6 Die Stücke sind auch Gedichte, nur in einer anderen Form. [H. C. Artmann, in einem Interview mit Helene Röbl vom 6.3.1985] Eike Muny Theater als lyrisches Drama 192 [1] Gerd-Dieter Stein, „Das Mirakel der Nebensächlichkeit“. Ein Versuch zu Artmanns Theaterspielen, in: Pose, Possen und Poesie. Zum Werk Hans Carl Artmanns. Herausgegeben von Josef Donnenberg, Stuttgart 1981, S. 125-148, hier S. 126. Eike Muny: Theater als lyrisches Drama 1. Einleitung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem dramatischen Werk Hans Carl Artmanns. Artmann hat im Zeitraum zwischen 1952 und 1966 mehr als 30 Dramen verfasst, die 1969 zu einem großen Teil in dem Band die fahrt zur insel nantucket erschienen sind. Bereits auf den ersten Blick fällt ins Auge, dass sich die Texte nur schwer in herkömmliche Textgruppen der Dramenanalyse und Gattungstheorie eingliedern lassen. Das liegt erstens an ihrer ausgesprochenen Kürze: Die meisten Texte erstrecken sich über weniger als zehn Buchseiten. Sowohl die Dramen, die Artmann bis 1955 geschaffen hat, als auch die der späten 60er Jahre haben oft eine Länge von unter fünf Seiten. Da dieser Bündigkeit der Darstellungszeit — als Pendant zum narratologischen Fachbegriff Erzählzeit verstanden — häufig eine ebenso kurze Handlungsdauer bzw. knappe dargestellte Zeit entspricht, werden einige der Texte auch als Minutenstücke bezeichnet. Gerd-Dieter Stein spricht zu Recht von Augenblickssituationen, die diese Texte hervorbringen, und dementsprechend erinnern sie ihn an die Kurzstücke der beiden Spanier Ramon Gomez de la Serna Zweitens wirken die und Federico Garcia Lorca.[1] in den Untertiteln zugeordneten Gattungsbezeichnungen, sofern vorhanden, eigenwillig. Sie entstammen ganz unterschiedlichen literarischen Überlieferungen (so die Nennungen Kasperlstück, Zauberposse, Gleichnis, tragicommedia dell’arte) oder beziehen sich auf Bereiche außerhalb der literarischen Form (Votivsäulchen, Mysterium, Chinoiserie), speziell auf das Medium der Musik (duetto, Melodram). Sind sie direkt der Theatertradition entnommen, so referieren sie auf einzelne Facetten bzw. Sequenzen von Aufführungen (Pantomime, Tableau, Entremes), die ursprünglich Übergangsbereiche einer Theaterdarbietung meinen, hier nun aber zu Eigenständigkeit gelangt sind und eben den Charakter des ganzen Stückes beleuchten. Drittens erlaubt auch die Betrachtung der Handlungsverläufe bzw. behandelten Themen nur schwer eine generische Zuteilung. Das Spektrum der Stoffe […] reicht von den Stereotypen der Commedia dell’arte zum Horror strip mit 193 Dracula, dem wiederum die altbekannte Rotkäppchen-Story [2] Karl Riha, Ein patasich entpuzzelt.[2] Helene Röbl hat den Versuch unter- gonischer Aviatiker. Zu H.C. Artmanns nommen, die Dramen nach thematischen Gesichtspunkten Dramen, in: Über zu klassifizieren, dabei unter anderem sechs Texte ausge- H.C. Artmann. Herausgegeben von Gerald macht, die sich der Kategorie Kasperlstück zuordnen lassen. Bisinger, Frankfurt am Zugleich weist sie warnend darauf hin, dass die Dramen Main 1972, S. 157-165, keinen einheitlichen Charakter besitzen. Artmann hat den hier S. 160. Kasperl beziehungsweise das Genre des Kasperlstückes [3] Helene Röbl, Die Fahrt zur Insel jeweils anders eingesetzt und für seine Zwecke beziehungs- Nantucket. Einige weise literarische Vorgangsweise adaptiert.[3] Die Dramen- ausgewählte Theaterstücke als texte erweisen sich also nicht bloß als sperrig gegenüber Beispiel für H.C. habitualisierten Gattungsschemata. Sie setzen sich vielmehr Artmanns poetisches — so meine These — die Aufgabe, die dramatischen Verfahren, Stuttgart 1998, S. 113. Gattungsgrenzen auszuloten und neu abzustecken. Ganz konkret greifen sie auf solche Gestaltungsmodi zurück, die üblicherweise mit lyrischen Texten in Verbindung gebracht Mein Aufsatz [4] Den Modus-Begriff verwende ich im Anschluss an werden.[4] will das dramatische Werk Gérard Genette. Er bezieht sich auf die Schreibweise (wie?) eines Textes im Gegensatz zu Inhalt (was?) und Artmanns auf diese gattungs- Form (worin?). Vgl. Gérard Genette, Einführung in den spezifischen Besonderheiten Architext, Stuttgart 1990, S. 86. hin analysieren und dafür die [5] Das bedeutet: Die wenigen Inszenierungen der Dramen Artmanns bleiben hier außer Acht. Die Texte einem klammernden Konzentration auf die Texte erklärt sich erstens aus theoretischen Zugriff unter- meiner literatur- und nicht theaterwissenschaftlichen stellen. In einem ersten Perspektive. Zweitens ermöglicht sie die Vergleichbarkeit der Gattungen. Drittens gilt: “Imaginative einleitenden Schritt wird der reading, one can conclude, comes first because it Erkenntnisstand der aktuellen is a neccessary precondition [...] for directing and acting.” Manfred Jahn, Narrative Voice and Gattungstheorie rekapituliert Agency in Drama: Aspects of Narratology of Drama, und der eigene Gattungsbegriff in: New Literary History 32 (2001), S. 666. geklärt (2). Nach einem Abschnitt, der das typisch Dramatische der Texte in den Blick nimmt (3), soll herausgearbeitet werden, inwieweit die Texte ihre Dramenzugehörigkeit auf modalem Wege überschreiten (4). Dies geschieht anhand eines Schemas, das die Texte einerseits auf einer Skala der Referentialität, andererseits auf einer Skala der Narrativität verortet. Bezugspunkt meiner Untersuchung stellt jeweils der dramatische Text dar, so wie er sich als Grundlage jeder Lektüre und der möglicherweise daran anschließenden Inszenierungen anbietet.[5] 194 2. Zum Gattungsbegriff Bei aller berechtigten Kritik an dem unreflektiert normativen oder gar essentialistischen Gebrauch des Klassifikationskonzepts Gattung ist seine literaturwissenschaftliche Nützlichkeit heute unumstritten: sowohl für das Verständnis von Texten als auch zur Kennzeichnung literaturgeschichtlicher Entwicklungen. Darüber hinaus gilt als Common Sense, dass noch unabhängig von der Frage der wissenschaftlichen Reflexion das Wissen (bzw. Nichtwissen) um die Gattungszugehörigkeit in hohem Maß den Erwartungshorizont des Lesers und damit die Rezeption des Werkes lenkt.[6] Gattung wird in diesem Aufsatz verstan[6] Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur den als ein Ordnungsbegriff, der dazu auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen dient, Verbindungslinien zwischen einvon Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993, S. 14. zelnen (zeitlich oder kulturell mitunter [7] Vgl. Dieter Lamping, Gattungstheorie, in: sehr disparaten) literarischen Texten Reallexikon der deutschen Literaturwissen- aufzuzeigen, indem er die Texte zu schaft. Neubearbeitung des Reallexikons der Gruppen formiert. Als die genannten deutschen Literaturgeschichte. Band 1. Herausgegeben von Georg Braungart, Klaus Grubmül- Verbindungslinien werden üblicherler, Jan-Dirk Müller und Klaus Weimar, Berlin weise modale, inhaltliche und formale und New York 1997, S. 658-661, hier S. 659. Übereinstimmungen bzw. Familien[8] Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausähnlichkeiten in Anschlag gebracht.[7] gegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 5-9. Die dramatische Dichtung umfasst Für Aristoteles beispielsweise verbindet demnach Tragödie (überlegenes Personal) alle Dichtung die Versform; seine Unterund Komödie (unterlegenes Personal), die narrative Dichtung Epos (überlegenes Personal) scheidung zwischen dramatischer und und Parodie (unterlegenes Personal). narrativer Dichtung erwächst aus dem modalen Kriterium, ob die Texte nur Figurenrede beinhalten oder nicht. Dramatische wie narrative Dichtung unterteilt er ihrerseits in Subgattungen, die entweder ein unter- oder überlegenes Personal zum inhaltlichen Gegenstand Eine prinzipielle Differenz gründet auf der haben.[8] Frage, ob Texte sich die Gattungszugehörigkeit selbst zuschreiben (respektive der mit ihnen untrennbar verbundene Epitext, d.i. in der Regel der Untertitel, diese Zuschreibung leistet) oder ob diese Benennung extratextuell durch die Rezipierenden erfolgt. Die Gruppenzusammengehörigkeit basiert in beiden Fällen auf den angeführten Übereinstimmungen, die bei der wissenschaftlichen Zuordnung explizit ausgewiesen sein sollten, bei der epitextuellen Eike Muny: Theater als lyrisches Drama 195 Zuweisung allerdings in der Regel implizit bleiben — und im Extremfall nicht viel mehr als die Klassenbenennung, also die Unterordnung unter die gemeinsame Gattung als solche umfassen. In dieser Situation hat der Text mit Einsprüchen seitens seines Publikums zu rechnen. Übernimmt der Wissenschaftsdiskurs die vom Text vorgenommene Gattungsbezeichnung und richtet sich bei seiner Gattungskonzeption induktiv nach dem vorgefundenen Textmaterial, so verfährt er deskriptiv; ordnet er den Text im Sinne seiner eigenen Gattungssystematik ein, so ist sein Anliegen normativ. In der Historie der Gattungspoetik und literaturwissenschaftlichen Forschung hat sich durchgesetzt, von der Gattungstrias Drama, Epik und Lyrik zu sprechen und von den diversen historisch gewachsenen Gattungstypen wie Tragödie, Komödie, Roman, Novelle, die auch als Untergattungen begriffen werden.[9] Generelle Vorsicht ist geboten vor der Annahme, dass ein [9] Ein Überblick über die historische solches Gattungsschema Geschlossenheit Entwicklung findet sich unter anderem bei Klaus Müller-Dyes, Gattungsfragen, beanspruchen könne (erinnert sei an Versuche in: Grundzüge der Literaturwissenin den 1960er Jahren, mit der Didaktik oder schaft. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, Artistik eine vierte Hauptgattung zu eta- München 19972, S. 323-348. blieren[10]), außerdem vor der Vision, dass alle [10] Vgl. Herbert Seidler, Die Dichtung. Texte eindeutig in das vorgeschlagene Raster Wesen – Form – Dasein, Stuttgart einzufügen seien (dagegen stehen zumindest 19652, S. 438-455 und Wolfgang Viktor die so genannten Mischformen wie die Ruttkowski, Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine Ballade). Bei der Begründung der kon- modifizierte Fundamentalpoetik, kreten Text-Klassifikation erweist es sich als Bern und München 1968, S. 86-104. problematisch, von statischen Aufteilungsmustern, genauer kontradiktorischen Gegensatzmerkmalen auszugehen. Ein dichotomisch modales Kriterium, das das Drama von einem epischen Text unterscheiden soll und das wir schon bei Aristoteles kennen gelernt haben, wird oft in der Frage gesehen, ob der Text mittels einer (expliziten) Vermittlungsinstanz die dargestellte Welt präsentiert oder nicht. Allein das Studium des epischen Theaters, in dem die Darstellung des Kern-Geschehens an eine konkrete Sprecherperson delegiert sein kann (wie dies im Kaukasischen Kreidekreis Bertold Brechts der Fall ist), demonstriert, dass eine solche 196 Entweder-oder-Wahl schnell bedenklich wird.[11] Deshalb hat sich die Idee entwickelt, über Texte weniger mit Hilfe fester Zuschreibungen zu [12] Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: Derselbe, sprechen, sondern vielmehr Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Herausgegeben von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert,Frankfurt am Main Kennzeichen herauszustel1979, S. 84-121. len, anhand derer die Texte [13] Dreien dieser Funktionen weist Jakobson die Rolle des im Sinne eines Mehr oder ausgezeichneten Merkmals jeweils einer der drei Hauptgattungen zu: Demnach ist die Lyrik dominant expressiv, die Weniger Gattungsidentität Epik dominant referentiell, das Drama dominant appellativ. erhalten. Einen AusgangsMüller-Dyes, der in seinem zusammenfassenden Artikel zur punkt nimmt dieser Ansatz in Gattungsfrage prinzipiell an dem Einteilungsmuster nach Jakobson festhält, führt selbst einige „Grenzen der traditio- der linguistischen Konnellen Gattungsbegriffe“ im Sinne Jakobsons vor. Unter zeptualisierung Roman anderem weist er auf die historische Gebundenheit des [12] Appellativen als Merkmal des Dramas hin: „Entscheidend ist, Jakobsons. Jakobson setzt daß der dramatische Dialog mit seiner appellativen Sprach- sechs Sprachfunktionen an, funktion auf einen bestimmten Dramentyp (oder bestimmte die das menschliche KomDramentypen) beschränkt ist“ (S. 342). Was er nicht erwähnt, meines Erachtens aber entscheidend ist: dass die Funktion munizieren im Allgemeinen des Referentiellen, insbesondere insofern sie sich auf die und literarische Texte im Darstellung von Ereignissen bezieht (d.i. das klassische Merkmal zur Kennzeichnung alles Narrativen) genauso für Besonderen mit verschiededas Drama wie für die Epik Gültigkeit hat. Ebenso scheint ner Gewichtung immer schon mir der Kundgabecharakter auch nur einem Teilbereich der begleiten: die expressive, Lyrik zuzugehören, zu deren Kern die Erlebnislyrik zählt; versteht man die expressive Funktion aber derart, dass sie appellative, referentielle, sich aus der sprachlichen Tiefenstruktur, nicht aber aus den phatische, metasprachliche pragmatischen Kommunikationsbedingungen einer [13] bestimmten Epoche herleitet (S. 338), so lässt sie sich genau- und poetische Funktion. so für den Erzähler aller epischen Texte nachweisen. In Weiterführung Jakobsons [14] Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. beschreibt Holger Korthals Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur, richtig, dass sich der einzelne Berlin 2003, S. 77. Korthals bezieht sich dabei auf die oberste intratextuelle Diskursebene der Texte. literarische Text je nach Gattung hauptsächlich zwischen zwei der sechs Sprachfunktionen: der gewissermaßen textbezogenen poetischen und der kontextbezogenen referentiellen bewegt.[14] Für meine eigene Bestimmung eines dramatischen Textes und seine Abgrenzung von den Gattungen Lyrik und Epik möchte ich als erstes Kriterium seine (epitextuelle) Selbstzuschreibung als Drama oder als dramatischer Subtyp (wie Komödie, Schauspiel) hervorheben. Das zweite und entscheidendere Merkmal findet sich in einer typographischen [11] An dem Kriterium des vermittelnden Kommunikationssystems hält beispielsweise Manfred Pfister fest (vgl. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001, 11.Aufl., S. 22). Dem haben mittlerweile Vertreter der transgenerischen Narratologie heftig widersprochen (vgl. stellvertretend Jahn, Narrative Voice and Agency, S. 659-679). Eike Muny: Theater als lyrisches Drama 197 Eigenheit — nämlich in der Aufteilung des Textes in Hauptund Nebentext, in einerseits fiktive direkte Rede und andererseits in Textpassagen, die diese Rede arrangieren, situieren, kommentieren.[15] [15] Martin Ottmers, Drama, in: Reallexikon der deutschen Abschnitt 3 soll darlegen, dass Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band 2. Herausgegeben beide Kriterien durch von Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller Artmanns Texte erfüllt werden. und Klaus Weimar, Berlin und New York 1997, S. 392. Zur weiteren Kennzeichnung [16] Manfred Pfister ordnet die referentielle Sprachfunktion zwar noch schwerpunktmäßig berichtenden (weil des Dramas möchte ich epischen) Passagen im Drama zu, räumt aber ein, dass sie den Entwurf der referentiellen sich in jeder dramatischen Rede finde (vgl. Pfister, Drama, Sprachfunktion (als einer S. 156). Für Holger Korthals gilt die Dominanz der referentiellen Funktion für Drama und Epik gleichermaßen modalen Eigenschaft) auf- (vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung, S. 77). greifen. Diese zeigt sich, wie Die Narratologie betont seit geraumer Zeit, dass sich neben der Epik auch das Drama durch eine Narration (im Sinne auch in der Epik, meistens einer Geschehensdarstellung) auszeichnet (vgl. Ansgar durch die Darstellung einer und Vera Nünning, Produktive Grenzüberschreitungen: Handlung (narrativer Transgenerische, Intermediale und Interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie, in: Erzähltheorie transgeneModus).[16] Abschnitt 4 wird risch, intermedial, interdisziplinär. Herausgegeben von anhand von vier ausgewählten Ansgar und Vera Nünning, Trier 2002, S. 1-22, hier S. 7). Werken vorführen, dass die Texte Artmanns die Grenzen des modalen Gebrauchs, der für Dramen typisch ist (nämlich der Referentialität und der Narration), überschreiten. 3. Die Texte als Dramen Zunächst möchte ich die Texte Artmanns hinsichtlich derjenigen Eigenschaften untersuchen, die es als plausibel erscheinen lassen, sie (wie bislang stillschweigend vorausgesetzt) tatsächlich als Dramen zu bestimmen. Dem gesamten Band die fahrt zur insel nantucket und damit auch den Gattungsbezeichnungen, die von Fall zu Fall im Untertitel der jeweiligen Texte vorhanden sind, ist der Paratext theater vorgeblendet. Eine vorsichtige Festlegung liegt darin, Theatertexte als Dramen zu fassen, die (auch [17] Anders Gerda Poschmann, die Theatertexte als „Elemente einer dynamischen Klasse verbalsprachlicher beim bloßen Lesen) eine Texte [sieht], welche allein ihre Bestimmung – oder auch Bühnensituation evozieren.[17] jenseits der Autorintention – ihre Eignung für die Bühne Verantwortlich für die Kontu- vereint“ (Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturrierung dieser Theatersituation gische Analyse, Tübingen 1997, S. 42). Ob nun Texte faktisch ist in erster Linie ein inhalt- für die Bühne bestimmt oder geeignet sind, lässt sich allerdings schwer nachweisen und hängt zum großen liches Moment, nämlich das Teil vom Geschmack der Intendanten ab, die einzelne Vorhandensein metatheatraler Werke in ihr Jahresprogramm aufzunehmen erwägen. 198 Textpassagen. Diese können entweder Bestandteil des Nebentextes sein oder aber dem metaleptischen Kommentar einer Figur entspringen. Die meisten Texte Artmanns arbeiten mit theaterbewussten Schauplatzbeschreibungen, indem sie statt Orte einer fiktionalen Welt Elemente der Bühne nennen. Beispielhaft sei das Drama punch angeführt. Gleich in dem ersten Satz des einleitenden Nebentextes heißt es: zwei constabler patroullieren über die Bühne [Hervorhebungen von mir], und ein paar Zeilen drauf: er [punch, E.M.] springt gelenkig auf, hüpft an die Rampe und schlägt ein bein hinüber. Die Beschimpfungen punchs rufen indes wütende Proteste hervor (buh-rufe aus dem publikum) und rücken mit dem Zuschauerraum die zweite Konstituente des Theaters (neben der Bühne) ins Wenn der erschlagene blinde seinen Bewusstsein.[18] [18] Die in diesem Aufsatz angeführten eigenen Tod verkündet (wache! ich bin tot!), Zitate aus dem dramatischen Werk dann spielt das zwar nicht direkt auf die Artmanns beziehen sich auf den oben angesprochenen Band: H.C. Artmann, die Theatersituation an, macht aber die fahrt zur insel nantucket. theater. mit Fiktionalität der Handlung deutlich. Wie in einem vorwort von peter o. chotjewitz, Neuwied und Berlin 1969. vielen Dramen ist von der sich verändern[19] Die einzige Ausnahme stellt (die beiden den Szene die Rede, und wie in allen Texten [19] fragmentarischen Werke die hochzeit cas- fällt zu Ende ostentativ der Vorhang , im pars mit gelsomina und brighella, Fall von punch, nachdem zuvor die weibsauer wie der mann im mond beiseite gelassen) das Drama die schwalbe dar, das lichen Darsteller erschienen sind. Damit mit einem „ende“ abschließt. gewinnen die Lesenden den Eindruck, einer [20] Gerhard Tschauder, Wer „erzählt“ das Theateraufführung beizuwohnen bzw. das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts, in: Sprache und Literatur in Geschehen aus der Perspektive eines Wissenschaft und Unterricht 22 (1991), S. 59. Beobachters oder eines fiktiven außenperspektivischen Protokollanten mitzuerleben, der das Bühnengeschehen im Wissen um dessen Fiktivität aufzeichnet.[20] Das vermittelt Distanz und lässt die dargestellte Welt von Anfang an als bloßen Spielraum für Typen (wie punch, fee, henker), Motive (wie Gewalt, Tod, Ehe), Sprachstile (wie derb, dialektal, infantil) etc. erfahren. Mittels seiner Metatheatralik bestätigt der Text also seinen Epitext und ordnet sich neben der Subklasse der Theatertexte zugleich der Gattung Drama unter. Das typographische Kriterium wird von allen Texten in Artmanns Band erfüllt. Allein das erste Eike Muny: Theater als lyrisches Drama 199 Drama Die Zyklopin oder Die Zerstörung einer Schneiderpuppe sprengt diese einheitliche Linie, indem es auf die Gestaltung des Haupttextes gänzlich verzichtet und damit das Drama der äußerlichen Form epischer Texte annähert. Das korrespondiert mit dem Untertitel Pantomime und mit der dargestellten Handlung, in der die Personen kaum kommunizieren. Das Vorfinden von Personenverzeichnis und Bild-Einteilung gibt Anlass, die vorliegenden Seiten dennoch als Drama aufzufassen, nämlich als Nebentext mit verkümmertem Haupttext. 4. Überschreiten des Dramatischen Nach dem Blick auf das Dramatische der Dramen Artmanns soll es im Folgenden um die Sichtung solcher Strategien gehen, die es darauf anlegen, die traditionellen Gattungsbanden des Dramatischen auszutesten und zu erweitern. Der Schwerpunkt der textuellen Experimente ruht — passend zu der in der Einleitung konstatierten Textkürze — auf dem Einsatz solcher Techniken, die insbesondere aus dem Um dies zu demonBereich der Lyrik bekannt sind.[21] strieren, möchte ich die oben [21] Die Textkürze tritt als zentrales Element in diversen benannten textuellen Gestal- Lyrik-Bestimmungen auf, unter anderem bei Jürgen Link, Elemente der Lyrik, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundtungsmodi fokussieren. Das kurs. Herausgegeben von Helmut Brackert und Jörn betrifft erstens den Funktions- Stückrath, Hamburg 1996, 4.Aufl., S. 86-101, hier S. 86f. oder Eva Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik. Theorie bereich, der sich zwischen den einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand beiden auf einer Skala liegen- von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen den Endpunkten referentiell Dichtkunst, Heidelberg 2000, S. 64-156. und nicht-referentiell aufspannt. Während Texte, in denen die referentielle Sprachfunktion vorherrscht, einen bestimmten Bedeutungszusammenhang vermitteln wollen, haben Texte mit dominant nicht-referentieller Sprachfunktion ihren Ort in der Mitteilung, dem Informationsträger selbst: Das Signifikantenmaterial rückt in den Vordergrund und dient als Grundlage für die Kombination der Spracheinheiten, die also nicht mehr aufgrund einer übergreifenden Sinnverbindung, sondern mittels lautlicher, semantischer oder visueller Paradigmen vorgenommen wird. Anders gesagt: Statt einer Kohärenzbildung auf sachlicher Ebene erfolgt eine auf sprachmaterieller 200 Eike Muny: Theater als lyrisches Drama Ebene.[22] Zwischen den beiden Grenzpunkten, einen Text entweder als nicht referentiell oder als referentiell anzusehen, bestehen viele Zwischenstufen. Ein Text vermag sein Spiel mit dem Signifikantenmaterial auf ganz verschiedenen Ebenen anzusetzen (von der phonologischen Ebene bis zur syntaktischen) bzw. die Kohärenzbildung über Bedeutung kann auf verschiedenen Stufen aufgekündigt sein: Während einzelne Wörter oder Sätze für sich betrachtet einen schnell nachvollziehbaren Sinn ergeben, mögen die Wörter oder Sätze zusammengenommen inhaltlich völlig disparat bleiben. Die Dominanz der referentiellen Funktion stellt eine Eigenschaft des Dramas dar, die Selbstbezüglichkeit der Signifikanten wird dagegen gerne als modales Merkmal zur Kennzeichnung der Gattung Lyrik angesetzt, so wie sie sich in der Moderne seit Mallarmé präsentiert. Für Holger Korthals sind die aufgrund heutiger Lyrikdefinitionen noch lyrisch zu nennenden Züge gerade diejenigen, die auf [22] Vgl. Jakobson, Linguistik, S. 92. So wie es keine Texte gibt, die an sich ästhetisch-literarisch sind, so gibt es auch keine Texte, die an sich referentiell oder narrativ sind. Jeweils kommen die Rezipierenden ins Spiel, die darüber entscheiden, in welchem Sinne sie den Text lesen. Bei der streng nicht-referentiellen Lesweise verbinden sie mit dem vorgefundenen Sprachmaterial gar keine Bedeutung, d.h. die mentale Enzyklopädie, die konventionelle Sprachzeichensemantiken gespeichert hält, läuft zunächst leer. Stattdessen rastet zur Verarbeitung des Textes ein kognitives Schema ein, das ähnlich wie bei der Perzeption absoluter Musik keine Kohärenz mehr über eine lexikalische Ebene wahrnimmt bzw. erzeugt, sondern ganz am Signifikantensystem als solchem orientiert bleibt. Dabei regelt sich individuell, inwieweit die Rezipierenden das Zeichenmaterial allein auf ihre materiellen Verbindungslinien (Wortwiederholungen, Klangveränderungen, Druckbildvariationen) hin prüfen und begleiten, oder ob sie inhaltliche Assoziationen zur Geltung kommen lassen. In diesem Sinne gilt nicht nur für absolute Musik, sondern auch für sprachliche Signifikantenketten, was mit Adorno als „ohne Erzähltes erzählen“ zu bezeichnen ist, dass das Sprachmaterial eine Projektionsfläche anbietet, die durch die Rezipierenden zur inhaltlichen Aufladung genutzt werden kann (Theodor Adorno, Mahler: Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt am Main 1960, S. 106). Wird ein Text dagegen als dominant referentiell wahrgenommen, so vollziehen die Rezipierenden die größtenteils konventionalisierte Zuordnung semantischer Schemata, die auf logisch-analytischen, alltagsweltlichen und kunstkonventionellen Erfahrungen basieren. Bei narrativen Texten prüft die mentale Enzyklopädie die textuellen Abläufe auf bekannte ‚scripts‘ hin, also auf mental verfügbare typische Handlungsabläufe. Lassen sich die textuell geäußerten Stationen einer Handlung in die scriptuellen Voreinstellungen einpassen, werden sie durch das mentale Vorwissen ergänzt. Andernfalls kann das mentale Schema erweitert und ausdifferenziert werden. [23] Korthals, Zwischen Drama und Erzählung, S.168. Dieter Lamping spricht in derselben Sache der Lyrik eine ,poetische Lizenz‘ zu: „Mehr als andere Dichtung kann die Lyrik zunächst eine Lizenz zu dunkler Rede-Weise für sich beanspruchen“ (Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 72). Vgl. auch Link, Lyrik, S. 92ff. 201 einen spielerischen Umgang mit dem Signifikantenmaterial der Sprache verweisen.[23] Demgemäß richtet sich das Augenmerk der germanistischen Forschung, wenn sie sich mit dem nicht-referentiellen Modus befasst, in der Regel auf experimentelle Gedichte, so auf die Lautgedichte der Dadaisten oder Ernst Jandls. Um die Skala zwischen referentiell und nicht-referentiell auszudifferenzieren, möchte ich eine zweite modale Unterscheidung einführen. Diese ergibt sich aus der Bandbreite der Funktionen, die innerhalb des referentiellen Rahmens zu wählen sind. Die Endpunkte dieser zweiten Skala sollen narrativ und nichtnarrativ heißen, wobei letzter Modus positiv gewendet zumindest in Argumentation und Deskription einzuteilen ist. Die Narration findet sich, wenn ein Text zeitlich aufeinander folgende Ereignisse zur Darstellung bringt.[24] Die Nicht-Narration liegt demgegen- [24] Dies entspricht dem in der narratologischen über vor, wenn keine Ereignisse zur Forschung kursierenden weiten NarrationsBegriff. Matias Martinez und Michael Scheffel Geltung kommen, sondern wenn im rechnen Ereignissen entweder eine dynamische Sinne der Stützung einer These oder eine statische Funktion zu, „je nachdem, ob sie die Situation verändern oder nicht“ (Matias Äußerungen ausgetauscht werden Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die (Argumentation) bzw. ein dauerhafter Erzähltheorie, München 2003, 4. Aufl., S. 109). Zustand vorgestellt wird (Deskription). Die dynamischen Ereignisse unterteilen sich in Handlungen („Situationsveränderung durch die Die gattungstheoretische Forschung Realisierung von Handlungsabsichten menschneigt dazu, das Fehlen einer Ereignis- licher oder anthropomorpher Agenten“) und Geschehnisse („nicht intendierte Zustandsdarstellung, insbesondere das Vorlie- veränderung[en]“), die statischen Ereignisse in gen einer Beschreibung als Merkmal Zustände und Eigenschaften. der Lyrik anzusehen,[25] während für [25] Vgl. Link, Lyrik, S. 88f. das Drama (und die Epik) die Ereignis- bzw. Handlungsdarstellung als Norm gilt. Die beiden Skalen lassen sich nun, auf zwei Achsen abgetragen, zu einem quadratischen Schaubild zusammenfügen, das an vier ausgewählte Dramen Artmanns angelegt werden soll: an Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe (1952), die fahrt zur insel nantucket (1954), nebel und blatt (1955) und an die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache (1961). Diese vier Dramen repräsentieren zwar nicht den gesamten Textkorpus in der Weise, dass sie die Gewichtung, nach der die Texte die Gestaltungsmodi einsetzen, spiegelten — 202 Eike Muny: Theater als lyrisches Drama sie sollen aber veranschaulichen helfen, welches modale Spektrum der Korpus qualitativ absteckt. Zugleich geben sie eine Anregung, unter welchem Blick sich den Dramen Artmanns anzunähern lohnt. Das quadratische Schaubild konstituiert ein Schema, innerhalb dessen jedes Drama durch zwei Attribute charakterisiert wird. Die auf der vertikalen Achse behandelte Narrationsfrage stellt dabei eine Spezifizierung der auf der horizontalen Achse erfassten Referentialitätsfrage dar. Die Schwarzunterlegung deutet an, in welchem modalen Bereich Dramen typischerweise positioniert sind. Die Darstellungszeit des Dramas Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe umfasst eine Länge von knapp drei Buchseiten, im Gegensatz zu anderen Dramen Artmanns entspricht bei diesem Text die Kürze der ungefähren Lektüredauer aber nicht dem Zeitraum des vorgebrachten Geschehens. Das heißt, die Darstellung vollzieht sich zwar chronologisch, nicht aber zeitdeckend, wie dies zum Beispiel in prognose für den Nachmittag oder in Mutter nach Algerien der Fall ist. Ausschlaggebend für das Verstreichen der Zeit innerhalb der dargestellten Welt ist unter anderem die wiederholte Darbietung von Musik und Rezitation, wobei der Text nicht weiter konkretisiert, von welcher Art und Dauer diese ist. Die tageszeitlichen Hinweise suggerieren den Ablauf eines kompletten Tages (vom herbstlichen Morgenlicht in Bild I bis tief in die Nacht in Bild V), tatsächlich findet sich aber im mittleren Bild die Angabe, dass der neuhinzugetretene Mond dauernd auf- und untergeht, dass also viele Tage vergehen. Innerhalb dieser Tage ereignet sich die Handlung um Pierrot als Dichter. In einer ausgestorbenen Stadt wartet Pierrot auf seine geliebte Enocchina. Aus Langeweile und Sehnsucht verbringt er seine Zeit mit einer Modellpuppe, die der Schatten des Orpheus zum Leben erweckt hat. Als die geliebte Zyklopin erscheint und die Situation durchschaut, erschlägt sie ihre Konkurrentin mit einer Axt. Pierrot erhängt sich, und Enocchina reist mit der Bahn wieder ab. Wie oben angemerkt besteht dieses Drama, das sich selbst als Pantomime versteht, nur aus Nebentext. Den Figuren sind zwar mitunter Sprechhandlungen zugeordnet (sie rufen, er beschwört, er wirbt usw.), doch die vollzogenen Äußerungen werden wie Musik und Rezitation nicht weiter ausgeführt. Insofern der Nebentext den Schauplatz vorstellt (Bahnhof, Atelier, Straße) und die zusammengefasste Handlung narrativ entwickelt, ist er deutlich referentiell. Allerdings wirken die vorgestellten Figuren aus Mythos und Commedia dell’arte wie auch die beschriebenen Requisiten mitunter bloß buchstabierend nebeneinander gefügt (Man sieht Maßbänder, Blattpflanzen, Journale, Nadelkissen, obszöne Fotos, den Strick eines Selbstmörders, Messer u. Scheren + andere Untensilien). Sie konturieren ein surreales Dingarrangement, in dem die Partien der Welt konkret, aber doch leblos und fremd nebeneinander stehen — ganz in der Art der [de] Chiricoantike, die den Baustil der Stadt charakterisiert. Durch die Langsamkeit der Ereignisfolge, die sich von Bild-Zustand zu Bild-Zustand schiebt, wirkt der insgesamt narrative Text häufig deskriptiv (Über den Torbogen und Geschäftsportalen, in Bäumen und verschollenen Straßenbahnwagen, unter Brücken und in alten Remisen nisten Genien und Halbgötter wie sanfte Vögel). Die Verzögerung evoziert bei den Rezipierenden eine Atmosphäre der meditativen Schwere und verleiht dem Geschehen eine zeitlose Dimension. Auch die fahrt zur insel nantucket stellt grundsätzlich eine Narration dar: Ein spanisches Schiff fährt in Richtung der Insel Nantucket. Der Seemann Rutherford lässt sich von einer Meerfrau namens Arindaxo locken und springt ins Wasser. Zu den Klängen des Gesangs von Rutherford und Arindaxo sowie unter Beobachtung von Indianern erreicht das Schiff Nantucket, und die Seeleute gehen an Land. Diese Handlung wird fast ausschließlich durch den Nebentext 203 204 [26] Peter Pabisch, H.C. Artmann. Ein Versuch über die literarische Alogik, Wien 1978, S. 45. Eike Muny: Theater als lyrisches Drama vermittelt. Die Äußerungen der Protagonisten entbehren dagegen fast jeder Referentialität. Sie sind Bestandteil einer Phantasiesprache, die — syntaktisch korrekt — semantisch disparate, teils erfundene Wörter verbindet. Sie ahmt lautmalerisch Wasserbewegung und Matrosenarbeit nach — die Assonanz dunkler langer Vokale (oh, o; uu) und heller langer Vokale (ie, i; üh) unterstreicht die Auf- und Abbewegung[26] — legt aber keine bestimmten Bedeutungen fest, bietet lediglich Platz für subjektive Assoziationen der Lesenden: die ballen staulos starm und / staut gehen auf und ab und lee / und lie mestaal […]. Vereinzelt lassen sich konkretere semantische Felder bestimmen, so im Gespräch zwischen Meerfrau und Rutherford: still mir die lust / stiehl mir die brust / so stillmen stehlen wir / die lust […]. Hier spricht der Text augenscheinlich Fragen von Liebe und Sexualität an. Doch auch in dieser Passage ist Kohärenz eher über Reim, Alliteration und alternierenden Rhythmus gestiftet als über die sporadische Bedeutung. Während in Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe durch den Text Musik nur angekündigt, aber nicht dargeboten wird, schaltet sich hier die nicht-referentielle Sprache der Protagonisten ein und konstituiert eine fast musikalische Lautreihe, die dem Lesenden ein klangliches Erleben offeriert und ihm innerhalb der durch den Nebentext vorgegebenen Handlung semantische Anschlussmöglichkeiten gewährt. Der Untertitel duetto gibt für das Drama nebel und blatt das Programm vor: Denn erneut dominiert der nicht-referentielle Modus, und die beiden Figuren tau und lau plaudern wortklanglich im Duett. Da bis auf die Sprecherbezeichnungen kein Nebentext existiert, fällt hier — mit Ausnahme des Sprechens — jegliche Handlung und damit Narration aus. nebel und blatt ist vielmehr ein argumentativer Text, der sich um die Definition des Begriffs Patagonien bemüht, und so ergibt sich seine eigentümliche Diskrepanz zwischen dem konstativ erhobenen Anspruch der Protagonisten, philosophisch Bedeutung zu verhandeln und damit das Gelingen von Kommunikation zu garantieren, und der faktischen Performanz, die nach Regeln jenseits diskursiver Logik funktioniert. Lau definiert normativ, was patagonien bedeuten soll (wenn wir sagen: / patagonien / so meinen wir / nebel und blatt), doch die daran anknüpfenden Beiträge schließen sich dem Vorschlag nicht im Sinne einer denkrichtigen Weiterbestimmung an, sondern greifen die jeweils zuletzt gehörten Worte auf, um diese allein als lautliche oder semantische Kette weiterzuspinnen (tau: nebel und blatt / sind satt / vor nässe.. / lau: sind satt / vor blatt / und nässe...). Obwohl tau mehrfach sein Verstehen beteuert (ich verstehe!), geraten wichtige logische Grundsätze wie die Unterscheidung von Meta- und Objektsprache (aus dem Verhandeln des Themas Patagonien gleiten lau und tau in die Debatte über das Thema Patagonien), von De- und Präskription (wie ist / apatagon / beschaffen..? / oder vielleicht: / wie sollte / apatagon / beschaffen sein?) durcheinander und werden begriffliche Entwürfe als konkrete Entitäten verehrt (du liebst also / patagonien?. Letztlich bringt tau den Charakter des Dramas selbst auf den Punkt, wenn er bemerkt: das ist auch / keine definition — / eine poetische glosse — / nicht mehr!. Das vierte Drama, die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache, ist schließlich ein Text, der im Ganzen wieder einen referentiellen Modus aufweist und eine Geschichte erzählt: Kasper hält im amerikanischen Bürgerkrieg Schildwache und wird dabei von seinem Hauptmann schamlos schikaniert. Erst als die Fee Pocahontas, die sich Kasper zuwendet und ihm verschiedene Wünsche erfüllt, ihn aus dem Kriegsgebiet ausfliegt und im Indianergebiet NordDakota absetzt, kommt er — mit der schönen Frau des Hauptmanns — zur Ruhe: weißt was, greterl? Gehen wir schwammerlsuchen. In diesem Text macht nicht das Sprachmaterial die Musik, und folgerichtig erhält die auf der Bühne gespielte Musik wieder eine größere Rolle, und zwar in Form der vom Waldhornisten vorgetragenen Trompetenklänge. Diese wirken so besänftigend, dass sie den Hornisten abschließend deklamieren lassen: die macht der musik! Die Pointen sind inhaltlich verankert, so in den Gegensätzen von Kaspers Naivität auf der einen Seite und seinen Rollen 205 206 Eike Muny: Theater als lyrisches Drama [27] Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1993, 4.Aufl., S. 332. als wehrloses Opfer, als von der Fee Erwählter, als Künstler, als Liebhaber auf der anderen Seite. Oder darin, dass ausgerechnet Kasper die einzige Figur ist (neben Pocahontas), die trotz ihrer greifbaren Typenhaftigkeit Individualität bewahrt und sich mit eigenem Namen rufen lässt. Die Ereignisdarstellung fußt übrigens wie schon in den Dramen Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe und die fahrt zur insel nantucket auf einem einschneidenden Ortswechsel. Wenn man so will, erfüllen alle drei Dramen die klassische Sujetstruktur Jurij M. Lotmans, der ein Ereignis als die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes ansieht, die im Text ihre topologische Entsprechung findet.[27] Im ersten Text kommt die Zyklopin aus der Ferne in die Stadt und dringt in das private Atelier des Dichters ein, verletzt mithin die Intimität von Puppe und Pierrot und sorgt für deren Tod. Im zweiten Text stürzt der liebestrunkene Rutherford vom Schiff, dem Zeichen von Kultur und Zivilisation, hinab in die Meerestiefe und in den Tod, beides natürlicher Widerpart der menschlichen Kultivierungsversuche. In die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache vermag allein die Flucht aus dem Kriegsgebiet, das nackte Gewalt repräsentiert, ins ferne Indianerland, dem Inbegriff überkommener Friedfertigkeit, Kasper dem Einflussbereich des Hauptmanns zu entziehen und ihm damit ein neues Leben zu ermöglichen. Die Betrachtung der vier Dramen ergibt etwa folgende Markierungen 3 innerhalb des konstruierten Schemas:[28] [28] Die Einstufung, welcher Modus in einem Gesamt-Text dominiert, hängt von vielerlei subjektiven Faktoren ab. Das Schema soll daher nur Tendenzen aufzeigen. 2 4 1 1 fee pocahontas 3 nebel und blatt 2 die zyklopin 4 insel nantucket 5. Zum lyrischen Drama Das Schema demonstriert trotz aller Unschärfe, dass Artmanns Dramen versuchen, das Spektrum aus Referentialität und Narrativität auszuschreiten. Auffallend ist, dass die Texte dazu neigen, den klassischen Bereich des Dramatischen (referentiell und narrativ) zu verlassen und bei solchen Modi Anleihe zu nehmen, die eher im Bereich der Lyrik beheimatet sind (nicht-referentiell und nicht-narrativ). Hinzu kommt die relative Textkürze. Das legt nahe, den Dramen das Attribut lyrisch zu verleihen. Das lyrische Drama ist eine Untergattung, die bereits dem 18. Jahrhundert zugeschrieben wird, vor allem aber zur Kennzeichnung einzelner Dramen der vorletzten Jahrhundertwende Verwendung findet. Wenn ich hier diese Bezeichnung aufgreife, dann ist zu bedenken, in welchem besonderen Sinn die früheren Dramen als lyrisch angesehen werden: die Textvorlagen zu Oper, Singspiel, Oratorium, Kantate wie Mono- und Duodramen des 18. Jahrhunderts, insofern ihnen die Idee einer Verbindung von Drama und Musik zugrunde liegt, die Dramen des fin de siècle und Expressionismus, weil in ihnen der beschreibende Modus dominiert, der die Seelenkonflikte der Protagonisten zur Darstellung bringt.[29] Insofern gilt mit Peter Szondi, dass die Konzeption des lyrischen Dramas als einer durch die Jahrhunderte bestehenden Gattung zu opfern wäre zugunsten einer Vorstellung, die in bestimmten Epochen eine lyrische Dramatik auf Grund jeweils anderer Voraussetzungen entstehen sieht, so dass die Werke […] nicht als historische Illustrationen einer vorgegebenen Gattung, sondern die Gattung als mit ihnen entstehend zu begreifen wäre.[30] Das lyrische Drama, das die Texte Artmanns konturieren, meint, dass auf der einen Seite tragende Elemente des Dramatischen eingehalten werden (insbesondere die Trennung in Haupttext/ Nebentext, ebenso das epitextuelle Selbstverständnis), dass auf der anderen Seite aber Eigenschaften Eingang nehmen, die sich üblicherweise im gattungstheoretischen Katalog der Lyrik finden: nämlich die modale Tendenz, nichtreferentiell und nicht-narrativ zu gestalten, bzw. die 207 [29] Vgl. Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de Siècle. Herausgegeben von Henriette Beese, Frankfurt am Main 1975, S. 18-22. [30] Szondi, Das lyrische Drama, S. 22. 208 relative Textkürze.[31] Die kleine Auswahl von vier Dramen zeigt an, dass Artmann seine Schwerpunkte jeweils unterschiedlich setzt. Insofern die Dramen selbstreferentiell die Materialität der eigenen Sprache zur Geltung kommen lassen und die dramatischen Gattungsgrenzen austesten, mitbegründen sie postmoderne Strömungen der Dramatik.[32] Sie bahnen (neben den Texten des absurden Theaters) in Anschluss an die lyrischen Dramen des fin de siécle oder des Expressionismus den Weg für die post[32] Vgl. Poschmann, modernen Sprechstücke Peter Handkes oder Elfriede Theatertext, S. 22-29. Jelineks. Minimales Geschehen bei maximaler Ausnutzung sprachlicher Selbstreferentialität kennzeichnet daher […] zunehmend die Theatertexte des 20. Jahrhunderts. Das Theater der Postmoderne markiert den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung.[33] Die durch die Kürze der [31] Damit unterscheidet sich mein Begriff des lyrischen Dramas von deduktiven Konzepten wie der Definition Dieter Lampings, der nur solche dramatischen Texte vor Augen hat, die als Einzelrede in Versform gehalten sind (vgl. Lamping, Gedicht, S. 97). Eike Muny: Theater als lyrisches Drama Texte bedingte Informationsbeschränkung wie auch die vielen Unbestimmtheitsstellen, die durch die häufige Dominanz des nicht-referentiellen Modus erzeugt werden, verursachen dabei Polyvalenz bis Unlesbarkeit und fordern eine aktive Rolle der Rezeption. Eine solche Verpflichtung der Lesenden findet sich im Werk Artmanns überhaupt, in der Lyrik, wenn die mundartgerechte [...] Wandlung des schriftlichen Materials[34] eindeutige Stimmigkeit deformiert, oder in der Epik, wenn die Versprachlichung den verarbeiteten comic strips mit der ursprünglichen medialen Grundlage auch ihre scheinbare Eindeutigkeit raubt.[35] Doch diese Verpflichtung ist zugleich Garant für immer neue kommunikative Anschlussmöglichkeiten. 209 [33] Korthals, Drama und Erzählung, S. 171. Zu Zusammenhang und Differenz zwischen den Dramen Artmanns und dem absurden Theater vgl. Röbl, Fahrt, S. 33ff. [34] Gregor Schwering, Achtung vor dem Paratext! Gérard Genettes Konzeption und H.C. Artmanns Dialektdichtung, in: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Herausgegeben von Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek, Berlin 2004, S. 172. [35] Vgl. Hellmut Schneider, Struktur und Schablone. Ein aufschlussreiches Beispiel für Aspekte der sogenannten Trivialliteratur in der Prosa H.C. Artmanns, in: Literatur und Kritik 189/190 (1984), S. 482-499, hier S. 498.