Von der Herz- chirurgie und den Herzklappen. Meilensteine aus

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Von der Herzchirurgie und
den Herzklappen.
Meilensteine
aus 2500 Jahren
Herzgeschichte.
Prof. Dr. med. C.F. Vahl
Dr. med. K.F. Gruber-Gerardy
1
B. Eustachius, >
Tabulae anatomicae, 1714
> E. C. Cutler, Fotografie, 20. Jh.
> D. Harken, Fotografie, 20. Jh.
> T. Billroth, Fotografie, 20. Jh.
>G. Bidloo, Anatomia
>Leonardo da Vinci,
corporis humani, 1685 Jh.
Manuskript, 15. Jh.
> R. Virchow, Fotografie, 19. Jh.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
“Before World war II, I had marvelled at the work of Drs.
Whipple, Cutler, Churchill, Graham and Mr. Tudor Edwards of
London, among others. I was confounded by their reluctance to
touch … the heart. Some had flirted with intracardiac surgery
… When I saw that largely mechanical heart with muscle power
source and inflow valves, I wondered about the reluctance of
these master surgeons to touch it. It seemed incomprehensible
that we surgeons, who are considerably mechanically oriented,
should not attack this significantly mechanical organ”, schreibt
Dwight Harken.
Wie von Harken bereits angedeutet, feiert die Herzchirurgie
ihre großen Erfolge erst seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Ohne die mit Namen wie Vesalius, Harvey, Großmann oder Rehn verbundenen großen Fortschritte in Anatomie und Physiologie, in Diagnostik und Operationstechnik
bleibt die Gegenwart allerdings doch ein wenig „blutleer“.
Ich möchte Sie daher zu einer kleinen Zeitreise „ad fontes“ einladen – mit dem Schwerpunkt auf der Herzklappenchirurgie;
begleitet von zwei Männern, die Mitte des 19. Jahrhunderts
unser Denken revolutioniert haben:
Einige Jahrzehnte später – und um zahlreiche technische und
apparative Entwicklungen reicher – ist die historisch-emotional
begründete Zögerlichkeit gewichen und die Herzchirurgie ist
zu einer ganz „normalen“ chirurgischen Disziplin geworden.
Und ganz im Gegensatz zu der immer wieder kolportierten
Aussage von Theodor Billroth: „Der Chirurg, der jemals versuchen würde, eine Wunde am Herzen zu nähen, kann sicher sein,
dass er die Achtung seiner Kollegen für immer verlöre“, ist der
medizinisch indizierte Eingriff am Herzen heute ebenso State
of the Art wie die Entfernung eines entzündeten Blinddarms.
•Charles Darwin, für den „die Zeit … die wichtigste Zutat im
Rezept des Lebens [ist]“,
•und Rudolf Virchow, der von sich sagte: „Ich besitze zwei Fehler, deren ich mir mit Freude bewußt bin, nämlich den, auch
die alten Ärzte für wachere Beobachter zu halten, und den
viel größeren, an Therapie zu glauben.“
Professor Dr. med. Christian-Friedrich Vahl
Eine Naht verändert die Welt
4-5
Mythen, Märchen, Emotionen
6-7
Anatomische und physiologische Revolutionen
8-9
Pathologische Veränderungen
10 - 11
Selbstversuche und andere diagnostische Experimente
12 - 13
Von der Narkose und der Antisepsis 14 - 15
Chirurgische Techniken und apparative Fortschritte
16 - 17
Frühe Klappenoperationen
18 - 21
Künstliche Herzklappen
22 - 23
State of the Art - 2009
24
Ein genialer Ingenieur
25 - 26
Bild-/Literaturverzeichnis
27
Universitäts-Medizin Mainz –
Klinik und Poliklinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie
3
>L. Rehn, Ueber pene
>L. Rehn, Ueber die trirende Herz­wunden Extirpation des
und Herznaht, 1897
Kropfs bei Morbus
Basedowii, 1884
Eine Naht verändert die Welt
„Dr. Rehn konsultieren“
Er hieß Wilhelm Justus, war Gärtnergehilfe
und im lauen Spätsommer des Jahres 1896
in einer Hafenkneipe in Frankfurt in eine
Rauferei geraten. Das Küchenmesser, mit
dem er attackiert worden war, hatte die Polizei rasch gefunden, Justus selbst lag rund
200 Meter weiter auf dem Kopfsteinpflaster, man musste nur der Blutspur folgen.
Im Städtischen Krankenhaus konstatierte
man eine tiefe Wunde zwischen der vierten
und fünften Rippe, führte eine Sonde ein
und schloss: „Das Herz … wir können nichts
für ihn tun … sie überleben es nie.“ Eine
Morphium-Injektion zur Schmerzlinderung
und ein Eisbeutel zur Blutstillung schienen
die einzige Hilfe für den Schwerverletzten
– mit seinen grauen Händen, dem fahlen
Gesicht, den tief liegenden Augen, mit den
verengten Pupillen, mit Fieberschüben, stoßweisem Atem und flatterndem Puls.
… hatte der diensthabende Nachtarzt auf dem Krankenblatt vermerkt,
als der 22-jährige Patient zur Überraschung aller die Nacht überlebt hatte. Ludwig Rehn, der Chef der Chirurgischen Abteilung des Städtischen
Krankenhauses in Frankfurt, zählte
zu dieser Zeit bereits zu den innovativsten Chirurgen Deutschlands:
So hatte er u. a. 1884 Ueber die
[erste] Exstirpation des Kropfes bei
Morbus basedowii berichtet und
sich 1895 mit der Publikation Blasengeschwülste bei Fuchsin-Arbeitern
in die Diskussion um die Risiken
der jungen Anilin-Industrie eingebracht. Rehn untersuchte den Patienten und „erwog die Möglichkeit,
dass es [das Messer] das Perikard …
getroffen und vielleicht sogar eine
der Kammern durchstoßen hatte“.
Der Fall ähnelte vielen, die er schon
früher gesehen hatte und für die das
Credo des berühmten Stephen Paget aus England galt: „Die Herzchirurgie hat wahrscheinlich die Grenzen erreicht, die der Chirurgie von
der Natur gesetzt sind. Weder neue
Methoden noch neue Entdeckungen können die natürlichen Folgen
einer Herzverletzung verhindern.“
Ob Rehn bei seiner Entscheidung,
den Patienten zu operieren, auch
an Rudolf Virchows Bonmot: „Zwei
Dinge pflegen den Fortschritt in der
Medizin aufzuhalten: Autoritäten
und Systeme“ dachte, wissen wir
nicht; überliefert ist dagegen seine
am hippokratischen Eid orientierte
Meinung: „Wenn uns ein Fall begegnet, der nur durch einen Eingriff zu
retten ist, dann ist es unsere Pflicht
zu operieren.“
„Fall von penetrirender Stichverletzung
des rechten Ventrikel’s. Herznaht“
Nachdem der Äther verabreicht war,
setzte Rehn einen ca. 18 cm langen
Schnitt zwischen der vierten und fünften Rippe, legte die fünfte Rippe frei
und durchtrennte sie. Er öffnete den
Herzbeutel, entfernte das bereits eingesickerte Blut und entdeckte in der
Außenwand der rechten Herzkammer
eine rund zwei Zentimeter große Wunde. Rehn griff in den Hohlraum. „In
der einen Hand hielt er das pulsierende Herz, mit der anderen zog er
vorsichtig zwei Seidenschlingen durch
die Stichwunde. Eine dritte Naht setzte
er Im Perikard und zog das Herz mit
dem umgebenden Bindesackgewebe
zusammen“ (H. McLeave). Anschließend
tupften die Assistenten Herzbeutel und
Brustfell aus, Rehn selbst legte eine
Kanüle und schloss die Brustwunde.
Bei seinem erfolgreichen Eingriff hatte
Rehn – nach eigenem Eingeständnis –
auch von glücklichen Zufällen profitiert: Aufgrund des großen Blutverlustes war das Blut nur langsam durch die
Wunde gesickert, zudem hatten die
Kühle der Nacht und der applizierte
Eisbeutel zur relativ schnellen Blutgerinnung beigetragen. Der langsame
Herzschlag schließlich hatte das Ausführen der Herznaht erleichtert. Über
den erfolgreichen Eingriff publizierte
Ludwig Rehn nicht nur anno 1896 im
Zentralblatt für Chirurgie, ein Jahr
später präsentierte er seinen putzmunteren Patienten auf dem Inter­
nationalen Chirurgenkongress in Berlin.
„Rehns epochemachende Operation
hat endgültig gezeigt, dass Eingriffe am Herzen des Menschen, zumin-
> G. Bidloo, Anatomia corporis humani, 1685
dest bis zu einem gewissen Grade, im
Bereich des Möglichen liegen“, meinte der englische Kollege Russell Brock.
B. F. Sherman, noch ganz im Bann der
Präsentation, meinte dagegen: „Der direkte Weg zum Herzen ist nur
zwei oder drei Zentimeter lang; aber
die Herzchirurgie hat zweitausendvierhundert Jahre gebraucht, ihn zurück­zulegen.“
Eine Naht verändert die Welt
Eine Naht verändert die Welt
4
R. Virchow, >
Briefmarke, 20. Jh.
Das Herz in der Hand
oder der 9.9.1896
> G. Bidloo, Anatomia corporis humani, 1685
5
Das kalte Herz
Tatsächlich hatte schon nahezu ein
Jahrhundert vorher, im Jahr 1810, ein
französischer Arzt am Tabu der Herzoperation gerüttelt: Dominique Larrey
legte bei einem Mann, der nach
einem Selbstmord­versuch mit einem
Messer deutliche Zeichen eines Perikardergusses aufwies, eine Drainage
und entfernte mehr als zwei Liter
gelblich-braunes Blut aus dem Herzbeutel. Der Patient über­lebte den Eingriff – verstarb allerdings drei Wochen
später an einer purulenten Perikarditis
(nach P. von Wallenberg). Eigentlich
war damit bewiesen, dass ein Eingriff am Herzen – entgegen der tradierten Meinung – nicht unmittelbar
Dass bei dieser wissenschaftlichen
und historischen Gemengelage das
Herz auch im 19. und 20. Jahrhundert
mehr sein musste als Dwight Harkens
„mechanical organ”, ist offensichtlich. Für das Verständnis in der Moderne haben dabei nicht zuletzt die
Dichter der Romantik die Blaupausen
geschaffen. In Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz bleibt das Herz
der Sitz aller Gefühle, der freudigen
und der schmerzhaften. Wer sein
Herz verkauft, mag Reichtum gewinnen und Schmerz überwinden, freilich um den Preis seiner Seele und
seiner Individualität. „Gib mir das
kaum pochende Ding“, schmeichelt
zum Tod führte. Die Angst der Chirurgen freilich blieb, und die Bedenken
waren nicht nur medizinisch begründet, zögerten die Chirurgen doch
nicht – trotz nicht vorhandener Narkose
und Antisepsis – eine Beinamputation,
eine Mammakarzinomresektion samt
Ausräumung der Achselhöhlen oder
eine Magenoperation durchzuführen.
Der Sitz des Verstandes und der Seele
> D. Larrey, Briefmarke, 20. Jh.
6
> R. Descartes, Tractatus de homine, 1627
In der hippokratischen Medizin galt
das Herz als Sitz der Verstandes, als
Ort der dem Menschen eingepflanzten Wärme, ja als Sitz der vitalen
Kräfte schlechthin. Aristoteles hatte
es schließlich zum Zentrum der
menschlichen Psyche erklärt. Nach
der Zwischenepisode der ägyptischhellenistischen Medizin – Herophilos und Erasistratos aus Alexandria
hatten Verstand und Intelligenz in das
Gehirn verlegt – blieb es Galenus von
Pergamon vorbehalten, die traditionelle Vorstellung zu den Funktionen
des Herzens erneut zu zementieren.
Und dass 1.500 Jahre Herzparadigma auch an einem Revolutionär wie
William Harvey (siehe Seite 9) nicht
vorbeigingen, zeigt seine Aussage,
dass das durch das Herz fließende
Blut der Sitz der Seele sei.
Ein zweites Hindernis für den Zugriff
der Chirurgen aufs Herz war von ganz
anderer Seite aufgebaut worden. Mit
René Descartes’ Traité de l’homme
hatte Mitte des 17. Jahrhunderts die
mechanistische Philosophie Einzug in
die Medizin gehalten. Humores und
der „Spiritus vitalis“ der Galen’schen
Medizin galten als überholt, der
menschliche Körper war nichts anderes als ein Mechanismus und das Herz
sein Motor. Ein, zugegeben, unglaublich exakt arbeitendes Triebwerk, das
folglich bei der geringsten Berührung
durch das Messer des Chirurgen unweigerlich Schaden nehmen musste.
der Teufel, „und du wirst sehen, wie
gut du es dann hast.“ „Euch mein
Herz?… Da müßte ich ja sterben auf
der Stelle. Nimmermehr!“, gibt Peter zurück. „Ja, wenn dir einer eurer
Herrn Chirurgen das Herz aus dem
Leibe operieren wollte, da müßtest
du wohl sterben; bei mir ist dies ein
anderes Ding.“ Der Seelenhändler
zeigt ihm eine Kammer, in der Gläser
mit durchsichtiger Flüssigkeit stehen,
in jeder liegt ein Herz, jedes mit Zettel
und Namen versehen. „Aber was tragen sie denn jetzt dafür in der Brust“,
fragt Peter. „Ein steinernes Herz“,
lautet die Antwort.
> Liebessymbol, 19. Jh.
Mythen, Märchen, Emotionen
Mythen, Märchen, Emotionen
> D. Larrey, Ölgemälde, 19. Jh.
Mythen, Märchen, Emotionen
Den „Joker“
nennt deshalb Marcel Reich-Ranicki
das Herz in der Dichtung. Es bleibt –
auch im 21. Jahrhundert – Ort der
personalen Selbstbestimmung und
Identitätsbildung, Ort der emotionalen Erkenntnis und Verkörperung
der menschlichen Emotionalität, ja
schlechthin Sitz der Lebenskraft und
Mittelpunkt des Körpers und damit
auch Ort der höchsten Vulnerabilität.
Genau wie zu Zeiten des Hippokrates
oder Aristoteles! Kein Wunder, dass
sich die mechanistische Interpretation
des Herzmuskels vor diesem Hintergrund schwertun musste; das „Noli
me tangere“ war (ist?) gut fundiert.
Dass sich die Herzchirurgie allerdings nicht nur aus diesen emotio-
nalen Gründen schwertat, zeigt die
Entwicklung der anatomischen und
physiologischen Kenntnisse.
> Exvoto, Herz, 19. Jh.
7
> Aristoteles, Manuskript, 15. Jh.
Eigentlich schien die Sache ganz einfach:
Im Magen und im Darm entsteht aus der Nahrung der Chylus.
Dieser wird in der Leber in animalisches Blut verwandelt und
gelangt in die Gefäße. In der Peripherie wird das Blut größtenteils verbraucht, nur ein kleiner Teil fließt ins rechte Herz.
Der durch die Wärme dabei entstehende Ruß wird via Arteria
pulmonalis und Lunge nach außen abgeführt. Das derart gereinigte Blut dringt durch die poröse Herzscheidewand in die linke
Herzkammer, verbindet sich mit der aus den Venen pulmonales
herangeführten Atemluft zum Spiritus vitalis, dem Lebensgeist.
Im Herzen erwärmt, gelangt mit den Blutbewegungen ein kleiner Teil des Lebensgeistes über die Arterien an die Hirnbasis. Im
dort angesiedelten „rete mirabile“, dem Wundernetz an Blutgefäßen, entsteht aus der Mischung der Lebensgeister und der
durch den Bulbus olfactorius einströmenden Luft der Seelengeist. So jedenfalls lautete das klassische Paradigma – von Galenus von Pergamon rund 150 Jahre nach Christus ausformuliert
und über rund 1.500 Jahre gleichsam sakrosanktes Lehrgebäude. Eine Kreisbewegung des Blutes war darin nicht vorgesehen.
Das Blut wurde fast vollständig in der Peripherie verbraucht.
M. Malpighi, >
De pulmonibus, 1672
> W. Harvey,
> W. Harvey, Ölgemälde, 17. Jh.
De motu cordis, 1639
M. Malpighi, >
De pulmonibus, 1672
Anatomische Rücksichtnahmen
Bis ins 15. Jahrhundert hinein hatten sich die Kenntnisse um die
menschliche Anatomie primär auf „logische“ Überlegungen
und auf Tieruntersuchungen gestützt. Erst mit den Sektionen
in der Zeit der Renaissance – zunächst heimlich, wie bei Leonardo da Vinci – begann eine neue Sicht auf den Menschen, auf
seine Anatomie und bald auch auf Physiologie und Pathophysiologie. Freilich blieb das tradierte Credo wirkmächtig und so
zog z. B. Andreas Vesalius aus seiner Beobachtung, dass in der
Herzscheidewand offensichtlich keine Poren existieren, keine
weitere Konsequenz. Realdo Colombo wurde da schon deutlicher und postulierte in seiner anno 1559 – posthum! – erschienenen Schrift De re anatomica: „Die Herzscheidewand ist nicht
durchlässig, alle, die dies behaupten, sind auf dem Irrweg.“
Einige Jahre zuvor hatte Michael Servetus schon den kleinen
Blutkreislauf beschrieben und sich damit an den tradierten
Lehren Galens „vergriffen“. 1553 wurde er in Genf auf dem
Scheiterhaufen verbrannt (allerdings primär wegen seiner
Schriften De Trinitatis Erroribus und Christianismi Restitutio, in
denen er die Lehre von der Dreifaltigkeit angriff!). Heute ist der
Angriff auf Systeme und Autoritäten auch nicht immer einfach;
im Erfolgsfall allerdings wird er mit dem Nobelpreis belohnt:
So erhielten Barry Marshall and Robin Warren den Nobelpreis
nicht nur für den Nachweis eines kausalen Zusammenhangs
zwischen Helicobacter pylori und der Ulkuskrankheit, sondern
auch für ihre Beharrlichkeit und ihre Systematik: „… who with
tenacity and a prepared mind challenged prevailing dogmas”!
>Darstellung des >Arzt mit Herz, Kreislaufs,
Manuskript, 12. Jh.
Manuskript,
12. Jh.
Ein Engländer, ein deutscher Verleger und der große Kreislauf
Es war der Engländer William Harvey, der die antike Lehre „vom Kopf auf die Füße“
stellte. In seiner Schrift Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus beschrieb er den großen Blutkreislauf und begründete so die Kreislaufphysiologie. Verlegt wurde das Buch übrigens – im Rahmen der frühen Globalisierung –
in Frankfurt; und auch die zahlreichen Druckfehler in der ersten Ausgabe – der
Schriftverkehr mit dem Autor gestaltete sich etwas umständlich, zudem war seine
Handschrift sehr „ärztlich“ – konnten nicht verhindern, dass die Exercitatio als eines
der berühmtesten Bücher in die Medizingeschichte eingehen sollte! Harvey hatte
die Vorhöfe als Teil des Herzens definiert, die Systole als aktive Herzphase erkannt,
gefolgt vom Herzspitzenstoß, der Arterienerweiterung und dem Pulsschlag.
Auf die Idee der Kreislaufbewegung war Harvey vor allem durch Vivisektionen,
durch Stauungsversuche und durch konsequentes logisches Denken unter Zuhilfenahme der Mathematik gekommen: Das Blut kann nicht durch die Nahrung
nachgeliefert werden, weil dafür sowohl die Menge, die aus der Hohlvene in die
Arterien fließt, als auch die Menge, die ununterbrochen über die Arterien in alle
Körperteile gelangt, viel zu groß ist. Für einen Blutkreislauf sprach zudem die
permanente Rückführung des Blutes über die Venen ins Herz.
Das fehlende Glied und
das Mikroskop
Für den Übergang vom arteriellen ins
venöse System allerdings bediente
Harvey sich eines Kunstgriffs und postulierte die Existenz von Gewebeporen!
Rund 30 Jahre später entdeckte der
italienische Arzt Marcello Malphigi die
(Frosch-)Kapillaren. Damit demons­trierte
er nicht nur den Stellenwert technischer Entwicklungen für die Medizin,
der in der Zukunft immer wichtiger
werden sollte, sondern schloss auch das
„missing link“ in Harveys neuer Kreislauflehre.
Die Grundlagen zu einem breiteren
Verständnis der Herzkrankheiten waren
damit gelegt. Jetzt war die Pathologie
gefragt, sie auch zu entdecken und zu
differenzieren!
Anatomische und physiologische Revolutionen
Anatomische und physiologische Revolutionen
Anatomische und physiologische Revolutionen
>Leonardo da Vinci, Manuskript, 15. Jh.
8
9
Im Folgenden soll die Geschichte der Herzpathologie anhand
einiger Erstbeschreibungen skizziert werden. Dabei bleiben
die Entdeckungen natürlich immer auch eingebettet in die
jeweils vorherrschenden Paradigmen. So ist es z. B. nicht über­
raschend, dass erst mit dem Aufbruch in die Moderne im
15. und 16. Jahrhundert – angeführt von der neuen Anatomie
eines Johann Dryander oder Andreas Vesalius – auch für die
Pathologie ein neues Zeitalter anbrach. Die Humoralpathologie des Galenus von Pergamon, die davon ausgegangen war,
dass nicht die festen Organe der Sitz der Krankheiten (und des
Lebens) sind, sondern die sogenannten vier Körpersäfte (Blut,
Schleim, gelbe und schwarze Galle), geriet durch neue anatomische – und noch mehr physiologische – Erkenntnisse ins Wanken.
Mit der 1761 von Giovanni Battista Morgagni veröffentlichten
Sammlung von Krankengeschichten und Sektionsbefunden
De sedibus et causis morborum per anatomen indigatis wurden
die pathologischen Veränderungen als lokalisierbare Phänomene interpretiert; das alte Credo, Krank­heiten primär durch
eine Dyskrasie der Säfte gekennzeichnet zu sehen, trat in den
Hintergrund: Die Humoralpathologie hatte sich auf den Weg
zur Solidarpathologie gemacht. Mitte des 19. Jahrhunderts
war es dann vor allem Rudolf Virchow, der noch einen Schritt
weiter ging: „Rücken wir bis an die letzten Grenzen vor, an
denen es noch Elemente mit dem Charakter der Totalität oder,
wenn man so will, der Einheit gibt, so bleiben wir bei den
Zellen stehen.“ Aus Humoral- und Solidarpathologie war anno
1858 die Cellularpathologie geworden.
Pathologische Veränderungen
Pathologische Veränderungen
Pathologische Veränderungen
> A. Vesalius, Ölgemälde, 19. Jh.
> J. N. Corvisart, Briefmarke, 20. Jh.
> C. Weigert, Fotografie, 19. Jh.
Meilensteine der Herzpathologie
1601
1673
1674
1705
1706
1707
1761
1762
1789
1797
10
Ercole Sassonia beschreibt den Herzblock
Niels Stensen liefert den ersten Bericht über eine
Fallot-Trilogie
John Mayow berichtet über eine Mitralstenose Lazare
Rivière beschreibt im gleichen Jahr eine Aortenstenose
Raymond Vieussens skizziert die krankhaften Ver­
änderungen bei einer Mitralstenose
William Cowper beschreibt krankhafte Veränderungen
(„Ossifications and Petrifications“) der Aortenklappe
Giovanni Lancisi notiert „Bewuchs“ auf den Herz­klappen
In Giovanni Morgagnis Schrift De sedibus … finden sich
die klassischen Beschreibungen des Herzblocks und der
Mitralstenose
Frank Nicholls beschreibt die Entstehung des AortenAneurysmas
Michael Underwood berichtet als Erster über angeborene Herzfehler bei Kindern
Matthew Baillie vermutet einen Zusammenhang zwischen rheumatischem Fieber und Herzinsuffizienz infolge
krankhafter Herzklappen
1806
1809
1818
1827
1832
1843
1846
1852
1859
Napoleons „Lieblingshausarzt“ Jean Corvisart des
Marest begründet die kardiologische Symptomatologie
Allan Burns beschreibt die Endocarditis und spek­uliert
über die Bedeutung der Herzgeräusche
John Cheyne berichtet über einen Fall, der später
als „Cheyne-Stokes-Atmung“ in die Literatur eingehen
wird
Robert Adams beschreibt die Insuffizienz der Triku­spidalklappe
„In his wonderfully clear account“ berichtet Dominic
Corrigan u. a. über die Insuffizienz der Aortenklappe
und den „Wasserhammer-Puls“
Sulpice Fauvel hört präsystolische Geräusche bei der
Mitralstenose
Peter Latham beschreibt die Koronarthrombose
William Kirkes skizziert den durch intrakardiale Koagula ausgelösten embolischen Prozess
Pehr Malmsten beschreibt den Herzinfarkt mit histologischem Nachweis einer Myokardnekrose
1861
1866
1867
1869
1871
1872
1876
1880
1887
1888
Paul Duroziez hört das heute als Duroziez-Doppelgeräusch bekannte Gefäßgeräusch und verknüpft es mit
einer Insuffizienz der Aortenklappe
Wilhelm Ebstein schreibt über angeborene Abnormalitäten der Trikuspidalklappe
Nikolaus Friedreich publiziert den Klassiker Krankheiten
des Herzens
Eberhard Winge postuliert die bakterielle Genese
der Endokarditis
Jacob da Costa beschreibt das Effort-Syndrom, das heute
als Da-Costa-Syndrom bekannt ist
Ludwig Traube berichtet über den Pulsus bigeminus
Pierre Potain analysiert den Galopprhythmus
Carl Weibert beschreibt den Ablauf eines Myokardinfarkts
John MacWilliam entdeckt, dass Kammerflimmern
Ergebnis einer raschen Folge unkoordinierter peristaltischer Kontraktionen ist
Etienne Fallot beschreibt die „maladie bleue“, die Blausucht, zwar nicht als Erster, aber sein Name bleibt damit
verbunden: die Fallot’sche Trilogie
1889
1889
1899
1906
1909
Graham Steell publiziert über ein bei Pulmonalinsuffizienz auftretendes Herzgeräusch, heute als Graham-Steell-Geräusch bezeichnet
John MacWilliam beschreibt den plötzlichen Tod durch
Kammerflimmern
Karel Wenckebach analysiert den unregelmäßigen Puls,
die Wenckebach-Perioden
Arthur Cushny beschreibt das Vorhofflimmern
Carl Rothberger veröffentlicht seine Schrift Vorhofflimmern und Arhythmia perpetua
Viel ist in dieser Übersicht von „Geräuschen“ die Rede. Dass die
Differenzierung der Krankheiten des Herzens ohne parallel laufende Entwicklung der Diagnostik ein Ding der Umöglichkeit
gewesen wäre, ist so schnell offensichtlich.
11
Fotografie, 20. Jh.
>K. H. Baumgärtner, Kranken-
> L. Auenbrugger, Ölgemälde, 19. Jh.
physiognomik, 1838
Selbstversuche und andere diagnostische Experimente
Auenbrugger und Laennec
„Der Kranke vermag … nur in aufrechter
Stellung zu verweilen und sitzt deshalb
in dem Lehnstuhle, den Rücken mit
Kissen unterstützt. Das Haupt ist vorwärts gebeugt, und die deutlich sichtbaren Muskelbündel am Halse zeigen
eine gespannte Haltung an … Es hat beinahe den Anschein, wie wenn der obere
Teil der Brust etwas hervorgetreten
wäre … Der Kranke fühlt den nahen
Tod, der bei jedem Herzschlag ihm
seine Macht kund gibt.“ Mit diesen
Worten beschreibt K. H. Baumgärtner
in seiner 1842 erschienenen KrankenPhysiognomik das Krankheitsbild „Hypertrophie und Aneurysma des Herzens“. Bei der Sektion findet man u. a.
ein deutlich vergrößertes Herz und
„die innere Fläche der Aorta und der
übrigen Arterien und auch die Klappen
des Herzens fühlten sich sehr rauh an,
indem sie mit vielen knochenähnlichen
Körperchen besetzt waren“.
Bereits 1761 hatte Leopold Auenbrugger in seiner Schrift Inventum novum
ex percussione thoracis humani ut
signo abstrusos interni pectoris morbos
detegendi seine Technik der Brustper­­kussion vorgestellt. 50 Jahre lang wurde die Idee jedoch kaum zur Kenntnis
genommen, erst in der Folge einer
französischen Erfindung kam auch die
österreichische Technik in Mode. „Ein
hölzernes Instrument für ein Ohr, gut
20 Zentimeter lang und knapp vier
Zentimeter im Durchmesser, aus zwei
miteinander verschraubbaren Teilen
und abnehmbaren Endstücken an
beiden Seiten“ (R. Porter), so beschrieb
René Théophile Laennec in der Schrift
Traité de l’auscultation médiate sein
neues Instrument. Die Idee dazu hatte
er übrigens schon 1816 bei der Untersuchung einer „jungen Person, die
allgemeine Symptome der Herzkrankheit aufwies und bei der Betastung
und Perkussion aufgrund der Fettleibigkeit wenig Ergebnisse brachten“.
Auch gut 100 Jahre später ist die
Antlitz-Diagnostik nicht (völlig) aus
der Mode: Die von einer Gemeindeschwester bei einer Patientin – nach
längerer diagnostischer Odyssee – „aus
dem Gesichte“ gestellte (und später in
der Klinik bestätigte) Diagnose eines
Herzklappenfehlers mit der Folge einer
Bauchwassersucht ist 1958 für Jörgen
Schmidt-Voigt Anlass zu seiner Publikation Das Gesicht des Herzkranken –
Eine
Sammlung
physiognomischer
Leitbilder zur Aspekt-Diagnose cardiovasculärer Erkrankungen. Freilich hatte man zu dieser Zeit schon lange die
Konsequenz aus Johann Wolfgang von
Goethes Seufzer gezogen:
Was ist das Schwerste von allem?
Was Dir das Leichteste dünket.
Mit den Augen zu sehn,
Was Dir vor den Augen liegt,
und zunehmend auf das moderne diagnostische Instrumentarium vertraut!
12
> R. T. H. Laennec, Ölgemälde, 19. Jh.
> Sphygmograph, Fotografie, 19. Jh.
Vom Hören zum Sehen
Und Laennec war sich des Vorteils
seiner neuen Methode wohl bewusst:
„Gerade weil die von den Patienten
angegebenen Empfindungen nicht genügten, um eine Herzkrankheit zu
kennzeichnen, muß man für eine
sichere Diagnose auf die Auskultation
zurückgreifen.“ Mit dem 1852 vom
Amerikaner George Cammann entwickelten flexiblen Gerät – für beide
Ohren – wurde das Stethoskop dann
endgültig zum Signum des modernen
Arztes (und ersetzte in der Ikonographie das tradierte Uringlas!)
Herzkrankheiten (ungewöhnliche Herzgeräusche wurden nicht selten als
Klappenfehler interpretiert) waren damit schon hörbar geworden. Sichtbar
wurden sie schließlich mit dem Sphygmograph anno 1855, dem Kymographion 1859, mit Scipione Riva-Roccis
Sphygmomanometer aus dem Jahr 1896
und mit dem von Willem Einthoven
1903 konstruierten Elektrokardiographen. Dass von der ersten technischen
Entwicklung – und den Optimierungen
– bis hin zur klinischen Anwendung allein durch die Unterscheidung physiologischer Ausprägungen und charakteristischer pathologischer Veränderungen
Zeit vergehen musste, versteht sich von
selbst.
lich rasch gelangte Werner Theodor
Forssmanns Katheterexperiment in die
Praxis: 1929 hatte er sich einen Katheter – röntgenologisch dokumentiert –
bis in seinen rechten Herzvorhof vorgeschoben. 1931 ließ er – natürlich von
sich selbst – das erste Angiokardiogramm anfertigen; kurz darauf führten
die Amerikaner André Cournand und
Dickinson Richards die erste Katheterisierung bei einem Patienten durch.
Selbstversuche und andere diagnostische Experimente
Selbstversuche und andere diagnostische Experimente
>W. M. Einthoven, Apropos Zeitfenster: Nur wer schnell
operierte, galt in den heroischen Zeiten der Chirurgie als guter Operateur.
Warum, weiß u. a. Lorenz Heister!
Bei Konrad Röntgens Entdeckung aus
dem Jahr 1895 war dieses Zeitfenster
freilich erheblich kleiner: Kaum entdeckt, wurden die X-Strahlen auch
schon diagnostisch – und wenig später
auch therapeutisch – eingesetzt. Ähn13
Auf dem Weg zur Aseptik
Meilensteine der Anästhesie
Für Lorenz Heister, er gilt Anfang des 18. Jahrhunderts als
Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland,
war der chirurgische Eingriff letztlich eine Frage der „Courage“: „… Frauenzimmer aber thun so erbärmlich“, schreibt er
beim Thema Mammakarzinom, „dass sich auch die beherztesten Chirurgum manchmal erschrecken … derohalben muss
ein Chirurgus Courage haben, und sich durch des Patienten
… Geschrey nicht verhindern lassen.“ Weichere Gemüter
wussten dagegen: „Hanc operationem satis esse horrendum,
et quasi crudelum“ (nach J. Körbler). Schrecklich und grausam, weil zur Schmerzlinderung lediglich Schlafschwämme
mit Pflanzenextrakten zur Verfügung standen. Schrecklich
und grausam aber auch aus hygienischer Sicht: Die chirurgischen Eingriffe wurden meist in häuslicher Umgebung
vorgenommen, Arzt, Chirurgus und Gehilfen arbeiteten in
Straßenkleidung.
Beim Vergleich der Letalität unter den Wöchnerinnen zweier
Stationen der Geburtshilflichen Klinik in Wien war Semmelweis aufgefallen, dass die Station, die auch dem Unterricht
von Medizinstudenten diente, eine rund dreimal höhere
Sterblichkeit aufwies. Nach sorgfältigen Untersuchungen
war er sicher: Die Ursache lag darin, dass die Studenten
nach geburtshelferischen Übungen an Leichen mit mangelhaft gereinigten Händen in die Gebärklinik kamen. Er wies
deshalb die Studenten an, ihre Hände in einer Chlorkalklösung zu reinigen. Die Sterblichkeit sank daraufhin von 11,4%
im Jahr 1846 auf 5,0% anno 1847 und 1,27% im Jahr 1848. So
überzeugend die Zahlen waren, das medizinische Establishment blieb skeptisch.
1800Humphrey Davy empfiehlt Stickoxydul zur
Schmerzbekämpfung in der Chirurgie
1805 Friedrich Sertürner isoliert das Morphin
1831Samuel Guthrie, Eugène Soubeiran und Justus
von Liebig entdecken das Chloroform
1842William Clarke setzt Äther bei einer Zahn­­­­ex­­traktion ein
1846William Morton präsentiert am 16. Oktober
1846 die erste öffentliche Äthernarkose, Robert
Liston führt am 21. Dezember die erste Operation unter Äthernarkose in Europa durch
1847Johann Heyfelder gelingt am 24. Januar 1847
die erste Operation in Deutschland unter
Äthernarkose
1848Erste Todesfälle unter Chloroform werden beschrieben
1853John Snow narkotisiert Queen Victoria bei einer
Geburt
1862Joseph Clover konstriert einen Inhalations­­
apparat, der die Inhalation eines konstanten
Chloroform-Luft-Gemisches gewährleistet
1869Oscar Liebreich führt das Chloralhydrat als
Hypnotikum ein
1877John Packart empfiehlt die Ätherrauschnarkose
als „Primary Anaesthesia“
1878William McEwen narkotisiert durch ein durch
den Mund eingeführtes Intubationsrohr
1907Elmer McKesson schlägt die routinemäßige
Blutdruckkontrolle unter Narkose vor
Bis zu 90 %
100 Jahre später fanden die operativen Eingriffe meist in
Kliniken statt; der Hygiene war dies allerdings nur bedingt
zuträglich: „Zur Operation zog der Chirurg einen alten Rock
an, den man für andere Zwecke nicht mehr verwenden
konnte … der ältere Chirurg zeichnete sich gegenüber dem
jüngeren durch seinen mit Blut und Eiterkrusten bedeckten
Rock aus, und nicht ohne eine gewisse Geringschätzung
blickte er auf das noch saubere Kleid des Anfängers herab“
(R. von Brunn-Fahrni). Die zur Abbindung bzw. Abdeckung
der Wunden eingesetzten Materialien wie Wollbäusche oder
Leinenbinden wurden meist – ohne größere Reinigung – wiederverwendet. Und das Ergebnis: Die Operationsletalität lag
je nach Eingriff und Klinik zwischen 25% und 90%. Theodor Billroth hatte dazu – schon anno 1869! – seine eigene
Meinung: „Die Medizinalstatistik ist wie ein Weib, ein Spiegel
reinster Tugend und Wahrheit, oder eine Metze für jeden,
zu allem zu brauchen“ (nach R. von Brunn-Fahrni). Und dass
Medizinalstatistiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem „Autoritäten“ nicht überzeugen konnten,
musste der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis erfahren.
14
Mit Karbol gegen die Fäulnis
War Semmelweis bei seinen Überlegungen noch von einem
„zersetzten tierischen Stoff“ überzeugt, ging der schottische
Arzt Joseph Lister von Pasteurs Ansicht aus, dass die Fäulnis
organischer Substanzen – also auch die Wundeiterung – durch
Keime hervorgerufen werde. Da schon geringe Konzentrationen Karbolsäure gegen Fäulnisgeruch wirkten, begann
Lister 1865 mit unterschiedlichen in Karbolsäure getränkten
Verbänden – bis hin zu Karbolsäurezerstäubern – zu experimentieren. Zwei Jahre später erschien seine erste Veröffentlichung über die antiseptische Wundbehandlung On a New
Method of Treating Compound Fracture, Abscess, etc., with
the Observations on the Conditions of Suppuration.
Im Vergleich zu Semmelweis war Listers Methode schnell
Erfolg und Anerkennung beschieden: Nur 14 Jahre nach
Listers „New Method“-Publikation berichtet z. B. Emil Burckhardt aus Basel über dramatische Rückgänge bei der Operationsletalität nach Einführung der Lister’schen Antiseptik: Bei
offenen Frakturen von 52,7% auf 10%, bei Amputationen
von 43,7% auf 11,5%. Nicht ganz so begeistert äußerte sich
Theodor Billroth: „Abgesehen davon, daß meine Assistenten
und ich stets braune und wunde Hände hatten, so daß wir
außer bei Operationen fast nie ohne Handschuhe sein
konnten … wich man mir, wohin ich als Arzt mit meiner
„Kaminkehrer-Atmosphäre“ kam, aus, oder war der Meinung, der Ofen habe plötzlich zu rauchen angefangen; im
Theater entstand um mich eine peinliche Bewegung, weil man
glaubte, es ströme Gas aus“ (nach R. von Brunn-Fahrni).
> L. Heister, Kupferstich, 18. Jh.
Von der Narkose und der Antisepsis
Von der Narkose und der Antisepsis
Von der Narkose und der Antisepsis
15
> T. Billroth, Lithographie, 19. Jh.
Anno 1896 hatte Ludwig Rehn die Grenze überschritten. Seine Pionierleistung
beflügelte Chirurgen in Europa und
den USA, Herznähte durchzuführen.
Immerhin bedeutete „angesichts des
einstmals fast sicheren tödlichen Ausgangs von Herzwunden … die damalige
Letalitätsrate von 65% einen gewaltigen Fortschritt“ (P. von Wallenberg).
Es folgten erste Versuche, Fremdkörper
wie Geschosskugeln, Nägel, Eisen- und
Holzsplitter aus dem Herzen zu entfernen. Bei der Indikationsstellung für den
chirurgischen Eingriff blieb man allerdings extrem vorsichtig; wer mit kardialem Fremdkörper beschwerdefrei leben
konnte, wurde nicht operiert. Es war
der bereits eingangs zitierte Dwight
Harken, der hier ein Umdenken auslöste. Vor dem Hintergrund des Risikos
von bakteriellen Endokarditiden und
Embolien forderte er die Entfernung
aller Fremdkörper: Bei seinen 135 ausnahmslos erfolgreichen Eingriffen bei
Soldaten in den Jahren 1944 und 1945
hatte er jedoch auch von zwei revolutionären Entdeckungen profitiert.
Das Blut und die Antibiotika
Fortschritt und Skepsis
Perikardektomien und Embolektomien
Hypothermie, Herz-Lungen-Maschine und Heparin
Erstens hatte Karl Landsteiner im
Jahr 1900 die Blutgruppen A, B und 0
entdeckt. Mit der kurz danach gefundenen Blutgruppe AB war die Basis
für die moderne Bluttransfusion gelegt (erste Versuche hatte es bereits
im 17. Jahrhundert gegeben!). Bei seinen Eingriffen hatte Harken nicht
selten eineinhalb Liter Blut pro Minute
unter Druck verabreichen müssen!
Zum Zweiten hatte Alexander Fleming
im Jahr 1928 das Penicillin entdeckt.
Anfang der 1940er Jahre begannen
amerikanische und britische Firmen mit
der Massenproduktion von Penicillin
und „ohne das segensreiche Penicillin
hätte auch ein so wagemutiger und
begabter Chirurg wie Harken nicht
diese erstaunlichen Erfolge gehabt“
(P. von Wallenberg).
Die Diagnostik der Herzkrank­heiten
hatte sich verbessert, Narkose und
Antisepsis hatten Operationen einfacher und sicherer gemacht, trotzdem blieben Eingriffe – außer Herznähten nach Traumen – zunächst
eher die Ausnahme. Zum einen
zeigten sich die „Zulieferer“, die
Internisten, deutlich skeptischer als
viele der vorwärtsdrängenden Chirurgen, zum anderen pflegten,
wie bereits zitiert, „zwei Dinge …
den Fortschritt in der Medizin aufzuhalten: Autoritäten und Systeme“
(Rudolf Virchow). So dominierte
z. B. in England die Meinung des
königlichen Leibarztes, Sir James
Mackenzie, die Szenerie: Er interpretierte Mitralklappenstenosen als
Folge einer Schwächung des Myokards, eine Herzoperation zur
Lösung der stenosierten Mitralklappen schien vor diesem Hintergrund
wenig hilfreich.
In Deutschland wagte man sich vor allem bei der konstruktiven Perikarditis, dem „Panzerherz“, und der Embolektomie „ans Herz“. Nachdem Adolf Henle 1907 eine
partielle Herzbeutelentfernung misslungen war, blieb es
Ludwig Rehn vorbehalten, die erste erfolgreiche Perikardektomie durchzuführen. Ferdinand Sauerbruch – und
insbesondere Viktor Schmieden – vervollkommneten
später den Eingriff. Auch die Embolektomie war zunächst
eine – anfangs allerdings wenig erfolgreiche – deutsche
Domäne. 60 Jahre nachdem Rudolf Virchow als Erster
über die Entstehung und Manifestierung von Lungenembolien publiziert hatte, demonstrierte Friedrich
Trendelenburg 1908 seine Methode der Embolektomie –
an einem Verstorbenen. In der Folge überlebte allerdings
keiner seiner Patienten; erst aus dem Jahr 1924 datiert
der erste gelungene Eingriff.
In den USA war man dagegen vor allem mit der Lösung
des Problems der „blauen Babys“ erfolgreich. Durch
Anlegen eines künstlichen Ductus Botalli bzw. Shunt operierten Helen Taussig und Alfred Blalock 1944 erstmals
ein blausüchtiges Kind: Zwei Monate nach dem Eingriff
konnte die dann 17 Monate alte Eileen Saxon aus der
Klinik entlassen werden.
In der Folge sollten vor allem drei Entdeckungen der Herzchirurgie eine neue Zukunft geben:
Um die Operationszeit verlängern zu können, optimierte man
zunächst das seit langem bekannte Konzept der Hypothermie.
Bei schwerwiegenden Defekten mit lang dauernden Eingriffen war die Hypothermie allerdings nicht ausreichend. Erst mit
der Konstruktion der ersten Herz-Lungen-Maschine durch John
Gibbons konnte nun „in Ruhe“ am Herzen operiert werden: Die
Maschine übernahm die Arbeit von Herz und Lunge. Nach einem
nicht geglückten Einsatz bei einem 15 Monate alten Kind im Jahr
1952 war seine zweite Operation ein voller Erfolg: Die 18-jährige
Cecilia Bavolek, die ein Loch im Herzen hatte, war 45 Minuten
lang an der Maschine angeschlossen, 27 Minuten sorgte diese
allein für Kreislauf und Beatmung. Cecilia genas und der 6. Mai
1953 ging in die Annalen der Medizingeschichte ein. Möglich
geworden war der Einsatz der Herz-Lungen-Maschine zur extrakorporalen Zirkulation durch eine Entdeckung von Jay McLean
anno 1916. McLean hatte einen Stoff mit starken antikoagulativen Eigenschaften aus der Leber gewonnen, das Cephalin.
Erst 1918 erhielt es seinen heutigen Namen, Heparin.
> F. Trendelenburg, Fotografie, 20. Jh.
Chirurgische Techniken und apparative Fortschritte
Chirurgische Techniken und apparative Fortschritte
Chirurgische Techniken
und apparative Fortschritte
> Herzlungenmaschine, Fotografie, 20. Jh.
>D. Harken, Fotografie, >K. Landsteiner,
>A. Blalock, H. B. Taussig, 20. Jh.
Briefmarke, 20. Jh.
Surgical Treatment of Mal­formation of the Heart, 1945
16
17
>H. S. Souttar, The surgical Treatment
of mitral stenosis, 1925
schrieb Souttar später, „und es zeigte sich, daß er während
dieser Zeit in keiner Weise den Herzschlag oder den Puls beeinträchtigte oder veränderte. Als er jedoch in die Öffnung
der Mitralklappe eindrang, sank der Blutdruck auf Null, wenn
auch noch immer keine Veränderung im Herzrhythmus beobachtet werden konnte. Das Ein- und Rückströmen des Blutes
wurde ganz einfach durch den Finger, der vermutlich genau
in die Klappenöffnung paßte, verhindert.“ Die ursprünglich
vorgesehene Sprengung der Klappenzipfel mit einem
Messer unterblieb, da es bei den offensichtlich geringfügigen
Verwachsungen ausgereicht hatte, sie mit dem Finger zu
durchstoßen. Beim Zurückziehen seines Fingers rissen zwar die
> H. S. Souttar, Fotografie, 20. Jh.
gesetzten Haltenähte und ein Blutstrahl spritzte aus der Wunde,
aber „abgesehen von jenem Augenblick … hat uns der Zustand der Patientin nicht den geringsten Anlaß zur Besorgnis
gegeben; im übrigen sank auch der Blutdruck nur vorübergehend“, heißt es bei Souttar weiter. Die Lebensqualität von
Souttars Patientin verbesserte sich in den nächsten Jahren
erheblich, fünf Jahre später verstarb sie allerdings an einem
Gehirnschlag. In der Folge wurden weitere Mitralklappenoperationen durchgeführt, allerdings mit mäßigem Erfolg: Von
zwölf Patienten überlebten nur zwei den Eingriff. In Deutschland wagte Bruno Pribram den Eingriff, der Patient verstarb
aber fünf Tage nach der Operation an einer Pneumonie.
>E. C. Cutler, Cardiotomy and Valvulotomy Frühe Klappenoperationen
„Es kann in der Chirurgie kein faszinierendes Problem als das
der Klappenkorrekturen geben. Wie sind der Ansicht, daß
solche Defekte rein mechanischer Natur sind, und daß, von
ihnen abgesehen, das Herz chirurgischen Eingriffen ebenso
zugänglich ist wie jedes andere Organ des Körpers. Ohne die
Tätigkeit des Herzens im geringsten zu beeinträchtigen, kann
man im Inneren seiner Kammern operieren und sogar Teile des
Herzens entfernen.“ Diese aus heutiger Sicht nicht übermäßig
interessante Aussage ist mehr als mehr ein Dreivierteljahrhundert alt! Sie stammt von Henry Souttar, der 1925 den ersten
komplett erfolgreichen Eingriff bei einer Mitralstenose durchführte.
for mitral stenosis, 1923
Die Idee zur Erweiterung stenosierter Mitralklappen war zu
diesem Zeitpunkt schon über 20 Jahre alt: 1902 hatte Lauder
Brunton mit seiner Preliminary Note on the Possibility of Treating Mitral Stenosis by Surgical Methods genau einen solchen
Eingriff vorgeschlagen. Die Meinung, eine Klappenstenose
habe mechanische Ursachen, wurde allerdings vom führenden
Kardiologen James MacKenzie abgelehnt und so wagte Elliott
Cutler erst im Jahr 1923 die erste links-ventrikuläre Sprengung
einer stenosierten Mitralklappe. Die Patientin überlebte den
Eingriff, die Symptomatik besserte sich allerdings nur wenig
und viereinhalb Jahre später starb die Frau an ihrer fortschreitenden Herzerkrankung.
Frühe Klappenoperationen
Frühe Klappenoperationen
„Ich ließ den Finger ungefähr zwei Minuten im Vorhof“,
Die Finger, das Valvulotom und die Pulmonalklappe
Erst rund 20 Jahre später wurde „Souttar neu entdeckt“! Es
waren vor allem der – schon erwähnte – Bostoner Chirurg
Dwight Harken, der Engländer Claude Brock und der Amerikaner Charles Bailey, die die Operationstechnik weiterentwickelten. Claude Brock war es dabei vor allem um eine Verbesserung der Blalock-Taussig-Operationsmethode gegangen.
Er suchte über eine Korrektur der Lungenklappe das Problem
der Fallot’schen Trilogie zu lösen. Mit Hilfe eines von einem
Instrumentenbauer konstruierten Valvulotoms operierte er
am 19. Februar 1948 seine erste kleine Patientin: „Das Ergeb-
nis der Valvulotomie war sehr erfolgreich“, konnte er wenig
später festhalten. In der Folge entwarf Brock ein ganzes Set
von Spezialinstrumenten für die – nach wie vor – „blinde“
Herzchirurgie.
Zeitgleich mit Brock hatte T. Holmes Sellors bei einem 20jährigen Patienten die Pulmonalklappe erweitert und die
verwachsenen Zipfel durchtrennt. Das „ius primae noctis“
gebührte allerdings Claude Brock: Seine Arbeit war zwei
Wochen vor der Publikation Sellors’ in The Lancet erschienen!
>A. Blalock,
Fotografie,
20. Jh.
Höchstens sechs Monate
Doch zurück zu Souttars Eingriff: Aufgrund der Herzgeräusche
hatte man bei seiner 19-jährigen Patientin eine Mitralklappenstenose diagnostiziert und ihr noch eine Lebenserwartung
von höchstens sechs Monaten gegeben. Nach der Anästhesierung machte Souttar einen langen C-förmigen Schnitt ums
Herz, durchtrennte die Rippen, setzte einen rund 8 cm langen
Schnitt ins Perikard, aus dem das linke Herzohr herausragte.
18
Mit drei Haltenähten zog er das Herzohr nach vorn und klemmte es an der Basis ab. Sobald die Klemme das obere Ende des
Vorhofs abschloss, setzte er einen zweieinhalb Zentimeter langen Schnitt, gerade so, dass er den Zeigefinger in den Vorhof
schieben konnte. Nach dem Lösen der Klemme fühlte er den
Druck des aus der Kammer in den Vorhof strömenden Blutes.
>C. P. Bailey, Foto grafie, 20. Jh.
19
Einer Häkelnadel ähnlich – jedoch versehen mit scharfen
Rändern – war dagegen das Instrument, das Charles Bailey
benutzte, um Verwachsungen sowohl der Pulmonal- als auch
der Mitralklappe zu sprengen. Wichtiger noch allerdings waren
seine Erfahrungen aus Tierexperimenten, die das hohe Risiko
von Resektionen der Mitralklappenzipfel zeigten. Er konzentrierte sich daher auf die Durchtrennung der lateralen Kommissur
– zunächst mit deprimierenden Ergebnissen: Drei Patienten
waren verstorben, in drei von fünf Kliniken Philadelphias
hatte er Operationsverbot. Trotzdem wagte er am 10. Juni
1948 zwei weitere Eingriffe. Der erste Patient verstarb auf dem
Operationstisch, doch sein zweiter Patient, eine 24-jährige Frau
mit Mitralklappenstenose, überlebte nicht nur, wenige Tage
später führte er sie auf einem Kongress seinen erstaunten
Kollegen „als lebenden Beweis für die chirurgische Beseitigung
des stenosebedingten Mitralklappengeräusches vor“ (P. von
Wallenberg). Später beschäftigte sich Bailey vor allem auch mit
der Aortenklappenstenose: am 8. April 1952 führte er die erste
kombinierte Mitral- und Aortenklappenoperation durch.
Für das Gefühl vieler Pioniere der Herzklappenoperation kann
wohl folgende Aussage von Charles Bailey stehen: “Finally
however, you have to face the ‘moment of truth’, and the poignancy is so great that I can’t really express it. You know that
almost all the world is against it; you know that you have a
great personal stake and might even loose your medical license
or at least your hospital privileges if you persist. In fact, the
thought crosses your mind that maybe you are really crazy. And
yet you feel that is has to be done and that it has to be right.”
>C. E. Bock, Handatlas
der Anatomie des Menschen, 1841
>B. Eustachius, Tabulae >H. Lebert, Traité anatomicae, 1714
d‘anatomie patholo
Deprimierende Fehlschläge
Deprimierende Fehlschläge
Deprimierende Fehlschläge
gique, 1857-1861
In Hausschuhen
Der Weg durch die linke Kammer
Gerade sechs Tage nach Bailey operierte Dwight Harken
eine Mitralstenose: Dazu hatte auch er die Souttar’sche
„Finger-Methode“ um ein kleines Messer ergänzt: Mit seinem
Finger weitete er zunächst die Mitralklappe, bevor er dann mit
einem, wie bei Bailey; am Finger befestigten kleinen Messer die
verkalkte Umrandung der Klappe einschnitt. Auch Harken
hatte anfangs unter schlimmen Fehlschlägen gelitten: Von
zehn Patienten hatten nur vier überlebt. Erfahrung und
Erfolg gaben aber auch ihm Recht: von den folgenden
15 Patienten überlebten 14 den Eingriff. Allerdings konnte er
nicht allen so rasch helfen wie einem Farmer aus Texas: Bei ihm
war die Mitralvalvulotomie dermaßen erfolgreich verlaufen,
„daß dieser nach Ankündigung einer Herzkatheterisierung zur
Beurteilung des Handlungserfolges kurzerhand in Bademantel und Hausschuhen das Krankenhaus fluchtartig verließ, ein
Taxi zum Flughafen bestellte und nach Texas zurückflog. Dem
völlig fassungslosen Harken entgegnete er später am Telefon:
‚Ich brauche keine Tests, um zu sehen, daß es mir besser geht.
Ich kann jetzt Treppensteigen und sehe, daß es mir besser geht“
(P. von Wallenberg).
>H. S. Souttar,
>H. S. Souttar,
The surgical Treatment
The surgical
of mitral stenosis, 1925
Treatment of
Innerhalb von noch nicht einmal einem halben Jahr waren
so die Klappenkorrekturen – gleichsam mit 20-jähriger Verspätung – auf die Bühne der Herzchirurgie zurückgekehrt.
Die neuen Verfahren und technischen Hilfsmittel wurden in
kurzer Zeit weltweit vielfach eingesetzt und verbesserten die
Situation zahlreicher Patienten dramatisch. Das Jahr 1948
wurde damit zum „annus mirabilis of mitral valve repair“
(S. Westaby).
Der Zugang über die rechte Kammer führte allerdings auch zu
einer Reihe von Problemen – das Messer konnte, da man nur
mit einem Finger arbeitete, andere Teile des Herzens verletzen
und das Valvulotom verfing sich nur allzu leicht in den feinen
Sehnenfäden, mit denen die Klappen am Herzmuskel befestigt sind. Warum also nicht durch die rechte Kammer, dachten
sich die schottischen Ärzte Andrew Logan und Richard Turner.
Ihre „Zangenoperation“ mit einem Schnitt an der Herzspitze
in die linke Herzkammer und oben in den linken Vorhof bot
die Möglichkeit, beidhändig am Herzen zu arbeiten. Das von
unten kommende Messer konnte von dem oben eingeführten
Finger zu den Klappenzipfeln dirigiert werden.
mitral stenosis,
1925
20
21
Erste Verbesserungen
Es war vor allem das schwierige Problem
der Aortenklappen-Insuffizienz, das zur
Entwicklung künstlicher Herzklappen
führte. Charles Hufnagel, dessen
„efforts heralded the era of the cardiac valve prothesis“ (S. Westaby),
begann bereits im Jahr 1946 mit der
Entwicklung von Herzklappen. Sechs
Jahre später war die „Hufnagel-Klappe“
bereit für den klinischen Einsatz. Am
11. September 1952 war es so weit,
Hufnagel setzte die von ihm konstruierte Herzklappe erstmals in die Aorta
descendens eines Patienten ein. Von
den folgenden 80 Implantationen mussten allerdings zwölf während der Anästhesie abgebrochen werden, da der
Blutdruck zu stark abgefallen war; die
Operationsletalität betrug rund 20%,
vor allem infolge von Kammerflimmern.
“However, many of the survivors were
dramatically improved with an impressive decrease in cardiac size“ (S. Westaby).
Vor allem zeigten Hufnagels Eingriffe
auch, dass Fremdmaterial in die Blutbahn eingebracht werden konnte,
ohne dass man mit desaströsen Komplikationen rechnen musste.
Mit dem zunehmend besseren Verständnis der Strömungsverhältnisse innerhalb der Klappen und mit den Erfahrungen bei den Implantationen selbst
konnten die Klappen-Prothesen und
vor allem auch die Fixationsmethoden
optimiert werden. So erlitten z. B. anfangs noch rund 10% der Patienten eine
Thrombose oder Embolie; mit den verbesserten technischen Methoden konnten diese Probleme schließlich weitgehend eliminiert werden. Der „Prothesen-Klick“, der beim Schließen der
Klappe entsteht, wenn der oder die
Klappenflügel auf den Klappenring
prallen, war zunächst so stark, dass das
Klappengeräusch durch das gesamte
Zimmer zu hören war. Die Metallkugel wurde deshalb bald durch eine mit
Silikon überzogene Kugel ersetzt (damit
war dann allerdings auch nicht mehr so
Mitralklappenersatz nach Starr-Edwards
klar zu hören, ob sich nach einiger Zeit
Ablagerungen auf der mechanischen
Klappe gebildet hatten!).
Wie schon bei den Valvulotomen
waren dem Erfindungsgeist der Chirurgen und Instrumentenbauer auch bei
den Klappen-Prothesen keine Grenzen
gesetzt! Neben technischen Optimierungen wurden dabei auch früh schon
komplett andere Wege gesucht.
So setzte – auf der Basis von Tierversuchen – Donald Murray im Jahr 1955
einem 22-Jährigen das erste Allotransplantat ein. Die Spenderklappe hatte
er dazu 36 Stunden in physiologischer
Kochsalzlösung bei 4 ºC aufbewahrt.
Die Operation verlief erfolgreich – auch
bei drei weiteren Patienten trat nach
der Transplantation rasch die erwünschte klinische Besserung ein.
Die erste komplette Entfernung einer
insuffizienten Mitralklappe mit nachfolgendem Einsatz einer künstlichen
Klappe erfolgte im März 1960. Nina
Braunwald und Andrew Morton hatten ihre Mitralklappe aus Polyurethan gefertigt und, nachdem im Tier­
versuch vier Tiere zwischen acht und 40
Stunden überlebt hatten (in den heroischen Zeiten der Medizin waren die
Anforderungen an tierexperimentelle –
und klinische – Studien noch eher übersichtlich!), einem 16-jährigen Mädchen
eingesetzt. Es überlebte die Operation,
starb aber 60 Stunden später, da die
Klappe versagte. Weitere Untersuchungen und Experimente zeigten, dass der
Erfolg des Eingriffs entscheidend von
der genauen Positionierung und dem
festen Halt zwischen dem mitralen
Annulus und dem Klappenring abhing.
Einen wesentlichen Fortschritt brachte erst eine von Albert Starr und Miles
Edwards entwickelte neue Klappenform. In Stephen Westabys Beschreibung schwingt dabei ein Stück Bewunderung für eine ingenieurtechnische
Meisterleistung mit: “This was cast in
one piece of stainless steel, carefully
shaped, and given a high quality finish
by electropolishing … the ball was of
medical grade, heat-cured silastic, and
the valve responded well to accelerated fatigue tests.“ Kein Wunder, dass
bereits beim zweiten Patienten überhaupt, dem die Starr-Edwards-Klappe
eingesetzt wurde, ein vollständiger
Erfolg zu verzeichnen war: Der Patient
überlebte zehn Jahre; er starb jedoch
nicht an den Folgen der Operation,
sondern fiel beim Hausstreichen von
der Leiter und verletzte sich tödlich.
Spenderklappen und Tierklappen
Trotz der großen Fortschritte bei mechanischen Klappen – und ihrer enormen Lebensdauer – blieb u. a. das Problem der lebenslangen Antikoagulation
bestehen. Nicht wenige Chirurgen
konnten sich daher der Meinung von
Alain Carpentier anschließen:
“My only criticism of the homograft is
the practical problem of getting enough
specimens of different sizes. Because of
this difficulty the technique cannot be
routinely used. As a result we are still
concentrating our efforts on heterografts.” Mit der Bereitstellung von
Klappen aus Schweinegewebe und der
Entwicklung entsprechender Präservierungsverfahren wurde Carpentiers
Wunsch in den 1970er und 1980er
Jahren Wirklichkeit.
Künstliche Herzklappen
Künstliche Herzklappen
Künstliche Herzklappen
> A. Starr, M. L. Edwards, Mitral Replacement, 1961
> Hufnagel Klappe, 1953
>A. Carpenter, Biological
factors affecting lonterm
results of valvular
heterografts, 1969
>H. Lebert, Traité J. F. Gautier d’Agoty, >
d‘anatomie patholo
Exposition anatomique
gique, 1857-1861
de la structure du corps
humain, 1746
22
23
> A. Starr, Fotografie, 20. Jh.
Anfang der 1970er Jahre beschrieb der Amerikaner Roberts die
Anforderungen an den idealen Herzklappenersatz wie folgt:
1.Unbegrenzte Haltbarkeit
2.Normale hämodynamische Bedingungen nach Herzklappen
einpflanzung
3.Keine herzklappenbedingten Komplikationen wie erhöhte
Thrombogenität, erhöhte Endokarditis-Anfälligkeit oder
verringerte Lebensdauer der Blutbestandteile
4.Keine prothesenbedingten Komplikationen (Bügelbrüche,
klappenbedingte Defekte)
5.Einfaches Handling beim Einpflanzen für den Chirurgen
6.Geräuscharmut, also Komfort für den Patienten.
Mit den heute verfügbaren mechanischen Herzklappen und mit
den biologischen Herzklappen (Herzklappen aus Rinderperikard
und Schweineherzklappen) sind diese Anforderungen grundsätzlich erfüllt – freilich in unterschiedlichem Ausmaß:
Ein genialer Ingenieur
Mechanische Herzklappen halten mit hoher Wahrscheinlichkeit
ein Leben lang, erfordern allerdings die Einnahme von Antikoagulantien und verursachen Klickgeräusche, die von manchen
Patienten als unangenehm empfunden werden.
Biologische Herzklappen erfordern dagegen in der Regel keine
Prophylaxe mit Antikoagulantien, allerdings müssen sie möglicherweise im Laufe eines Lebens ausgetauscht werden (mit
neuen speziellen Entkalzifizierungssystemen, z. B. XenoLogiX,
wird mittlerweile jedoch das Kalzifizierungsrisiko gesenkt und
so die Lebensdauer der Klappen erhöht).
Bei der Entscheidung „mechanisch oder biologisch“ wird man
sich deshalb heute vor allem am Alter des Patienten, an der
Möglichkeit und Akzeptanz (Compliance!) einer lebenslangen
Antikoagulation und an ethisch-religiösen Erwägungen orientieren müssen. Freilich ist das eine Entscheidungssituation, vor
der Rudolf Virchow, der ja von sich selbst behauptet hatte, „an
Therapie zu glauben“ (siehe Vorwort!), bestimmt gern gestanden hätte!
63 Patente in diversen Branchen, mit 60 Jahren seit kurzer
Zeit im Ruhestand, hätte er sich einen ruhigen Lebensabend
machen können. Miles „Lowell“ Edwards war freilich alles
andere als der klassische Ruheständler: 1958 beschloss er, das
erste künstliche Herz zu konstruieren! Von dem Gedanken
an die Heilung des Herzens war er fasziniert, seit er noch als
Teenager zwei Anfälle von rheumatischem Fieber erlitten
hatte. Edwards waren zeitlebens die lebensbedrohlichen Risiken
seiner Krankheit bewusst gewesen: von der Vernarbung
der Herzklappen bis hin zum Organversagen. Dank seines
Hintergrundwissens über Hydraulik und den Betrieb von Kraftstoffpumpen war er davon überzeugt, dass ein mechanisches
Modell des menschlichen Herzens realisierbar sei. Als er seine
Idee allerdings Dr. Albert Starr, einem jungen Chirurgen an der
Medizinischen Fakultät der Universität Oregon, vortrug, stieß
der Vorschlag auf Skepsis. Stattdessen ermutigte Starr Edwards,
sich zunächst auf die Konstruktion einer künstlichen Herzklappe zu konzentrieren, für die unmittelbarer Bedarf bestand.
Ein genialer Ingenieur
State of the Art – 2009
State of the Art – 2009
Von der ersten Mitralklappe zum Weltmarktführer
Nach einer Entwicklungszeit von nur zwei Jahren war die erste Starr-Edwards-Mitralklappe entworfen, konstruiert und
getestet. Die erste erfolgreiche Klappenimplantation wurde
am 21. September 1960 an der Medizinischen Fakultät der
Universität Oregon durchgeführt. Der Patient, ein 52-jähriger
Farmer namens Philip Amundson, hatte infolge eines
rheumatischen Fiebers in der Kindheit eine vernarbte
und deformierte Herzklappe. Der Eingriff verlief gut, und
Zeitschriften auf der ganzen Welt berichteten über den
Erfolg der „an ein Wunder grenzenden“ Herzoperation.
Weniger als ein Jahr nach der Einführung der weltweit ersten
kommerziellen Ersatz-Mitralklappe stellten Edwards und Starr
die erste künstliche Aortenklappe vor. Stetige Innovation,
stetige Verbesserung der Herzklappen stand in den folgenden Jahrzehnten auf der Agenda. So ist heute die unter dem
Markennamen Carpentier-Edwards vertriebene Produktlinie
der Gewebeherzklappen aufgrund ihrer Haltbarkeit, Leistungsfähigkeit und der Vorteile für die Lebensqualität der Patienten
bei Chirurgen auf der ganzen Welt führend und hat Edwards
Lifesciences zur weltweiten Nummer eins unter den Herzklappenherstellern gemacht.
> A. Starr, M. L. Edwards, Mitral Replacement, 1961
Der Fortschritt geht weiter
Einen anderen großen Namen der Medizin hat die Entwicklung der letzten 100 Jahre allerdings gründlich widerlegt:
Stephen Paget und seine Meinung von den natürlichen Grenzen der Herzchirurgie! Insofern wird auch der heutige State of the
Art morgen schon überholt sein, bei den operativen Verfahren ebenso wie bei den technischen Hilfsmitteln. Denn, wie Charles
Darwin schon sagte: „Die Zeit ist die wichtigste Zutat im Rezept des Lebens.“
>A. Starr, M. L. >A. Starr, M. L. Edwards,
Edwards, Mitral Mitral Replacement, 1961
Replacement, 1961
24
25
Auf Grundlage der Kompetenz von Edwards Lifesciences beim
Herzklappenersatz stellte das Unternehmen u. a. Produkte für
chirurgische Reparatureingriffe – die sogenannte Annuloplastie – bereit. Darüber hinaus wurden zahlreiche weitere, bahnbrechende medizinische Innovationen entwickelt, darunter
der Swan-Ganz-Katheter, die erste Technologie, die jemals für
die hämodynamische Überwachung schwerkranker Patienten
eingesetzt wurde, und die Fogarty-Embolektomiekatheter, die
erste Technologie auf Katheterbasis zur Entfernung von Blutgerinnseln aus Armen und Beinen.
Literatur-/Bildverzeichnis
Ein genialer Ingenieur
Herzklappen und mehr
„Ein Mann mit Ehre und Mut“
Lowell Edwards war erst der sechste Mensch in der Geschichte,
der von der American Medical Association mit der „Layman’s
Citation for Distinguished Service“ (ehrenvolle Erwähnung von
medizinischen Laien für hervorragende Leistungen) ausge­
zeichnet wurde. Hierin wird Edwards beschrieben als ein „Mann
mit Ehre und Mut, dessen einfallsreiches Genie zur Entwicklung
der künstlichen Herzklappe führte, und dessen langjähriges
Engagement für das menschliche Wohl in der Wissenschaft der
Medizin Herzkranken auf der ganzen Welt neues Leben und
neue Hoffnung geschenkt hat“.
Heute ist Edwards Lifesciences ein globales Unternehmen mit
einem Umsatz von über 1,2 Milliarden Dollar und mehr als 6.200
Mitarbeitern, die sich alle der Aufgabe verschrieben haben,
Lowell Edwards’ ursprüngliche Vision, nämlich die Unterstützung von Ärzten, Patienten und ihrer Familien beim gemeinsamen Kampf gegen kardiovaskuläre Erkrankungen, weiter zu
verwirklichen.
Immer einen Schritt weiter
Das jüngste Beispiel für diese Vision ist die neue Edwards
SAPIEN Transkatheter-Herzklappe: Bestimmte Patienten mit
kritischer Aortenstenose konnten bislang unter Umständen
nicht mit den konventionellen Verfahren zum Herzklappenersatz behandelt werden. Für diese Patienten wurde die
Edwards SAPIEN Transkatheter-Herzklappe für die transapikale
Implantation mit dem Ascendra Platzierungssystem entwickelt.
Das Transkatheter-Herzklappenersatzverfahren kann ohne
einen Herz-Lungen-Bypass durchgeführt werden und bietet die
Möglichkeit einer schnellen Genesung. Die aus bovinem
Perikardgewebe hergestellte Klappe ist mit dem CarpentierEdwards ThermaFix Gewebeprozess behandelt und natürlich
genauso nach ISO- und FDA-Standards getestet wie die Carpentier-Edwards PERIMOUNT Magna Herzklappen.
Literaturverzeichnis
Bildverzeichnis
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Impressum
Idee und Konzept: medbrain – Die Ideenfabrik, www.medbrain.de
Text: W. Merz, Dr. med. K. F. Gruber-Gerardy,
Bildarchiv: Dr. med. K. F. Gruber-Gerardy
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Layout und Druckvorbereitung: Univers GmbH, Mainz
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