Prof. Dr. Elizabeth Harvey

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Prof. Dr. Elizabeth Harvey (Univ. Nottingham)
Das Reichsarbeitsministerium und die deutsche Arbeitsverwaltung
in den okkupierten Gebieten Osteuropas
Die Rolle des Reichsarbeitsministeriums und der Arbeitsverwaltung in den okkupierten Gebieten
Osteuropas ist als Thema der Forschung aus zwei Gründen besonders wichtig. Erstens war
Osteuropa eine Hauptquelle von Arbeitskräften für die Wirtschaft im Reich. Von ca. 7,6 Mio.
Arbeitskräften im ‚Großdeutschen Reich’ im August 1944 stammten 1,7 Mio. aus dem besetzten
Polen und 2,8 Mio. aus den besetzten sowjetischen Gebieten. Auch die Erfassung und Ausbeutung
von Arbeitskräften vor Ort in den besetzten Ländern Osteuropas war ein zentrales Anliegen der
Arbeitsverwaltung. Zweitens war Osteuropa das Experimentierfeld für Bevölkerungsplaner und
Rassenexperten, die durch Deportation und Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen einen
deutschen ‚Lebensraum im Osten’ schaffen wollten. Die Forschung über die deutsche
Besatzungspolitik fragt deshalb auch nach der Rolle der Arbeitsverwaltung in der Ausbeutung der
jüdischen Bevölkerung durch Zwangsarbeit vor ihrer Ermordung. Es wird auch erforscht, inwiefern
die Arbeitsverwaltung dazu beitrug andere Bevölkerungsgruppen unter deutscher Besatzung zu
entwurzeln und auszuhungern.
Das besetzte Polen (d.h. die eingegliederten Gebiete und das Generalgouvernement) kann als
‚Modellfall’ für die Politik der systematischen Arbeitskräftebeschaffung gelten. Dazu wie auch zu
den erst später (ab 1941) besetzten Ostgebieten liegen inzwischen Studien vor, die sich sowohl mit
der Arbeitskräfterekrutierung für den Reichseinsatz als auch mit der erzwungenen Arbeit vor Ort
befassen. Sie fragen nach der Rolle und dem Handlungsspielraum der Arbeitsverwaltung als
Akteur in dem durchaus konfliktträchtigen Aushandlungsprozess über Ausmaß, Ziele und
Praktiken der Arbeitskräfterekrutierung mit den Behörden im Reich und mit anderen Dienststellen
vor Ort, zum Beispiel dem SS- und Polizeiapparat.
Bei aller Vielfalt der wirtschaftlichen Verhältnisse im besetzten Osteuropa und bei allen
Unterschieden der Verwaltungsstrukturen in den verschiedenen Gebieten entstand bald nach dem
deutschen Einmarsch überall als eine der ersten Behörden der nationalsozialistischen Besatzung ein
dichtes Netz von Arbeitsämtern. Das Leitungspersonal bestand aus abgeordneten Beamten aus dem
Reich, einheimisches Personal besetzte die unteren Stellen.
Bei den Versuchen der deutschen Arbeitsverwaltung, Kontrolle über den jeweiligen Arbeitsmarkt
zu gewinnen und die einheimische Bevölkerung zu erfassen, zeigte sich ein typischer Verlauf, der
sich von Region zu Region wiederholte. Es gab aufgrund von Traditionen der Arbeitsmigration,
aber auch angesichts von Arbeitslosigkeit und Zerstörung in der Heimat, anfänglich durchaus eine
gewisse Bereitschaft der Bevölkerung auf die Versprechungen der Arbeitsverwaltung einzugehen.
Diese relative Bereitschaft verschwand jedoch schnell, um so mehr, als Meldungen über die
wahren Lebensverhältnisse ausländischer Arbeiter und Arbeiterinnen im Reich durchsickerten.
Darauf reagierte die Arbeitsverwaltung mit Drohungen, Razzien und Geiselnahmen. So wurden die
Arbeitsämter bald zu besonders verhassten Behörden und besonders im Generalgouvernement in
der späteren Kriegsphase zur Zielscheibe von Racheakten. Die Anwendung von Zwangsmitteln, die
der Beschaffung von Arbeitskräften für den Einsatz vor Ort und für den ‚Reichseinsatz’ dienten,
war trotz kontraproduktiver Wirkungen (Flucht, Untertauchen, Angriffe auf Arbeitsämter)
konstante Praxis der Arbeitsverwaltung angesichts immer neuer Anforderungen von Arbeitskräften
von allen Seiten. Dabei kam es auch zu Streit, ob die gepressten neuen Arbeiter und Arbeiterinnen
eher im Reich oder stärker vor Ort eingesetzt werden sollten. In diesem Tauziehen konnte auch
Fritz Sauckel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (GBA) ab 1942 nicht immer eine
klare Priorität für den Reichseinsatz durchsetzen.
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-2In den Gebieten Polens, in denen eine Germanisierungspolitik als Vertreibungs- und
Ansiedlungspolitik durchgesetzt wurde (vor allem im ‚Reichsgau Wartheland’ und in Teilen des
Generalgouvernements ab 1942), wurde die Arbeitsverwaltung auf verschiedene Weise in dieser
Politik involviert, zum Beispiel bei den ‚Musterungen’ von deportierten Polen im Warthegau
1940/41 als Arbeitskräfte für das Reich. Als arbeitsmarktpolitische Interessen ab 1941 zunehmend
wichtiger wurden als die ‚rassenpolitischen’ Überlegungen des Reichskommissars für die
Festigung des deutschen Volkstums (RKF), ging die Kooperation der Arbeitsverwaltung im
Warthegau und im Generalgouvernement mit dem RKF- und SS-Apparat weiter, zum Beispiel bei
den verheerenden Deportationen und Polizeirepressalien im Kreis Zamosc im Distrikt Lublin des
Generalgouvernements 1942/43.
Die Verstrickung der Arbeitsverwaltung in den Zwangsarbeitseinsatz der Juden war in den
verschiedenen Teilen Polens unterschiedlich intensiv. Zudem wandelte sie sich im Laufe der Zeit.
Während im sogenannten ‚Oststreifen’ Ostoberschlesiens die ‚Organisation Schmelt’ den Zugriff
der SS auf die jüdischen Arbeitskräfte auf Kosten der Arbeitsverwaltung monopolisierte, spielte die
Arbeitsverwaltung im Warthegau eine zentrale Rolle bei der Errichtung von zahlreichen
Zwangsarbeitslagern. Im Generalgouvernement war die Arbeitsverwaltung zwischen Juni 1940
und Juni 1942 für die jüdische Zwangsarbeit verantwortlich, bis diese Zuständigkeit wieder an die
SS und Polizei übertragen wurde. Aber auch danach befasste sich die Arbeitsverwaltung mit der
Arbeitsvermittlung jüdischer Arbeitskräfte, bis die verbleibenden Ghettos aufgelöst und die
Mehrzahl ihrer Bewohner umgebracht wurden.
Aufbauend auf der bisherigen Forschung und auf Ansätzen zu vergleichenden Perspektiven wären
weiterführende Themen und Fragen als mögliche Forschungsrichtungen zu prüfen:
1) Wenn die Forschung bisher verständlicherweise auf die Diskriminierungs- und
Exklusionspraktiken fokussiert, die aus der rassistischen Hierarchie entstanden, wäre auch
vergleichend zu fragen, wie sich die Privilegierung und versuchte Einbindung bestimmter Gruppen
in den deutschen Herrschaftsapparat auswirkten. Die Studien zu den baltischen Ländern unter
deutscher Besatzung zeigen sowohl den Spielraum, den die dortigen ‚Landeseigenen
Verwaltungen’ zur Schonung der lettischen, estnischen und litauischen Bevölkerung auf Kosten
anderer Ethnien nutzten, als auch den zunehmenden Zwang, dem in der letzten Kriegsphase auch
die zuvor ‚privilegierten’ baltischen Völker unterstellt wurden. Neue Fragen wären in Bezug auf
die Heranziehung und bedingte Privilegierung der als ‚Deutsche’ kategorisierten Arbeitskräfte,
sowohl ansässige wie umgesiedelte ‚Volksdeutsche’, zu stellen.
2) In der Literatur zur Arbeitskräfteerfassung stehen die Gründe für die besonders starke
Rekrutierung von weiblichen Arbeitskräften oder die unterschiedliche Heranziehung von Männern
und Frauen für die Arbeit vor Ort selten im Vordergrund. Hier wäre systematischer zu fragen nach
der ‚Nachfrage’ aus dem Reich: Inwieweit wurden ‚Ostarbeiterinnen’ als besonders fügsame,
billige und ortsungebundene Ersatzkräfte für die Industrieproduktion und in der Landwirtschaft
gebraucht und angefordert? Auch die Frage nach dem ‚Angebot’ aus den besetzten Gebieten in
Osteuropa kann auch expliziter gestellt werden. Hat die Arbeitsverwaltung vor Ort eher wahllos
Arbeitskräfte beiderlei Geschlechts rekrutiert, oder gezielt jeweils Männer oder Frauen zum
‚Reichseinsatz’ bzw. für die Arbeit vor Ort herangezogen? Auch weitere Fragen wären hier zu
stellen, etwa nach der Bedeutung, die rassistische ‚Wert’-Kategorien für das Denken deutscher
Dienststellen und der Arbeitsverwaltung über die Rekrutierung von ‚slawischen’ Frauen und
besonders Müttern zur Zwangsarbeit vor Ort bzw. im Reich hatten.
3) Zudem wäre genauer zu zeigen, dass es im Rahmen der Politik der Arbeitskräfterekrutierung
Transfer- und Austauschprozesse offensichtlich nicht nur zwischen dem Reich und den besetzten
Gebieten, sondern auch zwischen den verschiedenen besetzten Gebieten gegeben hat. Hier wäre
etwa zu prüfen, ob es dabei auch zu strategischen und bürokratischen ‚Lernprozessen‘ kam, die
nicht von Reichsstellen beeinflusst wurden.
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