabei auch den Bauchumfang der über 40-jährigen Mitarbeiter zu messen. Wer dabei ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und seine möglichen Folgeerkrankungen zeigt, muss sich zu Themen wie Fitness und Ernährung beraten lassen. Außerdem hofft die japanische Regierung, über ein „gesundes“ Schulessen auch die außerschulischen Ernährungsweisen verändern zu können. Bereits seit einigen Jahren hat jede Schule dazu eine in Nahrungsmittelkunde geschulte Lehrkraft, und ältere Bürger können mit den Schülern im Rahmen des Schulunter- health policy monitor gesundheitsmonitor Gemeinsam gegen Übergewicht Aktivitäten der Bertelsmann Stiftung in Schulen Im Rahmen ihres Projektes „Anschub.de – für die gute gesunde Schule“ arbeitet die Bertelsmann Stiftung zusammen mit Partnern auch an der Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Ausgewählte Schulen im sozialen Brennpunkt Berlin-Mitte erproben dazu im Rahmen von Modellprojekten geeignete Maßnahmen, die von Wissenschaftlern und Praktikern zusammen mit den Zielgruppen entwickelt werden. Dabei wird viel Wert auf einen umfassenden Ansatz gelegt, der nicht nur das Verhalten von Schülern, Eltern und Lehrern berücksichtigt, sondern auch die für die Entstehung von Übergewicht entscheidenden Lebensverhältnisse einbezieht. Je nach Bedarf gehören zu den Maßnahmen z.B. mehr Bewegungsmöglichkeiten für eine aktive Tagesgestaltung (bewegte Pausen, bewegter Unterricht), bessere Verpflegungsangebote in Schulen, Fortbildung von Lehrern zum Führen von Elterngesprächen bei übergewichtigen Kindern, aber auch Veranstaltungen für Eltern, die Entwicklung von Informationsmaterialien sowie die Umgestaltung von Räumen und Schulhöfen. Parallel sollen wirksame Strukturen und Unterstützungssysteme in der Kommune aufgebaut werden, z.B. durch die Zusammenarbeit und Vernetzung von Kitas, Schulen, Freizeiteinrichtungen und Öffentlichem Gesundheitsdienst im Stadtteil. Eingebunden sind die Aktivitäten in ein ganzheitliches Konzept der schulischen Gesundheitsförderung, in dem Gesundheit nicht isoliert sondern immer zusammen mit dem Bildung- und Erziehungsauftrag der Schule verstanden wird und so einen Beitrag zur Schulentwicklung leistet. „Schwere Zeiten, neue Wege – Gemeinsam aktiv für die Prävention von Übergewicht und Adipositas in der Schule“ (Download unter www.anschub.de, Rubrik Module). Weitere Informationen unter www.anschub.de. Ansprechpartner: Rüdiger Bockhorst ([email protected]) health policy monitor Themenfeld Gesundheit Carl-Bertelsmann-Str. 256 33311 Gütersloh www.bertelsmann-stiftung.de Verantwortlich Robert Amhof Autoren Dr. Bernard Braun PD Dr. Uwe Helmert Friedrich Schorb Alle Autoren arbeiten am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen Redaktion Dr. Gerd Marstedt Robert Amhof Kerstin Blum Bildnachweis Veit Mette, Bielefeld Imagesource Photodisc Kontakt Heike Clostermeyer Tel.: (05241) 81-8 13 81 Fax: (05241) 81-68 13 81 [email protected]