Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in den

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Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in den
Diasporaländern
Von Regine Laroche
Berlin 2008.
INHALT
1.
2.
3.
4.
Einleitung ........................................................................................................................................... 1
Die Armenier im Osmanischen Reich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ............................... 2
2.1.
UNTERDRÜCKUNG UND HOFFNUNG .................................................................................................................. 2
2.2.
DIE INTERNATIONALISIERUNG DER „ARMENISCHEN FRAGE“ ................................................................................... 4
2.3.
DIE HAMIDISCHEN MASSAKER 1894-1896 ........................................................................................................ 6
2.4.
UNTERSTÜTZUNG AUS DEM AUSLAND................................................................................................................ 7
Der Völkermord von 1915 ................................................................................................................. 8
3.1.
HOFFNUNG AUF VERÄNDERUNG: DIE JUNGTÜRKEN ............................................................................................. 8
3.2.
DEPORTATION UND VERNICHTUNG ................................................................................................................... 9
3.3.
DIE ISTANBULER PROZESSE 1919 - 1921 ........................................................................................................ 11
Rezeption und Reaktion vom 19. Jahrhundert bis zum Weltkrieg ............................................. 12
4.1.
4.1.1.
4.1.2.
4.2.
6.
7.
Die Wahrnehmung der Armenier vor 1914 ....................................................................................... 12
Während des Krieges ......................................................................................................................... 17
ZWISCHEN EMPÖRUNG UND NEUTRALITÄT: DIE USA ......................................................................................... 25
4.2.1.
Die Wahrnehmung der Armenier vor 1914 ....................................................................................... 25
4.2.2.
Während des Krieges ......................................................................................................................... 28
4.3.
5.
DIE VERBÜNDETEN: DAS DEUTSCHE REICH UND ÖSTERREICH-UNGARN ................................................................. 12
ZWISCHENRESÜMEE ..................................................................................................................................... 31
Die Rezeption des Völkermordes zum Kriegsende und in der Zwischenkriegszeit ................ 31
5.1.
DAS DEUTSCHE REICH IN DER WEIMARER ZEIT .................................................................................................. 31
5.2.
ÖSTERREICH ............................................................................................................................................... 34
5.3.
DIE USA.................................................................................................................................................... 36
5.4.
ZWISCHENRESÜMEE ..................................................................................................................................... 38
Ausblick: Die Anerkennung des Völkermordes bis in die Gegenwart ...................................... 38
6.1.
DEUTSCHLAND ............................................................................................................................................ 39
6.2.
ÖSTERREICH ............................................................................................................................................... 40
6.3.
DIE USA.................................................................................................................................................... 41
6.4.
SCHLUSSBETRACHTUNGEN............................................................................................................................. 42
Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................................................. 42
1. EINLEITUNG
Der Völkermord an den Armeniern ist ein brisantes Thema: Noch immer steht nahezu alles, was
in Deutschland zu diesem Thema bekannt wird, im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen. Meist geht es um Resolutionen oder Gesetze, die Parlamente anderer Staaten
zur Anerkennung des Völkermords verabschieden oder verabschieden wollen und massive Proteste und sogar Boykotts seitens der türkischen Regierung nach sich ziehen.1
Deutschland gehört nicht zu den Ländern, in denen eine offizielle Anerkennung seitens der Regierung verabschiedet wurde, ebenso wenig Österreich. Die ehemaligen Verbündeten des Osmanischen Reiches, in dessen Grenzen der Genozid statt fand, scheinen ihn noch immer mit
dem Mantel des Schweigens bedecken zu wollen. Ein Blick beispielsweise in die USA scheint
zunächst das Gegenteil zu zeigen. Doch auch hier ist die offizielle Anerkennung, insbesondere
die Verwendung des Begriffs „Genozid“ oder „Völkermord“, nicht selbstverständlich. Es stellt
sich die Frage, wieso ein Ereignis, welches allein durch die zugrunde liegende Intention, eine
religiöse und ethnische Gruppe vernichten zu wollen, eindeutig unter die UNVölkermordkonvention von 1948 fällt, in seiner Anerkennung und Aufarbeitung derart zurückgesetzt wird - und das, obwohl es historisch weitestgehend aufgearbeitet wurde.
Die Erklärung findet sich in der Tatsache, dass die heutige Türkei eine wichtige Handelspartnerin und im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft eine wichtige Verbündete ist. Dies bietet den türkischen Regierenden die Möglichkeit politischen und wirtschaftlichen Druck auszuüben, sobald
das unerwünschte Thema auf die Tagesordnung gelangt. Das ist die heutige Situation. Die fehlende Beachtung des Völkermords geht jedoch viel weiter zurück: Sie hat ihre Wurzeln am Ende des 19. Jahrhunderts während der „Hamidischen Massaker“ und kulminiert in erneuter Tatenlosigkeit während des Ersten Weltkriegs. Aus diesem Grund untersucht die vorliegende Arbeit die historische Entwicklung der Rezeption des Völkermords an den Armeniern und die seiner Vorgeschichte. Dabei soll die Frage beantwortet werden, welche Faktoren zu welchem
Zeitpunkt die Wahrnehmung der Armenier und ihres Schicksals gebildet und beeinflusst haben.
Zur Eingrenzung des Themas wurden drei armenische Diasporaländer ausgewählt, die während des Völkermordes eine wichtige Rolle spielten: Deutschland, Österreich und die USA. Das
Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren Verbündete und somit mitverantwortlich, denn
sie hatten die Möglichkeit, auf ihren Bündnispartner einzuwirken. Die Vereinigten Staaten waren
zunächst neutral, traten jedoch 1917 auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein. Alle drei Staaten
hatten während des Weltkriegs diplomatische Vertreter im Osmanischen Reich, die Augenzeugen der Massaker und Deportationen wurden und das Gesehene ihren Vorgesetzten berichteten. Das Verhältnis der ausgewählten Staaten zum Osmanischen Reich stellt bereits einen
wichtigen Faktor dar, der die Rezeption des Völkermordes beeinflusste.
Diese Arbeit hat nicht den Anspruch, eine vollständige Untersuchung der Rezeption des Völkermordes zu bieten, sie soll an vielen Stellen lediglich eine Tendenz aufzeigen. Auch die historische Darstellung hat lediglich Überblickscharakter. Lücken in der Untersuchung der Rezeption, die noch geschlossen werden müssen, werden aufgezeigt.
1
Das französische Parlament hatte im Januar 2001 beispielsweise den Völkermord anerkannt, im Oktober 2006 wurde ein Gesetz verabschiedet,
welches die Leugnung desselben unter Strafe stellt. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 20./21. Januar 2001; Frankfurter Rundschau vom 13. Oktober
2006.
1
Die Quellen für eine Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern sollten zunächst in
den Archiven der Türkei vermutet werden. Diese sind jedoch, trotz gegenteiliger Aussage der
türkischen Regierung, nur eingeschränkt zugänglich.2 Wie bereits erwähnt, befanden sich während des Krieges zahlreiche diplomatische Vertreter im Osmanischen Reich: Ihre Schriftwechsel mit Kollegen und Vorgesetzen ermöglichen uns heute ausreichenden Einblick in die Geschehnisse. An der Glaubhaftigkeit dieser Quellen kann nicht gezweifelt werden - besonders für
die deutschen und österreichischen Vertreter hätte es keinen Anlass gegeben, Unwahrheiten
über den Bündnispartner zu berichten. Diese Dokumente, für das Deutsche Reich neu herausgegeben von Wolfgang Gust, für Österreich-Ungarn von Artem Ohandjanian, wurden für diese
Arbeit hinzugezogen.3 Für die Darstellung und Untersuchung der Rezeption in den USA wurden
hauptsächlich die im Nachhinein verfassten Memoiren diplomatischer Vertreter4 und Zeitungsartikel aus verschiedenen Tageszeitungen verwendet. Zu erwähnen ist zudem die Darstellung
von Payaslian, die sich zu einem großen Teil auf Regierungsunterlagen und Briefwechsel zwischen den Entscheidungsträgern in den USA stützt.5 Die Untersuchung der Rezeption in Österreich erwies sich in allen Kapiteln als schwierig, da hier noch so gut wie keine Auseinandersetzung erfolgt ist. Die Österreichische Nationalbibliothek bietet seit einiger Zeit einen umfangreichen Korpus historischer Zeitungen und Zeitschriften digitalisiert in einem sogenannten Virtuellen Lesesaal an6 – leider konnte dieser Korpus für diese Arbeit nicht mehr ausreichend verwendet werden.
2. DIE ARMENIER IM OSMANISCHEN REICH BIS ZUM ENDE DES 19.
JAHRHUNDERTS
2.1. Unterdrückung und Hoffnung
Armenien war seit der Antike umkämpft. Die geographische Lage als „Durchgangsland“ verhinderte jahrhundertelang die Etablierung eines eigenen Staatswesens oder einer zentralen Regierung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts teilten das Persische und das Osmanische Reich das
Gebiet Armeniens unter sich auf. In der Folge fanden immer wieder Schlachten der beiden
Großmächte auf armenischem Gebiet statt. 1639 gelangte der größte Teil Armeniens mit dem
Vertrag von Diyarbakir unter osmanische Herrschaft.7 Der ehemals persische Teil fiel 1828 an
die Russen - dieses Gebiet entspricht in etwa dem heutigen Gebiet der Republik Armenien.8
Im osmanischen Reich hatten die Armenier, wie auch andere christliche Minderheiten und Juden, seit dem 15. Jahrhundert den Status einer millet (arab. milla = Religion).9 Sie galten als
giaour, als Ungläubige,10 und waren damit rechtlich, steuerlich und sozial benachteiligt: Das
Tragen von Waffen, damit auch der Militärdienst, war ihnen verboten, zudem mussten sie an
2
Zur Quellenlage u. a. ausführlich: Schaller, Dominik: „La question armènienne n’existe plus“. Der Völkermord an den Armeniern während des Ersten
Weltkriegs und seine Darstellung in der Historiographie, in: Wojak, Irmtrud/Meinl Susanne (Hg.) (Fritz-Bauer-Institut), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2004, S. 114 ff.
3
Gust, Wolfgang (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe
2005; Ohandjanian, Artem (Hg.), Österreich-Armenien 1872-1936. Faksimilesammlung diplomatischer Aktenstücke, Wien 1995.
4
Unter anderem Morgenthau, Henry: Ambassador Morgenthau’s Story, Detroit 2003, (Erstausgabe 1918); Davis, Leslie A.: The Slaughterhouse
Province. An American Diplomat’s Report on the Armenian Genocide, 1915-1917, New York 1989.
5
Payaslian, Simon: United States Policy toward the Armenian Question and the Armenian Genocide, New York 2005.
6
http://anno.onb.ac.at
7
Vgl. Hoffmann, Tessa: Armenier in Berlin - Berlin und Armenien, Berlin 2005, S. 10. (Herausgegeben vom Beauftragten des Senats für Integration
und Migration). Mehr zur Geschichte Armeniens im Altertum findet sich bei Hoffmann, Tessa, Die Armenier: Schicksal, Kultur, Geschichte, Nürnberg
1993. Will man noch weiter zurückgehen, bieten einschlägige Lexika zur Alten Geschichte einen guten Überblick.
8
Vgl. Baum, Wilhelm: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten, Klagenfurt/Wien 2005, S. 37.
9
Ebd. S. 23 ff. Baum geht hier in dem Kapitel „Die Christen im türkischen Millet-System“ ausführlich auf die Entstehung und Entwicklung der millet ein.
10
Der Islam betrachtet als streng monotheistische Religion alle anderen Religionsangehörigen als „ungläubig", siehe auch: Naimark, Norman M.:
Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 31.
2
ihrer Kleidung erkennbar sein. Männliche Nachkommen konnten in der Knabenlese zum
Kriegsdienst als Janitschar verpflichtet werden.11 Trotzdem blieben ihnen, so beschreibt es Ternon, ihre „nationalen Eigenheiten“, also Sprache, Tradition und Religion.12 Im Zentrum der Gemeinden stand immer die Kirche: Sie diente dem osmanischen Reich als Verwaltungsinstrument für die jeweilige christliche Bevölkerung. Über sie wurde die Gerichtsbarkeit ausgeübt und
ihre Vertreter trieben Steuern ein. Der Patriarch der Armenisch-Apostolischen Kirche war gegenüber dem Sultan der offizielle Repräsentant.13
Genährt durch die seit der Französische Revolution aus Europa drängenden neuen Ideen, bedingt jedoch auch durch die Politik des Osmanischen Reiches, die kulturellen Besonderheiten
der religiösen Minderheiten nicht zu unterdrücken, forderten einzelne Völker Souveränität. Die
Armenier machten hier keine Ausnahme, sie erhofften sich zumindest Gleichstellung vor dem
Gesetz.14
Eine wichtige Rolle spielten dabei auch die Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches auftraten. Für „den kranken Mann am Bosporus“, wie es spöttisch genannt wurde, wurde es immer schwieriger mit den europäischen Großmächten Schritt
zu halten.15 Diese hatten im Laufe der Zeit durch die sogenannten Kapitulationen immer größeren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einfluss auf das schwächer werdende Reich
bekommen.16 Zu Beginn handelte es sich hierbei nur um Handelsverträge, die dem europäischen Handel Vorteile im Osmanischen Reich einbrachten. Die Hohe Pforte erhielt hierfür beispielweise Militärhilfen. Die Einflussmöglichkeiten, die sich aus den Kapitulationen ergaben,
wurden jedoch weitreichender, da das Osmanische Reich durch den ökonomischen und militärischen Entwicklungsrückstand von den ausländischen Geldern immer abhängiger wurde.17
Zudem wurde Frankreich und Russland ein Schutzrecht über die im Osmanischen Reich lebenden christlichen Minderheiten eingeräumt, was weiterer „europäischer Einmischung Tür und
Tor“18 öffnen sollte.
Für den Sultan war die einzige Möglichkeit, einen Ausweg aus der außen- und innenpolitisch
immer brisanter werdenden Situation zu finden, eine „heilsame Neuerung“. Unter dem Titel
„Tanzîmât-i Hayyriye“ wurden am 3. November 1839 Reformen ausgerufen, die den Versuch
einer Neuordnung und Stabilisierung des Reiches einleiteten. Diese Reformen betrafen unter
anderem das Steuersystem, das Militärwesen und die Rechtssprechung, aber auch die Gleichberechtigung von Personen aller Religionszugehörigkeiten als Osmanische Staatsbürger. Zugleich sollte die politische Verwaltung des Reiches zentralisiert werden.19
Die meisten der Reformen wurden jedoch nur ansatzweise bis gar nicht durchgeführt. Zwar erhielten die Armenier durch eine osmanische Verordnung im März 1863 das Recht, ein Organ zu
gründen, welches einer Nationalversammlung ähnlich war,20 dadurch schien zum ersten Mal die
Möglichkeit nahe, nicht nur eine religiöse Gemeinde, sondern eine politisch autonome Nation zu
sein. In vielen Fällen wirkten sich die Reformen jedoch auch negativ auf die Armenier und ande11
Vgl. Baum 2005, S. 24. Die Yeniçeri waren eine Spezialeinheit der Infanterie. Später stellten sie auch die Leibwache des Sultans.
Vgl. Ternon, Yves: Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermords, Frankfurt a.M./ Berlin 1988, S. 22.
Vgl. Baum 2005, S. 23.
14
Vgl. Schaefgen, Annette, Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, Berlin 2006, S. 14.
15
Vgl. Naimark, Flammender Haß, S. 32f.
16
Der erste Vertrag dieser Art wurde 1536 mit Frankreich geschlossen. Vgl. Steinbach, Udo, Geschichte der Türkei, München 2007, S. 13.
17
Die Auflösungserscheinungen und Probleme des Osmanischen Reiches sind um einiges vielfältiger. Die Darstellung würde an dieser Stelle jedoch
zu viel Raum einnehmen, zudem das Thema verfehlen.
18
Vgl. Steinbach, Türkei, S. 16.
19
Ebd. S. 17 f.; Ternon, Tabu Armenien, S. 31. Ternon sieht diese Reformbestrebungen freilich nur als „theoretische Absichtserklärung, der nur wenige Reformen […] folgten.“
20
Dieses Recht erwarben sich die Armenier offensichtlich auch durch den Ruf eine millet sadigha, eine „treue Nation“ zu sein, die sich meist ohne
nennenswerten Widerstand der osmanischen Herrschaft fügte. Ternon, Armenien, S. 34; Vgl. Baum 2005, S. 50.
12
13
3
re Christen aus, denn nun mussten sie doppelt Abgaben zahlen: Zum einen an den Staat, aber
auch wie bisher an die kurdischen Lokalherren in ihrer Region.21 Die Unfähigkeit des osmanischen Verwaltungsapparates die Reformen durchzusetzen und zu kontrollieren, war ein Grund
für ihr Scheitern - ein anderer Grund waren die muslimischen Gegner der Reformen, die sich
vehement gegen eine Gleichstellung von Christen und Muslimen wehrten, was den Verlust von
Privilegien bedeutet hätte.22
Die Tanzimat-Reformen hatten ein neues nationales Selbstbewusstsein der Armenier gefördert,
dieses musste sich jedoch nicht zwangsläufig gegen den Osmanischen Staat richten. Die weitere Unterdrückung der folgenden Jahre vor allen Dingen in den ländlichen Gebieten bewirkte
allerdings, dass sich die Armenier immer häufiger an die europäischen Großmächte wandten,
um Unterstützung zu erhalten.23 Besonders die Kontakte zum Russischen Reich waren durch
die Verbindungen zu Russisch-Armenien in Grenzgebieten besonders intensiv.
2.2. Die Internationalisierung der „Armenischen Frage“
1875 begann in Bosnien ein Aufstand gegen die seit Jahrhunderten bestehende Herrschaft des
Osmanischen Reiches, der sich rasch auf den gesamten, überwiegend christlich geprägten
Balkan ausweitete. Die aufständischen Truppen konnten den Angriffen der Osmanen jedoch
kaum standhalten. Um die Hohe Pforte24 zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts und zu
Zugeständnissen gegenüber den Balkanchristen zu bewegen, hielten die Großmächte im Dezember 1876 eine Konferenz in Istanbul ab.25 Im Vordergrund stand hierbei jedoch weniger der
Schutz der Christen, sondern macht- und sicherheitspolitische Interessen: Ein Zusammenbruch
des Osmanischen Reiches hätte das prekäre Gleichgewicht der Mächte in Europa beeinflusst.
Jede Großmacht wollte einen eigenen Nachteil verhindern, allen westeuropäischen Mächten
gemeinsam war jedoch die Angst vor einem russischen Machtzuwachs im Balkan.26
Die Verhandlungen in Istanbul wurden ergebnislos abgebrochen, jedoch unterbreiteten Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien und das Deutsche Reich mit den
Londoner Protokollen vom 31. März 1877 dem neuen Sultan Abdulhamid II.27 ihre Vorstellungen
über die Beilegung der Krise, was vor allen Dingen Reformmaßnahmen im Balkanraum beinhaltete. Der Sultan wies diese Forderungen jedoch entschieden zurück, da er sie als unangemessene Einschränkung der Souveränitätsrechte seines Reiches betrachtete.28 Daraufhin erklärte
Russland dem Osmanischen Reich am 24. April 187729 den Krieg. Dieser Alleingang des Zarenreiches sorgte für Unbehagen bei den anderen Mächten, da sie nun ihre Befürchtungen eines
russischen Machtzuwachses bestätigt sahen.
Der russisch-türkische Krieg endete katastrophal für das Osmanische Reich: Nahezu der gesamte europäische Teil des Reiches wurde erobert, Serbien, Montenegro und Rumänien erhielten ihre Unabhängigkeit, Bulgarien erhielt unter russischer Verwaltung zusätzliches Gebiet, das
bis zum Mittelmeer reichte. Diese territorialen Gewinne wurden am 3. März 1878 im Vorfrieden
21
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 15.
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 31; Naimark, Flammender Haß, S. 33.
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 31.
24
So lautete die Selbstbezeichnung der osmanischen Regierung, ursprünglich war damit die Eingangspforte zum Sultanspalast in Istanbul gemeint.
25
Vgl. Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1988, S. 133.
26
Die Angst vor einer russischen Gebietsvergrößerung reichte weit zurück. Bereits im Krim-Krieg 1853-1856 waren Frankreich, Großbritannien, Piemont-Sardinien und Österreich auf Seiten des Osmanischen Reiches in den Krieg eingetreten, um es gegen die russischen Ambitionen zu verteidigen.
27
Der Vorgänger Abdulhamids II., Abdulaziz, war 1876 in Folge eines Staatsbankrotts und der Ereignisse auf dem Balkan abgesetzt worden.
28
Vgl. Hösch, Balkanländer, S. 134.
29
Diese Datumsangabe richtet sich, so wie alle folgenden, nach dem gregorianischen Kalender.
22
23
4
von San Stefano festgelegt.30 In diesem Vertrag fanden die Armenier zum ersten Mal in einer
Armenien-Klausel internationale Erwähnung. Während des Krieges waren russische Truppen
unter der Führung eines armenischen Generals in den osmanischen Teil Armeniens eingedrungen. Baum beschreibt, dass sie dort von den Armeniern mit großer Sympathie empfangen wurden, was spätere Racheakte der osmanischen Truppen zur Folge hatte.31 Im Oktober 1877 richtete der armenische Große Rat32 ein Gesuch an den russischen Zaren, welches die Bitte beinhaltete, das eroberte armenische Gebiet nicht zurückzugeben, beziehungsweise zuerst Reformen von der osmanischen Regierung zu erzwingen.33 Der Artikel 16 des Vertrages von San
Stefano sollte dementsprechend dem armenischen Gebiet eine Verwaltungsautonomie einräumen. Dies wurde allerdings von der osmanischen Regierung abgelehnt, so dass letztendlich nur
die unspezifische Formulierung „Verbesserungen und Reformen“ in den Vertrag aufgenommen
wurden.34
Zu diesem Zeitpunkt befand Russland sich trotz seines Sieges in keiner günstigen Verhandlungsposition, denn Großbritannien befand sich bereits mit einer Flotte am Bosporus, um im
Ernstfall auf Seiten der Osmanen intervenieren zu können.35 Vor allen Dingen Großbritannien
und Österreich-Ungarn weigerten sich, den Vertrag von San Stefano anzuerkennen.36 Die Folge
war der vom deutschen Reichkanzler Otto von Bismarck vermittelte Berliner Kongress, der am
13. Juni 1878 begann und einen Monat später endete. Bismarck trat hier als neutraler Vermittler
(„ehrlicher Makler“) auf, da das junge Deutsche Reich keine offensichtlichen territorialen Interessen im Osmanischen Reich bzw. im Balkangebiet hatte. Auf diesem Kongress wurden die im
Vertrag von San Stefano festgelegten Ausweitungen des russischen Gebietes größtenteils revidiert.
Ebenfalls thematisiert wurde die „armenische Frage“. Der Hintergrund war, dass die Angriffe auf
Armenier durch Kurden und Tscherkessen den europäischen Mächten nicht verborgen geblieben waren. Die Behandlung des Themas fand in dem Artikel 61 des Berliner Vertrages Niederschlag:
„Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen
ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten
Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden
einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zwecke getroffenen
Maßregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis
37
geben.“
Dieser Artikel darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass, trotzdem eine inoffizielle armenische Delegation in Berlin anwesend war, ihre Anliegen nur am Rande behandelt wurden.38
30
Vgl. Hösch, Balkanländer, S. 135.
Baum 2005, S. 52.
Vgl. Anm. 20.
33
Vgl. Ohandjanian, Artem: Armenien 1915. Österreichisch-Ungarische Botschaftsberichte beweisen das Genozid, Wien 2007, S.20. (Bei dieser
Veröffentlichung handelt sich um einen erneuten Druck des Titels:
Armenien. Der verschwiegene Völkermord. Wien/Köln/Graz 1989. Weniges wurde verändert, ergänzt wurde ein Kapitel) Ohandjanian beruft sich in
seiner Arbeit hauptsächlich auf Dokumente aus den österreichischen Archiven. Leider ist an dieser Stelle jedoch nicht gekennzeichnet, wo dieses
Gesuch des armenischen Rates aufzufinden ist.
34
Zitiert nach: Geiss, Imanuel (Hrsg.): Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien, Boppard am Rhein 1978, S. 19. (Hier findet sich der
Vorfriedensvertrag von San Stefano nach einem Auszug aus dem Schultheß Europäischen Geschichtskalender 1878, S. 461-466).
35
Im Juni 1878 schlossen Großbritannien und das Osmanische Reich aus demselben Grund ein geheimes Militärbündnis, welches dem Osmanischen
Reich Schutz vor Russland versprach und zudem den Briten die Kontrolle über Zypern verschaffte. Gleichzeitig musste der Sultan am Rande dieses
Abkommens den Schutz der christlichen Minderheiten in den von Russland herauszugebenden Gebieten zusagen.
36
Großbritannien sah vor allen Dingen seine Handelswege nach Indien gefährdet. Österreich-Ungarn protestierte gegen die Vergrößerung des russischen Einflusses durch die Gründung Groß-Bulgariens.
37
Zitiert nach: Geiss, Imanuel (Hrsg.): Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien, Boppard am Rhein 1978, S. 405.
38
Ebd. S. XI (Vorgeschichte und historische Voraussetzungen).
31
32
5
Für die europäischen Mächte waren die Armenier politisch nicht wichtig genug, um tatsächlich
zu ihren Gunsten einzugreifen.
Die osmanische Regierung war zunächst gezwungen, in die Bestimmungen einzuwilligen, von
einer Umsetzung war sie jedoch weit entfernt. 1876 war durch Sultan Abdulhamit II. eine neue
Verfassung ausgerufen worden, die die Reformen des Tanzimat verfestigen sollte. Als Reaktion
auf den Berliner Vertrag wurden diese Regelungen jedoch nun wieder außer Kraft gesetzt, die
Hoffnung auf Verbesserung der Lebensbedingungen in den Ostprovinzen war aussichtlos geworden.39 Insgesamt hatte der russisch-osmanische Krieg das Misstrauen gegenüber den
Christen, auch und besonders gegenüber den Armeniern, verstärkt.
2.3. Die hamidischen Massaker 1894-1896
Diese Verschlechterung ihrer Situation war für die Armenier eine große Enttäuschung. Aus diesem Grund entstand in den Jahren nach dem Berliner Kongress an verschiedenen Orten bewaffneter Widerstand, teilweise auch von Armeniern aus dem Ausland betrieben. So entstand
1887 in Genf die Hintschak-Partei und 1890 in Tiflis die Daschnak-Partei.40 Keine von diesen
Parteien konnte jedoch eine breite Volksbewegung auslösen, die meisten Armenier blieben
dem Sultan gegenüber loyal.41 Dennoch wurden sie immer mehr mit der Interessenpolitik der
europäischen Mächte gleichgesetzt, Verheij bezeichnet sie sogar als „Objekt der Angst“ des
Sultans.
1891 rekrutierte Abdulhamid II. aus kurdischen Stämmen in den Ostprovinzen des Reiches die
sogenannten Hamidiye-Regimenter. Offiziell zur Sicherung der osmanischen Grenzen ins Leben gerufen, wurden sie mit Waffen und Uniformen ausgestattet und waren wie ArmeeAngehörige nur dem Kriegsrat im weit entfernten Erzincan rechenschaftspflichtig. Bereits die
Namensgebung zeigte, dass sie in direkter Verbindung zum Sultan standen, die lokalen Behörden hatten keinerlei Einfluss auf sie.42 Innerhalb von zwei Jahren traten mehrere zehntausend
Kurden in die Regimenter ein. In Europa wurde bereits früh vermutet, dass Abdulhamid sie als
Gegenpol zu den Armeniern betrachtete.43 Diese waren den Plünderungen der Hamidiye ausgeliefert, ohne dass sie Hilfe erwarten konnten.44
Den eigentlichen Beginn der Massaker unter Sultan Abdulhamid markiert der sogenannte Aufstand in Sason im Jahr 1894.45 Bereits kurz vorher war es hier zu Zusammenstößen mit Kurden
gekommen, die die Armenier zu Abgaben zwangen. Auch von staatlicher Seite wurden Steuern
gefordert, die Armenier verweigerten die Zahlung jedoch. Daraufhin wurde der Ort zunächst von
kurdischen Stämmen belagert, später griff das osmanische Militär ein, bestehend aus den Hamidiye und aus Istanbul gesandten Truppen.46 „Zwei Wochen lang wurden die Armenier, die
nicht entkommen konnten, durch Soldaten und Kurden rücksichtslos gejagt und getötet.“47
Diese Nachrichten erreichten Europa und die USA und sorgten in vielen Kreisen für Empörung.
Aufgrund einer britischen Initiative entstand im Dezember 1894 eine osmanische Kommission,
39
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 17.
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 60ff. Ternon geht hier sehr detailliert auf die Gründungen und Ziele der einzelnen Parteien ein.
Verheij, Velle: Die armenischen Massaker von 1894-1896. Anatomie und Hintergründe einer Krise. In: Kieser, Hans-Lukas (Hg.): Die Armenische
Frage und die Schweiz (1896-1923), Zürich 1999, S. 79 u. S. 93. Verheij gibt in seinem Aufsatz einen sehr guten und lesenswerten Überblick über die
hamidischen Massaker.
42
Vgl. Strohmeier/Yalçin-Heckmann: Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München 2003, S. 81.
43
Vgl. Verheij, Massaker, S. 81.
44
Vgl. Strohmeier/Yalçin-Heckmann, Kurden, S. 83.
45
In der Literatur zu diesem Thema variierten die Schreibweisen der verschiedenen Orte sehr stark. Um eine Lokalisierung einfacher zu gestalten,
werden in dieser Arbeit die heutigen türkischen Schreibweisen verwendet.
46
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 69.
47
Verheij, Massaker, S. 83.
40
41
6
die die Vorgänge in Sason untersuchen sollte. Diese Kommission wurde von britischen, französischen und russischen Vertretern begleitet.48 Es wurden sowohl Armenier, als auch Kurden
und Türken als Zeugen befragt. In einem Bericht hielten sie als Ergebnis die eindeutige türkische Verantwortung an den Massakern fest.49 Zur gleichen Zeit forderten die Westmächte erneut Reformen, die der Sultan im Oktober 1895 gezwungen war durchzuführen.
Kurz darauf begannen in verschiedenen Städten und Provinzen die Massenmorde an Armeniern und anderen Christen, an denen auch die muslimische Bevölkerung beteiligt war.50 In den
folgenden Monaten gab es wiederholt Ausschreitungen, zuletzt im Sommer 1896. Armenische
Daschnak-Aktivisten hatten die osmanische Bank besetzt, um auf die Situation der Armenier
aufmerksam zu machen. Die Besetzer erhielten zwar freies Geleit auf ein französisches Schiff,
andere Armenier in Istanbul und in der Heimatstadt der Aktivisten wurden jedoch rücksichtslos
verfolgt.51 Insgesamt kamen mehr als 100.000 Armenier ums Leben, 2500 Dörfer wurden zerstört, Klöster und Kirchen abgebrannt oder in Moscheen umgewandelt.52 Die zuvor geplanten
Reformen wurden erneut stillschweigend aufgegeben, Sanktionen von Seiten der Großmächte
erfolgten nicht.
Bis heute herrscht in der Forschung keine Einigkeit darüber, ob die Massaker von Abdulhamid
II. geplant waren oder nicht. Verheij geht in seinem Aufsatz auf die „Organisationsthese“ und
die „These von der Atmosphäre des Misstrauens als Ursache“ ein.53 Er führt Gründe an, die
gegen die „Organisationsthese“ sprechen, argumentiert aber auch, dass sich beide Thesen
nicht gegenseitig ausschließen, wenn die Ereignisse nicht geschlossen betrachtet würden, sondern als eine Entwicklung hin zur Massenmordpolitik.54 Ternon dagegen ist ein vehementer Vertreter der Organisationsthese.55
2.4. Unterstützung aus dem Ausland
Im Ausland entstanden angesichts der Geschehnisse im Osmanischen Reich vielerorts Hilfskomitees für die Armenier.
Bereits 1890 wurde in Großbritannien beispielsweise die parteiübergreifende „Anglo-Armenian
Association“ gegründet, deren Ziel es war, die Anwendung des Artikels 61 zu erreichen. William
Ewart Gladstone, mehrfacher britischer Premierminister (unter anderem 1892-1894), galt als
starker Verfechter der armenischen Sache.56 Königin Victoria wandte sich mit einem Brief an
den Sultan, in dem sie ihn bat, dem Morden ein Ende zu bereiten.57 Auch in Frankreich kamen
die pro-armenischen Stimmen aus unterschiedlichen politischen Lagern. Die französische Regierung, Wirtschaft und Presse schwiegen zunächst, viele Zeitungen waren von Abdulhamid II.
bestochen worden. Jedoch erreichten drei Männer, Albert de Mun, Sprecher der katholischen
Rechten, Denys Cochin, Abgeordneter im Parlament und Jean Jaurès, Mitglied der sozialistischen Partei, die Veröffentlichung des „Gelbbuches über die armenischen Angelegenheiten von
48
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 69; Verheij, Massaker, S. 83.
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 70/71; New York Times vom 29. Januar 1896. Es wurde festgehalten, dass es in einigen Gebieten subversive
Aktivitäten gegeben habe, diese jedoch nicht als eine Revolution bezeichnet werden könnten. Bemängelt wurden die Hindernisse, die der Kommission
von Seiten der osmanischen Behörden immer wieder in den Weg gelegt wurden.
50
Vgl. Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S. 25.
51
Verheij, Massaker, S. 90.
52
Diese Zahlen finden sich u.a. bei Verheij, Massaker, S. 90. In türkischen und armenischen Quellen sind die Zahlen der Opfer entweder niedriger
oder höher angegeben.
53
Verheij, Massaker, S. 97f.
54
Ebd. S. 100.
55
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 84 ff.
56
Ebd, S. 100. Ternon geht sogar davon aus, dass der Rücktritt Gladstones eine Rolle bei der Auslösung der Massaker spielte.
57
Verheij, Massaker, S. 90.
49
7
1895-1896“, um die in großen Teilen ahnungslose Öffentlichkeit zu informieren.58 Bald entstand
eine große Sympathiebewegung für Armenien, später wurde die vierzehntägige Zeitschrift „Pro
Armenia“ herausgegeben.
Im Deutschen Reich gründete der Pfarrer Ernst Lohmann Anfang 1896 den „Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient.“59 Nachdem er von den Massakern erfahren hatte,
versuchte er so eine breite Öffentlichkeit zu mobilisieren. Der Theologe Johannes Lepsius
schloss sich ihm an und gründete Ostern 1896 die „Deutsche Orient-Mission“.60 Lepsius reiste
kurz darauf in das Osmanische Reich, um sich ein Bild von der Lage der Armenier zu machen
und Hilfe zu leisten. Zurück in Deutschland, organisierten er und die Armenierfreunde Informationsveranstaltungen, und versuchten so, trotz häufiger Behinderung durch die Regierung, die
armenische Sache bekannt zu machen.61
In der Schweiz entstand auf kirchliche Initiative eine Armenierhilfe, an der sich im Laufe der
Zeit, durch ausführliche Berichterstattung in christlichen Blättern und in der Tagespresse informiert, auch verschiedene andere Organisationen und Privatpersonen beteiligten.62 Eine Resolution, die bei einer Protestveranstaltung im September 1896 in Lausanne verabschiedet wurde,
sollte den Bundesrat zum Handeln bewegen.63 Die offizielle Schweiz beharrte jedoch auf ihrer
Neutralität.
Auch in vielen anderen Ländern gab es immer wieder vereinzelte Stimmen und Organisationen,
die sich für die Armenier einzusetzen versuchten. Der Einsatz war jedoch nicht stark genug: Die
Reformen, die letztendlich einen wichtigen Anlass für die Massenmorde gegeben hatten, wurden stillschweigend fallengelassen. Die Großmächte unternahmen nichts, Abdulhamid hatte die
Krise „ausgesessen“.64
3. DER VÖLKERMORD VON 1915
3.1. Hoffnung auf Veränderung: Die Jungtürken
Auch nach den hamidischen Massakern waren die Armenier im Osmanischen Reich weiterhin
Verfolgungen ausgesetzt.65 Es gab jedoch einen Hoffnungsschimmer: Bereits seit dem Jahr
1880 hatte sich eine Opposition gegen den Sultan gebildet, die Anhänger unter den Offizieren
fand: das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (Đttihat ve Terakki cemiyeti). Zunächst hatten die
„Jungtürken“, wie sie im Ausland genannt wurden, kein einheitliches Programm, sie waren in
mehrere Gruppen gespalten. Allen gemeinsam waren jedoch die Forderung nach einer Dezentralisierung des osmanischen Staates und der Wiederherstellung seiner vollen Souveränität.
Dies sollte durch die Wiedereinsetzung der Verfassung, die Zusammenarbeit und Versöhnung
mit den nationalen Minderheiten, aber auch durch die Hervorhebung des Türkentums als verbindendes Element geschehen.66
58
Ternon, Tabu Armenien, S. 101.
Voigt, Karl Heinz: Lohmann, Ernst, in: Bautz, Friedrich Wilhelm (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Band 5, Herberg 1993, Sp.
181-186.
60
Die Gründung der „Orient-Mission“ war bereits vorher geplant, allerdings kam offensichtlich erst im Jahr 1896 der Schwerpunkt der Armenierhilfe
zum Tragen. Vgl. Feigel, Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des
19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989, S. 72 f.
61
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 76 f.; Verheij, Massaker, S. 90. Zur offiziellen Haltung der späteren Verbündeten siehe weiter: Kapitel 4.1.
62
Hier kamen 700000 Franken zusammen, die den armenischen Opfern zur Verfügung gestellt wurden. Siehe: Bührer, Peter: Die Verdrängung des
armenischen Volkes im Osmanischen Reich und das Echo in der Schweiz, in: Arbeitskreis Armenien (Hg.), Völkermord und Verdrängung. Der Genozid
an den Armeniern – die Schweiz und die Shoah, Zürich 1998, S. 55.
63
Diese Resolution fand 430000 Unterstützer, dies machte ca. 14 % der Gesamtbevölkerung aus.
64
Vgl. Verheij, Massaker, S. 91.
65
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 103.
66
Vgl. Steinbach, Türkei, S. 20.
59
8
Viele Armenier sympathisierten von Beginn an mit den Revolutionären, die Daschnak-Partei
stand seit 1896 in Verbindung mit den verschiedenen Gruppierungen.67 1908 unterstützten sie
die jungtürkische Revolution. Im Sommer musste der Sultan die Verfassung wieder einsetzen.68
Wenige Monate später, am 13. April 1909, gefährdete eine Gegenrevolution die neuen Machthaber. Zwar konnte sie kurz darauf niedergeschlagen werden, jedoch gab es in der Zeit des
Machtvakuums erneut Massaker in den heutigen Provinzen Adana und Mersin. 20000 Menschen wurden getötet, 200 Dörfer zerstört.69
Die jungtürkischen Ideale fielen in den Provinzen meist nicht auf fruchtbaren Boden: Vor allen
Dingen die Lokalbehörden in Adana, deren Abneigung und Hass gegen die Armenier mit den
Ängsten der Menschen vor Benachteiligung korrelierte, waren hierbei die treibenden Kräfte.70
Auch die Soldaten, die nach der Niederschlagung der Gegenrevolution geschickt wurden, um
die Armenier zu schützen, beteiligten sich an den Massakern.71 Die neue Regierung schob die
Verantwortung auf den alten Machthaber, obwohl die eigenen Truppen genauso wie die alten
Eliten an den Massakern beteiligt waren. Die Ereignisse wurden unter den Teppich gekehrt. In
der folgenden Zeit häuften sich die Anzeichen, dass die Lage für die Armenier erneut bedrohlich
werden würde - entgegen der Versprechungen während der Revolutionstage. Doch wie konnten
sich die Ziele der jungtürkischen Revolution so vollständig in ihr Gegenteil verkehren?
Kurz nach der Machtübernahme stellte sich die Frage, welche Richtung nun zu befolgen sei.
Wurde zunächst eine liberale Richtung eingeschlagen, die eine Zusammenführung und Gleichstellung aller im Staat lebenden Völker propagierte (Osmanismus), gewann im Laufe der Zeit
der Türkismus in politischen und literarischen Kreisen, aber auch unter Bauern, Arbeitern und
Händlern an Zulauf.72 Der nationalistische Flügel der Partei forcierte diese Bestrebungen weiter.
Die außenpolitische Situation des Osmanischen Reiches, gekennzeichnet durch Territorialverluste,73 tat ihr übriges. Nach dem erneuten Verlust von Territorium im Zuge der Balkankrise erfolgte eine offene Radikalisierung der Politik der Jungtürken: Im Januar 1913 übernahmen sie in
Form einer Ein-Parteien-Diktatur die Macht, mit dem erklärten Ziel der Homogenisierung des
Reiches. Christliche Bevölkerungsgruppen wurden als „Feinde“ angesehen.74
Die Armenier wandten sich, ermutigt durch die Erfolge der Christen auf dem Balkan, mit der
Bitte um Unterstützung erneut an die Großmächte. Im Februar 1914 gab es einen letzten Versuch, Veränderungen zugunsten der Christen zu erwirken. Dies geschah hauptsächlich auf Initiative Russlands hin, welches über die Armenier Einfluss auf osmanisches Territorium gewinnen wollte. Die Jungtürken stimmten Reformen zu, machten sie jedoch nach dem Kriegseintritt
(29. Oktober 1914) wieder rückgängig.75
3.2. Deportation und Vernichtung
„Am Morgen des schrecklichen Tages kamen Gendarmen, die von Offizieren befehligt wurden.
Sie trugen graue Lammfellmützen mit goldenem Halbmond und Stern und hatten Gewehre mit
Bajonetten. Sie trieben alle Männer zusammen und fesselten sie zwei und zwei aneinander, so
67
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 115.
Vgl. ebd., S. 119. Sonst, so drohten die Revolutionäre, würde die Armee auf Istanbul marschieren.
Vgl. ebd., S. 132 ff.; Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 34.
70
Die Bevölkerung bestand zu ¼ aus Armeniern, die zudem einen großen Anteil am Handel in diesen Provinzen hatten.
71
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 134; Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 34.
72
Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 124 ff.
73
Bereits 1908 hatte Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina annektiert (Bosnische Annexionskrise). Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern,
S. 20.
74
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 39.
75
Vgl. ebd., S. 47.
68
69
9
auch meinen Vater und meinen Onkel. Viele Frauen hingen sich an ihre Männer mit Weinen
und Küssen und boten den Gendarmen Geld, wenn sie sie freiließen, aber diese ließen sich
76
nicht erweichen, sie nahmen uns ja bald ohnehin all unser Geld fort.“
Dieses Zitat eines zwölfjährigen Überlebenden schildert das übliche Vorgehen während der
Deportationen: Erwachsene männliche Armenier wurden von der Gruppe getrennt und meist
anschließend getötet. Frauen und Kinder wurden in die Wüste getrieben, um sie dort in den
endlosen Deportationszügen verhungern zu lassen. Einige Mädchen wurden in Harems verschleppt, viele Kleinkinder, die ihre Herkunft vergessen würden, in muslimischen Familien untergebracht.77
Bereits seit Beginn des Jahres 1914 arbeitete die Đttihat ve Terakki an sehr konkreten Plänen
der inneren „Säuberung“ des Staates von Christen. Für die Durchführung wurde eine der Armee
angegliederte Spezialorganisation gegründet, die Teşkilat-ı Mahsusa.78 Sie wurde mit der Bildung bewaffneter Banden beauftragt, die sich aus Kurden, muslimischen Flüchtlingen aus dem
Balkan und Häftlingen, die für diesen Zweck entlassen wurden, zusammensetzten. Diese Banden begannen bereits im September 1914 mit Überfällen auf armenische Dörfer.79
Bald nach Kriegseinritt im Oktober 1914 musste die osmanische Armee erste Verluste gegen
Russland hinnehmen. Für die Niederlagen verantwortlich waren in den Augen vieler die angeblich illoyalen Armenier, denen eine Zusammenarbeit mit Russland unterstellt wurde. Tatsächlich
betrieben einige Armenier Spionage oder Sabotage im Auftrag Russlands. Allerdings schlossen
sich genauso kaukasische Muslime den osmanischen Truppen an. In Grenzgebieten mit gemischter Bevölkerung war dies keine Besonderheit.80
Im Februar 1915 wurden armenische Soldaten der Osmanischen Armee entwaffnet, degradiert
und in Arbeitsbataillone eingeteilt oder als „Lasttiere“ verwendet. Viele starben vor Erschöpfung
oder wurden getötet. In der Region rund um Adana fanden die ersten Deportationen statt - allerdings noch nicht mit dem konkreten Ziel der planmäßigen Vernichtung. Der tatsächliche Entschluss zum Völkermord fiel vermutlich im März 1915.81 Die Hauptverantwortung für die Koordination wurde Innenminister Talat Pascha übertragen, sein Ministerium ordnete die Deportationen offiziell durch Befehle an die Provinzbehörden an. Gleichzeitig schickte das Zentralkomitee
des Đttihat ve Terakki die Vernichtungsbefehle über die Parteisekretäre in die Provinzen.82
Der offizielle Anlass ließ nicht lange auf sich warten: Im April verteidigten sich Armenier in der
Stadt Van gegen eine Belagerung durch osmanische Truppen.83 Auf diesen „Aufstand“ folgte
die Verhaftung des armenischen Teils der politischen und intellektuellen Elite Istanbuls.84 Die
76
Lehmann-Haupt, Therese: Erlebnisse eines zwölfjährigen Knaben während der armenischen Deportationen. Aufgezeichnet nach dem mündlichen
Bericht des Knaben, Bremen 1985, S. 6.
Gust, Völkermord, S. 25.
78
Der Vergleich mit den früheren hamidiye-Regimentern drängt sich auf: Offiziell wurde diese Organisation für Einsätze gegen Feinde im In- und
Ausland gegründet. So gab es auch Aktivitäten in Russland, Iran und Afghanistan. Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 55. Akçam verweist auf die
Dissertation von Philip H. Stoddard, die sich explizit mit den Teşkilat-ı Mahsusa auseinandersetzt.
79
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 55 f.
80
Dies sah bereits der Vizekonsul in Erzurum Max Erwin von Scheubner-Richter so. In einem geheimen Bericht an Hans Freiherr von Wangenheim,
dem Botschafter in Istanbul, schreibt er: „Einzelne Vorkommnisse, wie […] Zerschneiden und Stoerung von Telegraphen- und Telephonlinien, Spionage, sind Erscheinungen, die waehrend des Krieges in einem Grenzgebiet mit gemischter Bevölkerung nichts Aussergewoehnliches darstellen.“ Zitiert
nach Gust, Völkermord, Dokument [1915-05-15-DE-012], S.143. Siehe auch [1915-03-09-DE-001], Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim)
an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg): „[…] aus einer Äußerung des Patriarchen [scheint] hervorzugehen, daß tatsächlich eine Anzahl Armenier
aus dem eigentlichen Kriegsgebiete nach Rußland übergetreten sind, vermutlich um sich der Aushebung und anderen Kriegslasten und der unmittelbaren Kriegsgefahr zu entziehen. Ob unter den armenischen Flüchtlingen die Zahl der türkischen Untertanen so beträchtlich ist, wie die türkischen
Preßstimmen [sic] behaupten, mag dahingestellt bleiben.“
81
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 59. Akçam beruft sich auf die Memoiren von Mitgliedern der Partei. Die offizielle Entscheidung (zur nachträglichen Legitimierung der bereits stattgefundenen Deportationen) traf das Kabinett am 27. Mai 1915: „Provisorisches Gesetz über die vom Militär zu
befolgenden Maßnahmen gegen Personen, die in Kriegszeiten den Maßnahmen der Regierung zuwiderhandeln.“ (ebenfalls zu finden bei Akçam).
82
Vgl. ebd., S. 66.
83
Von 50000 Einwohnern waren 30000 Armenier. Zahlen nach Vgl. Ternon, Tabu Armenien, S. 172.
84
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 52. Die Verhafteten mussten Verhöre und Folterungen über sich ergehen lassen, wurden in verschiedene Teile
Anatoliens deportiert oder gleich vor Ort öffentlich gehängt. Siehe auch: Gust, Völkermord, S. 26 und [1915-04-30-DE-002], Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg) am 30 April 1915.
77
10
anschließenden massenhaften Deportationen und Massaker kosteten in den Jahren 1915 bis
1917 insgesamt 800000 bis 1,5 Millionen Armeniern das Leben.85
Die Strecken der Deportationszüge zogen sich durch das gesamte östliche Osmanische Reich
Richtung Syrische Wüste. „Drehkreuz“ war die Stadt Halab (Aleppo), von der es für den größten
Teil der Armenier weiterging Richtung Dayr az Zawr.86 Allein die Strecke Halab - Dayr az Zawr
war 250 km lang, die Deportierten hatten oftmals die doppelte Strecke bereits hinter sich. Überfälle durch kurdische Stämme waren an der Tagesordnung. In den seltensten Fällen gab es
Nahrung, oftmals wurden die Deportierten absichtlich von Wasserquellen ferngehalten oder im
Kreis geführt. Walter Rößler, deutscher Konsul in Aleppo, berichtet in einem Brief an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie die Deportierten „zu Tode gewandert“ wurden:
„Ein Trupp Verschickter aus Urfa hat folgenden Weg zurücklegen müssen: Von Urfa nach TellAbiad, von Tell-Abiad nach Rakka, von Rakka nach Tell-Abiad, von Tell-Abiad nach Rakka. Die
87
Strecke von Tell-Abiad nach Rakka beträgt in der Luftlinie rund 90 km.“
Zivilpersonen, die ihre Hilfe anboten, wurden von den begleitenden Feldgendarmen bedroht.
Auch Gouverneure und Landräte, die sich Befehlen widersetzen wollten, wurden entweder abgesetzt oder ebenfalls mit dem Tod bedroht.88
Widerstand gegen die Maßnahmen war kaum möglich, da gleich zu Beginn durch die Verhaftung der politischen Führer die Strukturen der armenischen Parteien systematisch zerstört wurden. Wenigen gelang es, rechtzeitig zu fliehen. Nur in Städten, in denen ausländische Beobachter anwesend waren, blieben viele Armenier verschont, beispielsweise in Istanbul und Đzmir
(damals Smyrna).89
Die offizielle Begründung für die „Umsiedlungsaktionen“ ist bis heute erhalten geblieben. Die
Armenier mussten zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz des Staates vor armenischen terroristischen Aktionen „umgesiedelt“ werden. „Diese Aktion stellte die erfolgreichste Umsiedelung der Welt dar.“90
3.3. Die Istanbuler Prozesse 1919 - 1921
Nach dem Waffenstillstand vom 31. Oktober 1918 begann die strafrechtliche Verfolgung der für
den Völkermord Verantwortlichen. Dies geschah von Seiten der osmanischen Regierung aus
mehreren Gründen: Zum einen war der Druck der Besatzungsmächte, insbesondere Großbritanniens, ausschlaggebend, zum anderen sollten günstige Bedingungen für die bevorstehenden
Friedensverhandlungen erreicht werden. Die Alliierten sollten die türkische Souveränität anerkennen, dazu gehörte auch, dass die Täter nicht durch diese vor Gericht gestellt werden sollten.
Für die Besatzungsmächte ging es hierbei nicht nur um Bestrafung, sie verfolgten durch ihre
Intervention konkrete Aufteilungspläne für das Osmanische Reich.91
Bereits am 8. Oktober 1918 war die Regierung Talat Pascha zurückgetreten, die Đttihat ve Terakki wurde offiziell aufgelöst. Viele Mitglieder behielten jedoch in der nachfolgenden Regierung
85
Die Opferzahlen schwanken je nach Quelle und erfasstem Zeitraum. Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 27.
Vgl. Gust, Völkermord, S. 40.
Zitiert nach Gust, Völkermord, Dokument [1916-01-03-DE-002], S. 418. Urfa heißt heute Şanlıurfa, Tel-Abiad und Ar-Raqqa/ar-Raqqah sind Städte
im Norden von Syrien.
88
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 69.
89
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 27.
90
Diese oder ähnliche Äußerungen finden sich auf vielen türkischen Internetseiten, hier: Die Internetseite des Kultur- und Tourismusministeriums der
Republik Türkei. http://www.kultur.gov.tr/DE (Pfad: „Geschichte-Das Armenier-Problem. Behauptungen-Tatsachen- Umsiedlung“ Stand: 21.9.2009).
91
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 81. Akçam wertet hier die türkische Haltung zum Völkermord anhand der Protokolle der Istanbuler Kriegsgerichtsprozesse aus.
86
87
11
Ministerposten, zudem wurde eine Nachfolgepartei gegründet. So hatten die Jungtürken weiterhin Einfluss, was zur Folge hatte, dass die Strafverfolgungen kaum ernsthaft durchgeführt wurden. Erst unter dem Großwesir Damat Ferit, der ebenso wie der Sultan Mehmed VI. Vahdeddin
mit den Besatzern zusammenarbeitete, wurden alle Nachfolgeparteien der Jungtürken verboten, die Strafverfolgungen wurden nun konsequent betrieben.92 Diese Regierung unterzeichnete
auch den Friedensvertrag von Sèvres im August 1920, der neben der Strafverfolgung der Verantwortlichen für die Massaker vor allem die Aufteilung Anatoliens vorsah.93 Dieser Vertrag
wurde jedoch nie ratifiziert. Eine neu entstandene Nationalbewegung unter Mustafa Kemal leistete erfolgreich politischen und militärischen Widerstand gegen die Aufteilungspläne. Die Besatzungsmächte und die nach Unabhängigkeit strebenden Völker, unter anderem die Armenier,
mussten sich nach militärischen Auseinandersetzungen geschlagen geben. Am 24. Juli 1923
wurde mit dem Vertrag von Lausanne die geplante Aufteilung Anatoliens revidiert und die Souveränität des Staates wiederhergestellt. Die Kemalisten riefen am 29. Oktober 1923 in der neuen Hauptstadt Ankara die Republik aus.94 Von Seiten der Türkei bestand keine Notwendigkeit
mehr für eine Strafverfolgung – bereits im März 1923 war eine Generalamnestie erlassen worden, laufende Verfahren wurden eingestellt.95
Das besondere an den Istanbuler Prozessen war, dass sie in der Rechtsgeschichte den ersten
Versuch darstellten, auf nationaler Ebene ehemalige Regierungsmitglieder für Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen.96 Insgesamt wurden in den Jahren 1919 bis 1921 siebzehn
Todesstrafen wegen Beteiligung am Völkermord ausgesprochen, von denen aber nur drei
vollstreckt werden konnten, da sich wichtige Parteifunktionäre bereits früh ins Ausland absetzten. Auch das „Triumvirat“ Kriegsminister Enver Pascha, Marineminister Djemal Pascha und der
bereits erwähnte Innenminister Talat Pascha waren von der Todesstrafe betroffen. Sie flohen
mit Unterstützung des deutschen Generals Hans von Seeckt nach Berlin und Potsdam.97
4. REZEPTION UND REAKTION VOM 19. JAHRHUNDERT BIS ZUM
WELTKRIEG
4.1. Die Verbündeten: Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn
4.1.1. Die Wahrnehmung der Armenier vor 1914
Im Deutschen Reich wurde man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Armenier aufmerksam. Dies hing unter anderem mit den Tanzimat-Reformen und der größeren Zahl
an christlichen Missionaren aus ganz Europa und den USA zusammen, aber auch mit Reiseberichten und Erzählungen verschiedener Personen.98 Bereits früh war die deutsche Sichtweise
auf die Armenier ambivalent und wies häufig Ähnlichkeiten zu den verbreiteten Vorurteilen und
Stereotypen über Juden auf.99 Missionare waren den Armeniern meist gutgesinnt, sie sahen sie
92
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 101.
Vgl. Adalian, Rouben Paul: Armenian Genocide, International Recognition of, in: Charny, Israel W. (Hg.), Encyclopedia of Genocide, Vol. I, Jerusalem 1999, S. 100. Hier findet sich auch ein Abdruck des Vertrags von Sèvres.
94
Bereits am 1. November 1922 wurde das Sultanat aufgehoben.
95
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 119. Unter den Kemalisten befanden sich auch zahlreiche Mitglieder der Đttihat ve Terakki.
96
Vgl. Akçam, Istanbuler Prozesse, S. 13 f.
97
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 31.
98
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 66 ff.
99
Vgl. Schaller, Dominik: Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland, in: Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J., Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S 522.
93
12
als „christliche Kulturträger des Osmanischen Reiches.“100 Der Münchener Hochschulprofessor
Adolf Dirr glaubte, dass sie durch Ausdauer, Begabung und Fleiß ihre durchschnittliche Intelligenz und ihr Bildungsdefizit ausglichen.101 Sie waren „unterwürfig und gehorsam aus Gewohnheit, arbeitsam und meistenteils wohlhabend“, urteilte der in den Jahren 1836 bis 1839 als Militärberater der Osmanischen Armee dienende Helmuth von Moltke.102 Andreas David Mordtmann, der seit 1846 in Istanbul lebte und zum „Geschäftsträger der Hansestädte bei der Hohen
Pforte“ aufstieg,103 sah dies allerdings ganz anders. Für ihn waren sie ungastlich und unglaubwürdig:
„[…] ein Armenier, der uns begleitete, erzählte uns allerlei abenteuerliche Räubergeschichten,
104
die an mir einen sehr ungläubigen Zuhörer fanden.“
„In dem von lauter Armeniern bewohnten Dorfe […] machten wir halt, um etwas zu frühstücken;
es dauerte aber ziemlich lange, ehe einige Leute sich herbeiließen, uns etwas vorzusetzen, und
die mürrischen Blicke, mit denen sie uns empfingen und ein kärgliches Mahl vorsetzten,
bewiesen hinlänglich, daß sie von der Ungastlichkeit der Armenier im allgemeinen keine
105
Ausnahme machten.“
Genauso ambivalent war die Berichterstattung während der Hamidischen Massaker 1894-1896.
Der Grund hierfür war die zunehmende pro-türkische Stimmung im Deutschen Reich mit steigendem militärischem, besonders aber auch wirtschaftlichem Engagement seit den 1880ern.106
Gekrönt wurde dieses im Jahr 1889 durch die erste Orientreise Wilhelms II. und den „Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag“ vom 26. August 1890.107 Der Paragraph 61 des Berliner Vertrages108 war in diesem Zusammenhang eher unbequem: Durch die Unterzeichnung
dieses Vertrages war das Deutsche Reich in der Pflicht, den Reform-Druck auf den Sultan zu
erhöhen - aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen sollte dieser jedoch nicht verstimmt
werden.109 Dies spiegelte sich auch in Teilen der Presse wieder, vor allen Dingen konservative
Blätter übernahmen bereitwillig die Sichtweise der türkischen Regierung.
Die Massaker fanden in allen Zeitungen, Zeitschriften und auch privaten Publikationen großes
Interesse, geleugnet wurden sie nicht. Alles andere als einheitlich war jedoch die Bewertung der
Ereignisse. So rechneten alldeutsche und expansionistische Kreise mit einem baldigen Zerfall
der Türkei und drängten die Regierung darauf, Teile Anatoliens zu annektieren und mit deutschen Kolonisten zu besiedeln. Hierbei gab es erstaunlicherweise auch Stimmen, die den Armeniern die Autonomie zugestehen wollten.110 Andere behaupteten jedoch, sie seien illoyal
wegen ihres Strebens nach Unabhängigkeit und beuteten die Türken und Kurden durch ihre
wirtschaftliche Macht aus.111 Die Schuld an den Massakern wurden ihnen aus diesem Grund
100
Vgl. ebd., S. 522.
Dr. h.c. Dir: Die armenische Frage, in: Veröffentlichungen der Münchener Handelshochschule, Balkanhefte, 1913, S.116 (zitiert nach Schaller,
Dominik: Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland).
102
von Moltke, Helmut: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839, Berlin 1893, S. 374. Zitiert nach: Schaller, Rezeption, S 522.
103
A.D. Mordtmann, D.Ä.: Anatolien. Skizzen und Reisebriefe aus Kleinasien. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Franz Babinger, Hannover 1925.
104
Ebd. S. 420.
105
Ebd. S. 488/489.
106
Nach dem verlorenen Krieg gegen Russland verstärkte das Deutsche Reich die Hilfen zur Modernisierung der Osmanischen Armee. Zusätzlich zu
der von Helmut von Moltke bereits 1836 gegründeten Militärmission wurden nun Offiziere in das Osmanische Reich geschickt und auch ausgebildet.
107
Schöllgen, Gregor: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984, S. 48.
108
Vgl. Anm. 37.
109
Diplomaten im Osmanischen Reich wurden von Reichskanzler Bismarck beispielsweise angewiesen, die Betreffe der Armenier zurückzustellen.
Vgl. Schmuhl, Hans Werner: Friedrich Naumann und die „armenische Frage“. Die deutsche Öffentlichkeit und die Verfolgung der Armenier vor 1915,
in: Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002,
S. 505 f.
110
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 48.
111
Vgl. Schaller, Rezeption, S 523. Schaller zitiert hier unter anderem den völkisch gesinnten Antisemiten Albrecht Wirth, der die Armenier als „Blutsauger“ bezeichnete, was gewissermaßen, so auch Schaller, dem antisemitischen Bild vom „jüdischen Wucherer“ entspricht.
101
13
selbst zugeschrieben. Auch in liberaleren Blättern wurden die Morde als Grausamkeit erkannt,
jedoch gleichzeitig als „Notwendigkeit, die sich aus dem berechtigten staatlichen Egoismus“
ergäbe, gewertet.112 Das brutale Vorgehen gegen die Armenier wurde oft mit dem Hinweis abgetan, dass die Geschichte des Orients schon immer sehr blutig gewesen sei.113
Die sozialdemokratische Presse war gespalten, große Teile glaubten daran, dass die Armenier
russische Agenten waren, und relativierten damit gleichzeitig die Schuld der osmanischen Regierung. Der sozialdemokratische Eduard Bernstein wandte sich bereits früh gegen diese
Sichtweise, er riet seinen Parteigenossen, sich der proarmenischen Bewegung anzuschließen.
In einer Rede, gehalten in einer Berliner Volksversammlung im Jahr 1902, sagte er:
„Das [die Armenier meist nur russische Agenten sind] ist aber eine sehr irrige Schlußfolgerung.
Daß Rußland in der Türkei Agenten unterhält, untersteht gewiß keinem Zweifel; Rußland hat
von jeher danach gestrebt, Konstantinopel zu erobern und sich zum Herrn des Schwarzen
Meeres und dadurch des Mittelmeeres zu machen. Darüber wollen wir uns nicht täuschen. Aber
wir müssen uns davor hüten, einseitig auf Rußland den Blick zu richten und uns dadurch blind
114
zu machen für das, was auf türkischer Seite verbrochen wird.“
Neben der Friedensbewegung zeigten letztlich nur christliche Periodika und andere christliche
Schriften Mitgefühl mit den Armeniern und eine uneingeschränkte Verurteilung des türkischen
Vorgehens.115 Unterschiede ergaben sich hier nur aus der Haltung gegenüber der eigenen Regierung, sie kristallisierte sich heraus an der Beurteilung der Tätigkeiten der Armenierfreunde
um Johannes Lepsius. Während konservativere Christen, vertreten durch die „Deutsche Evangelische Kirchenzeitung“, die Aktionen der Armenierfreunde als „zu politisch“, zu respektlos gegenüber der deutschen Regierung einordneten, unterstützte der Evangelische Bund sie voll und
ganz.116 Jedoch war auch die christliche Unterstützung der Armenier oft nicht ohne Hintergedanken: Die oft gescheiterte Missionierung der letzten Jahrzehnte konnte, so hoffte man, einen
neuen Ansatzpunkt für die Reformation der gregorianischen Kirche geben.117
Die öffentlichkeitswirksamste Schrift veröffentlichte Johannes Lepsius. Er klagte die deutsche
Regierung an, die Realpolitik, das Aufrechterhalten der guten Beziehungen zum Sultan, über
die christliche Solidarisierung mit den Opfern gestellt zu haben.
„Sie [die deutsche Diplomatie] hat es vorgezogen die Freundschaft des Sultans nicht einmal
118
durch Sympathie-Kundgebungen für das Opfer auch ihrer Politik zu verscherzen.“
Gleichzeitig gab er den europäischen Großmächten eine Mitschuld an den Massakern, die mit
ihrem Drängen nach Reformen, die im Grunde aber nur machtpolitische Hintergründe gehabt
hätten, die „armenische Frage“ in den Mittelpunkt gestellt hätten.119 Diese Schrift diente gleichzeitig als wichtige Informationsquelle für pro-armenische Berichterstattung.
Ein Beispiel für eine entgegengesetzte Publikation war „Türke, wehre Dich!“ des Journalisten
Hans Barth. Um die Hauptpunkte Barths zu erfassen, genügt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis
und die ersten fünf Kapitelüberschriften: „Die Genesis der Türkenhatze“, „Die ‚armenischen
112
Kölnische Zeitung vom 8.9.1896 (zitiert nach Schaller, Dominik, Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland).
Vgl. Schaller, Rezeption, S. 524.
Bernstein, Eduard: Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas. Rede, gehalten vor einer Berliner Volksversammlung am 26.
Juni 1902. In: Donat, Helmut (Hg.): Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen 2005, S.25.
115
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 50 ff.
116
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 52 f.
117
Auch wenn Feigel sein Augenmerk hier hauptsächlich auf die evangelische Kirche legte, ist anzunehmen, dass für die katholische Kirche Ähnliches
gegolten hat.
118
Lepsius, Johannes: Armenien und Europa. Eine Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland,
Berlin-Westend 1896, 2. Auflage, S. 63.
119
Ebd. Kapitel 7 „Die Verantwortlichkeit der Großmächte“, S.71 ff.
113
114
14
Greuel‘“, „Die Lepsiade oder der Kolportageroman des Pastors Lepsius“, „Die Blutschuld England“ und „Aufstand, nicht Massacres“. Er glaubte, dass die türkische Regierung verleugnet
werde und die Armenier die „muhammedanische Bevölkerung“ ausnutze. Es habe kein Massaker, sondern einen Aufstand der Armenier gegeben, der niedergeschlagen werden musste.120
Bei dem Versuch, die verschiedenen Positionen in zwei Gruppen „pro-armenisch“ und „antiarmenisch“ zusammenzufassen, kann folgendes festgestellt werden: Die Armenier-Gegner argumentierten mit der „weltpolitischen Sicherheit“, das heißt sie wollten um jeden Preis die Stabilität des Osmanischen Reiches bewahren, um eine Ausbruch der schwelenden Rivalitäten zwischen den Großmächten zu verhindern. Hierbei wurden die Armenier als Störfaktor gesehen.
Die hamidischen „Maßnahmen“ hielten sie für gerechtfertigt, aus ihrer Sicht waren die Armenier
russische Spione. Weiterhin hatten für sie wirtschaftlichen Verbindungen, also Vorteile des eigenen Staates, Priorität. Auf pro-armenischer Seite standen größtenteils Christen, die über die
Morde empört waren. Sie hatten kaum Interesse an einem Fortbestehen der Türkei – genauso
wenig expansionistische Kreise, die Anatolien gerne als neues Siedlungsgebiet sahen.121 Bei
letzteren kamen die Armenier unter Umständen als Siedlungsvolk ins Spiel – darauf wird später
noch kurz zurückzukommen sein. Spitzt man dieses zu, standen (außer für kirchliche Kreise)
nicht die Armenier im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern die Nachteile oder Vorteile der
erwarteten politischen Entwicklung.
In der Zeit nach den hamidischen Massakern nahm in der Presse, und somit in der Öffentlichkeit, das Interesse an den Entwicklungen in Bezug auf die Armenier ab. Lediglich die zweite
Orientreise Kaiser Wilhelms im Jahr 1898 brachte das Thema in einigen Kreisen wieder auf die
Tagesordnung.122 Besonders die demonstrativ zur Schau getragene Freundschaft zum als „Armeniermörder“ titulierten Sultan Abdulhamid stand in der Kritik.
1900 verabschiedete der internationale Sozialistenkongress in Paris eine Resolution, die die
Arbeiterparteien in den einzelnen Ländern aufforderte, in der Armenierfrage bei den jeweiligen
Regierungen aktiv zu werden. Wie oben bereits erwähnt, trat hier in Deutschland besonders
Eduard Bernstein in Erscheinung.123 Auch die Internationale Friedensbewegung forderte nach
ihrem Kongress im Jahr 1901 die Regierungen Europas auf, sich erneut für die 1895 beschlossenen Reformen einzusetzen. In den folgenden Jahren blieben die Armenier jedoch weiterhin
auf sich gestellt.
Die Überlegungen, im Fall einer Auflösung des Osmanischen Reichs die Armenier als Siedlungsvolk auf die Seite der Deutschen zu ziehen, waren kurz vor Kriegsausbruch noch immer
populär.124 In einem auf den 24. Februar 1913 datierten Brief des deutschen Botschafters in
Istanbul, Hans Freiherr von Wangenheim, an Reichskanzler Bethmann Hollweg zeigt sich eine
sehr klare Sichtweise der Lage für das Osmanische Reich nach den Verlusten auf dem Balkan,
und den zu erwartenden Entwicklungen in Bezug auf die Armenier. Über den befürchteten russischen Einfluss auf diese schreibt er:
120
Barth, Hans: Türke, wehre Dich! Leipzig 1898, 2. Auflage. S. 153/153.
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 64. Diese beiden Gruppen sind in erster Linie für einen besseren Überblick konstruiert. Natürlich gab es hier viele
Meinungs-Abstufungen oder auch andere Argumentationen. Genauso wenig sind diese „Gruppen“ an Parteien orientiert, innerhalb einer politischen
Partei oder Richtung gab es, wie oben am Beispiel der Sozialdemokraten gesehen, durchaus Unterschiede.
122
Nach einem Besuch in Konstantinopel war das offizielle Ziel dieser Reise die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem. Dennoch war den Zeitgenossen bewusst, dass es hier vor allen Dingen auch um eine erneute Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem
Osmanischen Reich ging. Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 83 f.
123
Vgl. ebd., S. 97 f.
124
Vgl. Gust, Wolfgang: Die Verdrängung des Völkermords an den Armeniern - ein Signal für die Shoah, in: Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J.:
Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S. 470.
121
15
„Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Armenier auf türkischem Boden gegen Willkür
und Unterdrückung nicht genügend geschützt ist. Wer ihm diesen Schutz in Aussicht stellt, der
125
ist heute sein Mann, ganz gleich, welche Nebenabsichten er außerdem verfolgt.“
Die Konsequenz für die Deutschen sei es daher, diesem russischen Einfluss zuvorzukommen:
„Bei uns in Deutschland hat man sich daran gewöhnt, in den periodisch wiederkehrenden
Armeniermassakres nur die natürliche Reaktion auf das Aussaugesystem der armenischen
Geschäftsleute zu sehen. Man nannte die Armenier die Juden des Orients und vergaß darüber,
daß es in Anatolien auch einen starken armenischen Bauernstamm gibt, der alle guten
Eigenschaften einer gesunden Landbevölkerung besitzt, und dessen ganzes Unrecht darin
besteht, daß er seine Religion, seine Sprache und seinen Besitz zähe gegen die ihn
umgebenden Fremdvölker verteidigt. […] Jeder, der wirtschaftliche oder politische Ziele in
Anatolien verfolgt, wird nicht umhin können, mit dieser Tatsache zu rechnen. […] Solche
Erwägungen müssen uns dazu führen, unsere bisher den Armeniern gegenüber
126
eingenommene Haltung zu ändern.“
Um das Vertrauen der Armenier zu gewinnen, schlug Wangenheim vor, sich bei der Osmanischen Regierung für „Wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum und Religion“
und „Anteil an der lokalen Verwaltung, entsprechend der Kopfzahl und dem Bildungsgrade des
armenischen Elements“ einzusetzen. Um dies durchführen zu können, forderte er unter anderem vermehrt deutsche Vertretungen in Anatolien, aber auch eine Änderung der bisher ablehnenden deutschen Berichterstattung, um auch die armenische Bevölkerung in Frankreich, England und den USA von den Zielen der Deutschen überzeugen zu können. Zum Abschluss seines Schreibens verdeutlich Wangenheim noch einmal:
„Sollte es sich aber in Zukunft herausstellen, daß der Auflösungsprozeß der Türkei nicht mehr
aufzuhalten ist, so wird es für uns von großem Werte sein, bei der Geltendmachung unserer
127
Rechte in Kleinasien das einheimische armenische Element hinter uns zu haben.“
Die Reaktion auf Wangenheims Schreiben war eindeutig, wie sich einer Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs des Auswärtigen Amts, Arthur Zimmermann, vom 5. März 1913 entnehmen
lässt.
„Getreu unserer bisherigen Politik, werden wir uns indessen versagen müssen, in der
armenischen Frage die Führung zu ergreifen. Wir würden hierdurch lediglich das Mißtrauen der
Entente Mächte erregen und uns in Gegensatz zu Rußland bringen, ohne der armenischen
128
Sache zu nützen. […].“
Dieses Schreiben wurde am 22. April an Wangenheim gesandt. Damit hatte sich die Möglichkeit
eines Schutzes für die Armenier erübrigt. Die deutschen Pläne von einem Kolonialgebiet existierten jedoch weiterhin, wie sich in einem privaten Briefwechsel zwischen Wangenheim und
dem Leiter des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, zeigte.129 Inwieweit es tatsächlich ernst
zu nehmende Pläne gab, die Armenier als Siedlungsvolk einzuplanen, war bisher nicht Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung.130
Die Sicht Österreich-Ungarns auf die Armenier vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist bislang
ebenfalls kaum erforscht. Ohandjanian merkt an, dass die k.u.k-Presse im Gegensatz zur deut-
125
Gust, Völkermord, Dokument [1913-02-24-DE-001].
Ebd. [1913-02-24-DE-001].
Ebd. [1913-02-24-DE-001].
128
Ebd. [1913-03-05-DE-001].
129
Gust, Verdrängung, S. 471.
130
Ebd., S. 472.
126
127
16
schen Presse objektiv über die Hamidischen Massaker berichtete.131 Leider legt er hierfür keine
detaillierte Untersuchung oder weiterführende Hinweise vor.132
Für die Perspektive der Regierung stehen der Öffentlichkeit zwar die ÖsterreichischUngarischen Botschaftsberichte vor 1900 in Faksimile-Form zur Verfügung, hier fehlt jedoch
eine professionelle Transkription der handschriftlichen Texte, die zu einem großen Teil kaum zu
entziffern sind.133 Eine Betrachtung der außenpolitischen Beziehungen der Doppelmonarchie
zum Osmanischen Reich kann die Annahme einer objektiv berichtenden k.u.k-Presse und einer
dementsprechenden Haltung der Regierung jedoch unterstützen.
Nach der Niederlage gegen Preußen in der Schlacht bei Königgrätz 1866 und den daraus folgenden Gebietsverlusten musste sich Kaiser Franz Joseph außenpolitisch neu orientieren. Wie
bereits erwähnt gerieten Bosnien und die Herzegowina ins Blickfeld, die treibende Kraft war
hierbei Außenminister Gyula Andrássy. Bis dahin waren die Beziehungen zum Osmanischen
Reich nahezu unbelastet,134 mit Beginn der Aufstände auf dem Balkan im Sommer 1875 zeichneten sich jedoch erste Differenzen ab. Bereits im Dezember 1875 richtete Österreich-Ungarn
gemeinsam mit Russland eine Note an den Sultan, in der umfassende Reformen im Balkanraum verlangt wurden, und setzten diesen damit unter Druck.135 Auf dem Berliner Kongress
wurde Österreich-Ungarn die Verwaltung über Bosnien und die Herzegowina übertragen. Formal verblieben die Provinzen zwar beim Osmanischen Reich, dennoch sorgte dies für eine
Missstimmung im Verhältnis der beiden Staaten. Hinzu kamen verschiedene kleinere Unstimmigkeiten beispielsweise wirtschaftliche Verträge betreffend, oder die Beschränkung und Behinderung jüdischer Zuwanderung in Palästina durch die osmanische Regierung.136 Dies alles
hatte keine gravierenden Auswirkungen auf diplomatische oder wirtschaftliche Beziehungen,137
sorgte aber für eine etwas zurückhaltendere Einstellung gegenüber der Politik der Hohen Pforte,138 die sich vermutlich auch in einer objektiveren Berichterstattung der k.uk.-Presse niederschlug.
4.1.2. Während des Krieges
Der Eintritt des Osmanischen Reichs in den Weltkrieg auf Seiten der Mittelmächte war alles
andere als selbstverständlich, Verbindungen (vor allen Dingen wirtschaftlicher Natur) bestanden
auch zu Frankreich und Großbritannien. Den Ausschlag gaben jedoch letztendlich die deutschen Erfolge in Russland im August 1914: Sie ließen die Hoffnung aufkeimen, die 1878 an
Russland verlorenen Provinzen Kars und Ardahan wieder zu erlangen.139 Für das Deutsche
Reich und Österreich-Ungarn hatte das Osmanische Reich vor allen Dingen eine geostrategi131
Ohandjanian, das Genozid, S.212.
Ein Blick in die Berichterstattung der „Neuen Freien Presse“, die eine der auflagenstärksten Zeitungen war und deren Leser sich größtenteils zum
liberalen Bildungsbürgertum zählten, spricht für Ohandjanians Hinweis: In der Berichterstattung des Jahres 1894 lassen sich noch offen geäußerte
Zweifel an den Massakern finden (bspw. Ausgaben vom 7.12.1894 und 8.12.1894), meistens im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Großbritannien im Verdacht stand, die Nachrichten von Opferzahlen zu übertreiben um gemeinsam mit Russland Druck und Einfluss auf die Hohe Pforte ausüben
zu können. Später allerdings wird die Frage nach der Ursache für die „Revolte“ der Armenier gestellt und kommt zu dem Schluss, dass es sich um
Notwehr gehandelt habe (31.1.1896). 13 Jahre später spricht der Orientalist Eduard Sachau in einem Artikel offen von einem „Verbrechen an der
Menschheit“ (1.5.1909). Wie in der Einleitung erwähnt, fehlt hier jedoch noch eine genaue Untersuchung der Presse.
133
Hier sind im Besonderen gemeint: Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band 1: 1872 - 1894; Band 2: 1895; Band 3: 1896.
134
Vgl. Anm. 26. Dies zeigte sich auch an der Nahostreise Franz Josephs im Jahr 1869: Der eigentlich Anlass dieser Reise war die Eröffnung des
Suezkanals im selben Jahr, auf Anraten seines Außenministers Friedrich Ferdinand von Beust besuchte der Kaiser auch die Städte Konstantinopel,
Athen und Jerusalem. Die genauen Hintergründe und auch den Ablauf der Reise schildert Fischer, Robert-Tarek: Österreich im Nahen Osten. Die
Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918, Wien/Köln/Weimar 2006.
135
Vgl. Fischer, Österreich im Nahen Osten, S. 217. Siehe auch Kapitel 2.2.
136
Österreich-Ungarn trat als Schutzmacht von gut 10% aller Juden Palästinas auf. Vgl. ebd., S. 227 ff.
137
Genau wie beispielsweise und das Deutsche Reich arbeitete Österreich-Ungarn an einem Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zum Osmanischen Reich.
138
Vgl. ebd., S. 226.
139
Genauer dazu: Zürcher, Jan-Erik, Osmanisches Reich, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg,
Paderborn 2004, S. 758 und Fischer, Österreich im Nahen Osten, S. 251 ff.
132
17
sche Bedeutung, denn es war in der Lage, Russland von militärischen Lieferungen der EntentePartner abzuschneiden, wie dies später auch geschah.
Vor allen Dingen von der deutschen Presse wurde der osmanische Kriegseintritt am 29. Oktober 1914 größtenteils begeistert aufgenommen, auch wenn Skeptiker, hier erneut häufig christliche Vertreter, zunächst verhalten reagierten, da von osmanischer Seite der Jihâd erklärt worden war.140 Das Interesse an der inneren Situation des neuen Verbündeten stieg. Der türkische
Nationalismus, der den Osmanismus weitestgehend abgelöst hatte, wurde als Stärkung der
Türkei empfunden, Enver und Talat wurden als „türkischer Moltke“, bzw. „türkischer Bismarck“
bejubelt.141
Die bald auf verschiedenen Wegen durchsickernden Nachrichten von Morden an der armenischen Bevölkerung wurden in deutschen und österreichischen Blättern meist als Propaganda
der feindlichen Mächte, vor allen Dingen Großbritanniens, eingestuft.142 Am 7. Oktober 1915
gab die Reichsregierung eine „dringende Empfehlung“143 für die Berichterstattung über die Vorgänge im Osmanischen Reich heraus. Diese Anweisung lässt die Haltung erkennen, die während des gesamten Krieges kennzeichnend war:
„Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur
Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet,
sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es
einstweilen Pflicht, zu schweigen. Später, falls direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher
Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Sorgfalt und Zurückhaltung
144
behandeln und stets hervorheben, dass die Türkei schwer von den Armeniern gereizt wurde.“
Die Bestimmungen des k.u.k. – Kriegspressequartiers sahen seit Beginn des Krieges eine „innige Zusammenarbeit“ mit der deutschen Presseorganisation vor,145 aus diesem Grund wurde
die Nachrichtensperre in Österreich ebenfalls strikt eingehalten. In beiden Ländern wurde jedoch nicht nur geschwiegen, es erfolgten häufig einseitige Darstellungen der Ereignisse oder
gezielte Falschmeldungen über angebliche armenische Vergehen.146 Dies führte bis zu der Behauptung, die Armenier seien bloße Marionetten der Entente und (wie bereits zuvor propagiert)
selbst Schuld an den an ihnen verübten Massakern. So zitierte das Berliner Tageblatt vom 4.
Mai 1916 Talat Pascha:
„Die Armenier pflegen ein Ideal, das nur bei Zertrümmerung der Türkei verwirklich werden
konnte. […] Die Entfernung der Armenier aus den östlichen Wilajets war eine militärische
Notwendigkeit geworden. […] Man hat uns vorgeworfen, dass wir keinen Unterschied zwischen
140
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 178. Dazu Szyska, Christian, Jihâd, in: Elger/Stolleis: Kleines Islam-Lexikon, München 2001, S. 146: „Im islamischen
Recht bezeichnet er [Jihâd], eine der zulässigen Formen des Krieges zur Erweiterung des islam. Herrschaftsbereichs oder zu dessen Verteidigung.
[…] Im Ersten Weltkrieg bemühten sich die Osmanen mit deutscher Unterstützung ohne großen Erfolg, durch den Aufruf zum J. die muslim. Bevölkerung zum Kampf gegen ihre britischen Besatzer anzustacheln.“
141
Schaller, Rezeption, S 528 f. Hier spielte der aufkeimende deutsche Nationalismus eine große Rolle und eine damit einhergehende Identifizierung
mit den Entwicklungen im Osmanischen Reich.
142
Die Nachrichten verbreiteten sich vor allen Dingen auch über Schweizer Zeitungen, die in Deutschland erhältlich waren.
143
Feigel, Armenierhilfe, S. 241.
144
Vierbücher, Heinrich, Armenien 1915, Was die kaiserliche Regierung den deutschen Untertanen verschwiegen hat. Die Abschlachtung eines Kulturvolkes durch die Türken, Bremen 1987, S. 78 (Erstauflage 1930). - Eine kriegsbedingte Zensur wurde bereits früh praktiziert. So hieß es im August
1914 von Seiten der Obersten Heeresleitung: „Wir werden nicht immer alles sagen können, aber was wir sagen werden, ist wahr.“ Zitiert nach: Schaller, Rezeption, S 524. Zur Handhabung der Pressezensur während des Ersten Weltkriegs: Fischer, Heinz Dietrich: Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin 1973.
145
Ohandjanian zitiert hier: Mayer, Klaus: Die Organisation des Kriegspressequartiers beim k.u.k. AOK im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Wien 1963, S.
23. Leider ohne genaue Datierung.
146
An dieser Stelle sei der Hinweis angebracht, dass im Folgenden die Rezeption in Österreich-Ungarn erneut nur eingeschränkt behandelt werden
kann. Die einzige Untersuchung zu diesem Thema liefert Ohandjanian, die allerdings nicht immer befriedigend ist: So finden sich unter dem Kapitel
„Die öffentliche Meinung in Österreich“ in großen und ganzen nur Auflistungen von Zeitungsartikeln, die armenierfeindlich berichten – mit dem Hinweis
auf die Pressezensur, die alles beherrschte. Darüber hinaus finden sich keine Hinweise darauf, wie bspw. die Zensur tatsächlich gehandhabt wurde,
ob es Proteste in der Öffentlichkeit, Engagements von einzelnen Personen/Politikern gab. Hier fehlt eine detaillierte und differenzierte Untersuchung.
Aus diesem Grund beschränkt sich dieses Kapitel auf die Situation im Deutschen Reich, so es keine weiteren Informationen gibt, bspw. aus k.u.k.Botschaftsberichten.
18
den schuldigen und unschuldigen Armeniern gemacht hätten. Das war unmöglich, da bei der
Lage der Dinge morgen schuldig sein konnte, wer heute vielleicht noch unschuldig war.“
147
Interessant ist auch ein Artikel aus dem Jahr 1915, der im „Neuen Wiener Tagblatt“ unter dem
Titel „Russisch-armenische Greuel im Kaukasus“ erschien. Hier wurde die Nachrichtensperre
der osmanischen Presse thematisiert, allerdings mit der Intention, den Ruf der Armenier zu
schädigen und das Verhalten der jungtürkischen Regierung als wohlbesonnen darzustellen:
„Im Vilajet Van, das gegenwärtig den Schauplatz des türkisch-armenischen Krieges bildet, wird,
wie man uns berichtet, der Kampf vom gemeinsamen Feind [Russland] unter Mitwirkung der
armenischen Bevölkerung dieser Gegend mit furchtbarer Grausamkeit geführt. Der türkischen
Presse im Innern des Reiches ist die Veröffentlichung von Nachrichten über diese Gräuel
untersagt, um der leidenschaftlichen Erregung gegen die Armenier und den unberechenbaren
148
Folgen, die sich daraus ergeben könnten, vorzubeugen.“
Sowohl Feigel als auch Schaefgen und Schaller stellen heraus, dass es dennoch möglich war,
sich über die tatsächlichen Ereignisse zu informieren. Da die Zensur relativ nachlässig gehandhabt wurde, war es vereinzelt möglich, über die Massaker zu berichten. Diese Möglichkeit nahmen vor allen Dingen christliche Blätter in Anspruch.149 Es stellen sich mehrere Fragen: Warum
nutzte die säkulare Presse nicht die Möglichkeit der Berichterstattung, wenn es Möglichkeiten
gab, die Zensur zu umgehen? Wenn sie doch berichteten: Warum machten sie die Opfer zu
Tätern? Und: Warum unterlag die Zensur keiner strengeren Überwachung, wieso konnte sie
umgangen werden?
Die Motive der Journalisten waren vielfältig: Erstens war noch immer das Armenier-Bild vorherrschend, welches zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Köpfen der Menschen verhaftet war.
Zweitens stand alles, was gegen die verbündete jungtürkische Regierung berichtet wurde im
Verdacht, im Dienste der Entente zu berichten – dem sollte entgegengearbeitet werden. Drittens waren die Erfolge im Krieg, und damit der Verbündete, wichtiger als ein kleines, weit entferntes Volk. Auch für die Bevölkerung waren die im Laufe des Krieges zunehmenden Nöte
wichtiger als eine „innertürkische Verwaltungsangelegenheit“. Die einzige Sorge war, dass die
Massaker im Nachhinein ein schlechtes Bild auf das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn
werfen könnten.150 So ergibt sich möglicherweise auch die Antwort auf die Frage, warum die
Aufsicht über die Presse nicht strenger gehandhabt wurde: Sie war an vielen Stellen nicht notwendig, die Journalisten hielten sich selbst „auf Linie“. Ein Anhaltspunkt hierfür findet sich in der
Tatsache, dass die führenden deutschen Zeitungsverleger die Regierung um eine „Verhaltensempfehlung“ gebeten hatten, nachdem sich Berichte und auch Kritik an dem Verhalten der
Deutschen Regierung aus dem Ausland häuften.151
Der direkte Auslöser für den oben erwähnten Erlass der Regierung vom 7. Oktober 1915 war
jedoch ein anderer: Johannes Lepsius. Spätestens nachdem Wangenheim aus Konstantinopel
ein Telegramm an das Auswärtige Amt gesandt hatte, indem er berichtete, „daß erwähnte
Maßnahmen bei der politischen und militärischen Lage der Türkei leider nicht zu vermeiden“
seien, und „daß wir die Maßnahmen wohl in ihrer Form mildern aber nicht grundsätzlich hindern
dürfen“, waren die Armenierfreunde alarmiert.152 Wangenheim bat in diesem Schreiben aus147
Zitiert nach: Schaller, Rezeption, S 529.
Neues Wiener Tagblatt, 29. Juni 1915. Zitiert nach: Ohandjanian, das Genozid, S.217.
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 248; Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 37 f./ Schaller, Rezeption, S 524.
150
Hier war der Blick hauptsächlich auf die (noch) neutralen Vereinigten Staaten gerichtet.
151
Feigel, Armenierhilfe, S. 214.
152
Gust, Völkermord, Dokument [1915-05-31-DE-001].
148
149
19
drücklich um die Benachrichtigung von Lepsius und anderen deutschen Komitees. Dies geschah auch – es existierte also eine Verbindung zwischen Auswärtigem Amt und philarmenischen Kreisen, bzw. zu Lepsius und seiner neu gegründeten Deutsch-Armenischen Gesellschaft.153 Im Juni 1915 reiste Lepsius, trotz vorheriger Bedenken Wangenheims, mit Erlaubnis
des Auswärtigen Amtes nach Konstantinopel.154 Die Reiseerlaubnis wurde in der Hoffnung erteilt, Lepsius könne die Armenier „zur Vernunft […] bringen.“155 Sie sollten Loyalität gegenüber
der Hohen Pforte beweisen, um diese von ihrem Handeln gegen die Armenier abzubringen.
In Konstantinopel angekommen, sammelte Lepsius Informationen über die Armenier und die
Vorgänge in Anatolien. Eine Weiterreise war ihm durch die türkische Regierung untersagt worden, so dass er vor Ort bleiben musste. Von den deutschen Vertretern in Konstantinopel erhielt
er nur wenige Auskünfte, jedoch unterstützte ihn der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau bei seinen Nachforschungen.156 Nach einem persönlichen Gespräch mit Enver Pascha157
erkannte er, dass er nichts ausrichten konnte und reiste zurück nach Deutschland. Am 5. Oktober 1915, also zwei Tage vor der „dringenden Empfehlung“ der deutschen Regierung, organisierte Lepsius ein Treffen mit führenden Vertretern der Presse, mit dem Ziel, diese über die
Massaker an den Armeniern aufzuklären. Er stieß jedoch weitestgehend auf Widerspruch.158
Bei einer am nächsten Tag einberufenen Pressekonferenz warnte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes die Missionsgesellschaften davor, sich zu sehr für die armenische Frage zu engagieren. Die Anordnungen der türkischen Regierung seien nur eine Reaktion auf eine Bedrohung
durch die „Wühlarbeiten“ der Entente. Es wurde betont, dass ein Bruch des Bündnisses mit
dem Osmanischen Reich nicht in Frage komme.159 In den Wochen nach dieser Konferenz beziehungsweise der „Empfehlung“ der Reichsregierung erschienen, so Feigel, einige betont antiarmenische Artikel in der deutschen Presse, wohl um der Aufklärungsarbeit Lepsius‘ entgegenzuwirken. Dieser organisierte Protestschreiben verschiedener Kirchenvertreter an den Kanzler
und versuchte, einen von ihm verfassten „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der
Türkei“ zu veröffentlichen.160 Trotzdem der Bericht im August 1916 von der deutschen Militärmission verboten wurde, gelang es Lepsius, 20000 Exemplare an deutsche Pfarrämter und Abgeordnete des Reichstages und des württembergischen Landtages zu schicken. Auch die Redaktionen der größeren deutschen Tageszeitungen erhielten den Bericht.161 Lepsius verließ
anschließend das Deutsche Reich und ging in die Niederlande, um von dort aus seine Arbeit
fortzusetzen, da die Widerstände immer größer wurden.
Lepsius war zwar der Aktivste, aber nicht der Einzige, der sich für die Armenier und gegen die
offizielle Haltung der Regierung aussprach. So gelang es dem Deutschen Hilfsbund, in den Jahren 1914 bis 1916 eine nicht unbeträchtliche Summe Spenden zu sammeln, die nach Anatolien
gelangen konnte.162 Im Februar 1916 wurde der katholische Politiker Matthias Erzberger bei
Enver und Talat vorstellig – er musste sich jedoch mit leeren Versprechungen abspeisen las-
153
Die „deutsche Orient-Mission“ existierte zwar weiterhin, jedoch kam es zwischen ihr und Lepsius zu Differenzen.
Gust, Völkermord, Dokument [1915-07-02-DE-001].
Ebd. [1915-06-06-DE-001], Schreiben des Unterstaatssekretärs im AA, Zimmermann, an Wangenheim.
156
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 211 ff. Feigel beruft sich mit seiner Schilderung auf die eigene Darstellung Lepsius‘.
157
Franz Werfel schildert in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ eine fiktive Version des Gesprächs zwischen Enver und Lepsius. (Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Frankfurt 2006. Fünftes Kapitel: Zwischenspiel der Götter, S. 148 ff.)
158
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 214. Feigel schildert hier die Reaktionen eines sozialistischen und eines sozialdemokratischen Verlegers, beide waren
gegen eine Einmischung, europäische Moral- und Politikvorstellungen seien auf die Türkei nicht einfach übertragbar.
159
Vgl. ebd., S. 215.
160
Lepsius, Johannes: Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Potsdam 1916.
161
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 220 ff. Die Abgeordneten erhielten den Bericht jedoch vermutlich nicht, da er von der Zensur abgefangen worden war.
162
Sogar der Kaiser spendete hier offenbar. Feigel (S. 226) zitiert den „Sonnenaufgang“, ein Periodikum des Schweizer und Deutschen Hilfsbundes:
Sonn 20, 1917/18, 45.
154
155
20
sen. Der Orientalist Joseph Marquardt weigerte sich, armenische Briefe für die „Nachrichtenstelle für den Orient“ zu übersetzen:
„Nachdem man den Türken unsererseits gestattet, die schauerlichen Metzeleien der letzten Zeit
unter den Armeniern in einer völlig entstellten und erlogenen Weise darzustellen und die
ärgsten Verleumdungen und gehässigsten Lügen über die vogelfreien Armenier in unserer
Presse zu veröffentlichen, […] würde die Übersetzung erwähnter Privatbriefe in meinen Augen
163
als einseitige Spionage in türkischen Diensten erscheinen.“
Erwähnenswert ist auch die kleine Anfrage Karl Liebknechts im Deutschen Reichstag am 11.
Januar 1916, ob dem Kanzler die Massaker an den Armeniern bekannt seien. Daraufhin erhielt
er von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes die Antwort:
„Dem Kanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, veranlaßt durch Aufruhr, die Armenier
bestimmter Landesteile umgesiedelt hat.“ Außerdem: „Wegen gewisser Rückwirkungen dieser
Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein
164
Gedankenaustausch statt.“
Jede weitere Nachfrage Liebknechts in dieser Sitzung wurde unter dem Hinweis auf formale
Gründe abgewiesen.165
Dies war die offizielle Haltung der deutschen Regierung – wurde sie jedoch ausnahmslos vertreten? Gab es keine Anteilnahme am Schicksal der Armenier, standen die Staatshäupter der
Mittelmächte in dieser Sache bedingungslos an der Seite der jungtürkischen Regierung? Wie
oben bereits erwähnt, gab es regelmäßige Kontakte zwischen dem deutschen Auswärtigen Amt
und den Armenierfreunden, besonders zu Beginn des Krieges.166 Tatsächlich scheint das Auswärtige Amt einige Male bei der Übermittlung von Spendengeldern behilflich gewesen zu sein –
allerdings ist der Hintergrund und der Umfang dieser Aktionen nicht erforscht.167 Sicher ist dagegen, dass es im September 1916 eine Vereinbarung zwischen der Deutsch-Armenischen
Gesellschaft und der dem Auswärtigen Amt nahestehenden Deutsch-Türkischen Vereinigung
gab: Die Armenierfreunde sollten ihre Öffentlichkeitsarbeit zugunsten der Armenier unterlassen,
das Auswärtige Amt erklärte sich im Gegenzug bereit, die deutsche Presse anzuhalten, nicht
mehr negativ über die Armenier zu berichten.168 Auch sollten Hilfsleistungen für die Armenier
bald durchgeführt werden können.169 Im Vordergrund stand für die deutsche Regierung also
weniger die Hilfe für die Armenier, sondern vielmehr die Unterdrückung unerwünschter Meinungsäußerung.
Bei einer Sichtung des deutschen und österreichischen diplomatischen Schriftverkehrs erscheint diese Haltung umso berechnender und auch unmenschlicher, denn durch ihre zivilen
und militärischen Repräsentanten in Anatolien und Konstantinopel waren beide Regierungen
sehr gut über das erbarmungslose Vorgehen gegen die Armenier informiert.170 Ein Bericht
Wangenheims an Bethmann Hollweg, gesendet im Dezember 1914, belegt, dass dies bereits
163
Gust, Völkermord, Dokument [1915-10-08-DE-001], Der Orientalist Joseph Marquart an den Leiter der "Nachrichtenstelle für den Orient" Max von
Oppenheim, 8. Oktober 1915. Marquardt äußerte diese Meinung weder zum ersten noch zum letzten Mal: 1920 veröffentlichte er eine Schrift mit dem
Titel „Die Entstehung und Wiederherstellung der armenischen Nation“.
164
Zitiert nach: Feigel, Armenierhilfe, S. 227.
165
Wie die Haltung der SPD oder anderer Parteien war, bzw. ob die Armenier Diskussionsthema in den Fraktionen waren, ließ sich im Rahmen dieser
Arbeit nicht untersuchen.
166
Feigel, Armenierhilfe, S. 210.
167
Ebd., S. 228 f.
168
Gust, Völkermord, Dokument [1916-09-26-DE-001], Aufzeichnung des Legationsrats im Auswärtigen Amt Rosenberg vom 26. September 1916.
169
Schaller, Rezeption, S 527.
170
Siehe auch: Anm. 106. Insbesondere das Deutsche Reich hatte im Jahr 1916 zahlreiche Offiziere und Soldaten stationiert, die Zahlen beliefen sich
auf ungefähr 800 Offiziere und 25000 Soldaten – einige osmanische Armeen wurden sogar von deutschen Feldherren kommandiert. Vgl. Schaefgen,
Schwieriges Erinnern, S. 35; Fischer, Österreich im Nahen Osten, S. 256. Beide beziehen sich auf Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem: das
Levantekorps des kaiserlichen Deutschland, München 1991, S. 182.
21
sehr früh der Fall war.171 Auch Außenminister Stephan Graf Burián wurde durch den k.u.k. Botschafter in Konstantinopel, Johann Markgraf von Pallavicini, auf dem Laufenden gehalten:
„Die Unruhen in den armenischen Centren Kleinasiens scheinen grössere [sic] Dimensionen
172
angenommen zu haben und es ist unstreitig stellenweise auch zu Massacres gekommen.“
An den Berichten der Konsuln und Botschafter lässt sich zu Beginn größtenteils Verständnis für
das jungtürkische Vorgehen erkennen. An der Wortwahl lässt sich im Laufe der Zeit eine Veränderung feststellen: Es ist von türkischen „Maßnahmen“ oder „Maßregeln“ die Rede, die zwar
übertrieben seien, dem Grunde nach aber verständlich. Später zeigt sich immer häufiger Unverständnis, eine Verurteilung der (nun nicht mehr als „Maßregel“ titulierten) angeordneten Deportationen und Massaker, und auch eine Differenzierung: Nicht alle Armenier seien verantwortlich für die Taten Einzelner,173 das offensichtliche Ziel der türkischen Regierung sei es offenbar
von Beginn an gewesen, „die Exterminierung der armenischen Rasse durchzuführen.“174 Auch
ein Vergleich zu den Massakern unter Abdulhamid II. wird gezogen.175
Dennoch war sich beispielsweise Pallavicini unschlüssig darüber, wie er sich verhalten sollte. Er
betont immer wieder, dass er sich nicht bei den Verantwortlichen für die Armenier einsetzen
werde, da „die Türkei [dies] als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten empfinden [würde], die ihr gerade von Seiten der verbündeten Mächte am unangenehmsten wäre.“176 Sein Kollege Morgenthau machte ihn jedoch wiederholt darauf aufmerksam, dass die Morde in der amerikanischen Öffentlichkeit für Empörung sorgten – Pallavicini wollte nun doch, nur zwei Tage
nach seinem letzten Telegramm, „die türkischen Staatsmänner in freundschaftlichster Weise
auf die Rückwirkung aufmerksam machen […], welche ein unmenschliches Vorgehen gegen
Christen in der Türkei auf die Allgemeine Lage haben könnte“.177 Auch hier stehen erneut nicht
die Leiden der Armenier, sondern die Außenwirkung und die Bewertung des eigenen Verhaltens, in diesem Fall durch die Amerikaner, im Vordergrund. Eine spätere Nachricht Pallavicinis
an Burián zeigt, dass die jungtürkischen Verantwortlichen, in diesem Fall Talat Pascha, diese
Gespräche zudem nicht ernst nahmen und den jeweiligen Botschafter, der bei ihnen vorsprach,
hinhielten:
„In demselben [Anm.: einem Erlass Talat Paschas] wird angeordnet, dass die Verschickungen
der Armenier in das Innere eingestellt werden sollten, die Armenier, welche bereits auf der
Wanderung seien, wären mit Brot und Oliven zu beteilen, Angriffe auf dieselben, besonders auf
Frauen, hätten auf das strengste geahndet zu werden u.s.w. Es wäre nicht ausgeschlossen,
dass dieser Erlass vielleicht darauf berechnet ist, dem deutschen Botschafter und mir Sand in
die Augen zu streuen, und es bleibt ausserdem zu erwarten, ob dieser Erlass, falls er wirklich
ergangen, auch durchgeführt werden wird […].“
178
171
Gust, Völkermord, Dokument [1914-12-30-DE-001].
Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokument [1002. HHStA PA I 209] (Haus-, Hof- und Staatsarchiv) vom 29. April 1915.
Gust, Völkermord, Dokument [1915-05-20-DE-001], Der Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) am 20. Mai 1915./ Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokument [1033. HHStA PA XII 209], Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel
(Pallavicini) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 27. Juni 1915.
174
Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokument [1089. HHStA PA XII 209], Der k.u.k. 1. Legationsrat in Konstantinopel (von Trauttmansdorff) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 30. September 1915.
175
Ebd., Dokument [1041. HHStA PA XII 209], Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel (Pallavicini) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 8. Juli
1915.
176
Ebd., Dokument [1002. HHStA PA I 209], Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel (Pallavicini) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 29. April
1915.
177
Ebd., Dokument [1005. HHStA PA XII 209], Telegramm des Markgraf Pallavicini vermutlich an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 1. Mai
1915.
178
Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokument [1075. HHStA PA XII 209], Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel (Pallavicini) an den
k.u.k. Außenminister Graf Burián am 3. September 1915.
172
173
22
Auch die offensichtliche Hilflosigkeit mancher Konsuln änderte nichts an der offiziellen Richtung. In einem Telegramm bittet der Vizekonsul in Erzerum, Max Erwin von Scheubner-Richter,
um Unterstützung:
„Armenische Bevölkerung erblickt in mir als einzigen Vertreter christlicher Macht ihren
natürlichen Beschützer. Lage schwierig und peinlich. Bitte Ew. Exzellenz mich möglichst durch
179
entsprechende Schritte bei der Pforte unterstützen zu wollen.“
Wangenheim antwortet einen Tag später, dass er „von einer erneuten Verwendung für die Armenier bei der Pforte zunächst absehen“ müsse, auch Scheubner-Richter solle „keine weiteren
Schritte bei den dortigen Militärbehörden unternehmen.“180
Das Generalkonsulat in Trapezunt berichtet an die k.u.k. Botschaft in Konstantinopel:
„Armenisch-katholischer Vikar bat mich weinend, nochmals um Intervention für seine
Gemeinde. Laut heutiger Verordnung haben alle Armenier, kranke ausgenommen, das Vilajet
binnen fünf Tagen zu verlassen und werden im Innern an behördlich bestimmten Orten
181
angesiedelt; Eindruck herzzerreissend.“
Die Reaktion Pallavicinis bestand aus einer Ankündigung, ein Gespräch mit Talat Pascha zu
suchen, um erneut „in freundschaftlichster Weise“ auf ihn einzuwirken.182
Trotzdem man sich der wahren Beweggründe der Jungtürken und ihrer Hinhaltetaktik bewusst
war, und auch die einzelnen Regierungsvertreter in den Provinzen ihre Betroffenheit immer
wieder ihren Botschaften mitteilten, geschah selten etwas zur Unterstützung der Armenier. Von
offizieller Seite gab es nur wenige Versuche, gegen die Massaker vorzugehen. In Smyrna hatte
der General Otto Liman von Sanders den dortigen Wali183 mit angedrohter Waffengewalt daran
gehindert, die angeordneten Deportationen durchzuführen, da „derartige Massen-Deportationen
in das militärische Gebiet hinübergreifen“.184 Allerdings scheint diese Intervention jedoch weniger von Menschlichkeit, als von Kompetenzstreitigkeiten angetrieben gewesen zu sein. Der
Wangenheim-Nachfolger Paul Graf Wolff Metternich führte Unterredungen mit Enver Pascha
und Djemal Pascha, in denen er „eine äusserst scharfe Sprache geführt [hat].“ Er schrieb am 7.
Dezember 1915 an Bethmann Hollweg:
„Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr
185
vorgenommen werden sollen, sind wertlos.“
Wie bereits erwähnt, erscheint das gleichgültige Verhalten der Regierungen spätestens dann
unverständlich, wenn man den Informationsgehalt der Konsulatsberichte aus den Provinzen
beachtet. Bis auf einige Ausnahmen lässt sich jedoch folgendes beobachten: Je näher sich die
Berichterstattung der hierarchischen Ebene der Regierungsspitze nähert, je weiter die berichtenden Personen menschlich von dem Geschehen entfernt sind, desto nüchterner wird die Einschätzung, desto mehr dominiert das politische und propagandistische Kalkül.186 Das armenische Volk wurde zu einem Planungsobjekt des Generalstabs: Militärisch betrachtet behinderte
der „armenische Unruheherd“ die Leistungsfähigkeit des Osmanischen Reiches, propagandis179
Gust, Völkermord, Dokument [1915-06-02-DE-001], Der Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) am 2. Juli 1915
Ebd.
181
Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokument [1033. HHStA PA XII 209], 26. Juni 1915.
182
Ebd. Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel (Pallavicini) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián am 27. Juni 1915.
183
Vorsteher eine Wilajets (osmanische Großprovinz).
184
Gust, Völkermord, Dokument [1916-11-12-DE-001], Liman von Sanders an den Geschäftsträger der Botschaft in Konstantinopel (Radowitz) am 12.
November 1916.
185
Gust, Völkermord, Dokument [1915-12-07-DE-001].
186
Ebd., S. 78.
180
23
tisch betrachtet bot das Leiden der Armenier einen Angriffspunkt für die Entente. Eine große
Rolle spielte auch die öffentliche Meinung der bis 1917 neutral gebliebenen Vereinigten Staaten, die ängstlich beobachtet wurde. Hier entstand bereits während des Krieges der Verdacht,
dass den Deutschen, im Zusammenhang mit der Alldeutschen Bewegung, mindestens eine
Mitschuld zuzuschreiben war.187 Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass von den Jungtürken während des Krieges gezielt verbreitet worden war, die Massaker seien in Absprache mit
den Deutschen, bzw. auf deren Anordnung durchgeführt worden.188 Auffällig ist also, dass sich
sowohl das Deutsche Reich als auch Österreich-Ungarn mit den armenischen Massakern und
Deportationen abfanden, obwohl sie ihnen Nachteile einbrachten. Wieso wurden die osmanischen Verbündeten nicht zurechtgewiesen?
Die Haltung der Deutschen während des Ersten Weltkrieges war im Großen und Ganzen eine
Weiterführung der Armenier-Politik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.189 Es wurde abgewogen zwischen der Wichtigkeit der außenpolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen und den Gräueltaten an den Armeniern für die eigene Politik. Fragen der Humanität standen besonders während des Krieges hinter der Außenpolitik zurück. Wichtig war die Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zum Osmanischen Reich. Aus diesem Grund reagierte Bethmann Hollweg äußerst empört auf den weiteren Inhalt des Telegramms von Wolff-Metternich.
Dieser schrieb:
„Auch soll man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck
kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. […] Ohne unsere Hülfe fällt der
geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken
umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen. Mit
den jetzigen (sic) Machthabern wird die englische Regierung nicht leicht paktieren, schon eher
190
mit Djemal, wenn er, was nicht ausgeschlossen ist, Enver verdrängen sollte.“
Die Antwort Bethmann Hollwegs:
„Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden
Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser
einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig
ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir
die Türken noch sehr brauchen. Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen
191
kann, obwohl er es nicht für ausgeschlossen hält, daß Djemal Enver verdrängt.“
In diesem Schreiben zeigt sich Bethmann Hollwegs Befürchtung, dass das Osmanische Reich
in dem Fall einer Zurechtweisung durch die Deutschen das Bündnis aufkündigen und einen
Separatfrieden mit dem Erzfeind Großbritannien schließen könnte. Wie eingangs erwähnt, war
das Bündnis mit dem Deutschen Reich zu Beginn des Krieges nicht selbstverständlich gewesen. Die Entscheidung, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, war nicht vom Kabinett, in
dem viele Jungtürken mit Sympathien für Großbritannien und Frankreich saßen, sondern von
einem Politikerkreis um den deutsch-freundlichen Enver Pascha Ende Oktober gefällt wor187
„Jeder, der die alldeutsche Literatur („literature of Pan-Germania“) auch nur oberflächlich gelesen hat, ist mit der besonderen Methode vertraut, die
deutsche Publizisten für die Behandlung von Völkerschaften empfehlen, die Deutschland im Weg stehen: Die Deportation.“ Morgenthau, Story, S. 34.
188
Vgl. Gust, Völkermord, Dokument [1915-08-12-DE-001], Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg)
an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg) am 12. August 1915. „Im Anschluss an Vorstehendes muss erwähnt werden, dass unter der türkischen
Bevölkerung im Innern vielfach die Auffassung besteht, dass die deutsche Regierung mit der Ausrottung der Armenier einverstanden sei und sie sogar
geradezu veranlasst habe. Ich habe daher die Kaiserlichen Konsulate in Anatolien angewiesen, solchen, für uns kompromittierenden Anschauungen,
die sogar von Offizieren, Geistlichen und andern Persönlichkeiten der besseren Klassen offen geäussert werden, entschieden entgegenzutreten.“
189
Bloxham, Donald: Power Politics, Prejudice, Protest and Propaganda: a Reassessment of the German Role in the Armenian Genocide of WW I, in:
Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S.
234.
190
Vgl. Anm. 185.
191
Ebd. Wolff-Metternich wurde kurz darauf von seinem Posten abgezogen.
24
den.192 In Berlin wurde das Bündnis zu Beginn des Krieges, unter anderem von Bethmann
Hollweg, ebenfalls kritisch betrachtet, da das Osmanische Reich nicht die Ressourcen besaß,
über einen längeren Zeitraum hinweg Krieg zu führen.193 Dem Kaiser war es jedoch wegen seiner gerne proklamierten Freundschaft zum Sultan sehr wichtig - zudem war in der Realität der
festgefahrenen Kriegssituation jeder Partner wichtig, zumal die Mittelmächte bei einem Bruch
mit der Hohen Pforte vollständig eingekreist gewesen wären, nachdem Italien 1915 auf Seiten
der Entente in den Krieg eingetreten war. Die Donaumonarchie, die von dem Abkommen mit
dem Osmanischen Reich ebenso wenig begeistert war,194 betraf dies als schwächeren Bündnispartner genauso, weswegen sie ebenfalls nicht zu Gunsten der Armenier eingriff.195
4.2. Zwischen Empörung und Neutralität: Die USA
4.2.1. Die Wahrnehmung der Armenier vor 1914
Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten ungefähr 25.000 Armeniern in den USA. Diese
waren in Folge der Hamidischen Massaker eingewandert und hatten sich hauptsächlich in Kalifornien niedergelassen.196 Durch die Massaker rückten die Armenier auch in das Blickfeld der
amerikanischen Öffentlichkeit. Zwar gab es bereits vor 1890 vereinzelte Presseberichte, die
kontinuierliche und detaillierte Berichterstattung setzte jedoch erst 1894 ein.197 Trotz der verschiedenen politischen Richtungen der Blätter waren sich alle einig: Die Massaker galten als
verurteilenswert.198
Ein wichtiges und vielbesprochenes Thema war die Haltung der Hohen Pforte. In mehreren, in
der Presse veröffentlichten Mitteilungen an die osmanische Gesandtschaft in New York leugnete diese die Taten und berichtete dafür umfangreich von den Grausamkeiten, die Muslimen von
Armeniern zugefügt worden waren.199 Der Kommentar dazu folgte in einem Bericht vier Tage
später:
200
„It is the wolf accusing the lamb of muddying the stream.“
Auch wenn der osmanischen Regierung immer wieder Raum für eigene Stellungnahmen in der
amerikanischen Presse zugestanden wurde, und sie sich zudem ausdrücklich gegen die Berichterstattung in den USA wehrte,201 war die Position der Journalisten eindeutig. Zwar habe es
Aufständische gegeben, so die einhellige Meinung, deren Agitationen seien aber nicht der
Grund für das Morden gewesen: das Motiv sei ein Religiöses, denn es sollten alle „Ungläubi192
Zürcher, Jan-Erik, Osmanisches Reich, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004,
S. 758.
Ebd.
194
Vgl. Fischer, Österreich im Nahen Osten, S. 251.
195
In der Vergangenheit gab es viele Wissenschaftler, die davon ausgingen, dass deutschen Soldaten und Offiziere sich sowohl aktiv an dem Völkermord beteiligten, als auch die Anregung dazu gaben. Vgl. Ohandjanian, das Genozid, S.237 ff. Sie bezogen sich meist, direkt oder indirekt, auf die
Schuldzuweisungen der Entente. Diese Thesen wurden durch aktuelle Studien revidiert, beispielsweise durch Donald Bloxham, der in seinem Aufsatz
zeigt, dass es keine politische Entscheidung für den Genozid an den Armeniern im Deutschen Reich gab. Dazu ausführlich: Bloxham, Donald: Power
Politics, Prejudice, Protest and Propaganda: a Reassessment of the German Role in the Armenian Genocide of WW I, in: Kieser, Hans-Lukas/Schaller,
Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S. 213-244.
196
Vgl. Payaslian, United States Policy, S.16. Siehe auch: Maibaum, Matthew: Armenians in California, in: Pattern of Prejudice, Vol. 19, No. 1, 1985,
S. 25.
197
Als Informationsquelle dienten neben den Europa-Korrespondenten auch die Missionsangehörigen im Osmanischen Reich und die Berichterstattung der europäischen, besonders der britischen, Presse.
198
Die Reaktion der Presse in den USA wird in dieser Arbeit beispielhaft anhand der Berichterstattung der New York Times dargestellt. Sie galt (und
gilt) als liberales Blatt, berichtete meist pro-armenisch, ließ aber auch die andere Seite zu Wort kommen. Betrachtet, wenn auch nicht genauso ausführlich, werden zudem die damals konservativere, republikanische Zeitung Los Angeles Times, die damals ebenfalls republikanische Washington
Post und ab 1908 auch The Christian Science Monitor, noch heute bekannt für eine relativ unabhängige Berichterstattung.
199
Beispielsweise die New York Times vom 1. und 23. August.
200
New York Times vom 16. Dezember 1894.
201
So beispielsweise am 1. August 1895 unter dem Titel „The Other Side of the Armenian Question“. In einem Brief an den Herausgeber der NYT
wurde dargelegt, dass die Türkei eine „freundliche Macht“ sei, es keine Beweise für die Massaker gebe, und es den Armenier im Osmanischen Reich
besser gehe als den Türken. Außerdem bestand die Hohe Pforte auf ihr Souveränitäts-Recht.
193
25
gen“, alle giaours, verfolgt werden.202 Dies war „ein wesentlicher Bestandteil seiner [des Sultans] Politik als Kalif der mohammedanischen religiösen Welt.“203
Allerdings gingen die Meinungen darüber auseinander, wie die Rolle des Sultans genau einzuschätzen war. So meinte General Horace Porter während eines Interviews, dass der Sultan ein
schwacher Mann sei und sein Reich nicht unter Kontrolle habe.204 Andere Autoren waren der
Ansicht, dass die Massaker auf direkte Anordnung des Sultans geschehen seien.205 In vielen
Artikeln kam eine große Abneigung gegen die Türken zum Vorschein. So wurde als Grund für
die Entfremdung der Christen von den Türken genannt, das letztere ihre große Zeit im Mittelalter gehabt hätten, und sich „unglücklicherweise dazu entschieden hätten, dort zu bleiben.“206
Häufiges Thema war auch die Haltung der europäischen Großmächte. Ihnen wurde vorgeworfen, trotz der Verantwortung aufgrund des Artikels 61 des Berliner Vertrags untätig zu bleiben.
Während einer Veranstaltung der „Armenian Relief Association“, zu der viele einflussreiche und
angesehene Politiker gehörten, wurde offiziell gegen die Massaker protestiert und an Europa
appelliert, diese zu stoppen.207 Interviews, die am Rande der Veranstaltung mit einigen New
Yorker Persönlichkeiten geführt wurden, zeigten jedoch auch, dass viele der Ansicht waren,
Amerika könne nicht in das Geschehen eingreifen weil es zu weit entfernt sei - zudem müsse es
sich an die Monroe-Doktrin halten.208
Nach den Morden von 1894-1896 wurde weiterhin regelmäßig über die Armenier berichtet,
Themen war unter anderem weitere Massaker aber auch die Arbeit von Hilfsorganisationen für
armenische Flüchtlinge und Waisenkinder.209 Intensive Berichterstattung erfuhren die Ereignisse in Adana und Mersin 1909. In der New York Times wurde ein ausführlicher und mit Handzeichnungen versehener Augenzeugenbericht des Missionars Herbert A. Gibbons gedruckt, der
während der „Two days of slaughter“ in Adana war.210 Die Los Angeles Times berichtete von
20.000,211 die New York Times sogar von 30.000 Opfern. In den Augen der Armenier waren die
Jungtürken die Schuldigen,212 für die restliche Berichterstattung war dies allerdings nicht so eindeutig: Hier war von der „Aufrichtigkeit“ der Jungtürken die Rede,213 die Bestrebungen der neuen Regierung, die Schuldigen bestrafen zu wollen, schienen überzeugend zu sein.214
Bereits im Dezember 1894 hatte Präsident Grover Cleveland der New York Times einen Teil
der Korrespondenz des U.S. Außenministeriums mit amerikanischen Vertretern in Konstantinopel zur Verfügung gestellt.215 Es ging um die türkischen Massaker in Sason, zu deren Untersuchung eine ausländische Kommission eingerichtet werden sollte.216 Dem Artikel lässt sich entnehmen, dass die Informationslage zu diesem Zeitpunkt noch recht ungenau war: So war nicht
klar, ob amerikanische Staatsbürger oder Menschen, „die das Recht auf Schutz durch die ame-
202
New York Times vom 27. November 1895.
New York Times vom 20. März 1895, eigene Übersetzung. Der Autor des Artikels brachte seine Meinung folgendermaßen auf den Punkt: „Those
who perished were Christians, and they perished because they were Christians.“
204
New York Times vom 21. November 1895.
205
New York Times vom 20. März 1895.
206
New York Times vom 16. Dezember 1894.
207
New York Times vom 21. November 1895.
208
Die Monroe-Doktrin aus dem Jahr 1823 legte Grundsätze für die US-amerikanische Außenpolitik fest, so z.B. die Nicht-Einmischung in europäische
Angelegenheiten.
209
So zum Beispiel in der Los Angeles Times am 18. Oktober 1899 „Armenian Relief Movement“, am 3. Februar 1900: „Fear in Turkey of a Christian
Massacre“, am 15. Mai 1904 „Turkish Massacres. Villages Burned and Hundreds of Persons Killed--Armenians May Appeal to Powers“.
210
New York Times vom 11. Juli 1909. Dies blieb nicht der einzige ausführliche Bericht dieser Art.
211
Los Angeles Times vom 25. April 1909.
212
New York Times vom 20. September 1909: „Armenians condemn new Turkish rule“ „Young Turks killing off as many as died under the bad old
regime, they say“.
213
New York Times vom 29. Juli 1909.
214
New York Times vom 14. Juli 1909.
215
New York Times vom 12. Dezember 1894.
216
Siehe Kapitel 2.3.
203
26
rikanische Regierung“217 in Anspruch nahmen, ebenfalls durch die Massaker betroffen waren.
Der in Sivas stationierte amerikanische Konsul Miles Jewett sollte aus diesem Grund als neutraler Beobachter an der Untersuchung teilnehmen.218 Der Titel und gleichzeitige Kommentar des
Artikels lautete: „Wise Avoidance of Commitment of America to Joint Action“. Auch wenn ein
Großteil der Berichterstattung darüber hinwegtäuschte, ist dieser Artikel ein Hinweis auf die
tatsächliche Politik der U.S.-Regierung in Bezug auf die Massaker. Maßnahmen zur Unterstützung der Armenier seitens der amerikanischen Regierung wurden nicht ergriffen, interveniert
wurde nur im Falle einer Gefährdung amerikanischer Staatsbürger.219 Die offizielle Begründung
war die Monroe-Doktrin, die einen Eingriff in europäische Angelegenheiten verbot.220 Auf wirtschaftlicher Ebene engagierten sich die USA jedoch sehr stark in Europa und im Osmanischen
Reich.221 Im Mittelpunkt dieser Bemühungen stand die Öl-Industrie: Noch in den 1870ern hatten
die USA einen großen Teil ihrer eigenen Ölvorkommen nach Europa und Asien exportiert. Im
Zuge der Industrialisierung gewann der Rohstoff an Bedeutung, aufgrund der gestiegenen
Nachfrage sollte nun im Nahen Osten die Ölförderung vorangetrieben werden. Hier trafen die
USA auf die Interessen Russlands, Frankreichs und Großbritanniens: Die Konkurrenz um Ölquellen und Absatzmärkte verschärfte sich.222 Gute diplomatische Beziehungen zum Osmanischen Reich waren also zum einen aus geostrategischen, zum anderen aus ökonomischen
Interessen außerordentlich wichtig geworden, denn auch der Handel zwischen beiden Staaten
nahm beständig zu. In den USA gab es verschiedene Unternehmergruppen, die proarmenische Berichterstattung und Organisationen kritisierten, da sie eine Gefährdung der Beziehungen zum Handelspartner befürchteten.223
Woher kam das offensichtlich positive Armenier-Bild der amerikanischen Öffentlichkeit, welches
den Handelsinteressen zuwider lief und auch dazu führte, dass in der Presse oftmals nicht nur
die europäische Armenier-Politik, sondern auch die eigene Regierung kritisiert wurde?224 Die
einzigen Amerikaner, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in direktem Kontakt zu den orientalischen Christen standen, waren Missionare, und diese hatte zunächst keine sehr hohe Meinung
von ihren Glaubensgenossen: In ihren Augen waren sie keine „richtigen“ Christen, die gregorianische Kirche in ihren Zeremonien zu erstarrt, um die „wahre“ Bedeutung des Christentums zu
kennen.225 Erst im Laufe der Zeit änderte sich diese Sichtweise, bedingt durch die Verfolgungen, die die Armenier immer wieder erdulden mussten. Sie wurden zu Märtyrern, die duldsam
ihr Schicksal ertrugen. Mit Beginn der Berichterstattung war dies offenbar das in den USA vorherrschende Bild, welches innerhalb der christlichen Bevölkerung für große Anteilnahme sorgte.
Der Missionar Frederick Davis Greene beispielsweise schrieb 1895:
„The only wonder is that a people of so great ability, energy, and spirit have so long submitted.“
226
217
Hierbei handelte es sich unter anderem um Personen, deren Familien seit mehreren Generationen in amerikanischen Missionen tätig waren: Sie
besaßen zwar theoretisch die amerikanische Staatsbürgerschaft, waren aber im Osmanischen Reich aufgewachsen und noch nie in die USA gereist.
Später wurden für den Schutz amerikanischer Staatsbürger zusätzliche Konsulate in Erzurum und Harput eingerichtet (siehe eine an den Senat gerichtete Petition vom 3. Januar 1895, abgedruckt in: Greene, Frederick Davis: The Armenian Crisis in Turkey. The Massacre of 1894, its antecedents and
significance, New York/London 1895, S. 163.
218
Neue Freie Presse vom 10.12. 1894. Dem Ergebnis der Untersuchung wurde viel Beachtung geschenkt, vgl. Anm. 49.
219
Vgl. Kirakossian, Arman D. (Hg.): The Armenian massacres, 1894 - 1896: U.S. Media Testimony, Detroit 2004, S. 37.
220
Greene, Armenian Crisis, S. 163.
221
Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 6 ff. Payaslian bezieht sich in seinen Ausführungen zu einem großen Teil auf von den handelnden Politikern
verfasste Manuskripte aus der Kongress-Bibliothek und Regierungsakten der verschiedenen Ministerien. Er wird für die folgenden Ausführungen aus
diesem Grund häufiger herangezogen.
222
Ebd., S. 7.
223
Ebd.
224
Vgl. Kirakossian, Testimony, S. 40.
225
Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 13; Feigel, Armenierhilfe, S. 19.
226
Greene, Armenian Crisis, S. xviii.
27
Auch wenn die Regierung nicht eingriff, ist das Engagement der nordamerikanischen Bevölkerung in zahllosen Demonstrationen und Hilfsfonds für viele Armenier, sowohl in Armenien als
auch in der Diaspora, bis heute ein wichtiger Bestandteil in den Beziehungen zur USA. So
schreibt Kirakossian:
„The Armenian people will always remember the helping hand extended by the American
227
people at the critical junctures of its history.“
4.2.2. Während des Krieges
Die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber dem Osmanischen Reich und den Armeniern
änderte sich zu Kriegsbeginn nur geringfügig. Präsident Woodrow Wilson, der seine Wiederwahl 1916 unter anderem mit dem Image des Mannes gewann, der das Land aus dem Krieg
herausgehalten hatte,228 erklärte gleich zu Beginn des Krieges die Neutralität der USA. Gleichzeitig hoffte die Regierung, dass auch das Osmanische Reich neutral bleiben würde, damit die
diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen nicht gefährdet würden. Diese Hoffnung wurde allerdings zerstört, als die Jungtürken am 27. September 1914 die Dardanellen schlossen,
am 1. Oktober die Kapitulationen aufkündigten,229 und Ende Oktober der Kriegsbeitritt erfolgte.230 Die Wilson-Regierung protestierte zwar gegen die einseitige Aufkündigung der Verträge,
von beiden Seiten wurden jedoch weiterhin gute Verbindungen propagiert. So versicherte die
Osmanische Regierung, dass keine amerikanischen Staatsbürger zu Schaden kommen würden, und bat die USA gleichzeitig um Unterstützung bei Handelsinteressen in Mexiko und Südamerika, die diese auch zusagte.231
Obwohl durch Botschafter Morgenthau bereits zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass Christen
im Osmanischen Reich akut bedroht waren,232 waren die USA zunächst einmal bemüht, die
eigenen Staatsbürger zu unterstützen – dies betraf in erster Linie die Missionsangehörigen. In
türkischen Gewässern befanden sich zwei Schiffe der Navy, die amerikanische Flüchtlinge aufnehmen konnten.233 Zudem riet die U.S.-Regierung ihren Bürgern, das Land zu verlassen.234
Bis zum Kriegseintritt der USA im April 1917 blieben jedoch nicht nur die meisten Missionare in
Anatolien, sondern auch die diplomatischen Vertreter der Staaten. Durch sie sind, in ähnlichem
Maße wie bei ihren deutschen und österreichischen Kollegen, Berichte über die Massaker und
Deportationen erhalten, die Korrespondenz untereinander und auch Memoiren und Erfahrungsberichte.235 Botschafter Morgenthau war durch eigene Beobachtungen und durch die Berichte
der Konsuln bestens informiert - diese Informationen gab er weiter an das Auswärtige Amt. Er
vertrat die offizielle Regierungslinie und pflegte sehr gute Beziehungen zur jungtürkischen Regierung.236 Dennoch wird durch seine eigenen Schilderungen, vor allen Dingen aber durch die
seiner Botschafter-Kollegen, deutlich, dass er große Anteilnahme am Schicksal der Deportier227
Kirakossian, Testimony, S. 40.
Winter, Jay, America and the Armenian Genocide of 1915, Cambridge 2003, S. 3.
Vgl. Anm. 16.
230
Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 49.
231
Vgl. ebd., S. 49.
232
Siehe: Morgenthau, Story, S. 91.
233
Bereits im Juni 1914 kündigte die jungtürkische Regierung an, 40.000 Tausend Griechen aus Smyrna deportieren zu wollen, der Hafen von Smyrna
wurde geschlossen. In der Stadt befanden sich auch amerikanische Missionen.
234
Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 53. Allerdings sollte diese Empfehlung vor der U.S.-amerikanischen Öffentlichkeit weitestgehend geheim
gehalten werden.
235
Zum Beispiel: Morgenthau, Story; ders.: The tragedy of Armenian, London 1918; Davis, Slaughterhouse; Riggs, Henry H.: Days of tragedy in Armenia. Personal Experiences in Harpoot, 1915-1917, Michigan 1997. Eine guten Überblick über die U.S. Vertretungen und deren Korrespondenz untereinander gibt Adalian, Rouben Paul: American diplomatic correspondence in the age of mass murder: the Armenian Genocide in the US archives, in:
Winter, Jay (Hg.): America and the Armenian Genocide of 1915, Cambridge 2003, S. 294; Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 146 ff.
236
Payaslian, United States Policy, S. 41.
228
229
28
ten zeigte. Er versuchte verschiedene Male Wangenheim und Pallavicini dazu zu bewegen, sich
bei den Verantwortlichen für die Opfer einzusetzen, suchte selber das Gespräch mit Enver Pascha und Talat Pascha, und leistete Hilfestellungen - allerdings in einem Rahmen, der die eigene Regierungslinie nicht überschnitt.237 In einem Schreiben an den neuen Außenminister Robert
Lansing238 erörterte er die Handlungsmöglichkeiten, die der U.S-Regierung in Bezug auf die
Armenier blieben, und kam zu folgendem Schluss:
„That a vigorous official demand be made without delay for the granting of every facility to
Americans and others to visit and render pecuniary and other assistance they may desire to
239
Armenians already affected by Government deportations.“
Ein die Massaker und Deportationen verhindernder Eingriff sollte also vermieden, die Arbeit von
Hilfsorganisationen unterstützt werden. Aus außenpolitischer Sicht war dies für die USA ein
vertretbarer Kompromiss, denn so gab es die Möglichkeit, die guten Handelbeziehungen zum
Osmanischen Reich, die auch während des Krieges eine wichtige Rolle spielten, aufrechtzuerhalten. Die Jungtürken wandten sich zu Beginn jedoch gegen diese Hilfen, mit der Begründung,
dass sie ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten des Staates seien. Offensichtlich wollten sie
die Unterstützung der Deportierten verhindern, da unter Umständen Wasser, Nahrung und der
reine Kontakt mit Menschen während der Märsche durch die Wüste die Möglichkeit von Widerstand gefördert hätte. Zudem sollte es keine Zeugen geben. Gegen Ende des Jahres, als ein
Großteil der Deportationen abgeschlossen war, wurden ausnahmsweise Hilfeleistungen zugelassen.240
Morgenthau, der bis heute als einer der wichtigsten Zeugen für den Völkermord gilt, hatte trotz
seiner Empathie für die Opfer doch eine Distanz zu ihnen, die der Konsul in Harput, Leslie A.
Davis, nicht haben konnte. In einem Bericht an den Direktor des Konsular-Dienstes, Wilbur J.
Carr, beschrieb er 1918 ausführlich die Ereignisse in der abgelegenen Stadt. Auch er berief sich
zu Beginn der Verhaftungen auf seine Neutralität.241 Die Verschlechterung der Lage änderte
jedoch seine Einstellung: Er beseitigte beispielsweise einige Revolver, die ein Angehöriger der
Mission in Harput in den Sachen eines jungen Armeniers gefunden hatte, indem er sie in der
Wüste vergrub, bevor sie von der türkischen Polizei gefunden werden konnten. Ihm war bewusst, dass diejenigen, die von den Verhaftungen verschont blieben, „ihren Untergang nur für
eine kurze Zeit verschoben hatten.“242 Als im Juni 1915 die Order erging, auch Frauen und Kinder zu deportieren, sah sich Davis immer mehr in einem Konflikt:
„Realizing so well the fate of most of those who were to be thus sent away, I felt that I must
interfere on the ground of humanity, even though my efforts in behalf of these people might be
243
of little avail and whether I had any right to do so officially or not.“
Kurze Zeit später nahm Davis einige Armenier in das Konsulatsgebäude auf, obwohl er sich
damit selbst in Gefahr brachte – wer Armenier versteckt hielt, wurde mit der Todesstrafe bedroht.244
237
Vgl. Anm. 156; Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band VI, Dokumente [1002. HHStA PA I 209] und [1041. HHStA PA XII 209], Der k.u.k. Botschafter in Konstantinopel (Pallavicini) an den k.u.k. Außenminister Graf Burián.
238
Lansing war ab Juni 1915 Außenminister, sein Vorgänger war William J. Bryan.
239
Zitiert nach: Payaslian, United States Policy, S. 87. Schreiben vom 11. August 1915.
240
Payaslian, United States Policy, S. 92 f.
241
Davis, Slaughterhouse, S. 48.
242
Ebd., S. 51.
243
Ebd., S. 52.
244
Ebd., S. 137. Anmerkung der Herausgeberin.
29
Davis‘ Bericht gibt einen erschütternden Eindruck der Ereignisse, geschildert aus der Sicht eines Mannes, der einerseits seiner Regierung verpflichtet war, andererseits von der Außenwelt
nahezu abgeschnitten245, konfrontiert mit einer „Schreckensherrschaft“246 und einer humanitären
Katastrophe, auf sich allein gestellt war. Er verließ Harput am 16. Mai 1917 wegen des Kriegseintrittes der USA, Morgenthau war bereits ein Jahr zuvor aus Konstantinopel abgereist, um
Präsident Wilson bei seinem Wahlkampf zu unterstützen.247
Wenn auch nicht so intensiv wie zu Zeiten der Hamidischen Massaker, erfolgte die Berichterstattung über die Verfolgungen der Christen innerhalb der USA auch während des Krieges.248
Wichtigere Themen waren die großen Schlachten in Europa und die Rezession, ausgelöst
durch den Krieg.249 Seit Mitte des Jahres 1915 verstärkte sich das öffentliche Interesse jedoch
wieder: Es entwickelten sich Hilfsnetzwerke, die wie bereits zwanzig Jahre zuvor häufig von
Personen des öffentlichen Lebens oder Politikern unterstützt oder sogar initiiert wurden.250 Die
Anfragen an das Außenministerium vermehrten sich so sehr, dass seit Oktober 1915 ein Standardbrief mit folgendem Inhalt versendet wurde:
„[…] In reply the Department begs to state that from the beginning the American Ambassador at
Constantinople has continued to remonstrate with the Turkish Government against their
treatment of the Armenians, and that such remonstrances have been followed by orders by the
Turkish Government modifying and ameliorating to some degree the order previously issued
relative to the deportations of the Armenians from their homes. The Ambassador will use his
good offices, to the fullest extent consistent with the position of the United States as a neutral
country, in behalf of the Armenians in the Turkish Empire. […]“
251
Für die politischen Entscheidungen spielten die Armenier, trotz Eskalation ihrer Situation, wie
auch zu Beginn des Krieges eine marginale bis gar keine Rolle. Das Außenministerium unter
der Führung von William J. Bryan zeigte zwar immer wieder Besorgnis über die Lage der Armenier, unternahm jedoch keine konkreten Schritte zu ihrer Unterstützung.252 Derweil verschärften
sich die Gegensätze zwischen Kriegsgegnern und Befürwortern. Den ersten Anlass hierfür gab
die Versenkung der Lusitania am 7. Mai 1915.253 Der Großteil der Bevölkerung war gegen einen
Krieg, jedoch wandte sich die Stimmung zunehmende gegen das Deutsche Reich.254 Obwohl
Wilson stets die Wichtigkeit der Neutralität der USA betont hatte,255 erfolgte am 6. April 1917
schließlich die Kriegserklärung an das Deutsche Reich,256 jedoch nicht an das Osmanische
Reich. Dies hätte unter Umständen zu einer Erleichterung der Situation für die Armenier führen
können, lag jedoch nicht im primären Interesse der Regierung. Die offizielle Begründung für
diese Haltung wurde in einer Rede Wilsons vor dem Kongress deutlich: Hier stellte er das Osmanische Reich als das Opfer der geopolitischen Interessen des Deutschen Reiches dar, zu245
Davis beschreibt, dass die Kommunikation mit Konstantinopel per Post für eine Strecke ungefähr drei Wochen benötigte, und auch ein Telegramm
mehrere Tage unterwegs war. Zudem wurden Berichte von der türkischen Zensur immer wieder abgefangen.
246
Davis, Slaughterhouse, S. 51.
247
Payaslian, United States Policy, S. 102. Morgenthau war für die türkische Regierung eine Autorität gewesen, seine Nachfolger konnten beispielsweise nicht verhindern, dass kurz nach seiner Abreise den amerikanischen Diplomaten die Versendung von versiegelten Berichten untersagt wurde.
248
Zum Vergleich: Die Los Angeles Times brachte im Zeitraum zwischen Januar 1894 und Dezember 1896 262 Artikel, zwischen Januar 1914 und
Dezember 1918 nur 86 Artikel (Ergebnis einer Suche im Online-Archiv der Los Angeles Times, Stichworte: armenian + massacres).
249
Leonard, Thomas C.: When news is not enough: American media and Armenian deaths, in: Winter, Jay (Hg.): America and the Armenian Genocide
of 1915, Cambridge 2003, S. 294; Vgl. Payaslian, United States Policy, S. 55.
250
1915 gründete sich beispielsweise das „Dodge Relief Committee“, benannt nach Cleveland H. Dodge, der zu diesem Zeitpunkt Vizepräsident des
Bergbau-Unternehmens „Phelps Dodge Corporation“ war.
251
Zitiert nach: Payaslian, United States Policy, S. 98.
252
Payaslian, United States Policy, S. 74. Bryan unterstützte die Erklärung der Entente vom 24. Mai 1915, die die Verbrechen an den Armeniern als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertete, und ankündigte, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
253
Kramer, Alan: Lusitania, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 689 f.
254
Payaslian, United States Policy, S. 73.
255
So in der Rede zur Lage der Nation am 7. Dezember 1915, Neutralität der Staaten sei wichtig, um eine „universale Katastrophe“ zu vermeiden.
Siehe auf der Internetseite http://www.infoplease.com/t/hist/state-of-the-union/127.html, 23. Oktober 2006, 14.20 Uhr.
256
Der Anlass war die Wiederaufnahme des „uneingeschränkten U-Boot-Krieges“, von dem erneut einige amerikanische Schiffe betroffen waren.
30
dem hätte es keine feindlichen Handlungen seitens der Türken gegeben.257 Payaslian sieht die
wahren Hintergründe erneut in dem großen Einfluss der Unternehmer-Lobby in Washington,
aber auch in dem unbedingten Willen beider Seiten, die guten Beziehungen zugunsten gegenseitiger Handelsinteressen aufrechtzuerhalten. Talat Pascha soll Morgenthaus Nachfolger Abram Elkus in einem Gespräch mitgeteilt haben, dass eine Kriegserklärung an das Deutsche
Reich kein Grund sei, die „herzlichen Beziehungen“ zwischen der Türkei und den USA abzubrechen.258 Als dennoch die diplomatischen Beziehungen von Seiten der Türkei beendet wurden, galt das erste Interesse erneut ausschließlich den amerikanischen Staatsbürgern. Dies
betraf auch die Berichterstattung: Für das Jahr 1917 lassen sich in der Los Angeles Times drei,
in der New York Times sieben Artikel den armenischen Massakern zuordnen. Wenn Berichterstattung erfolgte, dann oft nur im Rahmen der Schuldzuweisung an die Deutschen.
4.3. Zwischenresümee
Vor dem Krieg wurden vor allen Dingen im Deutschen Reich und in den USA wirtschaftliche
Interessen im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich prioritär behandelt. Keiner der
Staaten griff aus diesem Grund zugunsten der Armenier ein, auch wenn den Massakern in den
USA ein breites öffentliches Interesse zuteil wurde.
Während des Krieges war sowohl die Berichterstattung der Tagespresse als auch die politische
Reaktion der Verbündeten beschränkt auf die Durchsetzung kriegspolitischer Ziele. Der sich
hinziehende Krieg ließ das Bündnis mit der Türkei für das Deutsche Reich und ÖsterreichUngarn unabdingbar scheinen, die Wahrung des Bündnisses war von höherer Wichtigkeit als
weitergehende ethische oder auch politische Folgen.
In den USA war die Öffentlichkeit zwar weitgehend über die Vorgänge im Osmanischen Reich
informiert. Allerdings waren auch hier ethische und humanitäre Bedenken nicht ausschlaggebend für die Reaktion der Regierung. Strategische und wirtschaftliche Interessen, insbesondere
die langfristige Sicherung wirtschaftlicher Absatzmärkte und Rohstoffquellen bestimmten die
Haltung gegenüber der türkischen Regierung, und somit auch gegenüber den Armeniern.
5. DIE REZEPTION DES VÖLKERMORDES ZUM KRIEGSENDE UND IN
DER ZWISCHENKRIEGSZEIT
5.1. Das Deutsche Reich in der Weimarer Zeit
Die Thematisierung des Völkermordes war in den Nachkriegsjahren nahezu immer mit der Frage der deutschen Beteiligung verbunden. Die Schuldzuweisungen der Alliierten häuften sich,
wie auch während des Krieges befürchtet,259 im Vorfeld der Pariser Friedensverhandlungen –
der neuen Regierung lag viel daran, sich von jeglichem Vorwurf zu befreien.
Die größte Öffentlichkeitswirksamkeit hatte eine von Johannes Lepsius in Zusammenarbeit mit
dem Auswärtigen Amt herausgegebene Aktensammlung des Schriftverkehrs mit Diplomaten
des Deutschen Reiches in der Türkei.260 Über die genauen Hintergründe des Zustandekom-
257
Payaslian, United States Policy, S. 119.
Ebd., S. 119. Payaslian bezieht sich hier auf ein Schreiben Elkus‘ an Robert Lansing am 16. Februar und 2. März 1917.
259
Vgl. Anm. 144.
260
Lepsius, Johannes: Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Berlin 1919.
258
31
mens gibt es unterschiedliche Ansichten.261 Zweifellos ist jedoch die Intention erkennbar, die
deutsche Regierung bei ihren Bemühungen unterstützen zu wollen - einige Schriftstücke, die
ein ungünstiges Licht auf die Rolle der Deutschen hätten werfen können, wurden nicht in die
Sammlung aufgenommen.262 Lepsius konnte zudem seinen „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, der während des Krieges verboten worden war, erneut herausgeben.263 Ebenfalls Aufmerksamkeit erregte ein von dem Journalisten Armin T. Wegner verfasster
offener Brief an den amerikanischen Präsidenten.264 Wegner war während des Krieges als Sanitätsoffizier im Osmanischen Reich Augenzeuge der Geschehnisse geworden und appellierte
nun an Wilson, das Schicksal der Armenier während der Verhandlungen in Paris nicht zu vergessen:
Es würde einen nie wieder gutzumachenden Fehler bedeuten, wenn die armenischen Gebiete
Rußlands nicht für immer von diesem Reiche gelöst würden, um mit den armenischen
Provinzen Anatoliens und Kilikiens zu einem gemeinsamen Lande vereint zu werden, das von
265
jeder türkischen Herrschaft befreit, seinen Ausgang zum Meer hat.“
Auch er trat an dieser Stelle für seine Regierung ein: Sie habe „zu allen Zeiten in heftiger Leidenschaft gegen das Unfaßbare […] protestiert“, habe in Rücksicht auf das eigene Volk gehandelt und sei höchstens der Schwäche anzuklagen, wie alle Signatarmächte des Berliner Vertrages.266 Sein im März gehaltener Lichtbildvortrag, in dem er von ihm angefertigte Photographien
der Opfer vorführte, fand große Resonanz in der Tagespresse – hauptsächlich jedoch wegen
der im Laufe der Veranstaltung aufgeworfenen Frage der deutschen Mitschuld und der Auseinandersetzungen zwischen Türken und Armeniern während des Vortrages.267
Die deutsche Presse, die nun nicht mehr zensiert wurde, berichtete im Allgemeinen nicht sehr
ausführlich über den Völkermord.268 Die Deutsch-Armenische Gesellschaft versuchte in ihrer
„Deutsch-Armenischen Korrespondenz“ eine Erklärung hierfür zu finden: Die Rede ist von Papierknappheit und einer Fülle von Informationen durch aktuelle Ereignisse.269 Gleichzeitig wird
aber herausgestellt, dass dies keine Entschuldigung sei: Es sei eine „patriotische Pflicht“ das
deutsche Volk über die Geschehnisse im Osmanischen Reich aufzuklären. Der Eindruck der
Entente, dass das Deutsche Reich eine Mitschuld trage, habe nur entstehen können, weil das
Volk nicht informiert gewesen, und deswegen kein Widerspruch gegen die „türkischen Unmenschlichkeiten“ erfolgt sei. Ausgehend von der Tatsache, dass die Presse sich in einigen Fällen
nicht ganz unfreiwillig der Zensur unterworfen hat,270 ist ihre Zurückhaltung nicht verwunderlich:
Das Bewusstsein für die Massaker und Deportationen war bereits während des Krieges vorhanden, die Bewertung lag allerdings in der Hand derjenigen, die aus verschiedenen Gründen
seit Jahren Ressentiments gegen die Armenier hegten, oder ihr Schicksal schlichtweg den
261
Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 39 schreibt, das Lepsius vom Auswärtigen Amt beauftragt wurde. Feigel geht davon aus, dass die Initiative
von Lepsius kam und das AA auf seien Vorschlag einging. Feigel, Armenierhilfe, S. 276.
262
Wolfgang Gust hat diese Aktensammlung, ergänzt um die fehlenden Schriftstücke, neu herausgebracht, siehe Anm. 3. Diese sind auch im Internet
verfügbar unter www.armenocide.de.
263
Dies geschah unter neuem Titel: Der Todesgang des armenischen Volkes: Bericht über das Schicksal des armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges, Potsdam 1919.
264
Wegner, Armin T: Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des
armenischen Volkes in die Wüste, Berlin 1919. Der Brief wurde am 19. Februar 1919 im Berliner Tageblatt veröffentlich. Vgl. Schaefgen, Schwieriges
Erinnern, S. 38.
265
Wegner, Brief, S. 7.
266
Ebd. S. 6.
267
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 38. Der Lichtbildvortrag wird im Januar 2009 (Informationen der Verlags-Internetseite) zum ersten Mal
veröffentlicht. Im Vorfeld der Veröffentlichung findet bis zum 21. November 2008 eine Ausstellung in der Guardini-Galerie in Berlin statt.
268
Vgl. Gust, Verdrängung, S. 477; Feigel, Armenierhilfe, S. 275 ff.
269
Die deutsche Presse und Armenien, in: Deutsch-Armenische Korrespondenz (DAK) Nr. 7., 27. März, Berlin 1919, S. 3 (Gefunden in: Ohandjanian,
Faksimilesammlung, Band XI, Quelle 1823. Die DAK-Sammlung entstammt zu einem großen Teil dem Archiv der Mechitharisten, einem Orden armenisch-katholischer Mönche).
270
Vgl. Seite 19.
32
Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf die „Eroberung des Orients“ unterordneten. Diese Einstellung änderte sich nicht zum Ende des Krieges. Vereinzelt meldeten sich zudem immer wieder turkophile Stimmen zu Wort, die weiterhin die Ansicht vertraten, dass die Vorgehensweise
der Jungtürken richtig und notwendig gewesen sei.
Ein Ereignis jedoch erweckte das Interesse der deutschen und auch internationalen Öffentlichkeit: Der Mord an dem ehemaligen Innenminister Talat Pascha durch den Armenier Salomon
Teilirian am 15. März 1921 in Berlin. Teilirian, der während der Deportationen die Ermordung
seiner Familie miterleben musste,271 war Mitglied der sogenannten Nemesis-Gruppe, die die
Massaker an den Verantwortlichen rächen wollte.272 Im Prozess gegen Teilirian, der am 2. und
3. Juni stattfand, plädierten die Verteidiger zum einen auf die Unzurechnungsfähigkeit des Täters,273 zum anderen wurden während des Prozesses durch die Vernehmung von Zeugen –
beispielsweise in Berlin lebende Armenier, Johannes Lepsius und Otto Liman von Sanders –
die Gräuel, die der Angeklagte während der Deportationen erlebt hatte, offengelegt. Es gelang
ihnen, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass Talat einer der Hauptverantwortlichen für
den Völkermord gewesen war. Obwohl der zuständige Staatsanwalt darauf plädierte, nicht die
Taten der Osmanischen Regierung, sondern die Teilirians zu verurteilen,274 entschieden sich
die Geschworenen überraschend für einen Freispruch.275 Dieses Urteil rief geteilte Meinungen
in der Öffentlichkeit hervor: Armenophile Kreise, aber auch viele Sozialdemokraten äußerten
sich zufrieden darüber, dass Deutschland nun endlich dazu stehe, mit einem „Großkriegsverbrecher“276 verbündet gewesen zu sein. Im rechten politischen Spektrum wurde dagegen heftig
kritisiert, dass dieses Urteil einem Eingeständnis deutscher Schuld gleichkomme und ausschließlich der ausländischen Propaganda zu verdanken sei. Die Verteidiger Teilirians seien
„vaterlandslose Gesellen“.277
Rückblickend betrachtet stellte der Prozess einen Wendepunkt in der Rechtsgeschichte dar:
1980 schrieb der Jurist Robert Kempner in einem Aufsatz über den Teilirian-Prozess,278 dass
zum ersten Mal der Grundsatz befolgt worden sei, dass die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen
Staates darstelle, und somit durchaus von anderen Staaten juristisch verfolgt werden könne.279
In den folgenden Jahren verschwand die „armenische Frage“ nahezu völlig aus dem Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Auch in allgemeinen Darstellungen zur Geschichte, die in
den 20er Jahren verfasst wurden, finden sich keinerlei Erwähnungen der Morde von 1915 und
der folgenden Jahre.280 Feigel zeigt, dass die Hamidischen Massaker dagegen durchaus Erwähnung fanden, und erklärt dies damit, dass in der deutschen Öffentlichkeit noch immer „ein
Unbehagen über die Rolle“, die das Deutsche Reich 1915 gespielt hatte, herrschte.281 Jedoch
spielte nicht nur dieses Unbehagen eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass die „Armenierfrage“ des Ersten Weltkriegs für die Deutschen untrennbar mit den Schuldzuweisungen der
271
Hofmann, Tessa (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat Pascha, Göttingen 1980, S. 8.
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 42. Ausführlich hierzu: Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an
den Armeniern, Köln 2005.
273
Die medizinischen Sachverständigen hatten angeführt, dass nach den Schockerlebnissen während der Deportationen eine Art epileptische Erkrankung vorgelegen habe. Vgl. Prozess Talaat Pascha, Vorwort.
274
Zusammen mit dem Hinweis, dass das Osmanische Reich ein treuer Bundesgenosse gewesen sei. Prozess Talaat Pascha, S. 121.
275
Prozess Talaat Pascha, 127.
276
Vorwärts vom 4. Juni 1921. Zitiert n. Schaller, Rezeption, S. 535; Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 46.
277
Schaller, Rezeption, S. 535. Schaller zitiert hier unter anderem Das Deutsche Abendblatt Nr. 27 vom 3. Juni 1921.
278
Kempner, Robert: Vor sechzig Jahren vor einem deutschen Schwurgericht: Der Völkermord an den Armeniern, in: Recht und Politik, Heft 3 (1980).
Kempner war stellvertretender Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, und hatte als Jurastudent dem Teilirian-Prozess beigewohnt.
279
Vgl. Schaller, Rezeption, S. 537 f..
280
Vgl. Feigel, Armenierhilfe, S. 279. Feigel erwähnt hier die Werke von Heinrich Friedjung, Erich Brandenburg, Gustav Schmoller, Johannes Ziekusch
und Karl Helfferich.
281
Feigel, Armenierhilfe, S. 280.
272
33
Entente-Mächte verbunden war, und somit mit dem „Diktat von Versailles“. In der heutigen Forschung gibt es vereinzelte Ansätze, aus dieser größtenteils fehlenden kritischen Auseinandersetzung herzuleiten, dass der Völkermord an den Armeniern „fast ein Probefall für den Völkermord an den Juden“ war.282 Gust impliziert hiermit, dass die deutschen Vertreter im Osmanischen Reich sich nicht nur an der Durchführung beteiligten, sondern auch Ideengeber für die
Deportationen waren. Beides wurde, wie bereits erwähnt, durch die türkische Propaganda im
Verlauf des Krieges gezielt verbreitet, um sich eines Teils der eigenen Verantwortung entledigen zu können.283 Zudem kann eine „Vorbildfunktion“ der türkischen Massaker für den Nationalsozialismus nicht nachgewiesen werden. Zwar ist es mehr als wahrscheinlich, dass Hitler über
das Schicksal der Armenier bestens informiert war,284 seine einzige bekannte Äußerung hierzu
(„Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“), die zudem nicht belegt ist, bezog sich jedoch auf den bevorstehenden Krieg gegen Polen und nicht auf die „Lösung“ der „Judenfrage“.285
In der Zeit des Nationalsozialismus gab es erneut rassenideologische Bestrebungen, Armenier
und Juden zu vergleichen: Beide seien Nationen, die ihre „Wirtsvölker“ missbrauchten und deren Frieden störten, schrieb der Mediziner Martin Staemmler beispielsweise 1939.286 Um solchen Bestrebungen entgegenzuwirken gab die Deutsch-Armenische Gesellschaft unter anderem eine Schrift heraus, die auf fragwürdige Art und Weise die „rassische Minderwertigkeit“ der
Armenier widerlegen sollte.287 Darüber, wie weit diese Überzeugungen tatsächlich verbreitet
waren, lässt sich heute nichts sagen. Tatsache ist jedoch, dass im zweiten Weltkrieg einige Armenier sowohl Mitglieder der Wehrmacht als auch der Waffen-SS waren.288
5.2. Österreich
In der neu gegründeten Republik Österreich fand der Völkermord an den Armeniern in der Zwischenkriegszeit wenig bis gar keine Beachtung.289 Sie war ebenso wie die ehemaligen Verbündeten von großen Gebietsverlusten und Reparationszahlungen betroffen, die Hauptverantwortung für den Krieg und die Ereignisse während des Krieges wurde jedoch dem Deutschen Reich
auferlegt, somit auch die Schuldfrage in Bezug auf die Armenier.
Als Indikator für das geringe Interesse in Österreich kann die Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Mord an Talat Pascha und dem folgenden Prozess betrachtet werden. Am 16.
März, also am Folgetag, berichteten wenige Blätter über den Mord, auch waren die genauen
Hintergründe noch nicht bekannt.290 Eine Ausnahme bildete die deutschsprachige, in Budapest
erscheinende Pester Lloyd, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Information lieferte, dass Talat
Pascha für die Massaker an den Armeniern verantwortlich gewesen sei und dass es sich vermutlich um einen Racheakt gehandelt habe.291 Einen Tag später erfolgte in der Neuen Zeitung
282
Gust, Verdrängung, S. 478.
Vgl. Anm. 188. Gust geht zudem davon aus, dass die „Ideen von 1914“ zwangsläufig in den Nationalsozialismus, und damit über den Völkermord
an den Armeniern zum Holocaust führen mussten. Diese Ansicht krankt jedoch an der Einseitigkeit der rückblickenden Perspektive, die nun weiß,
wohin der Weg führte. Besonders der „Geist von 1914“ wurde in der Weimarer Republik von verschiedenen politischen Richtungen vereinnahmt und
unterlag erst später der alleinigen Deutungshoheit durch den Nationalsozialismus.
284
Max Erwin von Scheubner-Richter, der Vizekonsul in Erzurum gewesen war, gehörte zu den engen Mitarbeitern Hitlers. Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 50 f.
285
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 51.
286
Staemmler, Martin. Rassenpflege im völkischen Staat, München/Berlin 1939, S.54. Ausführlich hierzu: Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 49.
287
Deutsch-Armenische Gesellschaft Berlin (Hg.): Armeniertum, Ariertum, Potsdam 1934.
288
Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 50.
289
Auch hier soll darauf hingewiesen werden, dass es zu diesem Thema keine Forschungsliteratur gibt.
290
Neue Freie Presse vom 16. März 1921; Die Neue Zeitung vom 16. März 1921. Hier waren die Kurzmeldungen allerdings auf der Titelseite zu
finden. In anderen Blättern als den hier erwähnten konnten jedoch keine Meldungen gefunden werden.
291
Pester Lloyd vom 16. März 1921.
283
34
ein etwas ausführlicherer Hintergrundbericht: Der Hass der Armenier wurde hier als verständlich bezeichnet, Talat Pascha jedoch mit dem Verweis auf die von ihm geschriebenen Memoiren als unschuldig dargestellt.292 Auch in der Neuen Freien Presse waren die Ausführungen des
nächsten Tages sehr Talat-freundlich, einem Bericht über die Trauer der türkischen Kolonie in
Berlin und seiner Frau wurde viel Platz eingeräumt.293 Der Prozessausgang, der in Deutschland
viele und geteilte Reaktionen hervorgerufen hatte, fand bis auf wenige Kurzmeldungen keine
Beachtung.294
Vereinzelt gibt es Hinweise darauf, dass es auch in Österreich stellenweise gesellschaftliches
Engagement zugunsten der Armenier gab. Dies war vermutlich dem Wirkungskreis der
Deutsch-Armenischen Gesellschaft zu verdanken: Am 8. Januar 1919 berichtete die von ihr
herausgegebene „Deutsch-Armenischen Korrespondenz“ (DAK) von der Gründung einer Österreichisch-Armenischen Gesellschaft, die die gleichen Ziele verfolge wie die DeutschArmenische Gesellschaft.295 Wenige Monate später wurde in Wien ein armenischer Wohltätigkeitsverein gegründet.296 Die österreichische Regierung verhielt sich den armenischen Anliegen
gegenüber zumeist gleichgültig. Am 10. Oktober 1921 richtete der Vertreter der armenischen
Republik in Berlin, James Greenfield, an den österreichischen Außenminister die Bitte um die
Errichtung eines armenischen Konsulats in Wien.297 Der von ihm vorgeschlagene Johann Mikuli
wurde polizeilich überprüft, als „nicht vertrauenswürdig“ befunden und abgelehnt.298 Aus den
Unterlagen lässt sich über die Entwicklung der Sache nicht viel mehr entnehmen – es scheint
so, als sei sie verschleppt worden, bis sie sich durch die endgültige Einverleibung Armeniens
durch die Sowjetunion 1922 erledigt hatte.
1924 richtete das Österreichische Außenministerium eine Anfrage an das Bundeskanzleramt,
ob finanzielle Mittel zur Unterstützung eines Hilfskomitees für armenische Flüchtlinge bereitgestellt werden könnten – dies wurde kurz und knapp verneint.299 Auch 1927 war die Regierung
nicht bereit, ein von Fridtjof Nansen initiiertes Völkerbundprojekt mit zu finanzieren,300 bei dem
es um die Unterstützung der Ansiedlung von armenischen Flüchtlingen in Eriwan ging. Österreich lehnte die Beteiligung mit der Begründung ab, dass sich im eigenen Lande nur 250-270
Armenier befänden, die nicht unterstützt zu werden bräuchten und zudem nicht für die landwirtschaftliche Ansiedlung geeignet seien.301 Aufschlussreich ist eine Note der politischen Abteilung
an diesem Dokument: Ein politisches Interesse bestehe in sachlicher Hinsicht nicht, jedoch
würde man sich beteiligen, wenn auch alle anderen Staaten dies täten – von einem „internationalen Wohlfahrtswerke“ könne sich in einem solchen Fall nicht ferngehalten werden.302
292
Die Neue Zeitung vom 17. März.
Neue Freie Presse vom 17. März.
Neue Freie Presse vom 4. Juni, S. 1; Wiener Zeitung vom 4. Juni, S. 7.
295
Österreichisch-Armenische Gesellschaft, in: DAK Nr. 5, 8. Januar, Berlin 1919, S. 2 (Gefunden in: Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band XI,
Quelle 1819). Leider konnte über ein Wirken der Österreichisch-Armenischen Gesellschaft nichts gefunden werden.
296
Armenische Wohltätigkeitsvereine, in: DAK Nr. 7, 27. März, Berlin 1919, S. 9 (Gefunden in: Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band XI, Quelle
1823).
297
Ebd., Dokument [1898. NPA K 107] vom 14. Oktober 1921.
298
Ebd., Dokument [1901. NPA K 107] vom 14. November 1921. „[…] als Spieler und Rennplatzbesucher in weiten Kreisen bekannt […]“
299
Ohandjanian, Faksimilesammlung, Band XII, Dokument [1985.VR K 52] vom 23. Juli 1924. Leider geht aus diesem Dokument nicht hervor, wer den
Antrag an das Außenministerium gestellt hatte.
300
Ebd. Dokument [2035. VR K 52] vom 27. Dezember 1927.
301
Ebd.
302
Ebd. Note vom 23. November 1927.
293
294
35
5.3. Die USA
Das humanitäre Engagement zugunsten der Armenier von Seiten der USA nach Ende des
Krieges war sehr hoch. Neben bereits existierenden Hilfsnetzwerken303 entstand 1918 das
„American Committee for the independence of Armenia“ (ACIA), welches von dem ehemaligen
Botschafter im Deutschen Reich, James W. Gerard, gegründet und von zahlreichen prominenten Mitgliedern und Politikern aller Parteien unterstützt wurde.304 Das ACIA setzte sich für ein
unabhängiges Armenien ein, bestehend aus dem ehemaligen russischen Teil Armeniens, Türkisch-Armenien und Kilikien.305 In den folgenden Jahren stand in Bezug auf die Armenier vor
allen Dingen eine Frage im Mittelpunkt der Politik: Sollten die USA, im Rahmen des noch zu
gründenden Völkerbundes, ein Mandat für Armenien übernehmen, um es innen- und außenpolitisch zu stabilisieren?
Auch wenn die Armenier mit der ACIA eine prominente Interessenvertretung hatten, zeigte sich
schon bald, dass sie nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten. Dies hing zunächst mit der
Erkenntnis der Amerikaner zusammen, dass ein Eingreifen in die Geschicke Armeniens und der
armenischen Flüchtlinge nicht ohne immense Geldmittel und militärischen Einsatz möglich
war.306 Bereits hier spalteten sich die Lager, denn nach dem Krieg nahmen isolationistische
Strömungen erneut zu. Noch im Januar 1918 war Wilson mit seinem Friedenskonzept für Europa, dem sogenannten Vierzehn-Punkte-Programm, im Kongress größtenteils auf Zustimmung
gestoßen. Das Programm beinhaltete unter anderem die Autonomie der unter türkischer Herrschaft lebenden Völker307 und die Gründung einer nationsübergreifenden Gesellschaft zur Beilegung von Streitigkeiten, dem Völkerbund. Nach den Kongresswahlen im Herbst 1918 setzte
dieser sich jedoch mehrheitlich aus Republikanern zusammen, so dass die Rivalität zur demokratischen Wilson-Regierung stieg.308 In den eigenen Reihen verlor Wilson politischen Rückhalt,
als sich abzeichnete, dass er bei den Friedenskonferenzen 1919 in Paris seine Vorstellungen
nicht annähernd gegen die anderen Staatsoberhäupter würde durchsetzen können. Währenddessen litt die U.S.-Wirtschaft 1919 unter einer Rezession, da ein Großteil der kriegsbedingten
Aufträge Frankreichs und Großbritanniens nun wegfielen. Die Folge waren Preissteigerungen,
Streiks und Unruhen, weitere innenpolitische Opposition, sowohl von demokratischer als auch
republikanischer Seite.309 Als Wilson aus Paris zurückkehrte, war die Zustimmung zu einer Mitgliedschaft im Völkerbund und die Ratifizierung des Versailler Vertrages stark gefährdet.310 Die
Demokraten waren unzufrieden mit dem Vertrag, da er nicht den ursprünglichen Zielen entsprach. Die Republikaner, unter Anführung des Senators Henry Cabot Lodge, wandten sich
hauptsächlich gegen die Mitgliedschaft im Völkerbund, sie verfolgten weiter die isolationistische
Politik im Sinne der Monroe-Doktrin.311 Ein Mandat für Armenien war zu diesem Zeitpunkt je303
Vgl. Anm. 250.
Vgl. Ambrosius, Lloyd E.: Wilsonian diplomacy and Armenia: the limits of power and ideology, in: Winter, Jay (Hg.:, America and the Armenian
Genocide of 1915, Cambridge 2003, S. 113.
305
Vgl. Ambrosius, Wilsonian diplomacy, S. 124 f.; Payaslian, United States Policy, S. 154. Im Mai 1918 gründete sich die Demokratische Republik
Armenien, die in der Folge der russischen Revolution ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, allerdings noch nicht von den USA oder anderen Staaten
anerkannt worden war. Durch die fehlende bilaterale Einbindung wurde die außenpolitische Bedrohung durch die Truppen Mustafa Kemals noch
verschärft, der Staat war auf sich allein gestellt. Nachdem 1920 armenische Bolschewiki die Macht übernommen und die Armenische SSR ausgerufen
hatte, verlor der Staat 1922 endgültig seine bis dato formale Unabhängigkeit und ging in der neu gegründeten Sowjetunion auf.
306
Payaslian, United States Policy, S. 156 ff.
307
In einer Urfassung des Plans waren die Armenier sogar explizit erwähnt. Um die Ziele der USA jedoch möglichst flexibel zu halten, wurde die
Formulierung verallgemeinert. Vgl. John Milton Cooper, Jr.: A friend in power? Woodrow Wilson and Armenia, in: Winter, Jay (Hg.): America and the
Armenian Genocide of 1915, Cambridge 2003, S. 106.
308
Payaslian, United States Policy, S. 143.
309
Vgl. Schwabe, Klaus: Woodrow Wilson. Ein Staatsmann zwischen Puritanertum und Liberalismus, Göttingen 1971, S. 97.
310
Völkerbund und Versailler Vertrag waren im Gesamt-Vertragswerk kombiniert, d.h. beides konnte nur zusammen abgelehnt oder angenommen
werden. Vgl. Schwabe, Wilson, S. 99.
311
Payaslian, United States Policy, S. 191; Schwabe, Wilson, S. 98.
304
36
doch untrennbar mit einer Völkerbunds-Mitgliedschaft verbunden. Auch zwei von Wilson eingesetzte Kommissionen konnten an der innenpolitischen Situation nichts mehr zu Gunsten der
Armenier ändern. Bereits im Sommer hatte er zwei Vertraute, Henry Churchill King und Charles
R. Crane (King-Crane Kommission) in das ehemalige Osmanische Reich gesandt, um die dortige Situation genau einschätzen zu können.312 Ähnlich wie auch eine wenige Wochen später
unter der Führung von James G. Harbord speziell nach Armenien gesandte Kommission, kamen King und Crane zu dem Ergebnis, dass es ein unabhängiges Armenien geben müsse und
dass die Armenier vor den Türken geschützt werden müssten. Harbord legte eine Liste mit 14
Argumenten für eine Mandatsübernahme und 13 Argumenten dagegen vor. Die Pro-Argumente
betonten allesamt den humanitären Aspekt, die Contra-Argumente die finanziellen Nachteile
und internationalen Verwicklungen, denen die USA bei einer Übernahme des Mandats entgegengesehen hätte.313 Am 19. November 1919 wurde der Versailler Vertrag und die Mitgliedschaft im Völkerbund vom Senat zurückgewiesen, im Dezember 1919 zogen sich sie USA offiziell aus den Friedensverhandlungen zurück.314 Im Mai 1920 unternahm Wilson einen letzten
Versuch, den Senat zu einem Mandat für Armenien zu bewegen – dieser lehnte jedoch ab.315
Auch in der Nachkriegspresse wurde dem armenischen Schicksal großer Raum zugestanden,
besondere Berücksichtigung fand hier ebenfalls die Diskussion um die Mandatsübernahme. Der
Überzeugung, dass die USA ein Mandat für Armenien übernehmen sollten,316 entgegnet ein
Redakteur der New York Times in einem Editorial mit dem Titel „Why Armenia must be free“,
weder Amerika noch eine andere Macht solle ein Mandat für Armenien oder die Türkei übernehmen.317 Der Pan-Turanismus habe nur im Zusammenhang mit den Deutschen eine Gefahr
dargestellt, jetzt sei er zwar immer noch eine Gefahr, aber eine kalkulierbare. Der Autor des
Artikels war der Ansicht, dass ein Großteil der öffentlichen Meinung dieser Ansicht sei. Viel Beachtung wurde auch den Istanbuler Prozessen geschenkt, wobei hier die Ansicht geäußert wurde, dass man der Gerechtigkeit türkischer Richter nicht trauen könne.318 Armenische Organisationen wie die „American National Union of America“ und das ANCA kamen regelmäßig zu
Wort, oft mit direkten Bitten an den U.S.-Präsidenten, im Sinne Armeniens zu handeln. Zusammen mit dem armenischen Erzbischof von Smyrna baten sie beispielsweise Wilsons Nachfolger
Warren G. Harding, die Franzosen davon abzubringen ihre Truppen aus der Türkei abzuziehen.319 Auch der Mord an Talat Pascha und der nachfolgende Prozess gegen Teilirian wurde
ausführlich dokumentiert und kommentiert.320 Meist wurde Verständnis für den Mord aufgebracht, oft auch mehr oder weniger direkt Zustimmung geäußert.321 Kurz darauf ließ jedoch die
öffentliche Beschäftigung mit den Massakern zum Ende des 19. Jahrhunderts und dem Völkermord während des Ersten Weltkrieges nach. Die USA hatten sich, zumindest politisch, vom
europäischen Geschehen zurückgezogen. Die Republik Armenien war Teil der Sowjetunion
geworden, die türkischen Nationalisten unter Kemal hatten alle im Vertrag von Sèvres vorgese-
312
Ebd., S. 160.
Ebd., S. 166 f.
Ebd., S. 167.
315
Cooper, John Milton, jr.: A friend in power? Woodrow Wilson and Armenia, in: Winter, Jay (Hg.), America and the Armenian Genocide of 1915,
Cambridge 2003, S. 110.
316
Beispielsweise von Morgenthau vertreten in einem Artikel der New York Times vom 9. November 1919.
317
New York Times vom 23. Dezember 1919.
318
So die ANCA in einem Artikel in der New York Times am 30. Dezember 1918.
319
New York Times vom 23. Dezember 1921.
320
Beispielsweise die Los Angeles Times vom 4. Juni 1921 unter dem Titel „Vengeance Justified“
321
New York Times vom 27. Juli 1922: „One after another“. Wenige Tage zuvor wurde Djemal Pascha in Georgien durch ein Mitglied der „NemesisGruppe“ getötet.
313
314
37
henen Gebietsveränderungen322 zu ihren Gunsten verändern können und mit dem Vertrag von
Lausanne internationale Anerkennung erreicht.
5.4. Zwischenresümee
Nach dem Krieg wurde die Rezeption des Völkermordes sowohl bei den ehemaligen Verbündeten als auch in den USA von der politischen Situation bestimmt.
In Deutschland fand die politische Auseinandersetzung immer im Zusammenhang mit der Debatte um eine deutsche Mitschuld statt. Eine davon absehende, die armenischen Interessen
berücksichtigende Haltung war angesichts der für das Deutsche Reich katastrophalen Niederlage nicht von Intersse. Österreich befand sich in einer ähnlichen Lage, die „armenische Frage“
war zu weit entfernt von der Tagespolitik. Auch die USA nahmen keine offizielle Haltung ein.
Den Versuchen einzelner prominenter Regierungsmitglieder, politische Konsequenzen aus dem
Völkermord zu ziehen, stand eine innenpolitische Opposition gegenüber. Isolationistische Politik, und gleichzeitig weiter bestehende wirtschaftliche Interessen im Nahen Osten und der Türkei verhinderten eine offizielle Stellungnahme der amerikanischen Regierung. Daran konnte
auch die breite öffentliche Wahrnehmung und armenophile Haltung nichts ändern.
6. AUSBLICK: DIE ANERKENNUNG DES VÖLKERMORDES BIS IN DIE
GEGENWART
Bis in die 60er Jahre hinein waren die Armenier nahezu völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Erst am 24. April 1965, mit dem fünfzigsten Jahrestag des Völkermords,323
begann die armenische Diaspora in verschiedenen Ländern öffentlich aufzutreten.324 Seit Mitte
der 70er Jahre fand das Schicksal der Armenier durch die Terroranschläge der ASALA325 erneut Beachtung. Auch wenn die Anschläge verurteilt wurden,326 führten sie zu einer verstärkten
Auseinandersetzung mit den Armeniern in Presse, Wissenschaft und internationalen Gremien.
Die erste Anerkennung der Verbrechen als Völkermord wurde 1985 durch die Vereinten Nationen ausgesprochen. Der „Unterausschuss zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz
von Minderheiten der UN-Menschenrechtskommission“ verabschiedete einen Bericht über Völkermordverbrechen, in dem trotz der Proteste von türkischer Seite der Genozid von 1915
enthalten war.327 Am 18. Juni 1987 wurden die Ereignisse von 1915-1917 durch das Europaparlament eindeutig als Völkermordverbrechen im Sinne der UN-Konvention von 1948 eingestuft.
Gleichzeitig wurde die Anerkennung durch die Türkei als Voraussetzung für die Aufnahme in
die Europäische Gemeinschaft postuliert.328 Letzteres wurde in Sitzungen am 15. November
2000 und 28. Februar 2002 bestätigt.329 Von 1965 bis 2002 bewerteten 14 Staaten in Resolutionen, Beschlüssen und Gesetzen den Vernichtungsplan der Jungtürken als Völkermord.330
322
Unter anderem die Unabhängigkeit der armenischen Provinzen im ehemaligen Osmanischen Reich.
Der 24. April ist bis heute der Gedenktag der Armenier. Er gilt als Initialdatum des Völkermordes, da an diesem Tag die intellektuelle Elite Istanbuls
verhaftet wurde. Vgl. S. 17.
324
Schaefgen, Annette: Vergessen, verschwiegen, verleugnet. Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland, den USA, Israel
und der Türkei, in: Wojak, Irmtrud/Meinl Susanne (Hg.) (Fritz-Bauer-Institut), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2004, S. 136.
325
Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia.
326
„Terror gegen die Türken“ in: Die Zeit vom 7. Dezember 1984.
327
Gesellschaft für bedrohte Völker (Hg.): Ein Zeichen der Gerechtigkeit für die vergessenen Opfer von 1915. Für eine Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Dokumentation, Bern 2002, S. 18.
328
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C190 vom 20. Juli 1987.
329
Gesellschaft für bedrohte Völker, Dokumentation, S. 18.
330
Ebd.
323
38
6.1. Deutschland
War am Ende des 19. Jahrhunderts und während des Ersten Weltkrieges das Schicksal der
Armenier in der deutschen Öffentlichkeit weitestgehend bekannt, ist heute genau das Gegenteil
der Fall. Der Grund dafür findet sich vor allen Dingen in der Tatsache, dass die in der Bundesrepublik lebende relativ kleine Gruppe von ungefähr 40.000 Armeniern331 nur ein geringes politisches Gewicht besitzt, und zudem in der Vergangenheit kaum durch öffentlichkeitswirksame
Initiativen aufgefallen ist.
In der Presse wurde der Völkermord an den Armeniern lange Zeit nicht thematisiert, erst seit
Mitte der 80er lassen sich vereinzelt Hintergrundberichte finden, seit der Jahrtausendwende
häufiger. Die Berichterstattung fand und findet meist im Zusammenhang mit in anderen Parlamenten verabschiedeten Resolutionen zum Völkermord, dem Berg-Karabach Konflikt oder dem
geplanten EU-Beitritt der Türkei statt.332 Auch die deutsche Rolle während des Krieges wird
dabei immer häufiger thematisiert.333
Im Jahr 2000 erfolgte der erste Vorstoß einer Anerkennung im Deutschen Bundestag. Unter
dem Titel „Es ist Zeit: Völkermord verurteilen“ reichte der Zentralrat der Armenier eine Resolution mit 16.000 Unterschriften ein, die von den Abgeordneten forderte, den Völkermord anzuerkennen und auch auf die türkische Regierung Einfluss zu nehmen.334 Der Petitionsausschuss
leitete die Resolution weiter an das Auswärtige Amt, welches die Empfehlung aussprach, diese
nicht zu verabschieden. Am 10. Oktober 2001 erklärte der Petitionsausschuss das Verfahren
mit der Begründung für beendet, „dass auf der Ebene der Nichtregierungsorganisationen erste
Ansätze zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit unternommen werden.“335 Damit
war die sogenannte Türkisch-Armenische Versöhnungskommission (TARC)336 gemeint, die laut
der im Jahr 2002 erfolgten „Kleinen Anfrage“ der PDS unter anderem aus „sechs offiziell pensionierten [türkischen] Berufsdiplomaten“ bestand und „bei verschiedenen Anlässen zu verstehen gaben, dass ihr Interesse in der Verhinderung weiterer Erörterungen des Genozidvorwurfs
durch ausländische Gesetzgeber“ lag.337 Mit der erneuten Anfrage der PDS konfrontiert, wich
die Bundesregierung aus und antwortete lediglich, dass ihr nicht bekannt sei, dass eines der
Kommissionsmitglieder Teil einer offiziellen Regierungsdelegation gewesen sei.338
Im Jahr 2005 erfolgte eine erneute Auseinandersetzung mit der „armenischen Frage“ im Bundestag: Die CDU/CSU Bundestagsfraktion brachte einen Antrag „zum Gedenken anlässlich
des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24.
April 1915“ ein, über den am 21. April diskutiert wurde. Der zunächst vielversprechend klingende Vorstoß, so fand auch die Rolle der Reichsregierung in der Diskussion Berücksichtigung,
endete im Juni in einer Resolution, die von „organisierter Vertreibung und Vernichtung“ sprach,
nicht aber von Völkermord.339 Trotz aller offensichtlichen Rücksichtnahme auf die türkische Re-
331
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 131; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. November 2007. Ein großer Teil von Ihnen kam nicht in
direkter Folge des Völkermords in die Bundesrepublik, sondern im Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung in den 60er Jahren.
Vgl. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 88 ff.
333
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. November 2007.
334
Ebd. S. 123.
335
„Kleine Anfrage“ der Abgeordneten Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Dr. Winried Wolf und der Fraktion der PDS vom 12. August 2002. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9587.
336
Die TARC bestand aus sechs türkischen und vier armenischen Mitgliedern und hatte es sich zum Ziel gesetzt, „das gegenseitige Verständnis
zwischen Armenien und der Türkei zu fördern“. In der Frage des Völkermords konnte keine Einigung erzielt werden, die Kommission löste sich bald
auf. Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 125 ff.
337
„Kleine Anfrage“, Drucksache 14/9587.
338
Antwort der Bundesregierung vom 3. September 2003, Drucksache 14/9921.
339
Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 146.
332
39
gierung reagierte diese aufgebracht.340 In Berlin demonstrierten 2500 türkischstämmige Menschen „gegen die Stigmatisierung des türkischen Volkes.“341 Um weitere derartige Reaktionen
zu vermeiden, reagieren deutsche Politiker meist zurückhaltend, wenn es um eine Stellungnahme geht: Das Argument, die Behandlung des Völkermords sei nicht Sache von Politikern,
sondern die von Historikern, wird hierbei häufig bemüht.
Auch wenn dies nur ein kurzer Einblick in die Anerkennung und Aufarbeitung des armenischen
Völkermordes in der Bundesrepublik ist, wird doch eines klar: Trotz kleinerer Fortschritte ist
nicht zu verleugnen, dass die Erinnerung an den Völkermord der Realpolitik geopfert wird. Nun
sind es nicht mehr bündnisstrategische Überlegungen wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs
oder der „Traum vom Orient“, sondern hauptsächlich langjährige freundschaftliche Beziehungen
zur türkischen Regierung und handelspolitische Interessen. Ein weiterer, wichtiger Faktor ist die
in Deutschland lebende, ungefähr 2 Millionen Menschen umfassende türkische Minderheit, die
im Gegensatz zu den Armeniern ein politisches Gewicht hat.
6.2. Österreich
Bis heute hat sich in der Wahrnehmung und Anerkennung des armenischen Völkermords in
Österreich nicht viel geändert. Zwar wird auch in der österreichischen Presse häufig über die
Entwicklung der Anerkennung in anderen Staaten berichtet, dies geschieht jedoch nur im Umfang der normalen Berichterstattung. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während des Ersten Weltkrieges und der eigenen Rolle als damalige Verbündete
scheint nicht stattzufinden. Dieser Eindruck, der sich aus einer Beobachtung der Presse ergibt,
deckt sich mit den Alltagserfahrungen der Mitglieder der armenischen Gemeinde in Wien. Haig
Asenbauer, der Vorsitzende der Armenisch-Apostolischen Kirchengemeinde Österreich, berichtete in einem Gespräch davon, dass die Beachtung durch die österreichische Gesellschaft sehr
gering sei.342 Bei Gedenktagen würden regelmäßig Einladungen an Pressevertreter versandt,
die jedoch nur dann erschienen, wenn sie vorher telefonisch erinnert würden. Nur bei Anwesenheit öffentlich bekannter Personen und Politiker sei das Interesse größer. Der Grund hierfür
liegt wie in Deutschland in der geringen Größe der Gemeinde: Insgesamt leben in Österreich
nur ungefähr 5000 Armenier, ein Großteil davon in Wien.343
In der österreichischen Politik gab es bisher zwei Vorstöße einer Anerkennung des Völkermords. Im Jahr 2000 reichten die Grünen mit Unterstützung der SPÖ einen Antrag auf Anerkennung des Völkermords im Nationalrat ein, scheiterten jedoch am Widerstand der damaligen
Regierungsparteien ÖVP und FPÖ.344 Laut ÖVP sei ein Anerkennung des Völkermords durch
den Nationalrat juristisch nicht möglich, seine Aufgabe sei es, sich mit der Zukunft zu befassen
und nicht mit der Vergangenheit.345 2005 zeichnete sich jedoch ab, dass die FPÖ ihre Meinung
geändert hatte, um die „drohenden Beitrittsverhandlungen“ mit der Türkei abzuwehren.346 Die
Grünen wehrten sich daraufhin gegen das Vorhaben, die Armenier als politisches Mittel gegen
die Türkei einzusetzen. Am 17. Oktober 2007 stellte der Fraktionsvorsitzende der FPÖ, Heinz340
Süddeutsche Zeitung vom 18. Juni 2005: „Türkei: Armenier-Resolution falsch und hässlich. Erdogan wirft Kanzler Schröder vor, kein Rückgrat zu
haben/Bundesregierung: Reaktion ist unverständlich“
341
Schaefgen, Schwieriges Erinnern, S. 146.; Die Austria Presse Agentur (APA) meldete am 19. Juni 2005: „Türken demonstrieren in Berlin gegen
Deutschlands Armenien-Resolution“
342
Interview mit Haig Asenbauer, dem Vorsitzenden der Armenisch-Apostolischen Kirchengemeinde Österreich, am 15. Juli 2008.
343
Zahlen nach Asenbauer.
344
Beitrag des Österreichischen Rundfunks vom 16.4.2005, abrufbar unter: http://oe1.orf.at/inforadio/50093.html
345
Ebd.
346
Ebd.
40
Christian Strache, einen Entschließungsantrag an den Nationalrat, den Völkermord anzuerkennen und die Türkei ebenfalls dazu aufzufordern.347 Angesichts der politischen Gesinnung Straches ist auch dies als ein populistisches Mittel gegen den EU-Beitritt der Türkei zu werten. Der
Antrag wurde an den Außenpolitischen Ausschuss verwiesen, die Vorberatungen dazu wurden
noch nicht aufgenommen. Ein Ergebnis bleibt abzuwarten.
6.3. Die USA
In der Öffentlichkeitswahrnehmung nimmt der Völkermord an den Armeniern in den USA noch
immer einen wichtigen Stellenwert ein – nicht zuletzt durch die Bemühungen der armenischen
Gemeinde, die mit einer halben Million Mitglieder die größte Gemeinde außerhalb Armeniens
darstellt.348 Besonders in Kalifornien, wo noch immer ein Großteil der armenisch-stämmigen
Amerikaner lebt, hat die Auseinandersetzung mit dem Völkermord gewissermaßen Tradition:
bereits am 16. April 1968 erklärte die State Assembly in Sacramento den 24. April zum „Armenian Martyrs‘ Day“.349 1975 wurde der 24. April auf nationaler Ebene durch das Repräsentantenhaus zum „National Day of Remembrance of Man's Inhumanity to Man“ ernannt. In den folgenden Jahren erfolgten auf Länderebene einige Vorstöße den Völkermord anzuerkennen. Zudem gab es zahlreiche Äußerungen von Politikern, in denen die Faktizität der Geschehnisse als
selbstverständlich angesehen wurde.350 Allerdings ist es auch in den USA auf der höchsten politischen Ebene nicht selbstverständlich, von „Völkermord“ oder „Genozid“ im Zusammenhang
mit den Armeniern zu sprechen. Dies ist gut nachzuvollziehen an den alljährlichen Reden oder
Erklärungen der U.S.-Präsidenten zum Jahrestag des Genozids. Bis auf Ronald Reagan, der
1981 den als solchen Genozid benannte,351 sprachen ausnahmslos alle Präsidenten von „Massakern“, „Exil“, „Auslöschung“ und „tragischen Ereignissen“.352 Besonders in den Reden George W. Bushs‘ ist die Tendenz unverkennbar, den Blick auf aktuelle Ereignisse wie den BergKarabach Konflikt zu richten und sich eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien
und der Türkei zu wünschen. Eine mögliche Anerkennung des Völkermords wird dabei nicht
thematisiert oder vorausgesetzt. Auch im Jahr 2000, als im Repräsentantenhaus eine Resolution zur offiziellen Anerkennung des Genozids durch die USA erfolgen sollte, war dies von Seiten
des Präsidenten nicht erwünscht. Als die Türkei damit drohte, den Flugstützpunkt Đncirlik für die
Air Force zu sperren, übte Bill Clinton Druck auf die Kammer aus, so dass der Beschluss wenige Stunden vor der Abstimmung zurückgezogen wurde.353 Dieses Verhalten der Regierung ist
mit der bündnisstrategischen Bedeutung der Türkei seit dem Kalten Krieg zu erklären.354 Nach
den Anschlägen vom 11. September 2001 hat dieses Bündnis sogar an Bedeutung gewonnen,
so dass eine weitere Resolution, die 2007 im Repräsentantenhaus verabschiedet werden sollte,
auf Druck der Türkei erneut zurückgezogen wurde.355
347
Entschließungsantrag des Abgeordneten Strache und weiterer Abgeordneter betreffend Verurteilung des türkischen Völkermordes an den Armeniern durch die Bundesregierung vom 17. Oktober 2007, 429/A(E) XXIII. GP.
348
Schaefgen, Rezeption, S. 139.
349
Adalian, Rouben Paul: La reconnaissance du genocide des Arméniens aux Etats-Unis, in: Revue d’histoire de la Shoah, Nr. 177/178 (JanuarAugust 2003), S. 436.
350
Ebd., S. 436 ff. Adalian bietet hier eine detaillierte Auflistung.
351
Reagan war von 1967 bis 1975 Gouverneur in Kalifornien, er könnte also aus diesem Grund ein besonderes Verhältnis zu den Anliegen der Armenier gehabt haben.
352
Die Reden der Präsidenten zu diesem Anlass sind im Internet veröffentlicht: http://www.armenian-genocide.org (Internetseite des Armenian National Institute in Washington).
353
Vgl. Auron, Yair: The banality of denial : Israel and the Armenian genocide, New Brunswick, NJ, 2003, S. 112.
354
Schaefgen, Rezeption, S. 138.
355
Spiegel online vom 12. Oktober 2007: „Genozid-Resolution. Völkermord beschädigt Völkerfreundschaft“
41
6.4. Schlussbetrachtungen
Die vorangegangene Darstellung zeigt, dass die Rezeption des Völkermords an den Armeniern
in den untersuchten Ländern zu allen Zeiten maßgeblich beeinflusst wurde von den jeweiligen
politischen Umständen. Dabei zeigt sich eine Kontinuität hinsichtlich der Unterordnung der „armenischen Frage“ unter wirtschaftliche und politische Interessen seit den Hamidischen Massakern. Besonders ein Vergleich der Rezeption während des Ersten Weltkriegs zeigt, dass trotz
der verschiedenen Interessen und Intentionen, die die Verbündeten und die USA jeweils für
sich vertraten, das Ergebnis für die Armenier dasselbe war: Es wurde nicht zu ihren Gunsten
eingegriffen.
Das Wissen um den Völkermord war zu allen Zeiten in den jeweiligen Bevölkerungen und Regierungen vorhanden, die historische Tatsache wurde selten bestritten. Offizielle und inoffizielle
Äußerungen belegen dies. Das Fehlen einer Anerkennung bis heute ist also nicht das Ergebnis
einer Politik gegenüber den Armeniern, sondern gegenüber der Türkei. Solange diese ihre
leugnende Haltung nicht aufgibt, wird auch in anderen Staaten das Andenken an den Genozid
niemals einen selbstverständlichen Platz im öffentlichen Raum einnehmen. Wie die Erfahrung
jedoch zeigt, erfolgt in der Türkei jedoch nur dann eine zaghafte Diskussion, wenn die Äußerungen ausländischer Parlamente im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stehen. Im Moment scheint
dieses Problem nicht lösbar zu sein. Es bleibt die Hoffnung auf eine langsame Annäherung.
7. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
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Quellen
Geiss, Imanuel (Hg.): Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien, Boppard am
Rhein 1978
Gust, Wolfgang (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem
Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005
Kirakossian, Arman D. (Hg.): The Armenian massacres, 1894 - 1896: U.S. Media Testimony,
Detroit 2004 (enthält eine Auflistung von Zeitungsartikeln)
Lepsius, Johannes: Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Berlin 1919.
Ohandjanian, Artem (Hg.): Österreich-Armenien 1872-1936. Faksimilesammlung diplomatischer
Aktenstücke, Wien 1995, Band 1-12.
Hofmann, Tessa (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat
Pascha, Göttingen 1980
Entschließungsantrag des Abgeordneten Strache und weiterer Abgeordneter betreffend
Verurteilung des türkischen Völkermordes an den Armeniern durch die Bundesregierung vom
17. Oktober 2007, 429/A(E) XXIII. GP.
Monographien
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Auron, Yair: The banality of denial : Israel and the Armenian genocide, New Brunswick, NJ,
2003
Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische
Nationalbewegung, Hamburg 1996
Barth, Hans: Türke, wehre Dich! Leipzig 1898, 2. Auflage
Baum, Wilhelm: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten, Klagenfurt/Wien 2005
Dr. h.c. Dir: Die armenische Frage, in: Veröffentlichungen der Münchener Handelshochschule,
Balkanhefte, 1913
42
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Feigel, Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher
evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen
Beziehungen, Göttingen 1989
Fischer, Heinz Dietrich: Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin
1973.
Fischer, Robert-Tarek: Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918, Wien/Köln/Weimar 2006
Greene, Frederick Davis: The Armenian Crisis in Turkey. The Massacre of 1894, its antecedents and significance, New York/London 1895
Hoffmann, Tessa: Armenier in Berlin - Berlin und Armenien, Berlin 2005, (Herausgegeben vom
Beauftragten des Senats für Integration und Migration)
Hoffmann, Tessa: Die Armenier: Schicksal, Kultur, Geschichte, Nürnberg 1993
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Türkei:
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