Positivismusstreit

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Positivismusstreit
Der Positivismusstreit war eine in den 1960er Jahren vor allem im deutschen Sprachraum
(Westdeutschland, Österreich) ausgetragene Auseinandersetzung über Methoden und Werturteile in
den Sozialwissenschaften.
Vorgeschichte
Die Vorgeschichte reicht bis in die späten 1930er Jahre zurück, als Max Horkheimer in seinem Aufsatz
Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937) eine Kritik des Erfahrungsbegriffs und der Konzeption
der Logik des Wiener Kreises formulierte. Der Positivismusstreit schließt an vorangegangene
Kontroversen unterschiedlicher Schulen in der Soziologie an, wie den Werturteilsstreit und den
Methodenstreit (er wird auch bisweilen Zweiter Methodenstreit genannt).
Die Kontrahenten
Auf der einen Seite standen die Vertreter des Kritischen Rationalismus wie Karl Popper und Hans
Albert, auf der Gegenseite Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule wie Theodor W.
Adorno und Jürgen Habermas.
Den Begriff Positivismusstreit prägte Theodor W. Adorno, wobei er einseitig sein Verständnis von
Positivismus zur Kennzeichnung der gegnerischen Seite zu Grunde legte. Popper dagegen lehnte die
Bezeichnung Positivismus für seine Position ab (er selbst sprach von Kritizismus), weil er nicht mit
dem Neopositivismus des Wiener Kreises, von dem er sich in seiner Laufbahn als Philosoph stets
abzusetzen versuchte, in zu enge Verbindung gebracht werden wollte.
Verlauf
Den Auftakt der Kontroverse bildeten ein Referat von Popper und ein Korreferat von Adorno am
Eröffnungstag einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die vom 19. bis 21.
Oktober 1961 in Tübingen stattfand. Das Thema der Referate lautete: Die Logik der
Sozialwissenschaften.
Der Positivismusstreit ist in dem gleichnamigen Buch in seinen Hauptbeiträgen dokumentiert. Im
Wesentlichen enthält er drei Stränge:
Die Debatte zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper über die grundsätzliche
Herangehensweise an sozialwissenschaftliche Theorienbildung, in der Adorno das Konzept der
Totalität vertritt, und Popper den Ansatz des Kritischen Rationalismus. Konsens besteht zwischen
beiden darüber, dass grundsätzlich eine wissenschaftliche Theorienbildung notwendigerweise immer
Werturteile enthalten muss.
Die speziellere Debatte zwischen Hans Albert und Jürgen Habermas darüber, ob wenigstens auf der
Ebene elementarer Beobachtungsdaten („Protokollsätze“) eine wertfreie Darstellung möglich sei.
In der Hauptthese seines Referats (sechste These) postuliert Popper die Einheit der Methode von
Natur- und Sozialwissenschaften:
Eine seiner vielfach stark an Popper orientierten Hauptaussagen: Da die Vernunft fehlbar ist,
müssen Theorien immer wieder der Kritik unterzogen werden. Keine These kann zweifelsfrei
begründet werden.
Argumentativ stützt sich diese Auffassung auf das von ihm eingeführte MünchhausenTrilemma: Dass jede Behauptung zu ihrer Begründung eine weitere Behauptung braucht,
zeige, dass es keine endgültig verifizierbaren Sätze, d.h. keine Letztbegründungen geben
kann. Entweder man kommt auf Zirkelschlüsse, gerät in endlose Ableitungsketten oder bricht
diese an einem bestimmten Punkt willkürlich ab.
Als Kritische Theorie wird eine von Hegel, Marx und Freud inspirierte Gesellschaftstheorie
bezeichnet, deren Vertreter auch unter dem Begriff Frankfurter Schule zusammengefasst werden. Ihr
Gegenstand ist die kritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, das heißt: die
Aufdeckung ihrer Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen und die Entlarvung ihrer
Ideologien, mit dem Ziel einer vernünftigen Gesellschaft mündiger Menschen.
In der spätkapitalistischen Gesellschaft trete durch zunehmende Kapitalkonzentration („rackets“),
und Bürokratisierung eine Abtötung des Spontanen und Individuellen in der „verwalteten Welt“ ein.
Zwar habe aufklärerische Vernunft das Erlangen von wahren Erkenntnissen über die Welt als das
Wesen des Menschen angesehen, doch habe sich diese Vernunft zu einer „instrumentellen“ und
„zweckbestimmten“ gewandelt. Diese instrumentelle Vernunft betrachte die Welt und die Menschen
einzig unter dem Aspekt des Nutzens. Die Beziehungen zwischen den Individuen werden, so die
Argumentation, unter Auflösung tradierter Bindungen weitgehend versachlicht und objektiviert. Sie
reduzierten sich zunehmend auf bloße Tauschverhältnisse.
Horkheimer kritisiert an der „traditionellen Theorie“ der Fachwissenschaften, dass sie der Dialektik
der Aufklärung, das heißt dem Rückfall der Aufklärung in Mythologie, verfalle. Der Grund dafür sei,
dass sie die gesellschaftlichen Fakten als Gegebenheiten hinnehme und vergesse, dass diese Fakten
keine naturgegebenen Tatsachen, sondern gesellschaftlich Gemachtes seien, in denen sich das
Unrecht gesellschaftlicher Herrschaft verberge. Dieses Unrecht könne nur entschlüsselt werden,
wenn man die gesellschaftliche Konstitution der sozialen Tatbestände kritisch, das heißt unter dem
Gesichtspunkt der besseren Praxis erschließe. Weil die positivistische Fachwissenschaft sich dieser
Reflexion verweigere, mache sie sich der Verfestigung des bestehenden gesellschaftlichen Unrechts
dienstbar. Sie verschließe sich der Reflexion über die Verflechtung von Wissenschaft und Herrschaft
von Grund auf und könne daher ihren theoretischen Anspruch der Werturteilsfreiheit nicht
einlösen.[1]
Die Kritische Theorie ist demgegenüber an einem Vernunftbegriff orientiert, der nicht in der ZweckMittel-Rationalität aufgeht. Sie zielt nach Vorstellung ihrer Begründer darauf ab, die vorgefundene
„gesellschaftliche Totalität“ selbst zu begreifen, deren Unbewusstheit und Unbegriffenheit in den
Sozialwissenschaften dazu führt, dass positivistische Wissenschaftler weder im theoretischen Ansatz
noch in ihrer Durchführung der Aufbereitung oder dem Verständnis des gewonnenen Datenmaterials
objektiv sein können, sondern ihre Begriffe und Kategorien bloße Verdoppelungen und
systematisierende Wiederholungen der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst wirksamen,
unbegriffenen Realabstraktionen sind
Starken Einfluss übte Herbert Marcuse auf die Studentenbewegung in den USA und in
Westdeutschland aus.
Die Kritische Theorie mit den Hauptvertretern Horkheimer und Adorno wird gelegentlich
auch als die „Ältere Kritische Theorie“ bezeichnet, im Gegensatz zur „Jüngeren Kritischen
Theorie“, die vorwiegend Jürgen Habermas entwickelt hat.
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