Eike Muny Theater als lyrisches Drama

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Die Stücke sind auch Gedichte,
nur in einer anderen Form.
[H. C. Artmann, in einem Interview
mit Helene Röbl vom 6.3.1985]
Eike Muny
Theater als
lyrisches Drama
192
[1] Gerd-Dieter Stein,
„Das Mirakel der
Nebensächlichkeit“.
Ein Versuch zu
Artmanns Theaterspielen, in: Pose,
Possen und Poesie.
Zum Werk Hans Carl
Artmanns.
Herausgegeben von
Josef Donnenberg,
Stuttgart 1981,
S. 125-148, hier S. 126.
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
1. Einleitung
Der folgende Beitrag beschäftigt sich
mit dem dramatischen Werk Hans Carl Artmanns. Artmann
hat im Zeitraum zwischen 1952 und 1966 mehr als 30 Dramen
verfasst, die 1969 zu einem großen Teil in dem Band die
fahrt zur insel nantucket erschienen sind. Bereits auf den
ersten Blick fällt ins Auge, dass sich die Texte nur schwer
in herkömmliche Textgruppen der Dramenanalyse und
Gattungstheorie eingliedern lassen. Das liegt erstens an
ihrer ausgesprochenen Kürze: Die meisten Texte erstrecken
sich über weniger als zehn Buchseiten. Sowohl die Dramen,
die Artmann bis 1955 geschaffen hat, als auch die der späten
60er Jahre haben oft eine Länge von unter fünf Seiten. Da
dieser Bündigkeit der Darstellungszeit — als Pendant zum
narratologischen Fachbegriff Erzählzeit verstanden — häufig
eine ebenso kurze Handlungsdauer bzw. knappe dargestellte Zeit entspricht, werden einige der Texte auch als
Minutenstücke bezeichnet. Gerd-Dieter Stein spricht zu
Recht von Augenblickssituationen, die diese Texte hervorbringen, und dementsprechend erinnern sie ihn an die
Kurzstücke der beiden Spanier Ramon Gomez de la Serna
Zweitens wirken die
und Federico Garcia Lorca.[1]
in den Untertiteln zugeordneten Gattungsbezeichnungen,
sofern vorhanden, eigenwillig. Sie entstammen ganz
unterschiedlichen literarischen Überlieferungen (so die
Nennungen Kasperlstück, Zauberposse, Gleichnis, tragicommedia dell’arte) oder beziehen sich auf Bereiche
außerhalb der literarischen Form (Votivsäulchen, Mysterium,
Chinoiserie), speziell auf das Medium der Musik (duetto,
Melodram). Sind sie direkt der Theatertradition entnommen, so referieren sie auf einzelne Facetten bzw. Sequenzen
von Aufführungen (Pantomime, Tableau, Entremes), die
ursprünglich Übergangsbereiche einer Theaterdarbietung
meinen, hier nun aber zu Eigenständigkeit gelangt sind und
eben den Charakter des ganzen Stückes beleuchten.
Drittens erlaubt auch die Betrachtung der Handlungsverläufe bzw. behandelten Themen nur schwer eine generische
Zuteilung. Das Spektrum der Stoffe […] reicht von den
Stereotypen der Commedia dell’arte zum Horror strip mit
193
Dracula, dem wiederum die altbekannte Rotkäppchen-Story [2] Karl Riha, Ein patasich entpuzzelt.[2] Helene Röbl hat den Versuch unter- gonischer Aviatiker.
Zu H.C. Artmanns
nommen, die Dramen nach thematischen Gesichtspunkten Dramen, in: Über
zu klassifizieren, dabei unter anderem sechs Texte ausge- H.C. Artmann. Herausgegeben von Gerald
macht, die sich der Kategorie Kasperlstück zuordnen lassen. Bisinger, Frankfurt am
Zugleich weist sie warnend darauf hin, dass die Dramen Main 1972, S. 157-165,
keinen einheitlichen Charakter besitzen. Artmann hat den hier S. 160.
Kasperl beziehungsweise das Genre des Kasperlstückes [3] Helene Röbl, Die
Fahrt zur Insel
jeweils anders eingesetzt und für seine Zwecke beziehungs- Nantucket. Einige
weise literarische Vorgangsweise adaptiert.[3] Die Dramen- ausgewählte
Theaterstücke als
texte erweisen sich also nicht bloß als sperrig gegenüber Beispiel für H.C.
habitualisierten Gattungsschemata. Sie setzen sich vielmehr Artmanns poetisches
— so meine These — die Aufgabe, die dramatischen Verfahren, Stuttgart
1998, S. 113.
Gattungsgrenzen auszuloten und neu abzustecken. Ganz
konkret greifen sie auf solche Gestaltungsmodi zurück, die
üblicherweise mit lyrischen Texten in Verbindung gebracht
Mein Aufsatz [4] Den Modus-Begriff verwende ich im Anschluss an
werden.[4]
will das dramatische Werk Gérard Genette. Er bezieht sich auf die Schreibweise
(wie?) eines Textes im Gegensatz zu Inhalt (was?) und
Artmanns auf diese gattungs- Form (worin?). Vgl. Gérard Genette, Einführung in den
spezifischen Besonderheiten Architext, Stuttgart 1990, S. 86.
hin analysieren und dafür die [5] Das bedeutet: Die wenigen Inszenierungen der
Dramen Artmanns bleiben hier außer Acht. Die
Texte einem klammernden Konzentration auf die Texte erklärt sich erstens aus
theoretischen Zugriff unter- meiner literatur- und nicht theaterwissenschaftlichen
stellen. In einem ersten Perspektive. Zweitens ermöglicht sie die Vergleichbarkeit der Gattungen. Drittens gilt: “Imaginative
einleitenden Schritt wird der reading, one can conclude, comes first because it
Erkenntnisstand der aktuellen is a neccessary precondition [...] for directing and
acting.” Manfred Jahn, Narrative Voice and
Gattungstheorie rekapituliert Agency in Drama: Aspects of Narratology of Drama,
und der eigene Gattungsbegriff in: New Literary History 32 (2001), S. 666.
geklärt (2). Nach einem Abschnitt, der das typisch
Dramatische der Texte in den Blick nimmt (3), soll herausgearbeitet werden, inwieweit die Texte ihre Dramenzugehörigkeit auf modalem Wege überschreiten (4). Dies
geschieht anhand eines Schemas, das die Texte einerseits
auf einer Skala der Referentialität, andererseits auf einer
Skala der Narrativität verortet. Bezugspunkt meiner
Untersuchung stellt jeweils der dramatische Text dar, so
wie er sich als Grundlage jeder Lektüre und der möglicherweise daran anschließenden Inszenierungen anbietet.[5]
194
2. Zum Gattungsbegriff
Bei aller berechtigten Kritik
an dem unreflektiert normativen oder gar essentialistischen
Gebrauch des Klassifikationskonzepts Gattung ist seine
literaturwissenschaftliche Nützlichkeit heute unumstritten:
sowohl für das Verständnis von Texten als auch zur Kennzeichnung literaturgeschichtlicher Entwicklungen. Darüber
hinaus gilt als Common Sense, dass noch unabhängig von
der Frage der wissenschaftlichen Reflexion das Wissen (bzw.
Nichtwissen) um die Gattungszugehörigkeit in hohem Maß
den Erwartungshorizont des Lesers und damit die Rezeption
des Werkes lenkt.[6] Gattung wird in diesem Aufsatz verstan[6] Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur den als ein Ordnungsbegriff, der dazu
auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen dient, Verbindungslinien zwischen einvon Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt
am Main 1993, S. 14. zelnen (zeitlich oder kulturell mitunter
[7] Vgl. Dieter Lamping, Gattungstheorie, in: sehr disparaten) literarischen Texten
Reallexikon der deutschen Literaturwissen- aufzuzeigen, indem er die Texte zu
schaft. Neubearbeitung des Reallexikons der
Gruppen formiert. Als die genannten
deutschen Literaturgeschichte. Band 1. Herausgegeben von Georg Braungart, Klaus Grubmül- Verbindungslinien werden üblicherler, Jan-Dirk Müller und Klaus Weimar, Berlin weise modale, inhaltliche und formale
und New York 1997, S. 658-661, hier S. 659.
Übereinstimmungen bzw. Familien[8] Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausähnlichkeiten in Anschlag gebracht.[7]
gegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart
1994, S. 5-9. Die dramatische Dichtung umfasst Für Aristoteles beispielsweise verbindet
demnach Tragödie (überlegenes Personal) alle Dichtung die Versform; seine Unterund Komödie (unterlegenes Personal), die
narrative Dichtung Epos (überlegenes Personal) scheidung zwischen dramatischer und
und Parodie (unterlegenes Personal). narrativer Dichtung erwächst aus dem
modalen Kriterium, ob die Texte nur Figurenrede beinhalten
oder nicht. Dramatische wie narrative Dichtung unterteilt
er ihrerseits in Subgattungen, die entweder ein unter- oder
überlegenes Personal zum inhaltlichen Gegenstand
Eine prinzipielle Differenz gründet auf der
haben.[8]
Frage, ob Texte sich die Gattungszugehörigkeit selbst
zuschreiben (respektive der mit ihnen untrennbar verbundene Epitext, d.i. in der Regel der Untertitel, diese Zuschreibung leistet) oder ob diese Benennung extratextuell durch
die Rezipierenden erfolgt. Die Gruppenzusammengehörigkeit basiert in beiden Fällen auf den angeführten Übereinstimmungen, die bei der wissenschaftlichen Zuordnung
explizit ausgewiesen sein sollten, bei der epitextuellen
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
195
Zuweisung allerdings in der Regel implizit bleiben — und im
Extremfall nicht viel mehr als die Klassenbenennung, also
die Unterordnung unter die gemeinsame Gattung als solche
umfassen. In dieser Situation hat der Text mit Einsprüchen
seitens seines Publikums zu rechnen. Übernimmt
der Wissenschaftsdiskurs die vom Text vorgenommene
Gattungsbezeichnung und richtet sich bei seiner Gattungskonzeption induktiv nach dem vorgefundenen Textmaterial,
so verfährt er deskriptiv; ordnet er den Text im Sinne seiner
eigenen Gattungssystematik ein, so ist sein Anliegen
normativ.
In der Historie der Gattungspoetik und
literaturwissenschaftlichen Forschung hat sich durchgesetzt, von der Gattungstrias Drama, Epik und Lyrik zu
sprechen und von den diversen historisch gewachsenen
Gattungstypen wie Tragödie, Komödie, Roman, Novelle, die
auch als Untergattungen begriffen werden.[9] Generelle
Vorsicht ist geboten vor der Annahme, dass ein [9] Ein Überblick über die historische
solches Gattungsschema Geschlossenheit Entwicklung findet sich unter anderem
bei Klaus Müller-Dyes, Gattungsfragen,
beanspruchen könne (erinnert sei an Versuche in: Grundzüge der Literaturwissenin den 1960er Jahren, mit der Didaktik oder schaft. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering,
Artistik eine vierte Hauptgattung zu eta- München 19972, S. 323-348.
blieren[10]), außerdem vor der Vision, dass alle
[10] Vgl. Herbert Seidler, Die Dichtung.
Texte eindeutig in das vorgeschlagene Raster Wesen – Form – Dasein, Stuttgart
einzufügen seien (dagegen stehen zumindest 19652, S. 438-455 und Wolfgang Viktor
die so genannten Mischformen wie die Ruttkowski, Die literarischen
Gattungen. Reflexionen über eine
Ballade).
Bei der Begründung der kon- modifizierte Fundamentalpoetik,
kreten Text-Klassifikation erweist es sich als Bern und München 1968, S. 86-104.
problematisch, von statischen Aufteilungsmustern, genauer
kontradiktorischen Gegensatzmerkmalen auszugehen. Ein
dichotomisch modales Kriterium, das das Drama von einem
epischen Text unterscheiden soll und das wir schon bei
Aristoteles kennen gelernt haben, wird oft in der Frage
gesehen, ob der Text mittels einer (expliziten) Vermittlungsinstanz die dargestellte Welt präsentiert oder nicht. Allein
das Studium des epischen Theaters, in dem die Darstellung
des Kern-Geschehens an eine konkrete Sprecherperson
delegiert sein kann (wie dies im Kaukasischen Kreidekreis
Bertold Brechts der Fall ist), demonstriert, dass eine solche
196
Entweder-oder-Wahl schnell
bedenklich wird.[11] Deshalb
hat sich die Idee entwickelt,
über Texte weniger mit Hilfe
fester Zuschreibungen zu
[12] Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: Derselbe,
sprechen, sondern vielmehr
Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Herausgegeben von
Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert,Frankfurt am Main Kennzeichen herauszustel1979, S. 84-121. len, anhand derer die Texte
[13] Dreien dieser Funktionen weist Jakobson die Rolle des im Sinne eines Mehr oder
ausgezeichneten Merkmals jeweils einer der drei Hauptgattungen zu: Demnach ist die Lyrik dominant expressiv, die Weniger Gattungsidentität
Epik dominant referentiell, das Drama dominant appellativ. erhalten. Einen AusgangsMüller-Dyes, der in seinem zusammenfassenden Artikel zur
punkt nimmt dieser Ansatz in
Gattungsfrage prinzipiell an dem Einteilungsmuster nach
Jakobson festhält, führt selbst einige „Grenzen der traditio- der linguistischen Konnellen Gattungsbegriffe“ im Sinne Jakobsons vor. Unter zeptualisierung Roman
anderem weist er auf die historische Gebundenheit des
[12]
Appellativen als Merkmal des Dramas hin: „Entscheidend ist, Jakobsons. Jakobson setzt
daß der dramatische Dialog mit seiner appellativen Sprach- sechs Sprachfunktionen an,
funktion auf einen bestimmten Dramentyp (oder bestimmte
die das menschliche KomDramentypen) beschränkt ist“ (S. 342). Was er nicht erwähnt,
meines Erachtens aber entscheidend ist: dass die Funktion munizieren im Allgemeinen
des Referentiellen, insbesondere insofern sie sich auf die und literarische Texte im
Darstellung von Ereignissen bezieht (d.i. das klassische
Merkmal zur Kennzeichnung alles Narrativen) genauso für Besonderen mit verschiededas Drama wie für die Epik Gültigkeit hat. Ebenso scheint ner Gewichtung immer schon
mir der Kundgabecharakter auch nur einem Teilbereich der
begleiten: die expressive,
Lyrik zuzugehören, zu deren Kern die Erlebnislyrik zählt;
versteht man die expressive Funktion aber derart, dass sie appellative, referentielle,
sich aus der sprachlichen Tiefenstruktur, nicht aber aus den phatische, metasprachliche
pragmatischen Kommunikationsbedingungen einer
[13]
bestimmten Epoche herleitet (S. 338), so lässt sie sich genau- und poetische Funktion.
so für den Erzähler aller epischen Texte nachweisen. In Weiterführung Jakobsons
[14] Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. beschreibt Holger Korthals
Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur,
richtig, dass sich der einzelne
Berlin 2003, S. 77. Korthals bezieht sich dabei auf
die oberste intratextuelle Diskursebene der Texte. literarische Text je nach
Gattung hauptsächlich zwischen zwei der sechs Sprachfunktionen: der gewissermaßen textbezogenen poetischen
und der kontextbezogenen referentiellen bewegt.[14]
Für meine eigene Bestimmung eines dramatischen Textes
und seine Abgrenzung von den Gattungen Lyrik und Epik
möchte ich als erstes Kriterium seine (epitextuelle) Selbstzuschreibung als Drama oder als dramatischer Subtyp (wie
Komödie, Schauspiel) hervorheben. Das zweite und entscheidendere Merkmal findet sich in einer typographischen
[11] An dem Kriterium des vermittelnden Kommunikationssystems hält beispielsweise Manfred Pfister fest (vgl. Manfred
Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001,
11.Aufl., S. 22). Dem haben mittlerweile Vertreter der
transgenerischen Narratologie heftig widersprochen (vgl.
stellvertretend Jahn, Narrative Voice and Agency, S. 659-679).
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
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Eigenheit — nämlich in der Aufteilung des Textes in Hauptund Nebentext, in einerseits fiktive direkte Rede und
andererseits in Textpassagen, die diese Rede arrangieren,
situieren, kommentieren.[15] [15] Martin Ottmers, Drama, in: Reallexikon der deutschen
Abschnitt 3 soll darlegen, dass Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons
der deutschen Literaturgeschichte. Band 2. Herausgegeben
beide Kriterien durch von Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller
Artmanns Texte erfüllt werden. und Klaus Weimar, Berlin und New York 1997, S. 392.
Zur weiteren Kennzeichnung [16] Manfred Pfister ordnet die referentielle Sprachfunktion zwar noch schwerpunktmäßig berichtenden (weil
des Dramas möchte ich
epischen) Passagen im Drama zu, räumt aber ein, dass sie
den Entwurf der referentiellen sich in jeder dramatischen Rede finde (vgl. Pfister, Drama,
Sprachfunktion (als einer S. 156). Für Holger Korthals gilt die Dominanz der referentiellen Funktion für Drama und Epik gleichermaßen
modalen Eigenschaft) auf- (vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung, S. 77).
greifen. Diese zeigt sich, wie Die Narratologie betont seit geraumer Zeit, dass sich neben
der Epik auch das Drama durch eine Narration (im Sinne
auch in der Epik, meistens
einer Geschehensdarstellung) auszeichnet (vgl. Ansgar
durch die Darstellung einer und Vera Nünning, Produktive Grenzüberschreitungen:
Handlung (narrativer Transgenerische, Intermediale und Interdisziplinäre
Ansätze in der Erzähltheorie, in: Erzähltheorie transgeneModus).[16] Abschnitt 4 wird risch, intermedial, interdisziplinär. Herausgegeben von
anhand von vier ausgewählten Ansgar und Vera Nünning, Trier 2002, S. 1-22, hier S. 7).
Werken vorführen, dass die Texte Artmanns die Grenzen des
modalen Gebrauchs, der für Dramen typisch ist (nämlich der
Referentialität und der Narration), überschreiten.
3. Die Texte als Dramen
Zunächst möchte ich die
Texte Artmanns hinsichtlich derjenigen Eigenschaften
untersuchen, die es als plausibel erscheinen lassen, sie (wie
bislang stillschweigend vorausgesetzt) tatsächlich als
Dramen zu bestimmen. Dem gesamten Band die fahrt
zur insel nantucket und damit auch den Gattungsbezeichnungen, die von Fall zu Fall im Untertitel der jeweiligen
Texte vorhanden sind, ist der Paratext theater vorgeblendet.
Eine vorsichtige Festlegung liegt darin, Theatertexte als
Dramen zu fassen, die (auch [17] Anders Gerda Poschmann, die Theatertexte als
„Elemente einer dynamischen Klasse verbalsprachlicher
beim bloßen Lesen) eine Texte [sieht], welche allein ihre Bestimmung – oder auch
Bühnensituation evozieren.[17] jenseits der Autorintention – ihre Eignung für die Bühne
Verantwortlich für die Kontu- vereint“ (Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische
Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturrierung dieser Theatersituation gische Analyse, Tübingen 1997, S. 42). Ob nun Texte faktisch
ist in erster Linie ein inhalt- für die Bühne bestimmt oder geeignet sind, lässt sich
allerdings schwer nachweisen und hängt zum großen
liches Moment, nämlich das Teil vom Geschmack der Intendanten ab, die einzelne
Vorhandensein metatheatraler Werke in ihr Jahresprogramm aufzunehmen erwägen.
198
Textpassagen. Diese können entweder Bestandteil des
Nebentextes sein oder aber dem metaleptischen Kommentar
einer Figur entspringen. Die meisten Texte Artmanns
arbeiten mit theaterbewussten Schauplatzbeschreibungen,
indem sie statt Orte einer fiktionalen Welt Elemente der
Bühne nennen. Beispielhaft sei das Drama punch angeführt. Gleich in dem ersten Satz des einleitenden Nebentextes heißt es: zwei constabler patroullieren über die
Bühne [Hervorhebungen von mir], und ein paar Zeilen
drauf: er [punch, E.M.] springt gelenkig auf, hüpft an die
Rampe und schlägt ein bein hinüber. Die Beschimpfungen
punchs rufen indes wütende Proteste hervor (buh-rufe aus
dem publikum) und rücken mit dem Zuschauerraum die
zweite Konstituente des Theaters (neben der Bühne) ins
Wenn der erschlagene blinde seinen
Bewusstsein.[18]
[18] Die in diesem Aufsatz angeführten eigenen Tod verkündet (wache! ich bin tot!),
Zitate aus dem dramatischen Werk
dann spielt das zwar nicht direkt auf die
Artmanns beziehen sich auf den oben
angesprochenen Band: H.C. Artmann, die Theatersituation an, macht aber die
fahrt zur insel nantucket. theater. mit Fiktionalität der Handlung deutlich. Wie in
einem vorwort von peter o. chotjewitz,
Neuwied und Berlin 1969. vielen Dramen ist von der sich verändern[19] Die einzige Ausnahme stellt (die beiden den Szene die Rede, und wie in allen Texten
[19]
fragmentarischen Werke die hochzeit cas- fällt zu Ende ostentativ der Vorhang , im
pars mit gelsomina und brighella,
Fall von punch, nachdem zuvor die weibsauer wie der mann im mond beiseite
gelassen) das Drama die schwalbe dar, das lichen Darsteller erschienen sind. Damit
mit einem „ende“ abschließt. gewinnen die Lesenden den Eindruck, einer
[20] Gerhard Tschauder, Wer „erzählt“ das Theateraufführung beizuwohnen bzw. das
Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts, in: Sprache und Literatur in Geschehen aus der Perspektive eines
Wissenschaft und Unterricht 22 (1991), S. 59. Beobachters oder eines fiktiven außenperspektivischen Protokollanten mitzuerleben, der das
Bühnengeschehen im Wissen um dessen Fiktivität aufzeichnet.[20] Das vermittelt Distanz und lässt die dargestellte Welt
von Anfang an als bloßen Spielraum für Typen (wie punch,
fee, henker), Motive (wie Gewalt, Tod, Ehe), Sprachstile (wie
derb, dialektal, infantil) etc. erfahren. Mittels seiner Metatheatralik bestätigt der Text also seinen Epitext und ordnet
sich neben der Subklasse der Theatertexte zugleich der Gattung Drama unter.
Das typographische Kriterium wird
von allen Texten in Artmanns Band erfüllt. Allein das erste
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
199
Drama Die Zyklopin oder Die Zerstörung einer Schneiderpuppe sprengt diese einheitliche Linie, indem es auf die
Gestaltung des Haupttextes gänzlich verzichtet und damit
das Drama der äußerlichen Form epischer Texte annähert.
Das korrespondiert mit dem Untertitel Pantomime und mit
der dargestellten Handlung, in der die Personen kaum
kommunizieren. Das Vorfinden von Personenverzeichnis
und Bild-Einteilung gibt Anlass, die vorliegenden Seiten
dennoch als Drama aufzufassen, nämlich als Nebentext
mit verkümmertem Haupttext.
4. Überschreiten des Dramatischen
Nach dem
Blick auf das Dramatische der Dramen Artmanns soll es im
Folgenden um die Sichtung solcher Strategien gehen, die
es darauf anlegen, die traditionellen Gattungsbanden des
Dramatischen auszutesten und zu erweitern. Der Schwerpunkt der textuellen Experimente ruht — passend zu der
in der Einleitung konstatierten Textkürze — auf dem
Einsatz solcher Techniken, die insbesondere aus dem
Um dies zu demonBereich der Lyrik bekannt sind.[21]
strieren, möchte ich die oben [21] Die Textkürze tritt als zentrales Element in diversen
benannten textuellen Gestal- Lyrik-Bestimmungen auf, unter anderem bei Jürgen Link,
Elemente der Lyrik, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundtungsmodi fokussieren. Das kurs. Herausgegeben von Helmut Brackert und Jörn
betrifft erstens den Funktions- Stückrath, Hamburg 1996, 4.Aufl., S. 86-101, hier S. 86f.
oder Eva Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik. Theorie
bereich, der sich zwischen den einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand
beiden auf einer Skala liegen- von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen
den Endpunkten referentiell Dichtkunst, Heidelberg 2000, S. 64-156.
und nicht-referentiell aufspannt. Während Texte, in denen
die referentielle Sprachfunktion vorherrscht, einen
bestimmten Bedeutungszusammenhang vermitteln wollen,
haben Texte mit dominant nicht-referentieller Sprachfunktion ihren Ort in der Mitteilung, dem Informationsträger
selbst: Das Signifikantenmaterial rückt in den Vordergrund
und dient als Grundlage für die Kombination der Spracheinheiten, die also nicht mehr aufgrund einer übergreifenden Sinnverbindung, sondern mittels lautlicher,
semantischer oder visueller Paradigmen vorgenommen
wird. Anders gesagt: Statt einer Kohärenzbildung
auf sachlicher Ebene erfolgt eine auf sprachmaterieller
200
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
Ebene.[22]
Zwischen den beiden Grenzpunkten, einen
Text entweder als nicht referentiell oder als referentiell
anzusehen, bestehen viele Zwischenstufen. Ein Text vermag
sein Spiel mit dem Signifikantenmaterial auf ganz verschiedenen Ebenen anzusetzen (von der phonologischen Ebene
bis zur syntaktischen) bzw. die Kohärenzbildung über
Bedeutung kann auf verschiedenen Stufen aufgekündigt
sein: Während einzelne Wörter oder Sätze für sich betrachtet
einen schnell nachvollziehbaren Sinn ergeben, mögen die
Wörter oder Sätze zusammengenommen inhaltlich völlig
disparat bleiben. Die Dominanz der referentiellen Funktion
stellt eine Eigenschaft des Dramas dar, die Selbstbezüglichkeit der Signifikanten wird dagegen gerne als modales
Merkmal zur Kennzeichnung der Gattung Lyrik angesetzt, so
wie sie sich in der Moderne seit Mallarmé präsentiert. Für
Holger Korthals sind die aufgrund heutiger Lyrikdefinitionen
noch lyrisch zu nennenden Züge gerade diejenigen, die auf
[22] Vgl. Jakobson, Linguistik, S. 92. So wie es keine Texte gibt, die an sich ästhetisch-literarisch
sind, so gibt es auch keine Texte, die an sich referentiell oder narrativ sind. Jeweils kommen
die Rezipierenden ins Spiel, die darüber entscheiden, in welchem Sinne sie den Text lesen.
Bei der streng nicht-referentiellen Lesweise verbinden sie mit dem vorgefundenen Sprachmaterial gar keine Bedeutung, d.h. die mentale Enzyklopädie, die konventionelle Sprachzeichensemantiken gespeichert hält, läuft zunächst leer. Stattdessen rastet zur Verarbeitung des Textes
ein kognitives Schema ein, das ähnlich wie bei der Perzeption absoluter Musik keine Kohärenz
mehr über eine lexikalische Ebene wahrnimmt bzw. erzeugt, sondern ganz am Signifikantensystem als solchem orientiert bleibt. Dabei regelt sich individuell, inwieweit die Rezipierenden
das Zeichenmaterial allein auf ihre materiellen Verbindungslinien (Wortwiederholungen,
Klangveränderungen, Druckbildvariationen) hin prüfen und begleiten, oder ob sie inhaltliche
Assoziationen zur Geltung kommen lassen. In diesem Sinne gilt nicht nur für absolute Musik,
sondern auch für sprachliche Signifikantenketten, was mit Adorno als „ohne Erzähltes erzählen“
zu bezeichnen ist, dass das Sprachmaterial eine Projektionsfläche anbietet, die durch die
Rezipierenden zur inhaltlichen Aufladung genutzt werden kann (Theodor Adorno, Mahler:
Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt am Main 1960, S. 106). Wird ein Text dagegen als
dominant referentiell wahrgenommen, so vollziehen die Rezipierenden die größtenteils
konventionalisierte Zuordnung semantischer Schemata, die auf logisch-analytischen, alltagsweltlichen und kunstkonventionellen Erfahrungen basieren. Bei narrativen Texten prüft die
mentale Enzyklopädie die textuellen Abläufe auf bekannte ‚scripts‘ hin, also auf mental verfügbare typische Handlungsabläufe. Lassen sich die textuell geäußerten Stationen einer
Handlung in die scriptuellen Voreinstellungen einpassen, werden sie durch das mentale Vorwissen ergänzt. Andernfalls kann das mentale Schema erweitert und ausdifferenziert werden.
[23] Korthals, Zwischen Drama und Erzählung, S.168. Dieter Lamping spricht in derselben
Sache der Lyrik eine ,poetische Lizenz‘ zu: „Mehr als andere Dichtung kann die Lyrik
zunächst eine Lizenz zu dunkler Rede-Weise für sich beanspruchen“ (Dieter Lamping,
Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989,
S. 72). Vgl. auch Link, Lyrik, S. 92ff.
201
einen spielerischen Umgang mit dem Signifikantenmaterial
der Sprache verweisen.[23] Demgemäß richtet sich das
Augenmerk der germanistischen Forschung, wenn sie sich
mit dem nicht-referentiellen Modus befasst, in der Regel
auf experimentelle Gedichte, so auf die Lautgedichte der
Dadaisten oder Ernst Jandls.
Um die Skala zwischen
referentiell und nicht-referentiell auszudifferenzieren,
möchte ich eine zweite modale Unterscheidung einführen.
Diese ergibt sich aus der Bandbreite der Funktionen, die
innerhalb des referentiellen Rahmens zu wählen sind. Die
Endpunkte dieser zweiten Skala sollen narrativ und nichtnarrativ heißen, wobei letzter Modus positiv gewendet
zumindest in Argumentation und Deskription einzuteilen
ist. Die Narration findet sich, wenn ein Text zeitlich aufeinander folgende Ereignisse zur Darstellung bringt.[24]
Die Nicht-Narration liegt demgegen- [24] Dies entspricht dem in der narratologischen
über vor, wenn keine Ereignisse zur Forschung kursierenden weiten NarrationsBegriff. Matias Martinez und Michael Scheffel
Geltung kommen, sondern wenn im rechnen Ereignissen entweder eine dynamische
Sinne der Stützung einer These oder eine statische Funktion zu, „je nachdem, ob
sie die Situation verändern oder nicht“ (Matias
Äußerungen ausgetauscht werden Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die
(Argumentation) bzw. ein dauerhafter Erzähltheorie, München 2003, 4. Aufl., S. 109).
Zustand vorgestellt wird (Deskription). Die dynamischen Ereignisse unterteilen sich in
Handlungen („Situationsveränderung durch die
Die gattungstheoretische Forschung Realisierung von Handlungsabsichten menschneigt dazu, das Fehlen einer Ereignis- licher oder anthropomorpher Agenten“) und
Geschehnisse („nicht intendierte Zustandsdarstellung, insbesondere das Vorlie- veränderung[en]“), die statischen Ereignisse in
gen einer Beschreibung als Merkmal Zustände und Eigenschaften.
der Lyrik anzusehen,[25] während für [25] Vgl. Link, Lyrik, S. 88f.
das Drama (und die Epik) die Ereignis- bzw. Handlungsdarstellung als Norm gilt.
Die beiden Skalen lassen
sich nun, auf zwei Achsen abgetragen, zu einem quadratischen Schaubild zusammenfügen, das an vier ausgewählte
Dramen Artmanns angelegt werden soll: an Die Zyklopin
oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe (1952), die fahrt
zur insel nantucket (1954), nebel und blatt (1955) und an die
liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache (1961).
Diese vier Dramen repräsentieren zwar nicht den gesamten
Textkorpus in der Weise, dass sie die Gewichtung, nach
der die Texte die Gestaltungsmodi einsetzen, spiegelten —
202
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
sie sollen aber veranschaulichen helfen, welches modale
Spektrum der Korpus qualitativ absteckt. Zugleich geben
sie eine Anregung, unter welchem Blick sich den Dramen
Artmanns anzunähern lohnt.
Das quadratische
Schaubild konstituiert ein Schema, innerhalb dessen jedes
Drama durch zwei Attribute charakterisiert wird. Die auf
der vertikalen Achse behandelte Narrationsfrage stellt dabei
eine Spezifizierung der auf der horizontalen Achse erfassten
Referentialitätsfrage dar. Die Schwarzunterlegung deutet
an, in welchem modalen Bereich Dramen typischerweise
positioniert sind.
Die Darstellungszeit des Dramas
Die Zyklopin oder die Zerstörung
einer Schneiderpuppe umfasst eine
Länge von knapp drei Buchseiten,
im Gegensatz zu anderen Dramen
Artmanns entspricht bei diesem
Text die Kürze der ungefähren
Lektüredauer aber nicht dem
Zeitraum des vorgebrachten
Geschehens. Das heißt, die Darstellung vollzieht sich zwar chronologisch, nicht aber zeitdeckend,
wie dies zum Beispiel in prognose
für den Nachmittag oder in Mutter
nach Algerien der Fall ist. Ausschlaggebend für das Verstreichen der Zeit innerhalb der
dargestellten Welt ist unter anderem die wiederholte
Darbietung von Musik und Rezitation, wobei der Text nicht
weiter konkretisiert, von welcher Art und Dauer diese ist.
Die tageszeitlichen Hinweise suggerieren den Ablauf eines
kompletten Tages (vom herbstlichen Morgenlicht in Bild I
bis tief in die Nacht in Bild V), tatsächlich findet sich aber im
mittleren Bild die Angabe, dass der neuhinzugetretene
Mond dauernd auf- und untergeht, dass also viele Tage
vergehen.
Innerhalb dieser Tage ereignet sich die
Handlung um Pierrot als Dichter. In einer ausgestorbenen
Stadt wartet Pierrot auf seine geliebte Enocchina. Aus
Langeweile und Sehnsucht verbringt er seine Zeit mit einer
Modellpuppe, die der Schatten des Orpheus zum Leben
erweckt hat. Als die geliebte Zyklopin erscheint und die
Situation durchschaut, erschlägt sie ihre Konkurrentin mit
einer Axt. Pierrot erhängt sich, und Enocchina reist mit der
Bahn wieder ab.
Wie oben angemerkt besteht dieses
Drama, das sich selbst als Pantomime versteht, nur aus
Nebentext. Den Figuren sind zwar mitunter Sprechhandlungen zugeordnet (sie rufen, er beschwört, er wirbt usw.),
doch die vollzogenen Äußerungen werden wie Musik und
Rezitation nicht weiter ausgeführt. Insofern der Nebentext
den Schauplatz vorstellt (Bahnhof, Atelier, Straße) und die
zusammengefasste Handlung narrativ entwickelt, ist er
deutlich referentiell. Allerdings wirken die vorgestellten
Figuren aus Mythos und Commedia dell’arte wie auch die
beschriebenen Requisiten mitunter bloß buchstabierend
nebeneinander gefügt (Man sieht Maßbänder, Blattpflanzen, Journale, Nadelkissen, obszöne Fotos, den Strick eines
Selbstmörders, Messer u. Scheren + andere Untensilien).
Sie konturieren ein surreales Dingarrangement, in dem die
Partien der Welt konkret, aber doch leblos und fremd
nebeneinander stehen — ganz in der Art der [de] Chiricoantike, die den Baustil der Stadt charakterisiert. Durch die
Langsamkeit der Ereignisfolge, die sich von Bild-Zustand zu
Bild-Zustand schiebt, wirkt der insgesamt narrative Text
häufig deskriptiv (Über den Torbogen und Geschäftsportalen, in Bäumen und verschollenen Straßenbahnwagen, unter Brücken und in alten Remisen nisten Genien
und Halbgötter wie sanfte Vögel). Die Verzögerung evoziert
bei den Rezipierenden eine Atmosphäre der meditativen
Schwere und verleiht dem Geschehen eine zeitlose Dimension.
Auch die fahrt zur insel nantucket stellt grundsätzlich eine Narration dar: Ein spanisches Schiff fährt in
Richtung der Insel Nantucket. Der Seemann Rutherford lässt
sich von einer Meerfrau namens Arindaxo locken und springt
ins Wasser. Zu den Klängen des Gesangs von Rutherford und
Arindaxo sowie unter Beobachtung von Indianern erreicht
das Schiff Nantucket, und die Seeleute gehen an Land. Diese
Handlung wird fast ausschließlich durch den Nebentext
203
204
[26] Peter Pabisch,
H.C. Artmann. Ein
Versuch über die
literarische Alogik,
Wien 1978, S. 45.
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
vermittelt. Die Äußerungen der Protagonisten entbehren
dagegen fast jeder Referentialität. Sie sind Bestandteil einer
Phantasiesprache, die — syntaktisch korrekt — semantisch
disparate, teils erfundene Wörter verbindet. Sie ahmt
lautmalerisch Wasserbewegung und Matrosenarbeit nach —
die Assonanz dunkler langer Vokale (oh, o; uu) und heller
langer Vokale (ie, i; üh) unterstreicht die Auf- und Abbewegung[26] — legt aber keine bestimmten Bedeutungen
fest, bietet lediglich Platz für subjektive Assoziationen der
Lesenden: die ballen staulos starm und / staut gehen auf
und ab und lee / und lie mestaal […]. Vereinzelt lassen sich
konkretere semantische Felder bestimmen, so im Gespräch
zwischen Meerfrau und Rutherford: still mir die lust / stiehl
mir die brust / so stillmen stehlen wir / die lust […]. Hier
spricht der Text augenscheinlich Fragen von Liebe und
Sexualität an. Doch auch in dieser Passage ist Kohärenz eher
über Reim, Alliteration und alternierenden Rhythmus
gestiftet als über die sporadische Bedeutung. Während in
Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe
durch den Text Musik nur angekündigt, aber nicht dargeboten wird, schaltet sich hier die nicht-referentielle Sprache
der Protagonisten ein und konstituiert eine fast musikalische Lautreihe, die dem Lesenden ein klangliches Erleben
offeriert und ihm innerhalb der durch den Nebentext vorgegebenen Handlung semantische Anschlussmöglichkeiten
gewährt.
Der Untertitel duetto gibt für das Drama
nebel und blatt das Programm vor: Denn erneut dominiert
der nicht-referentielle Modus, und die beiden Figuren tau
und lau plaudern wortklanglich im Duett. Da bis auf die
Sprecherbezeichnungen kein Nebentext existiert, fällt hier —
mit Ausnahme des Sprechens — jegliche Handlung und
damit Narration aus. nebel und blatt ist vielmehr ein argumentativer Text, der sich um die Definition des Begriffs
Patagonien bemüht, und so ergibt sich seine eigentümliche
Diskrepanz zwischen dem konstativ erhobenen Anspruch
der Protagonisten, philosophisch Bedeutung zu verhandeln
und damit das Gelingen von Kommunikation zu garantieren, und der faktischen Performanz, die nach Regeln
jenseits diskursiver Logik funktioniert. Lau definiert normativ, was patagonien bedeuten soll (wenn wir sagen: /
patagonien / so meinen wir / nebel und blatt), doch die
daran anknüpfenden Beiträge schließen sich dem Vorschlag
nicht im Sinne einer denkrichtigen Weiterbestimmung an,
sondern greifen die jeweils zuletzt gehörten Worte auf, um
diese allein als lautliche oder semantische Kette weiterzuspinnen (tau: nebel und blatt / sind satt / vor nässe.. / lau:
sind satt / vor blatt / und nässe...). Obwohl tau mehrfach
sein Verstehen beteuert (ich verstehe!), geraten wichtige
logische Grundsätze wie die Unterscheidung von Meta- und
Objektsprache (aus dem Verhandeln des Themas Patagonien
gleiten lau und tau in die Debatte über das Thema Patagonien), von De- und Präskription (wie ist / apatagon /
beschaffen..? / oder vielleicht: / wie sollte / apatagon /
beschaffen sein?) durcheinander und werden begriffliche
Entwürfe als konkrete Entitäten verehrt (du liebst also /
patagonien?. Letztlich bringt tau den Charakter des Dramas
selbst auf den Punkt, wenn er bemerkt: das ist auch / keine
definition — / eine poetische glosse — / nicht mehr!.
Das vierte Drama, die liebe fee pocahontas oder kasper als
schildwache, ist schließlich ein Text, der im Ganzen wieder
einen referentiellen Modus aufweist und eine Geschichte
erzählt: Kasper hält im amerikanischen Bürgerkrieg Schildwache und wird dabei von seinem Hauptmann schamlos
schikaniert. Erst als die Fee Pocahontas, die sich Kasper
zuwendet und ihm verschiedene Wünsche erfüllt, ihn aus
dem Kriegsgebiet ausfliegt und im Indianergebiet NordDakota absetzt, kommt er — mit der schönen Frau des
Hauptmanns — zur Ruhe: weißt was, greterl? Gehen
wir schwammerlsuchen. In diesem Text macht nicht das
Sprachmaterial die Musik, und folgerichtig erhält die auf der
Bühne gespielte Musik wieder eine größere Rolle, und zwar
in Form der vom Waldhornisten vorgetragenen Trompetenklänge. Diese wirken so besänftigend, dass sie den Hornisten abschließend deklamieren lassen: die macht der musik!
Die Pointen sind inhaltlich verankert, so in den Gegensätzen
von Kaspers Naivität auf der einen Seite und seinen Rollen
205
206
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
[27] Jurij M. Lotman,
Die Struktur
literarischer Texte,
München 1993, 4.Aufl.,
S. 332.
als wehrloses Opfer, als von der Fee Erwählter, als Künstler,
als Liebhaber auf der anderen Seite. Oder darin, dass ausgerechnet Kasper die einzige Figur ist (neben Pocahontas), die
trotz ihrer greifbaren Typenhaftigkeit Individualität bewahrt
und sich mit eigenem Namen rufen lässt.
Die Ereignisdarstellung fußt übrigens wie schon in den Dramen
Die Zyklopin oder die Zerstörung einer Schneiderpuppe und
die fahrt zur insel nantucket auf einem einschneidenden
Ortswechsel. Wenn man so will, erfüllen alle drei Dramen
die klassische Sujetstruktur Jurij M. Lotmans, der ein Ereignis als die Versetzung einer Figur über die Grenze eines
semantischen Feldes ansieht, die im Text ihre topologische
Entsprechung findet.[27] Im ersten Text kommt die Zyklopin
aus der Ferne in die Stadt und dringt in das private Atelier
des Dichters ein, verletzt mithin die Intimität von Puppe
und Pierrot und sorgt für deren Tod. Im zweiten Text stürzt
der liebestrunkene Rutherford vom Schiff, dem Zeichen von
Kultur und Zivilisation, hinab in die Meerestiefe und in den
Tod, beides natürlicher Widerpart der menschlichen Kultivierungsversuche. In die liebe fee pocahontas oder kasper
als schildwache vermag allein die Flucht aus dem Kriegsgebiet, das nackte Gewalt repräsentiert, ins ferne Indianerland, dem Inbegriff überkommener Friedfertigkeit, Kasper
dem Einflussbereich des Hauptmanns zu entziehen und
ihm damit ein neues Leben zu
ermöglichen.
Die Betrachtung der vier Dramen ergibt
etwa folgende Markierungen
3
innerhalb des konstruierten
Schemas:[28]
[28] Die Einstufung, welcher Modus in
einem Gesamt-Text dominiert, hängt
von vielerlei subjektiven Faktoren ab.
Das Schema soll daher nur Tendenzen
aufzeigen.
2
4
1
1 fee pocahontas 3 nebel und blatt
2 die zyklopin
4 insel nantucket
5. Zum lyrischen Drama
Das Schema demonstriert
trotz aller Unschärfe, dass Artmanns Dramen versuchen, das
Spektrum aus Referentialität und Narrativität auszuschreiten. Auffallend ist, dass die Texte dazu neigen, den
klassischen Bereich des Dramatischen (referentiell und
narrativ) zu verlassen und bei solchen Modi Anleihe zu
nehmen, die eher im Bereich der Lyrik beheimatet sind
(nicht-referentiell und nicht-narrativ). Hinzu kommt die
relative Textkürze. Das legt nahe, den Dramen das Attribut
lyrisch zu verleihen.
Das lyrische Drama ist eine
Untergattung, die bereits dem 18. Jahrhundert zugeschrieben wird, vor allem aber zur Kennzeichnung einzelner
Dramen der vorletzten Jahrhundertwende Verwendung
findet. Wenn ich hier diese Bezeichnung aufgreife, dann ist
zu bedenken, in welchem besonderen Sinn die früheren
Dramen als lyrisch angesehen werden: die Textvorlagen zu
Oper, Singspiel, Oratorium, Kantate wie Mono- und Duodramen des 18. Jahrhunderts, insofern ihnen die Idee einer
Verbindung von Drama und Musik zugrunde liegt, die
Dramen des fin de siècle und Expressionismus, weil in ihnen
der beschreibende Modus dominiert, der die Seelenkonflikte der Protagonisten zur Darstellung bringt.[29]
Insofern gilt mit Peter Szondi, dass die Konzeption des lyrischen Dramas als einer durch die Jahrhunderte bestehenden Gattung zu opfern wäre zugunsten einer Vorstellung,
die in bestimmten Epochen eine lyrische Dramatik auf
Grund jeweils anderer Voraussetzungen entstehen sieht, so
dass die Werke […] nicht als historische Illustrationen einer
vorgegebenen Gattung, sondern die Gattung als mit ihnen
entstehend zu begreifen wäre.[30] Das lyrische Drama, das
die Texte Artmanns konturieren, meint, dass auf der einen
Seite tragende Elemente des Dramatischen eingehalten
werden (insbesondere die Trennung in Haupttext/ Nebentext, ebenso das epitextuelle Selbstverständnis), dass auf
der anderen Seite aber Eigenschaften Eingang nehmen,
die sich üblicherweise im gattungstheoretischen Katalog
der Lyrik finden: nämlich die modale Tendenz, nichtreferentiell und nicht-narrativ zu gestalten, bzw. die
207
[29] Vgl. Peter Szondi,
Das lyrische Drama des
Fin de Siècle. Herausgegeben von Henriette
Beese, Frankfurt am
Main 1975, S. 18-22.
[30] Szondi, Das
lyrische Drama, S. 22.
208
relative Textkürze.[31] Die kleine Auswahl von vier Dramen
zeigt an, dass Artmann seine Schwerpunkte jeweils unterschiedlich setzt.
Insofern die Dramen selbstreferentiell die Materialität der eigenen Sprache zur Geltung
kommen lassen und die dramatischen Gattungsgrenzen
austesten, mitbegründen sie postmoderne Strömungen der
Dramatik.[32] Sie bahnen (neben den Texten des absurden
Theaters) in Anschluss an die lyrischen Dramen des fin de
siécle oder des Expressionismus den Weg für die post[32] Vgl. Poschmann, modernen Sprechstücke Peter Handkes oder Elfriede
Theatertext, S. 22-29.
Jelineks. Minimales Geschehen bei maximaler Ausnutzung
sprachlicher Selbstreferentialität kennzeichnet daher
[…] zunehmend die Theatertexte des 20. Jahrhunderts.
Das Theater der Postmoderne markiert den bisherigen
Höhepunkt dieser Entwicklung.[33] Die durch die Kürze der
[31] Damit unterscheidet sich mein Begriff
des lyrischen Dramas
von deduktiven Konzepten wie der Definition Dieter Lampings,
der nur solche dramatischen Texte vor Augen
hat, die als Einzelrede
in Versform gehalten
sind (vgl. Lamping,
Gedicht, S. 97).
Eike Muny: Theater als lyrisches Drama
Texte bedingte Informationsbeschränkung wie
auch die vielen Unbestimmtheitsstellen, die durch
die häufige Dominanz des nicht-referentiellen
Modus erzeugt werden, verursachen dabei Polyvalenz bis Unlesbarkeit und fordern eine aktive
Rolle der Rezeption. Eine solche Verpflichtung der
Lesenden findet sich im Werk Artmanns überhaupt,
in der Lyrik, wenn die mundartgerechte [...]
Wandlung des schriftlichen Materials[34] eindeutige
Stimmigkeit deformiert, oder in der Epik, wenn
die Versprachlichung den verarbeiteten comic
strips mit der ursprünglichen medialen Grundlage
auch ihre scheinbare Eindeutigkeit raubt.[35] Doch
diese Verpflichtung ist zugleich Garant für immer
neue kommunikative Anschlussmöglichkeiten.
209
[33] Korthals, Drama und Erzählung, S. 171. Zu Zusammenhang
und Differenz zwischen den Dramen Artmanns und dem absurden
Theater vgl. Röbl, Fahrt, S. 33ff.
[34] Gregor Schwering, Achtung
vor dem Paratext! Gérard Genettes
Konzeption und H.C. Artmanns
Dialektdichtung, in: Paratexte in
Literatur, Film, Fernsehen.
Herausgegeben von Klaus
Kreimeier und Georg Stanitzek,
Berlin 2004, S. 172.
[35] Vgl. Hellmut Schneider,
Struktur und Schablone. Ein aufschlussreiches Beispiel für Aspekte
der sogenannten Trivialliteratur
in der Prosa H.C. Artmanns, in:
Literatur und Kritik 189/190 (1984),
S. 482-499, hier S. 498.
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