Nummernvergabe im KZ Neuengamme

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Die Vergabe von Häftlingsnummern im KZ Neuengamme
Ende 1938 errichtete die SS in einer stillgelegten Ziegelei in Hamburg-Neuengamme ein
Außenlager des KZ Sachsenhausen, das im Frühjahr 1940 zum eigenständigen
Konzentrationslager erklärt wurde. Im Verlauf des Krieges deportierten die Gestapo und der
Sicherheitsdienst der SS zehntausende Menschen aus allen besetzten Ländern Europas als
KZ-Häftlinge nach Neuengamme. Dort und in über 80 Außenlagern, die ab 1942 in ganz
Norddeutschland eingerichtet wurden, mussten die Häftlinge Schwerstarbeiten für die
Kriegswirtschaft leisten.
Nach gegenwärtigen Erkenntnissen wurden von Dezember 1938 bis April 1945 insgesamt
etwa 100 000 Menschen als KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene oder Polizeihäftlinge in das KZ
Neuengamme verschleppt.
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren mörderisch. Nach derzeitigem Forschungsstand
wird von einer Totenzahl zwischen 42 900 und 52 100 ausgegangen. Körperlich ausgezehrt
starben die Menschen an Krankheiten und Hunger oder wurden Opfer von Misshandlungen
und Mordaktionen.
Die Vergabe von Nummern an die neu ins Lager eingelieferten Häftlinge war eine gezielte
Maßnahme der SS, um Menschen ihrer Individualität zu berauben und sie fortan als wertloses
Menschenmaterial zu kennzeichnen. Die Vergabe einer Häftlingsnummer war ein
entwürdigender Akt.
Doch wer heute das Verfolgungsschicksal eines Menschen im nationalsozialistischen KZSystem zu rekonstruieren versucht, kommt nicht umhin, auf die vergebenen
Häftlingsnummern zu rekurrieren und sie als wichtige Quelle, oft sogar als ausschlaggebende
Information für die Identifikation einer Person zu nutzen.
Der folgende Text gibt einen kurzen Überblick über die Praxis der Haftnummernvergabe im
KZ Neuengamme und seinen Außenlagern.
Die Vergabe von Häftlingsnummern im KZ Neuengamme
Grundsätzlich wurden die Häftlingsnummern im KZ Neuengamme nur einmal vergeben,
chronologisch nach der Ankunft der Häftlinge im Lager. Abweichungen von diesem Prinzip
gab es zum einen in den ersten Monaten des Lagerbestehens, für die sich in Einzelfällen eine
mehrfache Vergabe von Nummern nachweisen lässt. Zum anderen kam es ab Mitte 1944 mit
dem Aufbau der Frauenaußenlager zu einzelnen Brüchen in der Chronologie, wie weiter unten
noch ausgeführt wird.
a.) männliche Häftlinge
Am 12. Dezember 1938 traf ein Transport von 100 Männern aus dem KZ Sachsenhausen in
Hamburg-Neuengamme ein. Die Männer, ausnahmslos als „Kriminelle“ mit dem grünen
Winkel gekennzeichnet, begannen mit der Herrichtung einer stillgelegten Ziegelei für die
Produktion von Klinkersteinen. Sie behielten ihre Sachsenhausener Häftlingsnummern.
Im Laufe des Jahres 1939 schickte das KZ Sachsenhausen nur einzelne Facharbeiter in das
Außenlager nach Neuengamme. Anfang 1940 folgte eine weitere größere Gruppe Häftlinge,
darunter nun auch Menschen, die als „politische Häftlinge“, „Bibelforscher“ und „Juden“
gekennzeichnet waren. Anhand einer erhaltenen Bestandsliste lässt sich rekonstruieren, dass
sich am 26. April 1940 genau 348 Häftlinge in Neuengamme befanden.
Im Frühjahr 1940 wurde das KZ Neuengamme zu einem eigenständigen Konzentrationslager
erklärt. Es scheint, dass die Lagerverwaltung etwa zur gleichen Zeit den Häftlingen neue
Nummern zugewiesen hat. Aus der Neuengammer Häftlingsnummer lässt sich somit kein
Einlieferungsdatum vor Juni 1940 rückschließen.
Der Berliner Arbeiter Karl L. wurde am 18. Juni 1940 im Alter von 31 Jahren „auf der Flucht
erschossen“. Im Totenbuch des Neuengammer Krankenreviers ist für ihn die
Häftlingsnummer 6164-805 eingetragen – die Nummer aus Sachsenhausen und die neu
vergebene Neuengammer Nummer. Danach tauchen in den überlieferten Quellen keine
Sachsenhausener Nummern mehr auf.
Noch bis August 1940 wurde in Neuengamme eine mehrfache Vergabe von
Häftlingsnummern praktiziert. Die Nummern von Verstorbenen oder Häftlingen, die in andere
Lager überstellt worden waren, wurden ein zweites Mal vergeben. Ab Ende August setzte
dann die fortlaufende Nummerierung ein, die bis zum April 1945 beibehalten wurde.
Über 80 Außenlager des KZ Neuengamme wurden zwischen 1942 und 1945 errichtet. Den
Höhepunkt erreichte der Ausbau der Außenlager Ende 1944. Zehntausende von Häftlingen
wurden zur Arbeit in der Rüstungsproduktion, bei der Bombenräumung, beim Bau von
Verteidigungsanlagen oder bei der Trümmerbeseitigung gezwungen. Die männlichen
Häftlinge wurden in der Regel vom Hauptlager Neuengamme aus in die einzelnen Außenlager
überstellt. Handelte es sich um Lager für weibliche Häftlinge, gelangten diese direkt aus
Ravensbrück, Auschwitz, Stutthof oder Bergen-Belsen in die Außenlager des KZ
Neuengamme. Auch für einige Männerlager ist diese direkte Überstellung belegt.
Die Häftlinge erhielten Neuengammer Häftlingsnummern.
Der Tscheche Vilem M. erreichte das Hauptlager Neuengamme am 26. April 1945. Er bekam
die Häftlingsnummer 82 313 – die höchste für männliche Häftlinge nachgewiesene Nummer.
Es ist nicht davon auszugehen, dass bis zur endgültigen Räumung des KZ Neuengamme am
2. Mai 1945 noch eine höhere Nummer als 83 000 vergeben wurde.
Einzelne Nummernbereiche wurden in der fortlaufenden Zählung offenbar übersprungen. So
sind in Neuengamme keine Häftlingsnummern zwischen 20 000 und 21 000 vergeben
worden. Auch für den Nummernbereich 51 000 bis 52 000 sind keine verlässlichen Quellen
überliefert. Hierdurch lässt sich die Zahl der männlichen Häftlinge des KZ Neuengamme auf
maximal 81 000 festlegen.
In Einzelfällen gelang es Häftlingen, ihre Überlebenschancen durch Annahme einer anderen
Häftlingsnummer zu erhöhen. So berichtet der ukrainische Überlebende Wassillij G., dass er
die Nummer eines toten Häftlings an seiner Kleidung befestigte, auf diese Weise seine
Lageridentität wechselte, sich aus dem Strafblock befreien und letztlich überleben konnte.
Aufgrund der über 25 000 überlieferten Karteikarten aus der Hollerith-Vorkartei des SSWVHA lässt sich die Nummernbesetzung der Häftlinge des KZ Neuengamme bis Mitte
November 1944 sehr gut rekonstruieren. Für die Folgemonate bis zur Räumung des Lagers, in
denen schätzungsweise noch über 15 000 neue Häftlinge nach Neuengamme verschleppt
wurden, muss auf die lückenhaften Informationen aus anderen Quellen zurückgegriffen
werden. Für die letzten Kriegswochen kann man nur noch schätzen.
Tab. 1: Nummernbesetzung der männlichen Häftlinge, aufgeschlüsselt nach Jahren
Jahr
Häftlingsnummern
1940
1941
1942
1943
1944
1945
1 bis 4000
4001 bis 6959
6961 bis 13 307
13 334 bis 25 754
25 758 bis 68 425
68 998 bis 82 313
Tab. 2: Nummernbesetzung der männlichen Häftlinge, aufgeschlüsselt nach Monaten
Einlieferungsdatum
H-Nr. von H-Nr. bis
Anzahl ca.
darunter große Transporte
aus
bis Juni 1940
Juli 1940
August 1940
September 1940
Oktober 1940
November 1940
Dezember 1940
Januar 1941
Februar 1941
März 1941
April 1941
Mai 1941
Juni 1941
Juli 1941
August 1941
September 1941
Oktober 1941
November 1941
Dezember 1941
Januar 1942
1
ca. 850
1257
1936
3002
3500
4001
4500
4548
5656
5732
5777
5890
5998
6387
6510
6765
6961
850
400
680
1000
500
500
480
40
1100
70
30
80
90
390
110
240
190
5
Sachsenhausen
Sachsenhausen
Sachsenhausen
ca. 850
ca. 1250
1933
2931
3499
4000
4484
4544
5645
5728
5763
5861
5981
6385
6496
6754
6959
6965
Sachsenhausen
Sachsenhausen
Buchenwald
Dachau
Auschwitz
Breendonk
Amersfoort
Breendonk, Amersfoort
Fleckfieberepidemie, Lager unter Quarantäne
März 1942
April 1942
Mai 1942
Juni 1942
Juli 1942
August 1942
6979
7017
7048
7175
7570
8218
7006
7040
7172
7566
8214
9736
30
20
120
390
640
1520
September 1942
Oktober 1942
November 1942
Dezember 1942
Januar 1943
9767
10276
11142
12229
13334
10271
11127
12216
13307
16092
500
850
1070
1080
2760
Flossenbürg, Sachsenhausen,
Dachau
Buchenwald
Dachau
Dachau
Amersfoort, Emslandlager,
Februar 1943
März 1943
April 1943
Mai 1943
Juni 1943
Juli 1943
August 1943
September 1943
Oktober 1943
November 1943
Dezember 1943
Januar 1944
Februar 1944
März 1944
April 1944
Mai 1944
16100
17440
19116
21126
21756
22282
22513
23167
23763
24193
25550
25758
26052
26803
28490
29678
17437
19106
21117
21752
22279
22511
23163
23761
24191
25547
25754
26047
26800
28489
29677
32237
1340
1670
2000
630
520
230
650
590
430
1350
200
290
750
1690
1190
2560
Juni 1944
Juli 1944
August 1944
September 1944
32242
35892
40964
43475
35891
40944
43464
54162
3650
5050
2500
10690
Oktober 1944
54174
63809
9640
November 1944
64088
67107
3020
Dezember 1944
Januar 1945
Februar 1945
67953
68998
70563
68425
70479
75073
470
1480
4510
März 1945
April 1945
75074
ca. 80500
ca. 80500
5430
max. 83000 2500
Buchenwald
Buchenwald, Sachsenhausen
Auschwitz
Auschwitz
Triest/Wien
Auschwitz
Bergen-Belsen, Buchenwald,
Buchenwald
Auschwitz, Stutthof
´s-Hertogenbosch,
Compiègne
Athen, Compiègne
Compiègne, Salaspils
Buchenwald, Salaspils
Belfort, Breendonk, Stutthof,
Sachsenhausen, Auschwitz,
Amersfoort, Fröslev,
Kopenhagen
Fröslev, Kopenhagen,
Sachsenhausen, Salaspils,
Amersfoort, Stutthof,
Dachau, Buchenwald
Auschwitz, Bergen-Belsen,
Budapest
„Aktion Bernadotte”
„Aktion Bernadotte”
Zusätzlich zu den männlichen Häftlingen, die reguläre Neuengammer Häftlingsnummern
erhielten, ist auf 5900 weitere Männer hinzuweisen:
Etwa 1400 Personen wurden nur zur Exekution in das KZ Neuengamme verschleppt. Sie
erhielten keine Nummern.
Etwa 1000 sowjetische Kriegsgefangene waren von Oktober 1941 bis Juni 1942 in einem als
„Kriegsgefangenen-Arbeitslager“ abgetrennten Lagerbereich zusammengepfercht. Sie
behielten die Kriegsgefangenennummern des Stalag XD Wietzendorf, von wo aus sie nach
Neuengamme gekommen waren.
Etwa 2000 dänische Polizisten erreichten Ende September 1944 das KZ Neuengamme. Sie
blieben nur wenige Tage im Lager und wurden dann in das KZ Buchenwald weiter deportiert.
Nach derzeitigem Kenntnisstand ist nicht davon auszugehen, dass diese große
Personengruppe Neuengammer Häftlingsnummern erhielt.
Zudem waren etwa 1500 Polizeihäftlinge im KZ Neuengamme inhaftiert. Sie erhielten eigene
Nummern.
b.) weibliche Häftlinge
Insgesamt 13 500 weibliche Häftlinge wurden von Sommer 1944 bis Kriegsende in die
Außenlager des KZ Neuengamme verschleppt. Für sie wurde im Sommer 1944 eine zweite
Serie von Häftlingsnummern begonnen. Von einer streng chronologischen Nummernvergabe
kann man zunächst nicht sprechen. So trafen die ersten Transporte mit weiblichen Häftlingen
aus dem KZ Ravensbrück im Juni 1944 in den Außenlagern Hamburg-Wandsbek und
Hannover-Limmer ein. Die Frauen behielten aber in den ersten Wochen ihre Ravensbrücker
Häftlingsnummern. Vermutlich im August wurden dann den Frauen in Hamburg-Wandsbek
die Nummern 4201 bis 4684 und den Frauen in Hannover-Limmer die Nummern 5485 bis
5750 zugeteilt.
Bis Ende August 1944 wurden acht weitere Frauenaußenlager des KZ Neuengamme errichtet.
Offenbar wurden vorher festgelegte Nummernbereiche für die verschiedenen Transporte in
die Außenlager vergeben, so dass sich aus der Nummernabfolge keine Chronologie der
Einlieferungen ablesen lässt. Mit Sicherheit kann man nur festhalten, dass bis zum 31. August
1944 insgesamt über 6300 Frauen in die Neuengammer Außenlager transportiert wurden.
Aufgrund fehlender Quellen ist eine Rekonstruktion der Nummernvergabe für die einzelnen
Monate nicht möglich. Die Hollerith-Vorkartei des SS-WVHA scheidet als Quelle aus, da
zum einen dort als höchste Nummer aus dem November 1944 die Nummer 9682 angegeben
ist und zum anderen ein zuverlässiges Überstellungsdatum in den seltensten Fällen ausgefüllt
wurde.
Lediglich die folgenden Angaben sind hier möglich:
Einlieferungsdatum
Häftlingsnummer Häftlingsnummer darunter große
von
bis
Transporte aus
bis Ende August 1944 1
September 1944
Oktober 1944
1
6312
7340
bis Ende April 1945
6307
7338
9549
Auschwitz, Ravensbrück
Ravensbrück, Stutthof
Ravensbrück, BergenBelsen, Auschwitz
13500
Bestimmte Nummernbereiche der weiblichen Häftlinge wurden auf den WVHA-Karteikarten
durch den nachträglichen Eintrag zusätzlicher Ziffern verändert. So wurden die Nummern 1
1
3.2.44 Marie Poletti 5227 (vermutlich Compiegne)
3.2.44 Therese Demaria 5503 (Compienge)
3.2.44 Marcella Furgoni 5521 (Compienge)
18.5.44 Clara Montagnaui 5704 (Fort Romainville)
7. 8.1944 Suzanne Arcelin 5759
3.2.44 Theresa Cossa 5846 (Compienge)
bis 1500 durchgehend zu den Nummern 100 001 bis 101 500 ergänzt. Der Hintergrund dieses
Vorgehens ist unklar.
Aufgrund der insgesamt schlechten Quellenlage sind keine genaueren Angaben möglich.
Hauptquelle der obigen Aufstellung ist die Hollerith-Vorkartei des SS-WVHA. Ergänzt
werden die Angaben durch einzelne erhaltene Transportlisten und die Erinnerungen
Überlebender.
Christian Römmer
April 2006
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