Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts G er ha rd W ol f Id eo lo gi e un d H er rs ch af ts ra ti on al it ät Na tio na lso zi al is tis ch e Ge rm an is ie ru ng spo lit ik in Po le n Hamburger Institut für Sozialforschung Edition Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe. Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt. Gerhard Wolf Ideologie und Herrschaftsrationalität Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen Hamburger Edition Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Mittelweg 36 20148 Hamburg www.Hamburger-Edition.de © E-Book 2012 by Hamburger Edition E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-86854-536-4 © der Printausgabe 2012 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-245-5 Redaktion: Sigrid Weber Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Karte: Peter Palm, Berlin Satz aus der Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde Für meine Eltern Inhalt Einleitung Forschungsliteratur Quellen 9 22 33 »Deutscher Drang nach Polen« 35 Antipolnische Germanisierungspolitik: auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat Deutsche Minderheiten in Polen als Komplizen und Instrument deutscher Aggression Revisionismus in der Weimarer Republik Verkehrte Verhältnisse: Ausgleich mit Polen als Voraussetzung nationalsozialistischer »Lebensraum«-Politik Entscheidung zum Krieg Krieg: Projektion der »Lebensraum«-Dystopien auf Polen Genese der »Lebensraum«-Politik im Krieg Perpetuierung der Gewalt: Einrichtung der deutschen Besatzungsherrschaft Neue Grenzen Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Einrichtung der Zivilverwaltungen Herrschaftssicherung: Bevölkerungspolitische Stabilisierung des deutschen Besatzungsregimes Vertreibung und Ermordung potentieller Gegner Die Nisko-Aktion: gescheiterter Auftakt Modell Gotenhafen: Etablierung eines Umsiedlungskreislaufs Durchgriff des Reichssicherheitshauptamtes Erster Nahplan: Deportation der polnischen Elite Einbindung der zuverlässigen »deutschen Volkszugehörigen« Initiativen in den einzelnen Provinzen Einführung der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Reichsinnenministerium 35 53 53 65 72 75 76 91 93 97 102 107 107 108 120 129 148 165 165 176 »Lebensraum«: Bevölkerungspolitik im Spannungsfeld von rassischer Hybris und Herrschaftsrationalität 191 Herrschaftsfunktionale Dilemmata rassischer Deportationspolitik 191 Zwischenplan: Abschiebung von Juden oder Ansiedlung ethnischer Deutscher? Zweiter Nahplan: rassische Angstphantasien und Arbeitskräftemangel Kompromissversuch: rassische Musterung von (Zwangs-) Arbeitern Madagaskar-Plan: dystopische Fluchten Ausweitung der Deportationen im zweiten Nahplan Dritter Nahplan: vom Kriegsverlauf überrollt »Rasse« oder »Volk«? Konkurrierende Entwürfe für eine »deutsche Volksgemeinschaft« Provinzielle Alleingänge SS kontra Reichsinnenministerium Die Macht der Gauleiter Arbeitseinsatz: Bevölkerungspolitik als Ausbeutungs- und Assimilationspolitik Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich Scheitern der rassischen Musterungen Dritter Nahplan, zweiter Teil: Kompromissversuche Erweiterter dritter Nahplan: endgültiger Kollaps des Umsiedlungskreislaufs Auflösung der Umwandererzentralstellen Assimilation Einführung der Deutschen Volksliste in allen annektierten Gebieten Westpolens Beschleunigung und Vereinfachung des Selektionsverfahrens Endgültige Marginalisierung der rassischen Musterungen Einstellung der Erfassungen 192 204 218 228 236 256 266 266 288 322 343 343 344 348 360 371 376 377 405 421 453 Fazit 467 Danksagung 489 Quellen- und Literaturverzeichnis Archive Quelleneditionen, Dokumentationen Zeitgenössische Literatur (bis 1945) Darstellungen 492 492 495 496 498 Personenregister 524 Einleitung »Unter den für die Aufnahme in die Abt. 3 der Deutschen Volksliste vorgesehen Personen befinden sich solche, die in rassischer Hinsicht ungeeignet sind, in die deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen zu werden. Ein Zustrom blutmässig unerwünschter Elemente in den deutschen Volkskörper muss aber unbedingt unterbunden werden.«1 So Heinrich Himmler am 30. September 1941 bei einem Versuch, die Selektion der einheimischen Bevölkerung im besetzten Westpolen unter seine Kontrolle zu bringen. Die sogenannten eingegliederten Ostgebiete waren zu diesem Zeitpunkt längst zu einem Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten deutschen Dienststellen geworden. Im Krieg gegen Polen besetzt und bereits im Oktober 1939 an das Deutsche Reich angeschlossen, mutierte dieses Territorium zu einem »Exerzierplatz« nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik: Hier wurde die Bevölkerung systematisch selektiert, hier lag der Schwerpunkt nationalsozialistischer Deportationspolitik, und hier wurden auch die ersten Schritte auf dem Weg in den Massenmord an politischen Gegnern, Insassen von Heilanstalten und später der jüdischen Bevölkerung gegangen.2 Die Erklärungsstränge für diese Gewaltexplosionen kreuzen sich in zwei für den Nationalsozialismus zentralen Begriffen: »Volksgemeinschaft« und »Lebensraum«. Obwohl Polen nicht der erste östliche Nachbar war, der der Aggressionspolitik des Deutschen Reiches zum Opfer fiel, und auch nicht dessen primäres Zielobjekt, so war es doch dieses Land, genauer: die westlichen Landstriche, die zuerst germanisiert werden sollten und auf die die Nationalsozialisten ihre fürchterliche Vision, Anordnung 50/I Himmlers als RKF, 30. September 1941, APP 406/1114, Bl. 5–6, abgedruckt in Pospieszalski: Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 144f. 2 Diese Bezeichnung ist etwa für das Wartheland bereits während des Krieges benutzt worden, um die Pionierrolle dieses Gebiets herauszustellen. Siehe Alberti, »Exerzierplatz des Nationalsozialismus«; Röhr, »›Reichsgau Wartheland‹ 1939–1945«; Hansen, »Damit wurde das Warthegau«. 1 9 ihre Dystopie vom »deutschen Lebensraum im Osten«, zuerst projizierten. Der nationalsozialistische Anspruch, die annektierten Gebiete zu germanisieren, umfasste freilich ein weites Tätigkeitsfeld, das vom Raub polnischen Eigentums3 über Versuche, das einheimische Bildungssystem durch ein deutsches zu ersetzen4 oder den Städten ein »deutsches Gepräge« zu geben,5 bis zur Landschaftsgestaltung reichte.6 Im Zentrum aller Bestrebungen stand jedoch die Germanisierung der Bevölkerung. Im Kern bedeutete dies die Selektion der einheimischen Bevölkerung in »Fremdvölkische«, die zu vertreiben oder aber zu ermorden waren, und in »Deutsche«, die – zusammen mit den hierher umgesiedelten Volksdeutschen aus Osteuropa und Umsiedlern aus dem Deutschen Reich – den Kern der hier durchzusetzenden »Volksgemeinschaft« bilden sollten. Angesichts der Bedeutung, die diesem Komplex in der nationalsozialistischen Ideologie und in der Begründung des Krieges zukam, hätte es nicht erstaunt, wäre dieses Gebiet unmittelbar nach seiner Annexion einer von langer Hand vorbereiteten, kohärenten und systematischen Germanisierungspolitik unterworfen worden.7 Schließlich hatte Hitler bereits 1922 den Rahmen hierfür vorgegeben und wenige Jahre später schriftlich fixiert.8 Wenn die »Außenpolitik des völkischen Staates« – so Hitler hier – »zwischen der Zahl und Siehe neuerdings etwa Dingell, Zur Tätigkeit der Treuhandstelle Ost; Rosenkötter, Treuhandpolitik. 4 Hier zum Bildungssystem, Kleßmann/Długoborski, »Nationalsozialistische Bildungspolitik«, Harten, De-Kulturation und Germanisierung, Hansen, »Schulpolitik im besetzten Polen«. 5 Geheime Richtlinien des Chefs der Zivilverwaltung, Arthur Greiser, 29. September 1939, AGK NTN/11, Bl. 1f. 6 Hartenstein, Neue Dorflandschaften. 7 Ich werde im Folgenden von der nationalsozialistischen Ideologie sprechen, obwohl sie natürlich ein Theoriekomplex war, der sich aus sehr unterschiedlichen Strömungen speiste und oftmals höchst widersprüchliche Ansätze zu verbinden versuchte, deren jeweilige Bedeutung jedoch in aller Regel nicht in intellektuellen Debatten, sondern in Auseinandersetzungen der verschiedenen Fraktionen des Regimes bestimmt wurde. Allgemeiner zur nationalsozialistischen Ideologie siehe etwa PIT, Faschismus und Ideologie; Raphael, »Die nationalsozialistische Weltanschauung«, Kroll, Utopie als Ideologie, Jäckel, Hitlers Herrschaft. 8 Kershaw, Hitler. 1889–1936, S. 246–250. Siehe dazu auch ähnlich Jäckel, Hitlers Weltanschauung, S. 37–57. 3 10 dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis« zu schaffen habe, dann würde eine Rückkehr zu den Grenzen von 1914 nicht ausreichen.9 Solche Forderungen seien im Gegenteil »politischer Unsinn«, ein möglicher Erfolg so »erbärmlich […], daß es sich […] nicht lohnen würde, dafür erneut das Blut unseres Volkes einzusetzen«.10 Eine nationalsozialistische Außenpolitik würde stattdessen den »Blick nach dem Land im Osten [weisen]. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.«11 Was mit der dort lebenden Bevölkerung geschehen sollte, blieb in »Mein Kampf« noch vage, auch wenn Hitler in kursorischen Passagen für ein konsequent rassisches Vorgehen plädierte: »Germanisation« dürfe eben nicht in erster Linie als »äußerliche Annahme der deutschen Sprache« missverstanden werden – eine Kritik, die vor allem auf die Versuche Preußens und des Habsburgerreiches anspielte, die nicht deutsch sprechende Bevölkerung notfalls auch unter Zwang zu assimilieren. »Germanisation« – so Hitler weiter – könne »nur am Boden vorgenommen werden […] niemals an Menschen«. Aus rassischer Perspektive erschien das Scheitern dieser früheren Politik so wenig verwunderlich wie bedauernswert. Sei es doch ein »kaum faßlicher Denkfehler, zu glauben, daß […] aus einem Neger oder einem Chinesen ein Germane wird, weil er Deutsch lernt«. Die damit zwangsläufig einhergehende »Blutsvermischung« hätte außerdem die »Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse« und die Vernichtung der »kulturellen Kräfte« des »deutschen Volkes« bedeutet, sodass es »heute kaum mehr als Kulturfaktor [hätte] angesprochen werden können«.12 Noch deutlicher wird Hitler im – freilich unveröffentlichten – »Zweiten Buch«: »Der völkische Staat durfte umgekehrt unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen. Er mußte im Gegenteil den Entschluß fassen, entweder diese rassisch fremden Elemente abzukapseln, um nicht das Blut des eigenen Volkes immer wieder zersetzen zu lassen, oder er mußte sie überhaupt kurzerhand entHitler, Mein Kampf, S. 728. Ebenda, S. 738. 11 Ebenda, S. 742. 12 Ebenda, S. 429f. 9 10 11 fernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen.«13 Wenn sich Hitler also eher auf die Kritik der bisherigen Versuche Preußens und der Habsburgermonarchie verlegt hatte, denn Programmatisches zu formulieren, so war doch eines klar: Die von einem nationalsozialistischen Deutschland in Osteuropa zu besetzenden Gebiete könnten nur entvölkert ihre Funktion als erweiterter »deutscher Lebensraum« für ein »Raum ohne Volk« erfüllen, wie sie auch auf Dauer nur durch die Besiedlung von »Deutschen« zu sichern waren. Die Verhältnisse in Hitlers Deutschland waren freilich andere. So erschwerten bereits die strukturellen Eigentümlichkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft jede langfristige Planung für die Zeit nach dem Krieg. Nach der Kapitulation Polens meldete dann auch gleich eine Vielzahl von Akteuren ihren Anspruch an, die Germanisierung dieser Gebiete federführend zu übernehmen: das Reichsinnenministerium, die Provinzverwaltungen und schließlich Himmler in seiner neuen Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), um nur die wichtigsten zu nennen. An diesem Punkt zeigt sich aber auch, wie irreführend und vereinfachend Annahmen sind, die die Politik der NSDAP nach der Machtübergabe als Umsetzung nationalsozialistischer Ideologieproduktion sehen – oder gar als direkte Übersetzung von aus dem Parteiprogramm oder »Mein Kampf« entnommener Parolen aus einer Zeit, in der Hitler und seine Gefolgsleute kaum mehr waren als ein unbedeutender Teil der politischen lunatic fringe der Weimarer Republik, bar jeder Notwendigkeit oder Möglichkeit, ihre Parolen in nationale Politik umzusetzen. Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Formulierung und Durchsetzung der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im annektierten Westpolen. Es konnte keine Rede davon sein, dass die einem polykratisch strukturierten Herrschaftssystem inhärenten Fliehkräfte konkurrierender politischer Interessen durch einen gemeinsamen Rekurs auf zentrale Elemente nationalsozialistischer Ideologie entschärft worden wären. Im Gegenteil: Gerade die Inkohärenz der nationalsozialistischen Ideologie erlaubte es den rivalisierenden Akteuren, auch widersprüchliche Politikentwürfe ideologisch zu legitimieren. Typisch dann auch die Konsequenzen: 13 12 Hitler, Zweites Buch, S. 81. jahrelange Auseinandersetzungen, in denen oftmals über die grundlegendsten Fragen keine Einigkeit herzustellen war und die schließlich nicht durch eine Entscheidung von höchster Stelle aus Berlin beendet wurden, sondern aus Moskau – durch die Rote Armee. Himmlers eingangs zitierte Anordnung verweist auf eine dieser Auseinandersetzungen. Anlass waren die Kriterien der sogenannten Deutschen Volksliste, die als Selektionsinstrument die einheimischen »Deutschen« erfassen sollte. Diese Anordnung wirft eine Reihe von Fragen auf: Weshalb hatten sich die verantwortlichen deutschen Stellen bis zum September 1941, also nach immerhin zwei Jahren deutscher Besatzungsverwaltung, noch immer nicht auf allseits akzeptierte Selektionskriterien einigen können? Vor allem aber: Wie kam es, dass die praktizierte Selektionspraxis nicht den Vorgaben Hitlers gefolgt war und sich auf die »Germanisierung des Bodens« beschränkte, sondern offensichtlich auf die Assimilierung von Nichtdeutschen zielte, sodass sich Himmler zu einer nachträglichen Kurskorrektur genötigt sah und den Ausschluss »blutsmäßig unerwünschter Elemente« fordern musste? Welche Rolle spielte »Rasse« als Selektionskriterium? Und war der Eingriff Himmlers erfolgreich? Letzteres eher nicht. Wie ich zeigen werde, hatten etwa die – um den passenden Begriff von Michael Burleigh aufzunehmen – Ethnokraten im Wartheland andere Vorstellungen. Den lokalen Dienststellen der Deutschen Volksliste war bereits in der ersten Anweisung vom Januar 1940 mitgeteilt worden: »Als sichere Beurteilungsgrundlage für die deutsche Volkszugehörigkeit können die Rassenmerkmale […] nicht herangezogen werden.«14 In den beiden anderen Provinzen sollte Himmler noch deutlicher scheitern: In Oberschlesien wurde die »Aufnahme von Menschen deutschen Volkstums […] grundsätzlich nicht […] von dem Ergebnis einer rassischen Überprüfung« abhängig gemacht,15 während in DanzigWestpreußen die Dienststellen angewiesen waren, die Ergebnisse rassischer Musterungen als »für die Entscheidung […] der Deutschen Volksliste nicht als bindend anzusehen«.16 Undatierte Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, Nur für den Dienstgebrauch, vermutlich von Ende Januar 1940, APP 406/1106. 15 Undatierter Vermerk Bracht, vermutlich 25. Januar 1943, APK 117/140, Bl. 116. 16 Forster an die Bezirks- und Zweigstellen, 9. Februar 1943, APB 9/380, Bl. 243. 14 13 Die Deutsche Volksliste war nun keinesfalls ein marginales Unterfangen, sondern stand im Zentrum aller nationalsozialistischen Bemühungen, die Bevölkerung in den annektierten westpolnischen Gebieten zu germanisieren und eine »deutsche Volksgemeinschaft« durchzusetzen. Ende Oktober 1939 unmittelbar nach dem Aufbau der Zivilverwaltung zunächst allein vom Reichsstatthalter im Wartheland eingerichtet, wurde sie eineinhalb Jahre später auf das gesamte annektierte Westpolen ausgeweitet und registrierte bis zum Ende des Krieges von den über sieben Millionen Bewohnern fast drei Millionen als »Deutsche«. Sie war damit zu dem mit Abstand größten nationalsozialistischen Germanisierungsprojekt avanciert.17 Natürlich zielte die nationalsozialistische Germanisierungspolitik in den annektierten westpolnischen Gebieten nicht allein auf die Inklusion von »Deutschen«, sondern auch auf die Ansiedlung von »Volksdeutschen«, die im Rahmen der »Heim-ins-Reich«-Aktion aus Osteuropa hierhergelockt worden waren, und vor allem auch auf die Exklusion der dortigen »Fremdvölkischen«. Zumindest in der Theorie war damit ein (erzwungener) Umsiedlungskreislauf etabliert worden, eine – wie Götz Aly das nannte – »organisatorische[n] Einheit [von] sogenannter positiver und negativer Bevölkerungspolitik«.18 In meiner Untersuchung beschränke ich mich diesbezüglich auf die Behandlung der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung; als ausführenden Organen neben der Deutschen Volksliste also auch auf die Tätigkeit der Umwandererzentralstellen, denen die Erfassung und Deportation der »Fremdvölkischen« übertragen worden waren.19 Nach den Mordwellen der ersten beiden Monate, denen mehrere zehntausend Menschen zum Opfer fielen,20 und bevor die antijüdiNeben den annektierten Gebieten Westpolens ist die Existenz einer Deutschen Volksliste für die Ukraine und Nordfrankreich nachgewiesen, ein ähnliches Modell wurde im Generalgouvernement und in den südosteuropäischen Gebieten, die einer zivilen deutschen Besatzungsverwaltung unterstanden, eingeführt. 18 Aly, »Endlösung«, S. 381. Diese Terminologie ist in der Forschung so häufig wie irreführend, trägt sie doch dazu bei, den oft gewaltsamen Charakter auch der Inklusionsmaßnahmen zu verdecken. 19 Zu einer Untersuchung der durch die Einwandererzentralstelle durchgeführten Selektionen der in den besetzten Gebieten anzusiedelnden »Volksdeutschen« siehe Strippel, Einwandererzentralstelle. 20 Siehe hierzu vor allem Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, Mallmann/Böhler/Matthäus (Hg.), Einsatzgruppen in Polen; Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg; Rossino, Hitler Strikes Poland. 17 14 sche Politik mit der Einrichtung des Vernichtungslagers Kulmhof Ende 1941 zum letzten Mal radikalisiert wurde,21 gedachten die deutschen Besatzer sich der unliebsamen Bevölkerungsgruppen durch deren Deportation ins Generalgouvernement zu entledigen. Zu diesem Zweck wurden in den jeweiligen Provinzen Umwandererzentralstellen eingerichtet, die jedoch im Gegensatz zur Deutschen Volksliste nicht den Zivilverwaltungen, sondern den lokalen SS-Stellen unterstanden.22 Natürlich sahen sich diese mit der gleichen Frage konfrontiert wie die Deutsche Volksliste: Nach welchen Kriterien sollte entschieden werden, ob jemand als »Deutscher« von den Deportationen ausgenommen werden oder ihnen als »Pole« zum Opfer fallen sollte? Bei Personen, die (noch) nicht von der Deutschen Volksliste erfasst worden waren, ging diese Entscheidung auf die Ethnokraten des SS-Apparats über. Angesichts Himmlers Bemühung, die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste entlang rassischer Kriterien neu auszurichten, könnte nun erwartet werden, dass das Kriterium »Rasse« zumindest die Selektionspraxis der Umwandererzentralstellen dominierte. Auch dies wäre freilich ein vorschneller Schluss. Zwar wurden sogenannte Deutschstämmige nach einigen Monaten auf direkten Befehl Himmlers tatsächlich von den Deportationen ausgenommen. Ansonsten waren es aber in der Regel nicht rassische, sondern eher pragmatische Kriterien, die darüber entschieden, wer zu welchem Zeitpunkt deportiert wurde. Dies führte unter anderem dazu, dass trotz anderslautender Anweisungen aus der Berliner SS-Zentrale zunächst nur verhältnismäßig wenige Juden aus den annektierten Gebieten vertrieben wurden. Diese kurze Skizze mag erstaunen, widerspricht sie doch einem historiographischen Trend, der sich seit den 1980er Jahren gegen eine sozialgeschichtlich geprägte Forschung durchgesetzt hat und der Zu der Genesis und Funktion von Kulmhof siehe Kershaw, »Improvised Genocide?«. 22 Zum gleichen Zweck wurden Umwandererzentralstellen später – und mit personeller und logistischer Unterstützung durch die Dienststellen aus Polen – auch in den südöstlich vom Deutschen Reich annektierten CdZGebieten Untersteiermark und Oberkrain eingerichtet, das Personal der Umwandererzentralstellen in Polen findet sich darüber hinaus auch bei Deportationen in Mähren, Ungarn und weiteren besetzten Gebieten, siehe Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 267. 21 15 der nationalsozialistischen Ideologie und hier vor allem ihrem – so die Behauptung – rassischen Kern eine neue (alte) Erklärungskraft zuschreibt.23 Obgleich dieser »return of ideology« nicht notwendigerweise auf eine Engführung hinauslaufen muss, der die Ursachen von Gewaltpolitik auf Ideologie verkürzt, wird dem Rassismus doch die zentrale Rolle sowohl in Bezug auf die Forderung nach der Selektion der Bevölkerung in sogenanntes lebenswertes und lebensunwertes Leben als auch in der Legitimierung der diese Forderung durchsetzenden staatlichen Politik zugewiesen.24 Das Verlockende dieses Metanarrativs ist offensichtlich: Es ermöglicht eine integrative Darstellung nationalsozialistischer Herrschaft, in der Massenverbrechen wie die Shoah, der Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen, sogenannten Asozialen oder all denen, die zur Gefahr für die »deutsche Volksgemeinschaft« erklärt wurden, als unterschiedliche Aspekte einer Gewaltpolitik analysiert werden können, die sich an der »rassistischen Utopie der Endlösung der sozialen Frage« ausrichtet.25 Die Durchschlagskraft dieses neuen Paradigmas lässt sich an einer Vielzahl von Studien nachweisen, die das nationalsozialistische Deutschland heute vor allem als – so der emblematische Titel der 1991 publizierten Studie von Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann – »racial state« erscheinen lassen.26 Aus meiner Sicht birgt dieser Ansatz zwei Gefahren: Zum einen wird damit oftmals ein Ideologieverständnis zugrunde gelegt, das von den fraglos irrationalen Prämissen völkischer oder rassischer Ideologie ohne weiteres auf die Politik schließt,27 die diese befeuern, Siehe hier vor allem Caplan/Childers (Hg.), Reevaluating the Third Reich, die eine Reihe neuerer Arbeiten zusammenführen. Siehe auch exemplarisch Friedlander, The origins of Nazi genocide; Proctor, Racial hygiene; Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie; Bock, Zwangssterilisation; Bridenthal/Grossmann/Kaplan (Hg.), When biology became destiny. 24 Stone, »Beyond the ›Auschwitz syndrome‹«, S. 454. 25 Peukert, »Die Genesis der ›Endlösung‹«, S. 25. 26 Burleigh/Wippermann, The Racial State. Burleigh und Wippermann beschränken ihre Untersuchung auf das Deutsche Reich, treffen also keine Aussagen über die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik im besetzten Osteuropa. 27 Mit »rassisch« werde ich im Folgenden diejenigen Exklusionspraxen bezeichnen, die in der Perspektive der Akteure direkter Ausfluss einer wie auch immer kohärenten »Rasse«-Theorie waren. Dies gilt vor allem für die Vertreter der Rassenanthropologie, die zum einen davon ausgingen, dass 23 16 und dabei übersehen, dass ihre – so Werner Röhr in Bezug auf Rassismus – »Wahnmomente […] jedoch weder ihre Funktionalität hinsichtlich der von ihr artikulierten Ziele noch die Möglichkeit rationalen Kalkulierens in ihrem Rahmen aus[schließen]«.28 Die Verbindung zwischen Ideologie und Herrschaft, grundlegend für die Ideologiekritik, droht ganz verlorenzugehen, Ideologie wird zum die Menschheit vor allem aufgrund offensichtlicher somatischer und biometrischer Merkmale in distinkte Gruppen zerfalle und diesen gleichzeitig bestimmte, unveränderliche Charakteristika zuschrieben und eine Hierarchie etablierten. Ich möchte damit zum einen eine gewisse Distanz zu dem üblicherweise gebrauchten Begriff »rassistisch« markieren, da dieser nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch, sondern zunehmend auch in der Forschung deutlich weiter gefasst wird: Rassistisch ist danach grundsätzlich jede Argumentation oder Handlung, die in ihrer Diskriminierung von Gruppen diesen unveränderbare persönliche Eigenschaften zuschreibt – und zwar auch dann, wenn diese zumindest formal kulturell begründet werden. Siehe für diesen erweiterten Gebrauch Studien, die vor allem in Reaktion auf die in vielen westlichen Ländern rasant zunehmenden Angriffe auf Migranten in den dem Ölpreisschock folgenden »crisis decades« (Hobsbawm) entstanden sind. Pierre-André Taguieff verweist dabei auf die zentrale Rolle der Neuen Rechten in Frankreich um Alain de Benoist, ders., »From race to culture«. Ähnlich auch Martin Barker für das Vereinigte Königreich, ders., The new racism. Die Stoßrichtung blieb freilich die gleiche: die Biologisierung divergierender sozialer Praxen, mit der die Ausweisung der Betroffenen ebenso begründet werden konnte wie Überfälle und Mordanschläge. Dieser Einschluss angeblicher oder tatsächlicher kultureller Differenzen macht einen solch erweiterten Rassismusbegriff für meine Arbeit wenig brauchbar, da er zu sehr den Unterschied zu einer weiteren sozialen Differenzierungspraxis verwischt, die nicht den Begriff »Rasse«, sondern »Volk« als Referenzpunkt wählte. Entsprechendes gilt für den Begriff »völkisch«, der wiederum Selektionspraxen meint, die in der Perspektive der Akteure auf eine wie auch immer kohärente Theorie verweisen, die um »Volk« als ihren zentralen Referenzpunkt kreist und damit ein historisches Subjekt, eine Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft meint, verbunden durch gemeinsame Eigenschaften, eine gemeinsame Sprache und das Bewusstsein, Träger einer historischen Mission zu sein. Und wenn die Beschwörung einer Abstammungsgemeinschaft auch zweifellos essentialistische Elemente aufweist und damit auf eine Schnittmenge mit rassischen Ideologien verweist, so ist doch – darauf hat kürzlich Manfred Hettling bestanden – »Abstammung […] nicht mit Rasse gleichzusetzen«. Für meinen Zusammenhang entscheidend ist vielmehr, dass aus Sicht völkischer Bevölkerungspolitik die Germanisierung von Polen nicht nur möglich, sondern geradezu geboten schien – und zwar nicht nur im Kaiserreich, sondern auch im Nationalsozialismus. 28 Röhr, »Faschismus und Rassismus«, S. 64. 17 irrationalen Moment, das herrschaftsfunktionales Handeln nicht verkleidet, sondern gefährdet.29 Das Verhältnis von Ideologie und Herrschaftsrationalität wird nicht mehr als Spannungsfeld begriffen, sondern auf einen Gegensatz vereinfacht – ein Umstand, der sich historiographisch in der simplifizierenden Konfrontation von »Ideologen« und »Pragmatikern« niederschlägt. Zum anderen droht eine Privilegierung des Rassismus aber auch – so Lutz Raphael – den »schwach kontrollierten Pluralismus innerhalb eines nationalsozialistischen Weltanschauungsfeldes« zu verkennen – obwohl es gerade diese Pluralität war, die die zeitgenössische Attraktivität der NSDAP ausmachte.30 Dies betrifft natürlich in erster Linie die Marginalisierung des Antisemitismus und der antijüdischen Gewalt – und damit die Frage, weshalb sich das Regime in diesem Fall für einen Genozid entschied, während es sich im Umgang mit anderen Feindgruppen zu Kompromissen durchringen konnte. Für meine Untersuchung noch relevanter ist jedoch die Marginalisierung der gleichsam traditionell nationalistischen Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie, die sich in Begriffen wie Volk und »Volksgemeinschaft« kristallisieren. Der diskursive Rahmen, in dem die Determinanten deutscher Identität artikuliert werden konnten, war nach 1933 sicherlich eingeschränkt worden, von einem Paradigmenwechsel kann jedoch keine Rede sein. Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk war weder im allgemeinen Verständnis noch in der Vielzahl etwa parteiamtlicher Veröffentlichungen ausschließlich oder auch nur in erster Linie rassisch bestimmt, sondern verwies in einem viel stärkeren Maß auf soziale und vor allem kulturelle Praktiken, die bis auf Fichte und Herder zurückweisen. Diese ideologische Gemengelage sollte während des Krieges die Germanisierungspolitik auch in ein ideologisches Kampffeld verwandeln, in dem der Bezug auf »Volk« und »Rasse« für zwei konträre Herrschaftstechniken stand, die einheimische Bevölkerung zu unterwerfen. Neu war dieser Konflikt nicht. Wie Cornelia Essner schreibt, hatten völkische Ideologen, wie etwa das verdiente ParteiHerrschaftsfunktionales oder herrschaftsrationales Handeln verstehe ich als Handeln im politischen Raum, das darauf ausgerichtet ist, die Existenz der jeweiligen Institution oder des politischen Regimes nicht nur zu sichern, sondern dessen Macht möglichst noch zu steigern. 30 Raphael, »Die nationalsozialistische Weltanschauung«, S. 31. 29 18 und SA-Mitglied Friedrich Merkenschlager, bereits frühzeitig gegen die aufkommende Rassenanthropologie und ihre Popularisierung mobilgemacht. In der 1926 publizierten Streitschrift »Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr des Güntherschen Rassegedankens« wandte sich Merkenschlager gegen Hans F. K. Günther, dessen 1922 publizierte »Rassenkunde des deutschen Volkes« zu dem mit Abstand populärsten rassenanthropologischen Werk der Zwischenkriegszeit in Deutschland wurde und auch die politische Diskussion nachhaltig prägte.31 Günther skizzierte hier in Rezeption der zeitgenössischen Forschung eine rassenanthropologische Topologie der Deutschen, die in dieser Sicht eben nicht mehr – wie von Merkenschlager und anderen völkischen Ideologen behauptet – eine organische Einheit, sondern eine »Rassenmischung« aus überdies ungleichwertigen Rassenkomponenten darstellten, die von der »nordischen Rasse« bis zur »ostischen Rasse« reichte.32 In seiner 1925 veröffentlichten Schrift »Der nordische Gedanke unter den Deutschen« hatte Günther diesen Gedanken zugespitzt und sich damit dem Vorwurf ausgesetzt, durch seine Forderung nach »Aufnordung« der Bevölkerung einen Keil in das deutsche »Volk« zu treiben.33 Diese Auseinandersetzung war bei Machtantritt der Na- Essner, »Im ›Irrgarten‹ der Rassenlogik«, S. 90f. Merkenschlager stand mit dieser Kritik übrigens nicht alleine, in eine ähnliche Richtung ging die Kritik anderer Wissenschaftler, die sicherlich nicht zufällig vor allem aus Süddeutschland und Österreich kamen, siehe ebenda, S. 88f. Siehe auch Weisenburger, »Der ›Rassepapst‹«, S. 170f. u. 179. 32 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 39–73, 171–178 u. 230–245. Günther stützte sich dabei vor allem auf die Forschungen von Eugen Fischer, Erwin Bauer und Fritz Lenz und ihr 1921 erschienenes Handbuch »Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene«, siehe Essner, »Im ›Irrgarten‹ der Rassenpolitik«, S. 82f. Er nahm sich aber durchaus gewisse Freiheiten bei der Interpretation dieser Ergebnisse, wie etwa eine Hierarchisierung der angeblich in der deutschen Bevölkerung vorhandenen »Rassen«. Die Verfasser schien das nicht zu stören, kommentierte doch zumindest Eugen Fischer, der auch in Zukunft Günther unterstützen sollte, nicht ohne Wohlwollen: »Der Dichter schwingt in ihm immer mit«, zit.n. Weisenburger, »Der ›Rassepapst‹«, S. 173. Zu einem genaueren Überblick über Günthers »Forschungsergebnisse« siehe Hutton, Race, S. 35–55, zu Fischers Verhältnis zu Günther siehe Massin, »Rasse und Vererbung«, S. 190–194. 33 Essner, »Im ›Irrgarten‹ der Rassenlogik«, S. 88–97, dies., Die »Nürnberger Gesetze«, S. 62f., Weisenburger, »Der ›Rassepapst‹«, S. 175–179; Hutton, 31 19 tionalsozialisten in vollem Gange und hatte nun auch verschiedene Flügel der Partei und ihrer Gliederungen erfasst. Die Parteiführung erkannte bald, welche Gefahr der Gedanke von einer »Aufnordung« des deutschen »Volkes« für eine breite Unterstützung der neuen Regierung bedeutete – zumal sich die Befürchtung breitmachte, dass neue Gesetze wie das zur Zwangssterilisation mit der Dystopie von einem »nordischen Deutschland« verbunden werden könnten.34 Essner behauptet, dass sich trotz aller Beschwichtigungen etwa des Rassenpolitischen Amtes und mithilfe einflussreicher Bündnispartner wie des neuen Innenministers Wilhelm Frick sowie Heinrich Himmlers die »Nordischen« bald durchsetzten und damit der Bezug auf »Rasse« und nicht der auf »Volk« zur theoretischen Achse der nationalsozialistischen Ideologie wurde.35 Auch wenn dies aus meiner Sicht mehr als zweifelhaft ist, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass völkische Kriterien bei der Imagination des deutschen »Volkes« nicht an Plausibilität verloren hatten. Meine Untersuchung der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik wird vielmehr das Gegenteil zeigen. Zwar reagierten etwa die Rassisten im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS schnell und versorgten die nach Polen entsandten Eignungsprüfer bereits im Oktober 1939 mit einem rassischen Kriterienkatalog, der diese in die Lage versetzen sollte, in den annektierten Gebieten »Deutsche« von »Polen« zu trennen: So war bei der Augenfarbe nicht nur blau erlaubt; war sie jedoch braun, musste sorgfältig unterschieden werden. Abzulehnen war »schwarzbraun, das meist finster wirkt und mehr nach schwarz reicht«. Dieses – so wusste man in Berlin – käme nämlich »meistens nur bei fremdblütigem Einschlag (außereuropäisch) und bei farbigen Rassen« vor. »Bei uns ist […] ein sattes, samtiges Braun Race and the Third Reich, S. 113–129. Auf den korrosiven Effekt des Rassismus verwies später auch Hannah Arendt, siehe dies., Elemente und Ursprünge, S. 271. Hierzu kritisch Moses, »Hannah Arendt, Imperialism, and the Holocaust«. 34 Essner »Im ›Irrgarten‹ der Rassenpolitik«, S. 92–97, und dies., Die »Nürnberger Gesetze«, S. 63f. Ausführlicher zu dieser Auseinandersetzung zwischen völkisch und rassisch argumentierenden Ideologen siehe Breuer, Die Völkischen in Deutschland, S. 113–125, und ders., Die radikale Rechte, S. 234–244. 35 Essner, »Im ›Irrgarten‹ der Rassenpolitik«, S. 92–97. 20 (Kuhaugen) im allgemeinen die dunkelste Farbe.«36 Diese Anweisung war so wenig praktikabel wie die darauf basierende Politik herrschaftsfunktional gewesen wäre. Solche oder ähnliche Selektionsverfahren sollten sich dann auch nicht auf breiter Front durchsetzen. Bei der Entscheidung, wer denn nun als »Deutscher« gelte, orientierten sich die Besatzer nicht an rassenanthropologischen Kriterien, sondern zielten auf Kollaborations- und Leistungsbereitschaft, auf Unterordnung und den Eifer, sich deutsche Sprachkenntnisse anzueignen – ein Verfahren, das deutlich auf die preußische Germanisierungspolitik verweist. Die eingangs angeführte Auseinandersetzung um die Selektionskriterien der Deutschen Volksliste verdeutlicht nicht nur die Differenzen der Akteure in einem so zentralen Politikfeld wie der Germanisierungspolitik. Sie offenbart auch die Hilflosigkeit, wollte man die Praxis der deutschen Besatzungsorgane vor allem im Rekurs auf zentrale ideologische Schriften des Regimes deuten. Struktur und Dynamik der Germanisierungspolitik in den annektierten westpolnischen Gebieten lassen sich nicht erfassen, wenn sie als praktische Umsetzung von ideologischen Postulaten gelesen werden. Zwar kreiste die nationalsozialistische Germanisierungspolitik unverkennbar vor allem um die beiden ideologisch besonders aufgeladenen Begriffe »Volk« und »Rasse«, aber es ist offensichtlich, dass die jeweiligen Akteure diese weder einheitlich verwendeten noch sich darüber verständigen konnten, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Vor diesem Hintergrund werde ich die nationalsozialistische Germanisierungspolitik auch im Spannungsfeld von ideologischen Prämissen und herrschaftsrationalen Anforderungen untersuchen. Ich werde die Selektionstätigkeit der Deutschen Volksliste und der Umwandererzentralstellen also nicht etwa als lineare Umsetzung der programmatischen Forderungen nationalsozialistischer Ideologen, ideologische Begründungen jedoch auch nicht als reine Tarnung eines gänzlich anderen Logiken gehorchenden Bewegungsablaufs untersuchen, sondern den dialektischen Zusammenhang von Selektionspraxis und ihrer ideologischen Begründung nachzeichnen. Da36 Der Chef des Rassenamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt, Otto Hofmann, in einer vertraulichen Anleitung zur Eignungsprüfung der umgesiedelten ethnischen Deutschen, 14. Oktober 1939, SMR 1372–6/26, Bl. 16–19. 21 bei gilt es einerseits, völkische und rassische Ideologien auf ihre die Selektionspraxis strukturierende Wirkmächtigkeit zu überprüfen und andererseits anhand der jeweils hegemonialen Praxen zu zeigen, welche Ideologien sich als besonders herrschaftsfunktional durchsetzen konnten. Im Einzelnen werden folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: 1) Wie gestaltete sich der Prozess, in dem die Selektionskriterien zur Trennung von »Deutschen« und »Polen« formuliert wurden, und wie wurden diese in der Praxis gehandhabt? Weshalb waren die relevanten Akteure nicht in der Lage, sich auf in allen Provinzen und für die gesamte Kriegszeit gültige Selektionskriterien zu einigen? Warum blieben sie in ständiger Bewegung, gleichzeitig aber in hohem Maße zeitlich wie auch regional verschieden? 2) Wie wichtig war die ideologische Begründung für die geforderten oder durchgesetzten Selektionskriterien und wie »flexibel« gestaltete sich dabei die nationalsozialistische Ideologie, den jeweiligen machtpolitischen Anforderungen, denen sich die deutschen Besatzer gegenübersahen, einen ideologiekonformen Ausdruck zu verleihen? 3) In welchem Verhältnis standen die zeitlich und räumlich nur kurzfristig zu fixierenden Selektionskriterien zu den machtpolitischen Interessen der Institutionen, die deren Akteure durchzusetzen versuchten? Lässt sich die Tätigkeit dieser Institutionen als Teil der deutschen Besatzungsstrategie begreifen, diese Gebiete dauerhaft in Besitz zu nehmen und sie ökonomisch auszubeuten? Erwiesen sich die bevölkerungspolitischen Maßnahmen in dieser Hinsicht als herrschaftsfunktional? Forschungsliteratur In der Literatur zur nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in Polen werden diese Fragen nur allmählich gestellt. In den ersten Publikationen zum Thema, etwa in den von Andrzej G˛asiorowski ausgewerteten Untergrundschriften oder den Publikationen der polnischen Exilregierung in London, spielte die Deutsche Volksliste eine herausragende Rolle und wurde unter anderem als Kollaborationsangebot der Besatzer an die polnische Bevölkerung gebrandmarkt.37 Ihre rasche Ausweitung scheint auch zu einer Reevaluierung 37 22 G˛asiorowski, »Niemiecka lista narodowa«. der deutschen Besatzungspolitik in den annektierten Gebieten Westpolens geführt zu haben, betonte die Exilregierung in ihren späteren Publikationen doch hellsichtig, dass sich die Deutschen dort zunehmend am »traditionellen deutschen Vorgehen, der Germanisierung der Polen selbst« orientierten.38 In London irrte man jedoch in der Annahme, dieser Kurswechsel sei allein die Berliner Reaktion auf das gescheiterte Deportationsprogramm – und übersah dabei die erbitterten Auseinandersetzungen der deutschen Dienststellen um konkurrierende Konzepte zur Erringung »deutschen Lebensraums«. Nach dem Krieg wurden wichtige Fortschritte auch in diesem Feld dann zunächst im Gerichtssaal gemacht.39 Besonders wertvoll erscheinen mir hier die Verhandlungen gegen die Spitzen des Stabshauptamtes, der Volksdeutschen Mittelstelle und des Rasse- und Siedlungshauptamtes im Rahmen der Nürnberger Nachfolgeprozesse, die bereits damals sowohl auf die »enge Verbindung zwischen Umsiedlung und Vertreibung« hinwiesen40 als auch die Herrschaftsrationalität der Deutschen Volksliste und des Wiedereindeutschungsverfahrens herausstellten. Denn damit gelang es dem Deutschen Reich, »Arbeitskräfte nach Deutschland zu bringen und gleichzeitig Polen um einen großen Teil seiner Bürger zu berauben, die man einer Zwangsgermanisierung zu unterwerfen versuchte«.41 In der Annahme, dass die verbrecherische Bevölkerungspolitik in Berlin von langer Hand vorbereitet worden war, verkannten die USamerikanischen Ankläger jedoch deren dynamische Logik, weshalb auch die Kluft zwischen ideologischen Postulaten und politischer Praxis als »einigermaßen widersprüchlich« erscheinen musste und also unbegriffen blieb.42 Für die wissenschaftliche Forschung waren diese Prozesse entscheidende Impulsgeber – und zwar in positiver wie in negativer Hinsicht. Wenig Beachtung fand wiederum das Ideologische, auch nicht als Kampffeld der in diesem Feld um Hegemonie ringenden Machtblöcke. Sowohl Robert L. Koehl in seiner 1957 vorgelegten Siehe vor allem Ministry of Information (Hg.), Quest for German Blood, S. 8 [Übers. G.W.], aber auch dass. (Hg.), German Invasion, dass. (Hg.), The Black Book und dass. (Hg.), The German New Order. 39 Dies trifft neben den Nürnberger Prozessen natürlich auch auf den Prozess gegen Eichmann zu und vor allem auch auf die Prozesse in Polen. 40 TWC V, S. 129 [Übers. G.W.]. 41 Ebenda, S. 132 [Übers. G.W.]. 42 TWC IV, S. 624 [Übers. G.W.]. 38 23 Untersuchung zur Tätigkeit der Dienststelle Himmlers als Reichskommissar zur Festigung Deutschen Volkstums wie auch Martin Broszat in seiner kurz darauf erschienenen Studie zur nationalsozialistischen Polenpolitik stellten eher die strategische Bedeutung der Bevölkerungspolitik für die deutsche Besatzungspolitik und Kriegsfähigkeit heraus, wobei Letzterer auch erstmals etwas ausführlicher auf die Deutsche Volksliste einging.43 Ohne Zugang zu den osteuropäischen Archiven blieben jedoch sowohl Koehl als auch Broszat auf die Überlieferung der Zentralstellen zurückgeworfen und erkannten deshalb nur ansatzweise die zentrale Rolle, die den Gauleitern zukam.44 Für den deutschen Kontext ist Broszats Studie trotz dieser Mängel dennoch bemerkenswert, war sie doch ein früher Versuch, sich den deutschen Verbrechen in Osteuropa in einer Zeit zu stellen, die sich eher für das »eigene« Leid interessierte – war es während des Kalten Krieges opportun, über die Vertreibung der Deutschen zu sprechen, konnte damit doch Politik gegen die Sowjetunion gemacht werden.45 Die Vielzahl der Studien zu den während des Krie- Koehl, RKFDV, S. 3. Zum Wiedereindeutschungsprogramm siehe ebenda, S. 123. Die Ausführungen zur Deutschen Volksliste und den Umwandererzentralstellen blieben sehr kursorisch, siehe ebenda, S. 104–107, 119–121 u. 139–141. Siehe auch die von Koehl in den Jahren zuvor veröffentlichten Vorstudien, die in seine Monographie eingingen: ders., »Colonialism inside Germany«, ders., »The Politics of Resettlement« sowie ders., »The Deutsche Volksliste in Poland«. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 86–90 u. 95f. Zwei Jahre später bettete Broszat diese Studie in einen Abriss der jüngeren deutsch-polnischen Beziehungen ein: ders., Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. 44 Ein gutes Beispiel sind hier Broszats Ausführungen zur Deutschen Volksliste, die immer dort ungenau werden, wo sie deren Tätigkeit vor Ort betreffen (so etwa die Ausführungen zur Gründung der Deutschen Volksliste im Wartheland, die fälschlicherweise dem dortigen SD zugeschrieben wird) und auch keine Angaben zu ihrer Selektionspraxis umfassen, siehe Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 115. 45 Siehe die mehrbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene unter Theodor Oberländer und zusammengestellt von – unter anderem – Werner Conze, Theodor Schieder und Hans Rothfels. Diese Dokumentation führte Personen zusammen, die sich aus Zeiten kannten, als sie in ihren wissenschaftlichen Arbeiten zunächst die deutsche Vormachtstellung in Osteuropa zu begründen suchten, um schließlich während des Krieges – 43 24 ges in die besetzten Gebiete umgesiedelten Bevölkerungsgruppen, die in diesem Blick so irrtümlich wie bezeichnend ebenfalls als »Vertriebene« firmierten, ist Ausdruck dieses Phänomens.46 Da diese Umsiedlungen aber nicht oder nur unzureichend in die Totalität der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik eingebettet werden, können die Aporien dieser Politik nur noch über das rassische Weltbild der Besatzer selbst in Blick genommen werden und erscheinen deshalb – so zum Beispiel Jachomowski – als »eine der skurrilsten Eskapaden nationalsozialistischer Volkstumspolitik«.47 Fragen nach der Herrschaftsrationalität der Bevölkerungsverschiebungen für die deutsche Besatzungsstrategie können vor diesem Hintergrund gar nicht erst gestellt werden. Wichtiger waren hier die von der westlichen Historiographie oftmals übersehenen Beiträge in den Ländern, die von den nationalsozialistischen Lebensraumplanungen hauptsächlich betroffen waren. In Polen war es nach dem Krieg zu einem entschlossenen Aus- oder Neuaufbau geschichtswissenschaftlicher Einrichtungen gekommen, die bald auch durch eine Reihe wichtiger Quellenbände und Publikationsreihen hervortraten.48 In der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Ausnahme des vertriebenen Rothfels – direkt der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik zuzuarbeiten oder gar – wie Oberländer – diese auch mit der Waffe in der Hand durchzusetzen. Zu den einzelnen Personen siehe Haar/Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaft. 46 Als Auswahl siehe Frensing, Die Umsiedlung der Gottscheer Deutschen; Loeber, Diktierte Option; von Hehn, Die Umsiedlung der baltischen Deutschen; Jachomowski, Die Umsiedlung der Bessarabien-, Bukowinaund Dobrudschadeutschen; Stossun, Die Umsiedlung der Deutschen aus Litauen; Döring, Die Umsiedlung der Wolhyniendeutschen. 47 Jachomowski, Die Umsiedlung der Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudschadeutschen, S. 137. 48 So etwa die beim Justizministerium eingerichtete Hauptkommission zur Untersuchung deutscher Verbrechen in Polen (Głównej Komisji Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce), dem Westinstitut in Poznań (Instytut Zachodni) und dem Schlesischen Institut (Instytut Śl˛aski) in Katowice. Die dort erschienenen Quelleneditionen waren für westliche Forscher oftmals der einzige Zugang zu den Beständen in polnischen Archiven. Bedeutend hier vor allem die vom Westinstitut herausgegebene Reihe Documenta Occupationis Teutonicae sowie das Biuletyn der Hauptkommission. Eine ähnliche Bedeutung kommt auch den Zeitschriften des Westinstituts zu wie dem Hauptorgan Przeglad ˛ Zachodni sowie eines bald auch auf Englisch, Französisch und Deutsch veröffentlichten Ablegers. Siehe auch die an der Adam-Mickiewicz-Universität ebenfalls in Poznań erscheinenden 25 waren diese Institutionen als Zentren wissenschaftlicher Politikberatung gefragt.49 War es den Behörden noch leichtgefallen, die Angehörigen der Abteilungen 1 und 2 des Landes zu verweisen, also diejenigen, die den Deutschen als besonders loyal erschienen waren, schien dies nicht der richtige Weg für die über zwei Millionen Menschen der Abteilungen 3 oder 4, also den sogenannten »Deutschen auf Probe«. Waren diese von den Deutschen aufgenommen worden, weil ohne sie die Wirtschaft der Region zusammengebrochen wäre, argumentierte nun etwa Zygmunt Izdebski als Berichterstatter des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Westgebiete (und gleichzeitig Vorsitzender des Westmarkenverbandes in Schlesien und Mitglied des Schlesischen Instituts) aus ähnlichen Gründen entschieden gegen ihre Vertreibung und verweist in seiner Studie auf den massiven Terror, der vielen Menschen keine Alternative zum Aufnahmeantrag ließ.50 Nach der grundsätzlichen Entscheidung, die Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 in die polnische Nachkriegsgesellschaft zu integrieren, ebbten die Diskussion und auch die Forschungstätigkeit zur Deutschen Volksliste ab.51 Zeitschriften Studia Historica Slavico-Germanica und Studia Historiae Oeconomica, die Beiträge in mehreren Sprachen abdruckten und ebenfalls zu wichtigen Medien im Wissenstransfer zwischen der polnischen und internationalen Forschung wurden. Allgemein siehe Czubiński, »Die polnische Historiographie des Zweiten Weltkrieges«; Haubold-Stolle, »Imaginative Nationalisierung des Grenzregion Oberschlesien«. 49 Siehe etwa Hadler, »Drachen und Drachentöter«. 50 Izdebski, Niemiecka lista narodowa. So auch der Bischof von Katowice, Stanisław Adamski, der seinerzeit den deutschsprachigen Klerus und Laien zur Eintragung in die Deutsche Volksliste aufgefordert hatte, um diese vor den befürchteten negativen Konsequenzen zu schützen, und dies nicht als »Verrat«, sondern im Gegenteil als »Verteidigung« polnischer Identität in schwieriger Zeit verstand, siehe Adamski, Pogl˛ad na rozwój sprawy narodowościowej, S. 17. Siehe auch den Artikel des persönlichen Sekretärs Adamskis, Romuald Rak, in ders., »Die deutsche Volksliste«. 51 Das Interesse verschob sich in den folgenden Jahren eher auf die (Re-) Integration von Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 in die polnische Gesellschaft, siehe etwa Boda-Kr˛eżel, Sprawa volkslisty; Romaniuk, Podzwonne okupacji; Stryjkowski, Położenie osób wpisanych. Eine Ausnahme ist Dzieciński, Łódż w cieniu swastyki, dessen Studie über Łódź unter deutscher Besatzung auch einen relativ ausführlichen Abschnitt über die Deutsche Volksliste enthält, der auch kurz auf die Selektionskriterien eingeht. 26 Die Forschungen zur deutschen Besatzungspolitik verlagerten sich in der Folgezeit zu den noch stärker gewaltförmig durchsetzten Aspekten deutscher Besatzungspolitik, denen drei Hypothesen zugrunde liegen. Eine erste Hypothese behauptete, dass »die deutschen Imperialisten […] über detaillierte Pläne zur Expansion und Eroberung verfügten und diese systematisch umzusetzen suchten«; die Beispiele reichen von den vor dem Krieg erstellten Proskriptionslisten bis zu den detaillierten Großraumplanungen in Form der »Generalplanungen Ost«.52 Mit dem Hinweis auf die »Generalplanungen Ost« und die hohe Zahl an Todesopfern wurde zweitens angenommen, dass die deutsche Politik auf einen Genozid an der polnischen und darüber hinaus generell an den slawischen Bevölkerungsgruppen zielte, die der Dystopie von einem deutschen »Lebensraum« im Osten im Weg standen. In Anlehnung an die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und vor allem an Raphael Lemkins Definition, diesen jedoch in der Regel nicht erwähnend, wird in vielen Publikationen zum Thema von »direkter Vernichtung« und »indirekter Vernichtung« des polnischen Volkes gesprochen, dabei auf die gezielte Ermordung der Eliten, die Massendeportationen sowie die Maßnahmen zur Unterdrückung polnischer Kultur hingewiesen. Nicht selten wird das mit dem Verweis ergänzt, dass dies den deutschen Besatzern noch dringlicher war als etwa die antijüdische 52 Czubiński, »Poland’s Place in Nazi Plans«, S. 21 [Übers. G.W.]. Ausgelöst wurde diese Debatte von Pospieszalski, Hitlerowska polemika z »Generalplan Ost« und Madajczyk, Generalplan Ost. Ein Versuch, die Deportationen im Wartheland und vor allem im Generalgouvernement zu den fortschreitenden Generalplanungen ins Verhältnis zu setzen, siehe Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 263–278. In der Bundesrepublik wurden die Generalplanungen zur gleichen Zeit etwa von Helmut Heiber als »Tagesträume« siegtrunkener deutscher Beamter verharmlost, siehe ders., »Dokumentation: ›Der Generalplan Ost‹«. In der DDR mündete diese Diskussion hingegen in eine noch in den letzten Jahren der Republik begonnenen und in der BRD fertiggestellten achtbändige Reihe zur deutschen Besatzungspolitik, die dem Generalplan Ost ebenfalls eine bedeutende Rolle zuwies, siehe Schumann/Nestler (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Czesław Madajczyk legte 1994 schließlich eine Quellensammlung zum Generalplan Ost vor, die alle bis dahin aufgefunden Versionen und Kommentierungen aus anderen Dienststellen vereinte, ders. (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. 27 Politik.53 Drittens wird Einsichten in die Funktionalitäten nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik oftmals und unvermittelt die Behauptung zur Seite gestellt, dass diese durch die rassistische Ideologie der Besatzer prädeterminiert gewesen sei und sich an der »nationalsozialistischen Rasselehre« orientiert hätte.54 Ideologie und Interesse stehen hier nebeneinander, ihr Verhältnis wird nicht expliziert und bleibt unbegriffen. Die Ergebnisse meiner Arbeit weichen zum Teil erheblich von diesen Hypothesen ab. Wie ich zeigen werde, fällt es schwer, eine einheitliche Germanisierungspolitik auszumachen, da weder der SSKomplex und noch sehr viel weniger das Reichsinnenministerium in der Lage waren, die Zentrifugalkräfte an der Peripherie wie auch die konkurrierenden Machtblöcke in Berlin unter Kontrolle zu halten und in vorgegebene Bahnen zu lenken. Wichtiger waren für meine Arbeit dann auch die Impulse von Czesław Madajczyks bis heute als Standardwerk geltender Studie »Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945«.55 Sehr viel deutlicher als beim Gros der polnischen Forschung werden hier nicht nur die Zentralstellen, sondern auch deren Interaktion mit den regionalen und Siehe Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 79–81. In genau diesem Wortlaut etwa Datner u.a., Genocide 1939–1945, S. 41, siehe auch Łuczak, Polityka ludnościowa i ekonomiczna, S. 29, Marczewski, »The Nazi Nationality Policy in the Warthegau«, S. 33, und ders., »Hitlerowska polityka narodowościowa na ternie Okr˛egu Warty 1939–1945«, S. 59, sowie Chrzanowski, »Wyp˛edzenia z Pomorza«. Diese Diskussion ist in der letzten Zeit schließlich mit der Veröffentlichung zweier US-amerikanischer Historiker fortgeführt worden: Lukas, The Forgotten Holocaust, sowie Piotrowski, Poland’s Holocaust. Dazu siehe auch Dobroszycki, »Polish historiography«. 54 Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 248 [Übers. G.W.]. Marczewskis Studie ist aber insofern eine Ausnahme, als er deutlich darauf hinweist, dass die Deutschen zum Zeitpunkt des Überfalls auf Polen noch kein ausgearbeitetes Besatzungskonzept entwickelt hatten. Allerdings glaubt er, dass dies in den ersten Monaten der Besatzung nachgeholt wurde, was aus meiner Sicht der evolutionären Fortschreibung der deutschen Besatzungspolitik nicht genügend Raum lässt, ebenda S. 11. Deutlicher als andere weist auch Marczewski auf die Unterschiede hin, die die deutsche Bevölkerungspolitik im Wartheland von der der beiden anderen Provinzen der annektierten westpolnischen Gebiete trennte, ebenda, S. 11 u. 253. 55 Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands. Es handelt sich hierbei um die überarbeitete Übersetzung seines zweibändigen Werkes Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce. 53 28 lokalen Dienststellen in den Blick genommen. Wie Madajczyk in einem späteren persönlichen Forschungsresümee festhielt, ermöglichte ihm erst diese Herangehensweise, der »Diskrepanz zwischen dem im Voraus formulierten Programm […] und seinen durch die realen Kriegsbedingungen erzwungenen Modifikationen« auf die Spur zu kommen.56 Dennoch bleiben auch bei Madajczyk Lücken, die Tätigkeit der Umwandererzentralstelle oder der Deutschen Volksliste wird nur ansatzweise untersucht. Einen qualitativen Sprung erfuhr die Forschung nach der Implosion der osteuropäischen Staaten. Die Gründe hierfür sind leicht auszumachen und reichen von der sogenannten Entideologisierung der Geschichtswissenschaft bis zum besseren Zugang zu osteuropäischen Archiven.57 Als Schrittmacher der Forschung haben sich oftmals Detailstudien erwiesen, die aus der Perspektive einzelner Politikfelder zu verallgemeinerbaren Schlussfolgerungen zur nationalsozialistischen Herrschaft vorstoßen. Von entscheidender Bedeutung war für mich – erstens – die Debatte um die Beteiligung der planenden Intelligenz und Wissenschaft in Deutschland. Ein besonderes Verdienst haben sich hierbei Götz Aly und Susanne Heim erworben, die in ihrer 1991 vorgestellten Untersuchung zu den »Vordenkern der Vernichtung« nicht nur auf eine »neue« Tätergruppe hinwiesen, sondern auch die Entscheidung zum Mord an den Juden im weiteren Kontext der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik verorteten, die sie nicht mehr nur als Annex der Besatzungspolitik begriffen, sondern selbst ins Zentrum der Fragestellung rückten.58 Die Frage freilich, wie entscheiMadajczyk, Zur Besatzungspolitik der Achsenmächte, S. 304. Anstelle von einer Entideologisierung der Geschichtswissenschaft zu sprechen, wäre es vermutlich genauer, auf ideologische Verschiebungen hinzuweisen: So kann zwar gerade bei ostdeutschen und etwa polnischen Historikern festgestellt werden, dass die Vorgeschichte des Krieges, das Verhältnis der Sowjetunion zum Deutschen Reich und auch die antijüdische Politik nun durchweg eine andere Bedeutung erhielten. Gleichzeitig stellte der Sturz des »real existierenden Sozialismus« jede marxistisch inspirierte Geschichtsschreibung infrage und führte länderübergreifend etwa zur Wiederauferstehung der aus guten Gründen beerdigten Totalitarismustheorie, siehe Wippermann, Totalitarismustheorien, oder Roth, Geschichtsrevisionismus. 58 Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung. Kennzeichnend für die (Wissenschafts-)Atmosphäre in der Bundesrepublik wurden die ersten Studien hierzu im Ausland veröffentlicht, siehe etwa Goguel, Über die Mitwirkung 56 57 29 dend die hier und in späteren Studien angesprochene wissenschaftliche Politikberatung war, bleibt jedoch höchst unbestimmt.59 Ich werde diesbezüglich in meiner Arbeit vorsichtiger argumentieren, wurde die Wissenschaft doch oftmals erst dann gefragt, wenn es um die Legitimation bereits getroffener Entscheidungen ging. Damit eng verbunden sind – zweitens – Studien, die zwar wiederum die Shoah im Blick haben, diese aber im Gegensatz zu früheren Ansätzen nicht allein aus der Dynamik antisemitischer Gewalt zu erklären suchen, sondern in die Dystopie vom »deutschen Lebensraum« einbetten. Zu nennen ist wiederum eine Arbeit von Götz Aly, die den Zusammenhang von allgemeiner Bevölkerungsplanung und Vernichtung der Juden ins Zentrum rückt, die stockende Ansiedlungs- und Deportationspolitik also für die Entscheidung zum Mord verantwortlich macht.60 Auch wenn Aly diese Verbindung aus deutscher Wissenschaftler, ders., »Die Bedeutung der ›Reichsuniversität Posen‹«, sowie Burleigh, Germany Turns Eastwards. Siehe auch Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?; Haar, Historiker im Nationalsozialismus; Roth, »Heydrichs Professor. Historiographie des ›Volkstums‹ und der Massenvernichtung«; Mackensen u.a. (Hg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts »Bevölkerung«. 59 Ein gutes Beispiel sind hier die Arbeiten zu den Generalplanungen Ost, und hier insbesondere zum Verhältnis der zwei Planungszentren im Reichssicherheitshauptamt um Dr. Hans Ehlich und im Stabshauptamt um Prof. Konrad Meyer zueinander sowie zur verbrecherischen Praxis der SSEinheiten, vor allem zu den Mordwellen in der Sowjetunion. Vereinfacht ausgedrückt lautet die ungeklärte Frage hier, wer Schrittmacher des Mordens war: die Planungsgruppen in Berlin oder die Mörder vor Ort? Folgten die deutschen Einheiten einem wie immer unfertigen Plan, oder war es die Gewaltdynamik vor Ort, die den Raumplanern das Tempo vorgab, diesen gewissermaßen immer einen Schritt voraus war und planerisch immer wieder eingeholt werden musste? Hierzu siehe Roth, »Generalplan Ost« – »Gesamtplan Ost«. Zur Skepsis bezüglich des Einflusses der wissenschaftlichen Politikberater siehe auch Leniger, Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit«, S. 13. 60 Aly, »Endlösung«. Aly konnte dabei freilich auf Vorarbeiten aufbauen, hatten doch, wie gezeigt, bereits Broszat und, sehr viel ausführlicher noch, Christopher Browning auf diese Verbindung verwiesen. Alys These ist jedoch insofern neu, als Broszat vor allem auf die Verbindung zwischen Vertreibungs- und Ansiedlungspolitik verweist, ohne dabei die Konsequenzen zu diskutieren, die dies für den Kurs der antijüdischen Politik hatte, während Browning zwar auf die radikalisierende Dynamik verweist, die dieses Scheitern für die Entscheidung zum Mord hatte, allerdings nicht explizit hervorhebt, dass die Probleme bei der Unterbringung der ethnischen Deut- 30 meiner Sicht überzeichnet, bleibt es doch ein entscheidendes Verdienst, den radikalisierenden Impuls der Ansiedlungs- und Vertreibungspolitik aufzudecken.61 Die hier herausgearbeitete Bedeutung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik hat entscheidend dazu beigetragen, dass – drittens – die meisten in den letzten beiden Jahrzehnten publizierten Studien zur deutschen Besatzung in Osteuropa diesem Aspekt ebenfalls größere Beachtung schenken. Dies lässt sich in erster Linie an den Untersuchungen zu den SS-Hauptämtern zeigen, die aufgrund von Himmlers Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums unmittelbar in die Germanisierungspolitik eingebunden waren. Zu erwähnen ist hier etwa die Studie Valdis O. Lumans zur Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) und vor allem die Studie von Michael Wildt zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA), dem eine herausragende Rolle in der bevölkerungspolitischen Planung zukam.62 In Ergänzung zu Wildt, der bereits die Bedeutung des Reichssicherheitshauptamtes für die Vertreibung der einheimischen »Fremdvölkischen« und der Selektion der »Volksdeutschen« herausstreicht, kann ich erstmals auch dessen bedeutende Rolle in den Auseinandersetzungen um die Deutsche Volksliste nachweisen. Auf eine weitere Forschungslücke reagierte Isabell Heinemann mit ihrer Untersuchung des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Aus meiner Sicht überschätzt sie jedoch dessen Bedeutung, stieg es, wie ich zeigen werde, eben nicht zur »Koordinationszentrale der SS-Siedlungs- und Rassenpolitik« und »Schlüsselinstitution« der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik auf.63 Die Marginalisierung aller an Rasse orientierten Selektionsverfahren drängten vielmehr auch das Rasse- und Siedlungshauptamt an den Rand. Hilfreich sollten sich außerdem – viertens – Regionalstudien erweisen, in denen mehr oder minder deutlich die enge Verbindung zwischen rassistischer Ostplanung, Umsiedlungspolitik und Judenmord zum Ausdruck kommt. Während etwa Czesław Łuczak nicht schen diesen Prozess beschleunigt oder sonstwie beeinflusst haben könnte, siehe Browning, »Nazi Resettlement Policy«. 61 Siehe auch die Kritik in Wildt, Generation des Unbedingten, S. 462. 62 Lumans, Himmler’s Auxilliaries, und Wildt, Generation des Unbedingten. 63 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 42 u. 10. Zu erwähnen ist hier auch noch die von Longerich vorgestellte Biographie Heinrich Himmlers, die der Bevölkerungspolitik ebenfalls weiten Raum gibt, siehe Longerich, Heinrich Himmler. 31 weiter auf die Differenz zwischen den rassischen Phantasmagorien des Regimes und der Politik vor Ort eingeht, Ersteres vielmehr als Erklärung für Letzteres ausgibt und so fälschlicherweise behauptet, die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste hätte sich an den »im Reich für die Deutschen gültigen Rassekriterien« orientiert, wird dieses Verhältnis bei Steinbacher zu einem bestimmenden Thema.64 In ihrer Sicht besteht kein Zweifel, dass es sich bei der Selektionsund Vertreibungspolitik keineswegs um ein »Kriegsexperiment irrationaler Phantasten« gehandelt habe, diese vielmehr als ein auf »handfesten, machtpolitischen Interessen gegründet[es]« Vorhaben untersucht werden müsste.65 In all diesen Studien wird die zentrale Rolle der Umwandererzentralstelle und/oder Deutschen Volksliste deutlich. Eine eingehende Untersuchung dieser Institutionen unternimmt jedoch keine Studie.66 In den letzten Jahren sind schließlich auch eine Reihe von Studien erschienen, die entweder in der Analyse einzelner Handlungs- oder Politikfelder der deutschen Besatzer, wie des Septemberkrieges gegen Polen oder der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- sowie Bildungsund Kulturpolitik, auch die jeweiligen Verbindungen zur Germanisierungspolitik untersuchen oder diese zu ihrem Hauptthema machen.67 Wo jedoch die bevölkerungspolitischen Aspekte in den Fokus rückten, konzentrierten sie sich eher auf die Vertreibungs-, Umsiedlungs- und Ansiedlungspolitik und verdrängten die Deutsche Volksliste gleichsam in einen toten Winkel. Eine Ausnahme bildet hier lediglich ein Artikel zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik im Wartheland von Werner Röhr, der auch erstmals der Łuczak, Pod niemieckim jarzmem, S. 60 [Übers. G.W.]. Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 94, siehe auch S. 118f. 66 Zu nennen wären hier außerdem exemplarisch Esch, »Gesunde Verhältnisse«; Kaczmarek, Zwischen Altreich und Besatzungsgebiet, sowie zwei Biographien zu den Gauleitern und Reichsstatthaltern in Danzig-Westpreußen und dem Wartheland: Schenk, Hitlers Mann, sowie Epstein, Model Nazi. 67 Exemplarisch zum Überfall und der bevölkerungspolitischen Kriegführung siehe Rossino, Hitler Strikes Poland, sowie Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg; zur Wirtschaft siehe Röhr, »Zur Rolle der Schwerindustrie«, sowie ders., »Zur Wirtschaftspolitik der deutschen Okkupanten«; Kaczmarek, »Die deutsche wirtschaftliche Penetration in Polen«; Stefanski, »Nationalsozialistische Volkstums- und Arbeitseinsatzpolitik«; zur Bildungs- und Kulturpolitik siehe Harten, De-Kulturation und Germanisierung. 64 65 32 in der Forschung verbreiteten Annahme widerspricht, das Selektionsverfahren der Deutschen Volksliste wäre rassischen Kriterien gefolgt. Wie die Selektionspraxis jedoch tatsächlich aussah, dazu findet sich aber auch bei Röhr wenig.68 Quellen Da aus meiner Sicht eine Analyse der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik an der Praxis vor Ort ansetzen muss, habe ich mich von Beginn an bemüht, nicht allein die Planungs- und Entscheidungsprozesse in den vorgesetzten Dienststellen in Berlin oder den Verwaltungszentralen der einzelnen Provinzen, sondern vor allem auch das Geschehen in den Regierungsbezirken und Landkreisen in den Blick zu nehmen. Dabei sind die Quellenmaterialien dreier institutioneller Komplexe entscheidend: neben denen der Obersten Reichsbehörden, hier vor allem dem Reichsinnenministerium, sind dies die des SS-Apparats, von den Hauptämtern in Berlin bis zu den einzelnen SS- und Polizeidienststellen an der Peripherie, und vor allem die der Zivilverwaltungen in den annektierten Gebieten, auch hier von den Verwaltungsspitzen bis in die Landkreise und Städte. Polnische Archive beherbergen den größten Teil dieser Materialien – und zwar oftmals in einer erstaunlichen Dichte. Am deutlichsten ist dies in Bezug auf das vorhandene Material zur Deutschen Volksliste. Dabei habe ich mich aus zeitökonomischen Gründen in jeder der drei Provinzen auf die Überlieferung der Reichsstatthalters/Oberpräsidenten (Zentralstellen der Deutschen Volksliste), jeweils einen oder zwei Regierungspräsidenten (Bezirksstelle der Deutschen Volksliste) und einer ausgesuchten Anzahl von Landräten und Oberbürgermeistern (Zweigstelle der Deutschen Volksliste) konzentriert. Während die Überlieferung zur Zivilverwaltung in Posen äußerst umfangreich ist und vor allem auch eine ungeheuer große Anzahl von DVL-Personalakten einschließt, fällt sie zu den Zivilverwaltungen in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien etwas dürftiger aus. Die entscheidenden Etappen der Selektionspolitik in Danzig-Westpreußen ließen sich hier durch Parallelüberliefe68 Röhr, »Reichsgau Wartheland«. Siehe auch Kaczmarek, Niemiecka polityka narodowościowa; Leniger, Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und Umsiedlungspolitik; Lempart, Die Deutsche Volksliste, sowie Strippel, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. 33 rungen vor allem in den Beständen der Gauleitung Danzig-Westpreußen, des Regierungspräsidenten und verschiedener Stadt- und Kreisverwaltungen im Regierungsbezirk Bromberg sowie den Prozessunterlagen gegen den ehemaligen Reichsstatthalter Albert Forster rekonstruieren. Noch besser gelang dies für Oberschlesien, wo Lücken vor allem im Bestand des Oberpräsidenten durch Bestände im sogenannten Sonderarchiv im Staatlichen Russischen Militärarchiv in Moskau ausgeglichen werden konnten. Die besondere Gewichtung der Ereignisse im Wartheland erklärt sich jedoch nicht nur durch die besonders gute Quellenlage, sondern vor allem durch die Bedeutung, die dieser Provinz in der Germanisierungspolitik zukam. Hier wurden die Deutsche Volksliste und die Umwandererzentralstelle zuerst eingerichtet, von hier wurden mit Abstand die meisten Einheimischen vertrieben, hier befand sich auch die Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes, dessen Auswertung sich nicht nur für die Selektionen dieser Behörde im Rahmen der Umwandererzentralstelle, sondern auch bei der Deutschen Volksliste als unschätzbar erwies. Musste Michael Alberti bei seinen Untersuchungen zur Vernichtung der Juden im Wartheland oftmals frustriert feststellen, dass die zu Kriegsende durchgeführte Vernichtung der Akten vor allem den Teil der Überlieferung betraf, der das grausamste deutsche Verbrechen dokumentierte, habe ich eine andere Erfahrung machen können. Wie selektiv die Deutschen vorgegangen sein müssen, zeigt etwa die Überlieferung des Volkstumsreferats der Reichsstatthalterei im Wartheland, wo sich nicht nur die Unterlagen zur Zentralstelle der Deutschen Volksliste, sondern auch eine Reihe von Denkschriften über die Zukunft der deutschen und polnischen Bevölkerung im Wartheland erhalten haben – dystopische Phantasievorstellungen, die alle bisherigen Maßnahmen der Deutschen Volksliste in den Schatten stellten und Wege skizzierten, wie die gesamte restliche Bevölkerung einem komplizierten Selektionsverfahren unterworfen werden sollte.69 Auch wenn also das Quellenmaterial zu bestimmten Institutionen und Regionen manchmal Lücken aufwies, scheint es doch hinsichtlich der meisten entscheidenden Fragen ausreichend belastbar zu sein, um eine umfassende Interpretation der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Westpolens zu versuchen. 69 34 Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 17. »Deutscher Drang nach Polen« Antipolnische Germanisierungspolitik: auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat Am Beginn der modernen deutsch-polnischen Beziehungen stand die Zerschlagung der Adelsrepublik in den Jahren 1772 bis 1795. Der Wiener Kongress von 1815 bestätigte diese Raubpolitik und setzte den russischen Zaren in Personalunion zum König des neugeschaffenen sogenannten Kongresspolens ein, während Österreich Galizien und Preußen Westpreußen sowie das Großherzogtum Posen endgültig zugesprochen wurden. Preußen hatte zweifelsohne am stärksten von der Zerschlagung Polens profitiert. Während Westpreußen sogleich als neue Provinz in die Verwaltungsstruktur des Königreichs eingegliedert wurde, signalisierte Friedrich Wilhelm III. der Bevölkerung im Großherzogtum Posen am 19. Mai 1815 noch ein gewisses Entgegenkommen – sie müssten ihre »Nationalität [nicht] verleugnen« und könnten sowohl ihre »Religion […] aufrechterhalten« wie auch ihre »Sprache […] neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen« gebrauchen.1 Angriffe auf diese »höchsten Heiligtümer einer Nation« mit dem Ziel, ein »Volk zu entnationalisieren«, würden gerade das Gegenteil bewirken, so wenig später der preußische Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein, woran Berlin allein interessiert sei: an »vollkommen gute[n] Untertanen«.2 Weder diese zunächst konziliantere Politik Preußens noch die härtere Russlands verhinderte das Entstehen einer polnischen Nationalbewegung, der es bald gelingen sollte, die polnische Frage dauerhaft auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Die Teilungsmächte bekamen dies spätestens dann zu spüren, als die Pariser Juli-Revolution 1830 auch auf Polen übergriff und schließlich in einen Aufstand gegen die russischen Besatzungstruppen mündete. Die Reaktionen nicht nur in den deutschen Ländern waren gespal1 2 Zit. n. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 85. Ebenda, S. 90. 35 ten: Während die Regierung in Berlin ein Übergreifen dieser Unruhen auf den preußischen Teil Polens befürchtete, stießen die polnischen Aufständischen bei der bürgerlich-nationalen Opposition auf große Sympathie, begriffen diese Polen doch als »Schlachtfeld«, auf dem die restaurative Ordnung ganz Europas aus den Angeln zu heben war.3 Die Wiederherstellung des polnischen Staates erschien diesem Lager keineswegs als Bedrohung, sondern wurde im Gegenteil als Etappensieg im eigenen Kampf für die deutsche Einigung begrüßt.4 Ob es sich dabei tatsächlich, wie Michael G. Müller behauptet, um »Kosmopolitismus«5 handelte oder ob nicht eher der von Reinhart Koselleck geprägte Begriff »Pannationalismus« zutrifft6 – der preußischen Regierung war beides gleichermaßen suspekt. Eduard Flottwell wurde mit dem Auftrag nach Posen entsandt, durch die verstärkte Assimilierung der dortigen Bevölkerung und die Marginalisierung des polnischen Adels und der katholischen Kirche die befürchteten irredentistischen Bestrebungen im Keim zu ersticken. Flottwells Maßnahmen leiteten eine radikale Kehrtwende in der preußischen Polenpolitik ein und setzten den preußischen Staat auf einen verhängnisvollen Kollisionskurs mit einem großen Teil der eigenen Bevölkerung in den Ostprovinzen.7 Die Sympathie des deutschen Bürgertums sollte sich als weniger dauerhaft erweisen als die kompromisslose Haltung des preußischen Staates. War Erstere parallel zur Verhaftung und Verurteilung der polnischen Verschwörer 1864/67 noch einmal kurz aufgeflackert, änderte sich die Situation grundlegend, als die Polen in den Wirren der Revolution Ernst machten, in Teilen des Großherzogtums Parallelverwaltungen einrichteten und bewaffnete Verbände aufstellten. Das Angebot des liberalen März-Ministeriums, zwar nicht dem gesamten Großherzogtum, aber doch seinem östlichen Teil um Gnesen Autonomierechte einzuräumen, wiesen die polnischen NationaKolb, Polenbild und Polenfreundschaft, S. 113. Siehe die vielfältigen polenfreundlichen Bezüge etwa auf dem Hambacher Fest: Majewski, Sage nie, du gehst den letzten Weg; Asmus, Das Hambacher Fest. Zum Überblick über die Vielzahl der Hilfsorganisationen im damals freilich besonders liberalen Baden siehe Brudzyńska-Němec, Polenvereine in Baden. 5 Müller, »Deutsche und polnische Nation im Vormärz«; S. 74, siehe auch S. 71f., sowie Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft, S. 111–113. 6 Koselleck, Volk, Nation, Nationalismus und Masse, S. 404. 7 Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 101f. 3 4 36 listen empört als unzureichend zurück und entschieden sich für den offenen Kampf.8 Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands in Preußisch-Polen markierte gleichsam die antidemokratische Wende der deutschen Revolution. Die Erkenntnis, dass die Erfüllung der polnischen Ambitionen mit dem eigenen politischen Ziel – der nationalen Einigung – kollidierte, begrub endgültig auch die noch einmal jäh aufgeflackerte »Polenfreundschaft« – das bisherige Bild des freiheitsliebenden Polen wich dem des brutalen Rebellen gegen eine legitime Ordnung.9 Dies zeigte sich in den Diskussionen in der Frankfurter Nationalversammlung. Polnische Forderungen, nicht in das auf dem Nationalitätenprinzip gründende Deutsche Reich einbezogen zu werden, wurden abgelehnt. Die Wiederherstellung Polens unter Einbeziehung preußischer Territorien wurde von dem linksnationalistischen Abgeordneten Jordan als »schwachsinnige Sentimentalität« gebrandmarkt und die Polen zu »Todfeinden« eines vereinigten Deutschlands erklärt.10 Neben der sozialen Frage scheiterte die deutsche Revolution also auch an der nationalen Frage.11 Vor die Wahl zwischen Freiheit und Einheit gestellt, entschied sich die Mehrheit für die Einheit und verlor mit der Konterrevolution schließlich beides.12 Die Errichtung des Deutschen Reiches als Nationalstaat musste natürlich auch die Diskussion um die nationalen Minderheiten wieder offen ausbrechen lassen. Wie bereits 1848 in Frankfurt protestierten polnische Abgeordnete erneut gegen die Einbeziehung von mehrheitlich von Polen bewohnten Gebieten in ein Gebilde, das sich explizit auf nationalstaatlicher Grundlage formierte und nicht bereit war, nationalen Gruppen Minderheitenrechte einzuräumen.13 Der polnische Abgeordnete von Zoltowski stellte am 1. April 1871 fest, dass er und seine Kollegen sicherlich »die Letzten« wären, die sich nicht über die durch den Krieg durchgesetzte »kräftigste Bestätigung eines Princips, für dessen Aufrechterhaltung wir von jeher Lukowski/Zawadski, A Concise History of Poland, S. 142–144; SchmidtRösler, Polen, S. 82f. 9 Trzeciakowski, Die polnische Frage, S. 63f. 10 Zit. n. Wippermann, Der Ordensstaat als Ideologie, S. 144f. Ausführlicher bei Müller/Schönemann, Die »Polen-Debatte«. 11 Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, S. 422f. 12 Siehe hierzu auch Ther, Beyond the Nation, S. 53f. 13 Hoensch, Geschichte Polens, S. 231. 8 37 stets aufgetreten sind […] [freuen]; ich meine das Nationalitätenprincip« – es müsse aber auch für die polnische Nation im Deutschen Reich gelten.14 Im neugeschaffenen Reichstag stießen solche Forderungen auf schroffe Ablehnung, die die zwischenzeitlich erreichte Identifikation der ehemals bürgerlichen Opposition mit dem neuen Staat zum Ausdruck brachte. Unter allgemeiner Zustimmung war es Bismarck selbst, der den Protest Zoltowskis zurückwies und der polnischen Fraktion verdeutlichte, dass sie in den Augen der Regierung »zu keinem anderen Volke als zu dem der Preußen [gehörten], zu dem ich selbst mich zähle«. Anknüpfend an eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckten civilising mission der mittelalterlichen Ostkolonisation, drohte Bismarck, dass die preußische Regierung »fortfahren [werde] in den Bestrebungen, die Segnungen des Rechtsschutzes und der Gesittung unter den Dankbaren und unter den Undankbaren zu verbreiten«.15 Bismarcks Beschwörung der altpreußisch-supranationalen Staatsbürgerschaft galt 1871 einem historischen Auslaufmodell, das selbst für die von ihm geführte Reichsregierung nicht mehr maßgebend war. Im Gegenteil: Nach Erlangung der äußeren Einheit sollte nun die innere Einigung herbeigeführt werden. Kriege standen also Pate bei der Herausbildung des deutschen Nationalbewusstseins und bei der Gründung des Deutschen Reiches; eine kriegerische Logik bestimmte die Integrationspolitik der Reichsregierung: Der innere Gegner wurde »zum ›Reichsfeind‹ erklärt und unter Polizeiregiment gestellt«, eine Politik, die neben Katholiken, Sozialdemokraten und Juden auch auf die ethnischen Minderheiten zielte, von denen die Polen die bei weitem größte war.16 Die Katholiken waren die ersten, die als Feinde des neuen Nationalstaats ausgemacht wurden. Und wenn es auch übertrieben scheint, dass sie vor allem deshalb in Bismarcks Fadenkreuz gerieten, weil damit insbesondere auch die polnischen Preußen getroffen werden konnten, bleibt doch unbestritten, dass die Maßnahmen eine »eindeutig antipolnische Spitze« hatten und in keinem anderen LanVon Zoltowski am 1. April vor dem Reichstag, zit. n. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 1, S. 97. 15 Ebenda, S. 98. Zur Wiederentdeckung der mittelalterlichen deutschen Ostkolonisation siehe Wippermann, Der »deutsche Drang nach Osten«, v.a. S. 82–116; Kopp, »Arguing the case for colonial Poland«, S. 151. 16 Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, S. 431. 14 38 desteil des Deutschen Reiches zu solch dramatischen Konsequenzen führten wie in Preußisch-Polen.17 Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung war die von der Reichsregierung durchgesetzte Säkularisierung des Schulunterrichts. Die aus seiner Sicht nur langsam fortschreitende Assimilation der polnischsprachigen Bevölkerung führte Bismarck in den Beratungen zum Schulgesetz auf die Obstruktionspolitik der katholischen Kirche zurück. Der »Einfluß der lokal [sic] Geistlichen« – so Bismarck – »hindere […] die Anwendung der deutschen Sprache, weil Slawen und Romanen im Bündnis mit dem Ultramontanismus Rohheit und Unwissenheit zu erhalten suchen und den Germanismus, welcher Aufklärung zu verbreiten sucht, überall in Europa bekämpfen«.18 Im März 1872 verloren die Kirchen ihre bestimmende Stellung im Schulwesen, die Schulen wurden zu Instrumenten der Germanisierungspolitik. In Schlesien wurde Deutsch bereits 1872 als Unterrichtssprache eingeführt, die Provinzen Posen und Preußen folgten 1873. Polnisch war ab diesem Zeitpunkt lediglich noch für den Religionsunterricht zugelassen, bis auch dieser bald in Deutsch abgehalten werden musste.19 Am 28. August 1876 wurde Deutsch schließlich zur alleinigen Amtssprache erklärt und die bis dahin zumindest im Prinzip bestehende Zweisprachigkeit in der Provinz Posen aufgehoben.20 Der Weg war frei für eine Repressionspolitik, die sich als Zivilisierungsmission verkleidete.21 Die staatlichen Angriffe auf die Kirche ließen aber auch nach der Verstaatlichung der Schulaufsicht nicht nach. Mit den sogenannten Wehler, »Deutsch-polnische Beziehungen«, S. 204. Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, S. 119 [Übers. G.W.]. 19 Hoensch, Geschichte Polens, S. 232. Zu den Auswirkungen auf Schlesien siehe Matuschek, »Das Polnisch der Oberschlesier«, Teil 1, S. 110f., und ders., »Das Polnisch der Oberschlesier«, Teil 2, S. 194. Zu der Bedeutung von Sprache für den entstehenden Nationalismus siehe vor allem Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 72–87; Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 60–83; für Deutschland etwa Puschner: Die Völkische Bewegung, S. 27–48. Zu einem konzisen Forschungsüberblick zur Funktion von Sprache in der Durchsetzung nationalistischer Denkformen siehe Day/Thompson, Theorizing Nationalism, S. 90–92. 20 Dazu siehe Leuschner, »›Die Sprache ist eben ein Grundrecht der Nation‹«. 21 Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, S. 52f.; Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 134; Lindemann, »Die preußisch-deutsche Reichsgründung«, S. 30. 17 18 39 Maigesetzen griff die preußische Regierung 1873 erstmals massiv in die innere Verwaltung der Kirche ein, regelte nicht nur die Ausbildung der Geistlichen, sondern unterwarf sie überdies der disziplinarischen Gewalt des Staates. Widerspenstige Geistliche wurden inhaftiert oder des Landes verwiesen, der katholische Klerus in den folgenden Jahrzehnten dezimiert – allein im Erzbistum Gnesen-Posen betraf dies etwa ein Drittel der Geistlichen.22 »Kein Zweifel, daß Bismarck« – so selbst Heinrich Claß, der Vorsitzende des radikalen Alldeutschen Verbands, später – »sich in der Leidenschaft des Kampfes in seinen Mitteln vergriffen hat.«23 Und tatsächlich war die Bilanz aus staatlicher Sicht ernüchternd, als die innenpolitischen Kosten der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche Bismarck Ende der 1880er Jahre zu einem Ausgleich zwangen. Die Angriffe hatten auf Reichsebene zu einer Solidarisierung mit dem politischen Katholizismus und zur Gründung der Zentrumspartei geführt und in Preußisch-Polen weder die Germanisierungspolitik vorangetrieben noch die katholische Kirche von der polnischsprachigen Bevölkerung isoliert, sondern diese Verbindung im Gegenteil zementiert. Die Misserfolge der staatlichen Zwangsmaßnahmen gegenüber der polnischsprachigen Bevölkerung führten jedoch nicht zu einer Revision dieser Politik, sondern zu ihrer Radikalisierung. Nicht länger allein auf die Assimilationskraft der deutschen Kultur vertrauend, entschied sich die preußische Regierung, »Ausrottungsmaßnahmen in ihre Regierungspolitik aufzunehmen« und gegen jene einzusetzen, die entweder nicht assimilierbar schienen oder aber nicht assimiliert werden sollten.24 Die Skepsis, die bereits früher der Assimilierung des Klerus und des Adels entgegengebracht wurde, dehnte sich nun auf weitere Bevölkerungsschichten aus. Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Reorientierung der Germanisierungspolitik in der Anordnung Bismarcks vom 22. Februar 1885, in der er die Deportation von in den preußischen Ostprovinzen ansässigen Polen forderte, die noch keine preußische Staatsbürgerschaft erhalten hatten.25 Die Misserfolge der AssimilieTrzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, S. 57–59. Claß, Deutsche Geschichte, S. 286. 24 Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, S. 6 [Übers. G.W.]. 25 Kopp weist hier auf eine interessante zeitliche Koinzidenz hin, fiel diese Eskalierung der inneren Kolonisierung doch mit der überseeischen Expan22 23 40 rungspolitik wurden auf die Einwanderung aus den russischen und österreichisch-ungarischen Teilungsgebieten zurückgeführt und man phantasierte von einer »Überschwemmung durch das Slawentum«.26 Es gelte – so Bismarck offen – diejenigen zu vertreiben, die »die Grenzprovinzen polnisieren, während deren Germanisierung unsere staatliche Aufgabe bildet«.27 Die ersten Ausweisungen begannen im Februar/März 1885 und trafen zum Teil seit Generationen dort ansässige Familien. Insgesamt wurden ca. 48000 Menschen aus Posen, Westpreußen und Oberschlesien vertrieben, darunter auch die – gemessen an dem sehr viel geringeren Bevölkerungsanteil – verhältnismäßig hohe Zahl von ca. 9000 Juden, was auf die antisemitische Spitze dieser Maßnahmen verweist.28 Auch wenn die Ausweisungen auf scharfen Protest nicht nur seitens der Sozialdemokraten oder des Zentrums im Reichstag, sondern auch seitens der ostelbischen Junker stießen, die damit Landarbeiter verloren, die ohnehin schon knapp waren, wurden sie bis 1887 und vereinzelt noch darüber hinaus fortgeführt.29 Neben diesen Deportationen sollte sich die Germanisierungspolitik bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs mit einem weiteren Schlagwort verbinden, das im Allgemeinen mit dem Wortschatz der Nationalsozialisten assoziiert wird: der »Germanisierung des Bodens«.30 Da in der Sicht staatlicher Stellen die mangelnden Assimilierungsfortschritte der polnischen Bevölkerung nur mit dem Widerstand der polnischen Eliten erklärt werden konnten, hatten die Angriffe auf die katholische Kirche in Preußisch-Polen besonders aggressive Formen angenommen. Mit der gleichen Zielsetzung geriet nun auch der Adel erneut ins Visier. Nachdem in der Flottwell’schen Ära dessen politische Macht gebrochen worden war, galt es nun auch, ihn in seiner wirtschaftlichen Bedeutung auszuschalten und – wie Bismarck sich ausdrückte, die Biologisierung des politischen Vokabusion des Deutschen Reiches zusammen. Von einem kausalen Zusammenhang zu sprechen, erscheint mir jedoch fraglich. Siehe Kopp, »Arguing the case for colonial Poland«, S. 149. 26 Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 143. 27 Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden, S. 32. 28 Lindemann, »Die preußisch-deutsche Reichsgründung«, S. 35. 29 Ebenda sowie Wehler, »Von den ›Reichsfeinden‹ zur ›Reichskristallnacht‹«, S. 187. 30 Siehe etwa die Diskussion bei Ernst Hasse, Das Deutsche Reich als Nationalstaat, S. 56–58. 41 lars vorantreibend – die »Trichine des polnischen Adels aus dem Land zu schaffen«.31 Bismarcks ursprüngliche Idee, sich analog zu den bereits 1878 verabschiedeten Sozialistengesetzen auch ein Gesetzespaket gegen den polnischen Adel genehmigen zu lassen, wurde schließlich von einem Vorschlag abgelöst, den die preußischen Minister Robert Lucius und Gustav von Goßler 1885 eingebracht hatten. Dieser sah den gezielten Ankauf von polnischem Gutsbesitz vor, der anschließend parzelliert und an deutsche Kolonisten vergeben werden sollte.32 Der Reichstag verabschiedete das Gesetz am 26. April 1886. Für den Bodenerwerb stellte die preußische Regierung zunächst 100 Millionen Reichsmark zur Verfügung und rief die Königliche Ansiedlungskommission ins Leben, die von Posen aus die Flächen auswählen, aufteilen, für die Besiedlung vorbereiten und schließlich günstig deutschen Bauern überlassen sollte. Die Ergebnisse waren aus preußischer Sicht allenfalls zunächst zufriedenstellend. Zwischenzeitlich war der Ansiedlungskommission mit der stetig wachsenden Zahl von polnischen Selbsthilfeorganisationen ein starker Gegner erwachsen, der unter dem Schlagwort der »organischen Arbeit« seit Mitte der 1860er Jahre die nationale Selbstbehauptung durch eine intensivierte kulturelle und wissenschaftliche Bildungsarbeit sowie den Aufbau eines modernisierten »polnischen« Wirtschaftskreislaufs sicherzustellen versuchte.33 Mit den in dieser Zeit gegründeten Bauernvereinen, Kreditgenossenschaften und Banken »wurde der Spieß der Germanisierungspolitik geradezu umgedreht«, mit dem Ergebnis, dass ab 1896 mehr »deutscher« Boden in polnische Hände wechselte als umgekehrt.34 Die Ansiedlungskommission begann den »ökonomischen Kleinkrieg um den Grundbesitz« zu verlieren.35 Diese neuerlichen Rückschläge hatten für weite Teile der politischen Elite des Deutschen Reiches und vor allem die politische Rechte eine kaum zu unterschätzende Wirkung. In der politischen Umbruchszeit nach Bismarck – mit dem Versagen der bisherigen Wehler, Das deutsche Kaiserreich, S. 116. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 148. 33 Hagen, »National Solidarity«, S. 42f. 34 Berghahn, Das Kaiserreich, S. 186; siehe auch Davies, God’s Playground, S. 130; Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 141f. u. 152f. 35 Ebenda, S. 153. 31 32 42 Kartellpolitik, der Politisierung weiter Teile der Bevölkerung, der Formierung von Massenparteien, dem Aufstieg der Sozialdemokratie, der Bildung von Interessenverbänden und Gewerkschaften – beschleunigten diese Niederlagen eine strukturelle Neuorientierung auch der politischen Rechten, die von der Regierung eine entschieden nationale Politik sowohl jenseits als auch diesseits der deutschen Grenzen erwartete und diese durch die Gründung von nationalistischen pressure groups durchzusetzen gedachte.36 Für diese radikalen Nationalisten avancierte die polnische Frage rasch zum »mit Abstand wichtigsten ›nationalen Kriegsschauplatz‹« und dominierte auch den ersten Verbandstag der wohl einflussreichsten dieser Gruppen, dem 1891 gegründeten Alldeutschen Verband. Gefordert wurde eine Radikalisierung der bisherigen Politik, die so lange erfolglos bleiben musste, wie sie nur auf Adel und Kirche, nicht aber auf den erstarkten polnischen Mittelstand zielte, da vor allem dieser die polnische Beharrlichkeit ermögliche.37 Die Alldeutschen plädierten dann auch in erster Linie für eine wirtschaftliche Ruinierung aller wohlhabenden Polen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Germanisierungspolitik, Erfolg sei langfristig nur solchen Mitteln beschieden, die der polnischsprachigen Bevölkerung eine »freiwillige« Assimilierung in die deutsche Mehrheitsbevölkerung als im eigenen Interesse nahelegte.38 Pressure groups wie der Alldeutsche Verband standen dann auch an der Spitze einer Bewegung, die den Staat auf einen Wirtschaftskrieg gegen die polnische Minderheit einschwor. Einer seiner Gründer, Alfred Hugenberg, zu diesem Zeitpunkt bereits an entscheidender Stelle in der Ansiedlungskommission tätig, hatte schon 1899 in einem anonymen Beitrag gefordert, dem Staat das Recht auf Enteignung des polnischen Großgrundbesitzes einzuräumen – eine Initiative, die zunächst nur von Ferdinand Hansemann aufgegriffen wurde, einem der Mitbegründer des Ostmarkenverbandes, einem weiteren radikalnationalistischen Verband.39 Die Diskussion verlaEley, Reshaping the German Right, S. 41–48, und Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 68f. 37 »Eine neue Polenpolitik«, abgedruckt in: Alldeutscher Verband (Hg.), Zwanzig Jahre alldeutsche Arbeit, S. 13–22. 38 »Eine andere deutsche Polenpolitik«, abgedruckt in: Alldeutscher Verband (Hg.), Zwanzig Jahre alldeutsche Arbeit, S. 114–125. 39 Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 264. Hansemanns Unterstützung abgedruckt in: Ostmark vom Januar 1900, dem Publikationsorgan des Ostmarkenverbandes, zit. n. Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein, S. 136. 36 43 gerte sich stattdessen auf einen von der Ansiedlungskommission eingebrachten Vorschlag, die Bautätigkeit von polnischen Landkäufern zu beschränken.40 Als auch diese Diskriminierungsmaßnahme nicht den gewünschten Erfolg erbrachte und die Ansiedlungskommission bei der Präsentation ihres zwanzigsten Jahresberichts vielmehr zugeben musste, dass sie im Landkauf von polnischen Organisationen überholt und das selbst erworbene Land im letzten Jahr zu 90 Prozent von deutschen Verkäufern stammte, wurde Hugenbergs Forderung erneut aufgegriffen.41 Der Ostmarkenverein nahm seine Kampagne wieder auf: »Die Waffe zum Hieb und zum Angriff, die Waffe zur Wiedergewinnung eines Teiles wenigstens des uns entfremdeten Bodens bietet« – so das hauseigene Organ Ostmark – »allein das Enteignungsrecht.«42 Ende 1907 wurde schließlich im Preußischen Landtag ein Gesetz eingebracht, das das »öffentliche Wohl«, womit Enteignungen begründet werden mussten, auf das »Ideal der nationalen Homogenität« ausdehnte.43 Als das Gesetz im März 1908 verabschiedet wurde, führte dies zu einer weiteren Erosion des in der preußischen Verfassung garantierten Gleichheitsgrundsatzes – auch wenn das Gesetz »nur« vier Mal angewandt wurde und die Enteignungen an Entschädigungen gebunden waren. Zusammen mit den Deportationen Ende der 1880er Jahre war damit der Höhepunkt der antipolnischen Repressionen im 19. Jahrhundert erreicht und gleichzeitig auch ein signifikanter Wechsel in der preußisch-deutschen Germanisierungspolitik vollzogen. Zwar hatte sich bereits im Königreich Preußen eine schleichende nationalistische Wende in der antipolnischen Politik abgezeichnet, die zunehmend auch auf die sprachliche und kulturelle Assimilierung der polnischen Bevölkerung gerichtet war. Allerdings hatte außer Frage Das Gesetz wurde am 28. Juni 1904 vom Preußischen Herrenhaus verabschiedet und knüpfte die Errichtung von Wohngebäuden in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen sowie Teilen von Schlesien, Brandenburg und Pommern an eine Genehmigung durch den jeweiligen Regierungspräsidenten – auf die polnische Antragsteller natürlich nicht rechnen konnten. Siehe ausführlicher Hofmann, »Das Ansiedlungsgesetz von 1904«. 41 Tims, Germanizing Prussian Poland, S. 152–155, sowie Wehler, »Von den ›Reichsfeinden‹ zur ›Reichskristallnacht‹«, S. 188. 42 In: Ostmark, August 1907, S. 62, zit. n. Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein, S. 137. 43 Wehler, »Von den ›Reichsfeinden‹ zur ›Reichskristallnacht‹«, S. 191. Siehe auch Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 273f. 40 44 gestanden, dass es sich bei dieser Bevölkerungsgruppe um – wenn auch polnischsprachige – Preußen handelte, deren vollständige Integration in die deutschsprachige Mehrheitsbevölkerung wünschenswert, ja geradezu notwendig sei. Diese Radikalisierung war eine Bankrotterklärung der bisherigen Politik, die eine allmähliche Assimilation als natürlichen Gang der Geschichte unterstellt hatte. Zwar wurde immer dringlicher an die Vergangenheit des deutschen Volkes als eines Siedlervolkes erinnert, die angebliche deutsche kulturelle Überlegenheit beschworen und das Ziel der Assimilierung der polnischsprachigen Bevölkerung in einer Reihe von Denkschriften verteidigt. Mit dem Verweis auf die neun Millionen ausgewanderter Deutscher, sei es doch nur – so Ernst Hasse, zwischen 1893 und 1908 Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes – recht und billig, »als Äquivalent etwa die Hälfte jenes Verlustes durch Germanisierung von Fremden wieder einzubringen«. Hasse verteidigte dabei diesen Kurs – und dies ist für die Fragestellung dieses Buches besonders interessant – auch vehement gegen eine neu aufflackernde Kritik von rechts, wonach die Assimilierung nichtdeutscher Bevölkerungsteile möglicherweise eine rassische Gefahr darstellte: »Man fürchtet durch die Eindeutschung der Polen die deutsche Rasse zu verschlechtern. Wir behaupten, dass dies von den auf deutschem Reichsgebiet wohnenden Polen nicht gilt. Diese sind vielfach nur sprachlich Slaven und sind ethnographisch betrachtet von keiner schlechteren Blutmischung als der größte Teil des rechtselbischen Deutschtums. Der deutsche Anteil ihres Blutes stammt aus der Zeit der germanischen Besiedlung des Weichselgebietes vor der Völkerwanderung aus den zahllosen deutschen Kolonisationen dieses Gebietes seit dem Jahre 800. Auch in kultureller Hinsicht stehen die Polen ganz auf deutschen Schultern.«44 Die polnischsprachigen Preußen schienen davon aber wenig beeindruckt. Sowohl die Durchsetzung der deutschen Sprache als auch die Kultur- und Bildungspolitik im Allgemeinen musste zunehmend der Polizei übertragen werden, und als im Schuljahr 1906/07 die Hälfte der Schulen in der Provinz Posen bestreikt wurde, wurden die dem Unterricht fernbleibenden Kinder verprügelt und die Eltern 44 Hasse, Das Deutsche Reich als Nationalstaat, S. 57. 45 der Gendarmerie übergeben.45 Nicht besser verhielt es sich mit den wirtschaftlichen Diskriminierungsmaßnahmen. Die Ansiedlungskommission verschlang zwar bis 1913 eine Milliarde Reichsmark, doppelt so viel wie die gesamte überseeische Kolonialpolitik, scheiterte aber gleichermaßen.46 Bezeichnenderweise ließ sich die preußische Regierung nicht nur von polnischen Landeigentümern, Banken und Genossenschaften ausmanövrieren, sondern geriet darüber hinaus in zunehmend größere Schwierigkeiten, überhaupt »Deutsche« für die ohnehin überschaubare Anzahl von Parzellen zu finden.47 Der ständig unterstellte »deutsche Siedlungswille« wurde schließlich auf dem Rücken von ethnischen Deutschen aus Russland ausgetragen, denen als Einwanderer wenige Alternativen blieben.48 Auf der Strecke blieb die verfassungsmäßige Ordnung Preußens und des Reiches. Der polnische Abgeordnete Anton Sulkowski hatte diese fatale Dynamik bereits 1908 im Preußischen Herrenhaus angesprochen: »Millionen auf Millionen werden geopfert, aber die Millionen genügen nicht – das Kampfspiel verschlingt Punkt auf Punkt des Verfassungsrechts.«49 Wie Peter Walkenhorst zu Recht herausstellt, waren es nicht zuletzt diese ernüchternden Erfahrungen, die radikale Nationalisten wie den Nachfolger Hasses, Heinrich Claß, auf einen Krieg und damit auf Maßnahmen hoffen ließ, die zu Friedenszeiten nicht durchsetzbar waren. Was Claß vorschwebte, war weniger eine Rückkehr zu Bismarcks Deportationspolitik, als vielmehr ihre umfassende Radikalisierung. Einen Ausblick gibt die ursprüngliche Fassung seiner während der zweiten Marokko-Krise entstandenen Flugschrift, in der er dafür eintrat, dass die nach dem kommenden Krieg gegen Frankreich zu annektierenden Gebiete »frei von Menschen« übergeben werden.50 Dieser Passus verschwand zwar auf staatlichen Davies, God’s Playground, S. 135. Siehe ausführlicher auch Kulczycki, School Strikes. Der Alldeutsche Verband forderte gar, die Schulpflicht für polnische Kinder aufzuheben. Teilnehmer an dem Streik sollten »dauernd von dem Schulbesuch ausgeschlossen werden«, Hauptleitung des Alldeutschen Verbandes (Hg.), Zwanzig Jahre alldeutsche Arbeit, S. 299. 46 Laak, Deutscher Imperialismus, S. 86. 47 Boysen, Der Geist des Grenzlands, S. 109. 48 Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 166. 49 Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein, S. 140. 50 Zit. n. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 222. 45 46 Druck, tauchte dann jedoch in seinem wenig später – anonym – publizierten Buch »Wenn ich der Kaiser wär’« wieder auf, diesmal auch gegen Russland gerichtet und auf die Gebiete bezogen, die an das Deutsche Reich im Osten abzutreten waren. Es waren solche Überlegungen, die nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs umstandslos in die Diskussion um die deutschen Kriegsziele einflossen und dieser eine besonders deutliche antipolnische Spitze verliehen. Wie die Planungen des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914 verdeutlichen, zielte das Deutsche Reich in Osteuropa auf eine Abdrängung »Rußland[s] von der deutschen Grenze«, um in dem so entstehenden Machtvakuum einen von deutschem Kapital durchdrungenen und politisch eng an das Deutsche Reich angebundenen Staatengürtel entstehen zu lassen, der die fortdauernde deutsche Hegemonie über Europa garantieren würde.51 Mochten die konkreten Vorstellungen hierzu in Berlin und Wien auch auseinandergehen, bestand das Deutsche Reich doch darauf, die östliche Grenze durch einen zu annektierenden sogenannten Grenzstreifen »abzurunden«. Aufseiten der Reichsleitung findet sich dieser Gedanke das erste Mal in einer Gesprächsnotiz des bayerischen Ministerpräsidenten Georg von Hertling, der nach einem Treffen mit Bethmann Hollweg am 3. Dezember 1914 festhielt, dass dieser im Osten an eine »Grenzregulierung« denke. Hertling fügte noch im selben Satz hinzu, dass »der an Preußen fallende schmale Landstrich von den Russen evacouiert werden soll«.52 Und auch wenn diese Stelle nicht ganz eindeutig ist, da etwa – wie Immanuel Geiss herausstellt – nicht zweifelsfrei zu klären ist, ob Bethmann Hollweg damit nur die Vertreibung der ethnischen Russen oder aber auch die der Polen als russische Staatsangehörige meinte, so spricht der weitere Verlauf der Diskussion doch Zit. n. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 93. In der Sicht Robin Priors und Trevor Wilsons ist das Septemberprogramm ein »terrifying document uncannily foreshadowing the policy of conquest on which Adolf Hitler embarked 20 years later«, Prior/Wilson, First World War, S. 325. Zur Aktualität der »Hamburger Schule« siehe Berghahn, Ostimperium und Weltpolitik. Zu einem Überblick über die unterschiedliche Interpretation des Septemberprogramms in der Forschung siehe Mombauer, The Origins of the First World War, S. 132f., die in diesem Band auch einen konzisen Überblick über den allgemeinen Stand der Forschung zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs gibt. 52 Geiss, Der polnische Grenzstreifen, S. 72. 51 47 für Letzteres. Die folgenden Planungen in den Führungsgremien des Deutschen Reiches wurden von den zwei Fragen bestimmt, wie breit das – in der deutschen zeitgenössischen Diskussion euphemistisch »Grenzstreifen« genannte – polnische Gebiet sein und was mit der dort ansässigen jüdischen und polnischen Bevölkerung geschehen solle. Einigkeit herrschte jedoch darüber, die deutsche Grenze so weit wie möglich nach Osten zu verschieben und nach den ernüchternden Erfahrungen mit der preußischen Germanisierungspolitik möglichst die gesamte dort lebende nichtdeutsche Bevölkerung zu deportieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach dokumentiert Hertlings Gesprächsnotiz bereits das Ende eines ersten politischen Meinungsbildungsprozesses innerhalb der Reichskanzlei, in dem die Annexion polnischer Gebiete beschlossen worden war. In einer zweiten Phase sollte nun die praktische Umsetzung diskutiert werden, wozu bei verschiedenen Stellen Aufforderungen eingingen, Gutachten über Landabtretungen an der deutschen Ostgrenze anzufertigen. Auf zwei der eingegangenen Antworten möchte ich etwas näher eingehen – ein Exkurs, der mir deshalb wichtig erscheint, weil damit ein Blick in die Vorgeschichte der im Zweiten Weltkrieg tatsächlich durchgeführten Bevölkerungsverschiebungen verbunden ist. In der Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität deutscher imperialistischer Politik in Osteuropa kommt ihnen meines Erachtens eine entscheidende Rolle zu. Unter den ersten Eingängen findet sich die Antwort des Oberpräsidenten von Ostpreußen, Adolf von Batocki, vom 20. Dezember 1914. Im »Interesse des Weltfriedens« forderte er die Annexion eines ca. 36000 Quadratkilometer großen Grenzstreifens, um in Osteuropa eine »möglichste Übereinstimmung der Staats- und Sprachengrenzen« herzustellen. Dieser Grenzstreifen sei nicht nur von militärisch-strategischem Nutzen, sondern würde den angeblichen Siedlungswillen der deutschen Reichsbevölkerung stillen und könnte auch als Auffangbecken für die ethnischen Deutschen in Osteuropa dienen, die hierher umzusiedeln wären, um gleichzeitig die »weiße« vor den »so gewaltig überlegenen farbigen Rassen« zu retten.53 Die in diesem Grenzstreifen lebende nichtdeutsche Bevölkerung, die nach Batockis eigenen Berechnungen über 85 Prozent und also fast zwei Millionen Menschen ausmachte, war durch eine »großzügig 53 48 Zit. n. ebenda, S. 75. angelegte Umsiedlung« von hier zu entfernen. Dieser großangelegte Plan zur ethnischen Säuberung Osteuropas traf – wie Batocki ausgerichtet wurde – beim Reichskanzler auf Zustimmung.54 Nur wenige Monate später, am 25. März 1915, legte auch der Regierungspräsident von Frankfurt/Oder, Friedrich von Schwerin, seine nicht weniger radikalen Ausarbeitungen vor. Nach Auffassung Schwerins, der seine Beamtenlaufbahn in der Ansiedlungskommission begonnen hatte und zeit seines Lebens ein vehementer Vertreter der »inneren Kolonisation« blieb, war im Osten durch Zurückdrängung Russlands und territoriale Expansion der Grundstein für die Weltmachtstellung des Deutschen Reiches zu legen. Der zu annektierende Grenzstreifen sollte durch einen Bevölkerungsaustausch besiedelt werden, in dessen Verlauf die nichtdeutsche Bevölkerung durch ethnische Deutsche bis hin aus den Wolgakolonien zu ersetzen war.55 Der entstehende deutsche Siedlungsgürtel sollte die preußischen Polen isolieren und vor die Wahl stellen, sich entweder vollständig zu assimilieren oder ebenfalls in die polnischen Territorien jenseits der Grenze auszuwandern. Die offensichtliche Bereitschaft der Reichsleitung, die Germanisierungspolitik der Vorkriegszeit zu radikalisieren und möglicherweise bereits im Krieg zum Ziel zu führen, wurde aber nicht allein durch die Unterstützung von Spitzen der preußischen Verwaltung geformt und verstärkt, sondern sicherlich auch von einer – zumindest halb öffentlichen – Diskussion beeinflusst, zumal deren Teilnehmer oft Mitglieder der entsprechenden pressure groups waren und damit über gute Verbindungen zu den staatlichen Stellen verfügten. Als Beispiel ist eine sehr frühe Initiative des Berliner Ordinarius und Mitglieds des Ostmarkenverbands Ludwig Bernhard zu nennen, der sich von dem zu Beginn des Krieges ausgesprochenen Verbot, deutsche Kriegsziele öffentlich zu diskutieren, so wenig beirren ließ wie viele andere und eine Denkschrift in Umlauf brachte, die unter dem aufschlussreichen Titel »Land ohne Menschen« die Annexion von polnischem Territorium und den Austausch der dortigen Bevölkerung durch ethnische Deutsche aus Russland forderte. Der Reichskanzler zeigte sich beeindruckt,56 und auch in weiteren Denkschriften wurden Bernhards Forderungen aufgegriffen, wie Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 83. 56 Hagen, Germans, Poles and Jews, S. 286. 54 55 49 etwa in der sogenannten Intellektuellendenkschrift vom 8. Juli 1915. Besondere Beachtung verdient auch ein Beitrag Friedrich Meineckes vom 6. Mai 1915, da dieser noch einen Schritt weiter ging und die Vertreibung der preußischen Polen aus Posen und Westpreußen forderte. Seine Ausführungen enden mit dem Satz: »Früher hätte man das für phantastisch gehalten, und doch ist es nicht unausführbar.«57 Damit hatte Meinecke mühelos selbst die anfänglichen Positionen des Alldeutschen Verbands oder des Ostmarkenvereins hinter sich gelassen, die sich zwar ebenfalls für eine Annexions- und Vertreibungspolitik aussprachen, aber die preußischen Polen ausnahmen.58 Als sich am 13. Juli 1915 die Teilnehmer einer interministeriellen Konferenz in der Reichskanzlei einfanden, um die eingegangenen Denkschriften auszuwerten und das weitere Vorgehen festzulegen, war der Meinungsbildungsprozess bereits weit fortgeschritten. Die Konferenz bestätigte sowohl die Annexion eines Grenzstreifens als auch die vorgesehenen Umsiedlungsmaßnahmen, also die Ersetzung der einheimischen nichtdeutschen Bevölkerung durch vor allem ethnische Deutsche aus Russland. Die deutsche Zivilverwaltung in Polen wurde angewiesen, unauffällig die im Grenzstreifen lebenden ethnischen Deutschen an einem Wegzug zu hindern und nach Möglichkeit bereits mit der Abschiebung der polnischen und jüdischen Bevölkerung zu beginnen, um für die späteren Friedensverhandlungen vollendete Tatsachen zu schaffen.59 Auch wenn diese Anordnungen offensichtlich nicht oder nicht in großem Umfang umgesetzt wurden, hatte das Deutsche Reich damit doch gezeigt, dass es – zumindest auf der Planungsebene – zu einer Politik der ethnischen Säuberung bereit war. Wie zentral der polnische Grenzstreifen für das deutsche Kriegszielprogramm auch im weiteren Verlauf des Krieges blieb, zeigt sich an der Beharrlichkeit, mit der relevante Teile der deutschen Führung auch dann noch an dieser Forderung festhielten, als sie sich längst eindeutig als dysfunktional erwiesen hatte, da sie jeden Anlauf torpedierte, die Polen jenseits der eigenen Grenzen als Verbündete zu gewinnen. Die zunehmend feindliche Haltung der Bevölkerung in Zit. n. Wehler, »Von den ›Reichsfeinden‹ zur ›Reichskristallnacht‹«, S. 197. Siehe etwa Geiss, Der polnische Grenzstreifen, S. 49; Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 141, sowie Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein, S. 225–227. 59 Geiss, Der polnische Grenzstreifen, S. 91–96. 57 58 50 den besetzten polnischen Gebieten zwang die Reichsleitung 1917 schließlich zum Umdenken. Zwar konnte man sich auch aus bevölkerungspolitischen Gründen nicht dazu durchringen, auf die Annexion des Grenzstreifens ganz zu verzichten, drängte aber doch auf seine Reduktion. Während die Reichsleitung also die Planungen für ein großangelegtes Umsiedlungsprojekt noch nicht aufgegeben hatte, das die Aussiedlung der ethnischen Deutschen aus Russland und sogar aus den nicht deutschen Gebieten Österreich-Ungarns anstrebte, drängte Bethmann Hollweg gegenüber der Obersten Heeresleitung im April 1917 gleichzeitig auf eine deutliche Verkleinerung des Grenzstreifens. Der sich hier abzeichnende Richtungswechsel innerhalb der zivilen Führungsspitze des Deutschen Reiches führte diese schnell in einen immer ernsteren Konflikt mit der Obersten Heeresleitung. Freilich war dieser Richtungswechsel der Reichsregierung nichts anderes als eine Reaktion auf die sich verschlechternde militärische Lage an der Ostfront. Als diese sich 1918 mit dem militärischen Zusammenbruch Russlands schlagartig besserte, ließ sich der neue Reichskanzler Georg von Hertling sofort von der Siegeszuversicht der Obersten Heeresleitung (OHL) mitreißen. Neben weiträumigen Enteignungen forderte Ludendorff wiederum ein umfangreiches Umsiedlungsprogramm. Und auch nachdem den Alliierten die ersten großen Durchbrüche gelungen waren und die Westfront zu wanken begann, blieb die Reichsleitung standhaft – den Polen gegenüber. Zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Niederlage – in den Worten Geiss’ – »wirklich für jeden Denkenden offensichtlich war«, blamierte sich der Staatssekretär des Äußeren, Paul von Hintze, gegenüber dem polnischen Vertreter in Berlin, Graf Adam Ronikier, indem er diesem noch am 19. September 1918 offiziell die deutschen Forderungen nach Abtretung polnischen Gebiets eröffnete. »Die Deutschen« – so hieß es daraufhin in polnischen Kreisen – »klauen noch auf dem Sterbebett.«60 Im Wissen um die Vorgänge im Zweiten Weltkrieg, in dem Polen eine für die deutschen Kriegszielplanungen noch bedeutendere Rolle gespielt hatte, erscheint es naheliegend, nach Kontinuitäten zu suchen. Hans-Ulrich Wehler etwa sieht in den Vorstellungen des Ostmarkenvereins eine frühe Ausprägung der nationalsozialisti- 60 Zit. n. ebenda, S. 147. 51 schen »Lebensraum«-Ideologie61, während Philip T. Rutherford in einer der jüngsten Studien zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik in Polen bemerkt, die Gemeinsamkeiten seien »so offensichtlich, dass eine Verbindung kaum zu leugnen war«.62 Mit mindestens gleicher Berechtigung kann jedoch darauf hingewiesen werden, dass gerade der Ostmarkenverein bis zuletzt auf die Assimilierung der polnischsprachigen Bevölkerung gedrängt hatte. »Da das Denken in der Kategorie ›Blut‹ dieser Gruppe fremd blieb« – so Harry K. Rosenthal – »verbietet sich eine simple Gleichsetzung mit den späteren Nazis.«63 Und die Umsiedlungsplanungen der Reichsleitung und der Obersten Heeresleitung, die noch am ehesten an die spätere nationalsozialistische Politik erinnern, blieben ebendies: Planungen. So wie vor dem Krieg staatlichem Handeln noch gesetzliche Grenzen gesetzt waren, so war die deutsche Führungsspitze während des Krieges eben nicht bereit, polnisches Gebiet zu annektieren oder die bereits vorliegenden Deportationsplanungen in die Tat umzusetzen. Auch wenn es natürlich zutrifft, dass »Bismarck und Hitler nicht austauschbar waren«, so sollte sich die radikalisierte preußischdeutsche Germanisierungspolitik seit den 1890er Jahren mit ihren Planungen einer ethnischen Säuberung Europas für die spätere Entwicklung doch als entscheidend erweisen: Sie war ein Erfahrungshintergrund, vor dem die Nationalsozialisten ihre Germanisierungspolitik konzipierten.64 Wehler, »Von den ›Reichsfeinden‹ zur ›Reichskristallnacht‹«, S. 191. Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 51 [Übers. G.W.]. 63 Rosenthal, German and Pole, S. 41 [Übers. G.W.]. 64 Forgus, German Nationality Policies in Poland, S. 107 [Übers. G.W.]. 61 62 52 Deutsche Minderheiten in Polen als Komplizen und Instrument deutscher Aggression Völkische Außenpolitik ist ein modernes Phänomen. Noch im Kaiserreich spielten die Auslandsdeutschen keine nennenswerte außenpolitische Rolle.65 Die Niederlage im Ersten Weltkrieg sollte dies ändern. Geschwächt und den Beschränkungen des Versailler Vertrages unterworfen, waren es zunächst die Weimarer Republik und dann das nationalsozialistische Deutschland, die im Bemühen, alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren, die deutschen Minderheiten in den neuentstandenen Staaten Ostmitteleuropas als verlängerten Arm der eigenen aggressiven Interessen ausmachten und in diesen Gruppen aktive Kooperationspartner fanden. Revisionismus in der Weimarer Republik In Versailles hatte das Deutsche Reich alle Hoffnung auf ein deutsch dominiertes Osteuropa begraben müssen. Anstelle eines deutschen Großwirtschaftsraums sah sich Berlin nun mit einer Reihe unabhängiger Staaten konfrontiert, die zudem von Frankreich in ein Bündnissystem einbezogen wurden, das jedem weiteren »Drang nach Osten« einen Riegel vorschieben sollte. Legitimation bezog diese neue osteuropäische Staatenwelt aus Wilsons 14-Punkte-Programm. Wilson glaubte, mit dem dort proklamierten Recht auf nationale Selbstbestimmung zugleich die Lösung für die nationalistischen Auseinandersetzungen gefunden zu haben, die er für den Ausbruch des Krieges verantwortlich machte.66 Dem war mitnichten so. Wie unlängst Eric D. Weitz anmerkte, markierte Versailles den »Wandel vom Wiener zum Pariser System«, in dem staatliche Souveränität nicht mehr in erster Linie oder gar allein territorial bestimmt war, sondern sich auch im Verhältnis zur dort lebenden Bevölkerung oder den dort lebenden ethnisch oder religiös bestimmten Bevölke65 66 Seckendorf, »Kulturelle Deutschtumspflege«, S. 116. Sharp, »The genie that would not go back into the bottle«, S. 10f. Ähnlich auch Zimmer, Nationalism in Europe, S. 60, und Hobsbawm, Nation and Nationalism, S. 132f. 53 rungsgruppen erweisen musste.67 Während dem Ruf nach nationaler Selbstbestimmung nachgegeben und in Mittel- und Osteuropa aus der Konkursmasse der alten Reiche neue Staaten entstanden, sollte der Nationalismus gleichzeitig durch Minderheitenschutzverträge, die diesen Staaten aufgezwungen wurden, im Zaum gehalten werden.68 Erfolgreich war diese Politik nicht: »Der Geist […] war nicht mehr in die Flasche zurückzudrängen.«69 Gerade dort, wo ein Staat seine Legitimität von der Bevölkerung oder besser gesagt vom »Volk« ableitete und dieses ethnisch definierte, lag es nahe, die Existenz von ethnischen Minderheiten als Bedrohung zu begreifen. Dadurch rückte das Ideal ethnisch homogener Nationalstaaten »ins Zentrum der europäischen Politik der Zwischenkriegszeit«.70 Die Revision des Versailler Vertrages war das zentrale außenpolitische Ziel aller Regierungen der Weimarer Republik. Dabei ging es nicht allein um die Aufhebung der Einschränkungen der deutschen Souveränität, sondern auch um die Rückgliederung verlorener Gebiete. Letzteres gerann sehr bald zu einer antipolnischen Politik, die sich die Wiederbesetzung der ehemals preußischen Landesteile zum Ziel setzte. Angesichts der in den östlichen Grenzgebieten anstehenden Volksabstimmungen und der verzweifelten Versuche der Reichswehr sowie einer Vielzahl paramilitärischer Selbstschutzverbände und Freikorps, das Blatt doch noch mit Gewalt zu wenden, wird auch die erstaunlich anmutende deutsche Freude über den sowjetischen Vormarsch im Osten Polens verständlich. Unzufrieden mit der östlichen Grenzziehung der Siegermächte, war die polnische Armee in die Sowjetunion eingefallen und zunächst nur knapp einer militärischen Katastrophe entgangen – Siege, die in Berlin gefeiert wurden, »als ob es sich um deutsche militärische Erfolge handele«.71 Die überraschende Wendung vor Warschau im August 1920 und der für Polen vorteilhafte Frieden war für die deutsche Außenpolitik jedoch kein Anlass, den Weitz, From the Vienna to the Paris System, S. 1314 [Übers. G.W.]. Zu den Minderheitenverträgen siehe etwa Riga/Kennedy, »Tolerant majorities, loyal minorities«; zu Polen Fink, »The minorities question at the Paris Peace Conferences«. Zu einer zeitgenössischen Einschätzung siehe Woolsey, »The Rights of Minorities«. 69 Sharp, »The genie that would not go back into the bottle«, S. 9 [Übers. G.W.]. 70 Mazower, Dark Continent, S. 42 [Übers. G.W.]. 71 Kotowski, Polens Politik, S. 197. 67 68 54 bis dahin gehegten Glauben an einen unmittelbar bevorstehenden Kollaps des polnischen Staates aufzugeben. Stattdessen setzte man in Berlin auf eine Wiederauflage der alten deutsch-russischen Politik der Einkreisung Polens.72 Diese Politik erfuhr durch den im April 1922 unterzeichneten Vertrag von Rapallo einen entscheidenden Auftrieb. Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, der bereits unmittelbar nach dem Krieg reguläre Truppen in den »Grenzschutz Ost« überführt und diesen im Kampf gegen polnische Einheiten kommandiert hatte, gab dieser Hoffnung folgendermaßen Ausdruck: »Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Rußland, mit deutscher Hilfe.«73 Dass von Seeckt damit nicht allein die Stimmung der auf Revanche sinnenden Reichswehr wiedergab, sondern vielmehr den Kern der Regierungspolitik beschrieb, bestätigte der liberale Zentrumsabgeordnete und Reichskanzler Joseph Wirth, als dieser nach Vertragsunterzeichnung erklärte: »Polen muß erledigt werden. Auf dieses Ziel ist meine Politik eingestellt. […] In diesem Punkt bin ich ganz einig mit den Militärs, besonders mit dem General von Seeckt.«74 Es war erst der Antritt Gustav Stresemanns als Reichskanzler und Außenminister, der 1924 einen Wandel in der deutschen Haltung gegenüber Polen einleitete. Wie Stresemann in einer geheimen Ressortsitzung aller preußischen und reichsdeutschen Ministerien kurz nach seinem Amtsantritt klarstellte, fühlte auch er sich der Revision des Versailler Vertrages verpflichtet: »Die Schaffung eines Staates, dessen politische Grenze alle deutschen Volksteile umfaßt, die innerhalb des geschlossenen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben und den Anschluß an das Reich wünschen, ist das ferne Ziel deutschen Hoffens.«75 Er war aber gewillt, das politisch Mögliche als Prämisse einer neuen deutschen Außenpolitik zu akzeptieren. An die Stelle eines undifferenzierten Konfrontationskurses setzte er eine Politik, die eine vorsichtige Annäherung mit einer schrittweisen Revision zu verbinden verstand und im Kern auf eine Spaltung Europas zielte. Zugeständnisse in Westeuropa, hier vor allem an das Peukert, Die Weimarer Republik, S. 201. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 218. 74 Zit. n. Deutsche und Polen, S. 28. 75 Zit. n. Haar, »Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung«, S. 379. 72 73 55 Sicherheitsbedürfnis Frankreichs, sollten Verständnis für deutsche Forderungen nach einer – nicht militärischen – Änderung des Status quo in Osteuropa wecken.76 Wie vielversprechend diese Kursänderung war, zeigte sich bei der Unterzeichnung der Verträge von Locarno im Dezember 1925, in denen die Weimarer Republik die Garantie der Westgrenze unter anderem gegen die Aufnahme in den Völkerbund und den Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland eintauschte. Der Plan eines »Ost-Locarno«, also vergleichbare Grenzgarantien für Polen und die Tschechoslowakei, scheiterte dagegen am deutschen Widerstand. Vor dem Auswärtigen Ausschuss des Reichstags lehnte Stresemann selbst einen expliziten Gewaltverzicht zur Änderung der deutschen Ostgrenze ab, da dieser eine Besitzstandsanerkennung impliziert hätte.77 In Locarno den Anfang der »Verfallsgeschichte des europäischen Sicherheitssystems«78 zu verorten, erscheint deshalb auch nicht übertrieben, legte die Weimarer Republik doch eine »erste Etappe auf dem Wege der erstrebten Revision des Versailler Vertrages«79 zurück, während Polen die Unterordnung der eigenen Sicherheitsinteressen unter die seiner westlichen Verbündeten hinnehmen musste, die Polens Westgrenze zu einer »Grenze zweiter Klasse«80 degradierten. Der neugewonnene Spielraum, der sich aus der Entspannung im Westen ergab, wurde von der Weimarer Republik konsequent genutzt. In der Erfahrung, dass Polen sich durchaus nicht als der »Saisonstaat« entpuppt hatte, als der es nach dem Krieg diffamiert worden war, versuchte Berlin nun die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Warschaus auszunutzen und suspendierte den deutsch-polnischen Warenaustausch.81 Die wirtschaftlichen Beziehungen sollten so lange ausgesetzt bleiben, bis – so Stresemann in seiner Begründung – die »wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den äußersten Grad erreicht und den gesamten polnischen Staatskörper in einen Zustand der Ohnmacht gebracht hat« und das Land »für eine unseren Wünschen entsprechende Regelung der Grenzfrage reif« sei.82 Wright, Gustav Stresemann, S. 269–271, 314f. u. 409–412. Siehe auch Stresemanns Vergangenheit im Alldeutschen Verband, ebenda, S. 52–54. 77 Wagner, »Die Weimarer Republik und die Republik Polen«, S. 41. 78 Schramm, Der Kurswechsel der deutschen Polenpolitik, S. 31. 79 Hoensch, »Deutschland, Polen und die Großmächte«, S. 20. 80 Ebenda, S. 10. 81 Siehe Puchert, Der Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus. 82 Zit. n. Zorn, »Nach Ostland geht unser Ritt«, S. 48. 76 56 Der Wirtschaftskrieg, der die Weimarer Republik ihren Zielen keinen Schritt näher brachte, konnte dennoch auf die breite Unterstützung aller politischen Parteien zählen, war doch die »Forderung nach einer umfassenden Revision der Ostgrenze« längst zu »einem der wenigen echten nationalen Integrationsfaktoren« geworden.83 Moralische Legitimität für die antipolnische Destabilisierungspolitik suchte die Weimarer Republik mit dem Verweis auf die deutschen Minderheiten zu gewinnen. Diese seien schließlich nicht nur in flagranter Verletzung des 14-Punkte-Programms Wilsons in den polnischen Staat gezwungen worden, sondern auch einem Assimilierungsprozess ausgesetzt, der durch die unterzeichneten Minderheitenschutzabkommen hätte ausgeschlossen werden sollen. Die Berufung auf Wilson trug jedoch nicht, da dessen Friedensprogramm explizit die Errichtung eines souveränen polnischen Staates mit Zugang zum Meer vorsah sowie auch die Minderheitenschutzverträge kein wie auch immer geartetes Kollektiv mit Gruppenrechten ausstatteten, sondern vielmehr – dem westlichen Liberalismusverständnis entsprechend – das Individuum als Rechtssubjekt in den Mittelpunkt stellten und diesem die freie Wahl seiner ethnischen Identität sicherten.84 Verhindert werden sollte »die Unterdrückung von Minderheiten«, nicht jedoch »die Assimilierung ethnischer Gruppen«, die im Gegenteil im Umfeld des Völkerbundes als unvermeidlicher Prozess betrachtet wurde, der zudem – wenn er denn friedlich verlaufe – als Lösung für die nationalistischen Spannungen der Gegenwart zu begrüßen sei.85 Im Auswärtigen Amt wurde dies anders gesehen. Die deutschen Minderheiten – so eine Denkschrift vom Juli 1928 – seien »mit allen Mitteln […] zu erhalten«, da »dies die Voraussetzung für eine günstige Lösung der Korridor- und der oberschlesischen Frage« darstelle.86 Es war diese Funktion als »lebenHoensch, »Deutschland, Polen und die Großmächte«, S. 23. Dies hinderte jedoch auch polnische Historiker aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, die Position der polnischen Regierung der Zwischenkriegszeit zu teilen und in diesen Verträgen eine Möglichkeit für die großen Mächte zu sehen, »sich unter dem Vorwand in die inneren Angelegenheiten zu mischen, für das Interesse der dortigen Minderheiten einzustehen«, Czapliński, »The Protection of Minorities«, S. 126 [Übers. G.W.]. 85 Komjathy/Stockwell, German Minorities, S. X [Übers. G.W.]. Siehe auch Mazower, Dark Continent, S. 53f. u. 57, sowie Sharp, »The genie that would not go back into the bottle«, S. 25. 86 Zit. n. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 228. 83 84 57 diges Symbol und Brückenkopf revisionistischer Forderungen«, die den deutschen Minderheiten ungeteilte Aufmerksamkeit und massive Hilfe Berlins eintrugen.87 »Hinter der Minderheitenpolitik«, so konzedierte Martin Broszat, »stand die Grenzfrage und erst dadurch erhielt auch erstere ihren politischen Sprengstoff«.88 Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass die unmittelbar nach dem verlorenen Krieg einsetzende Massenabwanderung von deutscher Bevölkerung in Berlin große Besorgnis hervorrief. Die Gründe für die Abwanderung wurden – so Christian Jansen und Arno Weckbecker – gerade auch in der deutschen Geschichtsschreibung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg allein der polnischen Politik angelastet, während die neuere Forschung die Ursachen »primär bei den Deutschen selbst und ihrer Mentalität« sehe.89 Letztere Sichtweise hatte sich bereits 1919 dem deutschen militärischen Überleitungskommissar in Posen aufgedrängt, der Zeuge der fast panikartigen Flucht der deutschen Bevölkerung wurde, die an massive staatliche Subventionen gewöhnt und von diesen »zur Unselbständigkeit erzog[en]« worden waren.90 Przemysław Hauser hingegen betont eher die fehlende Anpassungsbereitschaft, in Zukunft »ohne den Status des Herrenvolks« leben zu müssen.91 Die Weimarer Republik war nicht bereit, sich mit dieser Entwicklung abzufinden. Bereits im September 1920 erklärte ein Lagebericht der deutschen Botschaft, dass die deutschen Minderheiten in Polen noch lernen müssten, dass – wie Albert Kotowski die Aussage dieses Schreibens zusammengefasst hat – »ihr Ausharren in Polen ihre erste nationale Pflicht sei«.92 Um diese politischen Forderungen durchzusetzen, verschärfte Berlin im April 1921 die Einreise-, Passund Visumsbestimmungen und machte zudem Entschädigungszahlungen für zurückgelassenes Eigentum von Erklärungen von Organisationen der Deutschen in Polen abhängig, die die Ausweglosigkeit des Auswanderers bescheinigen mussten.93 Berlin erkannte aber bald, dass allein eine drastische Verbesserung der Situation in Polen Zimmer, Nationalism in Europe, S. 62 [Übers. G.W.]. Zit. n. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 228. 89 Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 22. 90 Zit. n. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 212. 91 Hauser, »Die deutsche Minderheit in Polen«, S. 68. 92 Kotowski, Polens Politik, S. 197. 93 Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 50–53. Siehe auch Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 187f. 87 88 58 die Abwanderung auch der restlichen Deutschen verhindern könnte würde. Der Aufbau eines verzweigten und finanzkräftigen Organisationsgeflechts in Deutschland und in Polen sollte dies sicherstellen. In keinem anderen Bereich ist Richard Blankes These, wonach die Entwicklung der deutschen Minderheiten »abgelöst vom außenpolitischen Kontext« zu untersuchen sei, so irreführend wie in der Frage der Organisierung dieser Gruppen.94 Die »Frontstellungen«, wie Hans-Adolf Jacobsen das Verhältnis der sich oft heftig befehdenden Organisationen der Deutschen in Polen treffend bezeichnete, sind im Gegenteil ohne ihre außenpolitische Dimension nicht zu verstehen, sondern nur vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Beziehungen und der engen Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den deutschen Minderheiten und Berlin.95 Gerade Letzteres wurde bereits in den Anfängen überdeutlich. Noch bevor der genaue Grenzverlauf bekannt war, schlossen sich parteiübergreifend Abgeordnete der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung und der Nationalversammlung in Berlin 1919 zu einem Parlamentarischen Aktionsausschuss Ost zusammen.96 Weil die alliierte Kontrolle des Reichshaushalts aber eine direkte politische und finanzielle Förderung der Deutschen in den Abtretungsgebieten ausschloss, wurde im Januar 1920 die Tarnorganisation Konkordia Literarische Gesellschaft mbH unter Max Winkler gegründet.97 Winkler verfügte über erhebliche Geldmittel, die für den Aufkauf deutscher Zeitungen im Ausland bereitgestellt wurden, um deren Existenz zu sichern, und die Konkordia in kürzester Zeit zu einem gewaltigen Zeitungskonzern anwachsen ließ, der fast die gesamte auslandsdeutsche Presse kontrollierte. Noch entscheidender war die im November desselben Jahres gegründete Deutsche Stiftung (DS) unter dem ehemaligen RegieBlanke, »The German Minority in Inter-war Poland«, S. 88 [Übers. G.W.]. Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 580. Siehe auch Hauser, Die deutsche Minderheit in Polen, S. 67. 96 Fiedor, »The Attitude of German Right-Wing Organizations«, S. 248, Hauser, »Die deutsche Minderheit in Polen«, S. 69; Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 13. 97 Winkler avancierte bald zu einer der zentralen Figuren der Volkstumspolitik und sollte nach der Besetzung Polens als Leiter der Deutschen Treuhandgesellschaft die wirtschaftliche Ausplünderung Polens durchführen, siehe Rosenkötter, Treuhandpolitik, sowie Dingell, Treuhandstelle Posen. 94 95 59 rungsassessor der Provinzialregierung in Bromberg und späteren Regierungsrat des preußischen Innenministeriums, Erich KrahmerMöllenberg, neben Winkler eine weitere graue Eminenz der Volkstumspolitik. Im Unterschied zur Konkordia war die Deutsche Stiftung jedoch enger an Regierungsstellen angebunden und agierte – wie es in einer Denkschrift von 1925 hieß – als »verschleierte Dienststelle« des Auswärtigen Amtes.98 Aufgabe der Deutschen Stiftung war es, »die Deutschen jetzt polnischer Staatsangehörigkeit […] in ihrem Deutschsein zu stärken und die deutsche Volksgruppe als eigenständigen kulturellen Faktor zu erhalten«.99 In Polen war bereits die Rede von einer einzigen deutschen Minderheit irreführend, suggerierte dies doch eine Gruppe, deren Mitglieder sich aus historischen, religiösen oder anderen Gründen miteinander verbunden fühlten. Dies traf für die Deutschen in Polen nur in sehr eingeschränktem Maße zu. In der Sicht Valdis O. Lumans stellten sie sogar »die heterogenste aller deutschen Minderheiten«100 dar. Ihre Angehörigen lebten verteilt über das ganze Land in sechs verschiedenen Regionen,101 von denen vor allem die Oberschlesier dem katholischen Glauben angehörten, während die Protestanten im Westen Anhänger des Posener Konsistoriums und im Osten der Evangelisch-Augsburgischen Kirche waren. Zu den religiösen und kulturellen Unterschieden kamen noch die ebenfalls stark differierenden politischen Präferenzen hinzu: Das durch die Schwerindustrie geprägte Oberschlesien war noch bis 1918 eine Hochburg der Zentrumspartei gewesen, die wiederum von der Deutschen Katholischen Volkspartei (DKVP) beerbt wurde, während im agrarischen Großpolen und Pommerellen die Deutschnationale Volkspartei dominierte und in Łódź gar eine Deutsche ArZit. n. Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 16. Ebenda, S. 21. 100 Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 93 [Übers. G.W.]. 101 Dies waren Posen und Pommerellen (1926 ca. 342000 Deutsche), Oberschlesien (ca. 300000), Bielitz-Biala (ca. 30000), Mittelpolen (ca. 350000), Wolhynien (47000–60000) und Galizien (ca. 60000), siehe Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 582. Die Zahlen sind dabei heftig umstritten. So gibt die offizielle polnische Volkszählung von 1931 für Mittelpolen nur 254522 und für Oberschlesien gemeinsam mit dem Teschener Gebiet lediglich 91207 Menschen an, die jeweils zur deutschen Minderheit gezählt werden konnten, siehe Hauser, »Die deutsche Minderheit in Polen«, S. 87. 98 99 60 beiterpartei gegründet worden war, die vor allem unter der Arbeiterschaft der Textilwerke eine große Rolle spielte.102 Mit Ausnahme einer kurzen Zeit Anfang der 1920er Jahre konnten sich die deutschen Minderheiten deshalb auch auf keinen landesweiten Verband verständigen. In Großpolen und Pommerellen etwa schlossen sich unmittelbar nach dem Krieg die deutschen Parteien von der SPD bis zur radikalen Rechten und den freien Gewerkschaften zur Zentralarbeitsgemeinschaft der deutschen Parteien (ZAG) zusammen, einem lockeren Bündnis, das in einer gewissen Distanz zu Berlin ein gemeinsames Vorgehen koordinieren sollte. Als die nationalistischen Kräfte eine engere Anlehnung an Deutschland forderten und sich damit innerhalb der Zentralarbeitsgemeinschaft nicht durchsetzen konnten, spalteten sie sich ab und zogen das Auswärtige Amt, das in der Zwischenzeit zum federführenden Ministerium in allen Belangen der deutschen Minderheiten avanciert war, auf ihre Seite. Die Beamten in Berlin torpedierten die Vermittlungsversuche der Sozialisten, die für einen Kompromiss im Rahmen der Zentralarbeitsgemeinschaft plädierten, und forderten stattdessen den schrittweisen Übertritt ihrer Mitgliedsorganisationen in einen neu zu gründenden Verband mit anschließender Auflösung der Zentralarbeitsgemeinschaft. Bis auf die linken Parteien kamen alle Gruppierungen dieser Aufforderung nach und bildeten im Mai 1921 den Deutschtumsbund zur Wahrung der Minderheitenrechte in Polen (DB), der zur »alleinige[n] Kontaktstelle« des Auswärtigen Amtes für alle finanziellen Transaktionen wurde.103 Nichts – so Norbert Krekeler – kann deutlicher die These belegen, dass es sich bei der Entwicklung der deutschen Organisationen in Polen »weniger um einen autonomen Prozeß innerhalb des Deutschtums, sondern wohl eher um eine weitgehend von Berlin gesteuerte Entwicklung [handelte], deren Richtung sich vornehmlich aus den Notwendigkeiten der deutschen Außenpolitik ergab«.104 Zu einer Übersicht über die Vereine deutscher Minderheiten in Oberschlesien siehe Greiner/Kaczmarek, »Vereinsaktivitäten der Deutschen in Polnisch-Oberschlesien«. Zu den ethnischen Konflikten in Łódź siehe etwa Kossert, »Protestantismus in Lodz«, S. 89, zur Deutschen Arbeiterpartei in Polen siehe Kotowski, Polens Politik, S. 16f., sowie Hauser, »Die deutsche Minderheit in Polen«, S. 73. 103 Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 27. 104 Ebenda. 102 61 So entscheidend die umfangreichen Geldtransfers für den Stopp der Auswanderungswelle waren, so sicher weckten sie aufseiten der deutschen Minderheiten Polens neue Begehrlichkeiten nach weiterer Hilfe. Die ökonomische Verfassung Polens war in der Tat angespannt, sah es sich doch bei seiner Wiedergründung vor enorme Aufgaben gestellt. Die unterschiedlichen Verwaltungs-, Rechts-, Finanz-, Verkehrs- und Bildungssysteme der drei Teilungsgebiete mussten zusammengeführt und die unzulängliche und unausgeglichene Wirtschaftsstruktur überwunden werden.105 Letzteres wurde nicht zuletzt dadurch erschwert, dass gerade die wirtschaftlichen Zentren durch ihren Einschluss in das neue Polen ihre alten Absatzmärkte in Deutschland und im früheren Russland verloren hatten. Dies galt nicht nur für die Textilindustrie in Łódź oder den oberschlesischen Bergbau, sondern auch für die leistungsfähige Landwirtschaft im Nordwesten. Der Abwärtstrend, in den die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe gerieten, verdankte sich also weniger diskriminierenden Maßnahmen Warschaus, sondern war vielmehr Ausdruck einer allgemeinen Krise des gesamten Agrarsektors Polens, die – da die meisten Menschen von der Landwirtschaft lebten – auch enormen sozialen Sprengstoff barg. Erschwerend hinzu kam die ungleiche Verteilung des Bodens. Während 50 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche einer kleinen Minderheit von einem Prozent der Landbesitzer gehörte, drängten sich zwei Drittel der Bauern auf lediglich 15 Prozent dieser Fläche. Dies reichte oft nur für die Selbstversorgung, an eine Produktion von Überschüssen und die Akkumulation von Kapital war nicht zu denken.106 Der deutsche Grundbesitz war Teil dieses Problems: Während 1921 in Großpolen 36 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe über 50 Hektar deutschen Besitzern gehörte, waren es in Pommerellen sogar 43,7 Prozent.107 Als die Bodenreform am 28. Dezember 1925 verabschiedet wurde, war sie von den dominierenden konservativen Kräften zwar so weit entschärft worden, dass sie die Lage nicht grundsätzlich veränderte. Aber ihre zentrale Bestimmung, die die Parzellierung von Großgrundbesitz über 150 Hektar erlaubte, traf den deutschen Großgrundbesitz dennoch empfindlich, Hoensch, »Deutschland, Polen und die Großmächte«, S. 20. Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 14. 107 Wynot, »The Polish Germans«, S. 30. 105 106 62 zumal diese Reform geradezu dazu einlud, die Enteignungs- mit der Minderheitenfrage zu verbinden. An der starken Stellung der deutschen Grundbesitzer änderte dies freilich wenig: So war die deutsche Bevölkerung 1931 sowohl in Großpolen als auch in Pommerellen zwar auf 10 Prozent zusammengeschrumpft, kontrollierte aber in Großpolen 29 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, wobei die Betriebsgrößen in der Regel bei über 100 Hektar lagen, während in Pommerellen immerhin 22 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und sogar 60 Prozent des Bodens in Gütern über 180 Hektar in deutschen Händen geblieben waren.108 Wenn sich die wirtschaftliche Situation des deutschen Großgrundbesitzes in Polen dennoch verschlechterte, dann war dies auf die allgemeine wirtschaftliche Lage in Polen und nicht zuletzt auf den 1925 von deutscher Seite vom Zaun gebrochenen Wirtschaftskrieg zurückzuführen, der gerade exportorientierte Betriebe in neue Schwierigkeiten gebracht hatte. Die neuen Forderungen beschleunigten in Berlin dennoch einen Wandel in der Behandlung der deutschen Minderheiten. Seitdem spätestens mit Locarno alle Hoffnungen auf einen unmittelbaren Kollaps des polnischen Staates zu den Akten gelegt worden waren, musste auch die finanzielle Unterstützung der ethnischen Deutschen der veränderten Lage angepasst werden. Sollte weiterhin eine die Revisionsansprüche legitimierende ausreichend große Zahl an Deutschen von ihrer Abwanderung aus Polen abgehalten werden, so würde die Bezuschussung kultureller Belange nicht länger ausreichen, sondern – dies wurde den Planern im Auswärtigen Amt bald klar – durch eine massive Subventionierung der ökonomischen Existenz flankiert werden müssen. Den polnischen Behörden war nicht entgangen, dass die Organisationen der deutschen Minderheiten zunehmend unter den Einfluss Berlins geraten waren, und hatten 1923 den Deutschtumsbund aufgelöst. Seinen Platz versuchte 1924 mit wenig Erfolg die Deutsche Vereinigung in Sejm und Senat einzunehmen, eine lose Dachorganisation der deutschen Abgeordneten.109 Das Auswärtige Amt sah sich Ebenda. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Besitzverhältnisse in dem an Polen gefallenen Teil Oberschlesiens. Hier waren 1939 noch über 55 Prozent der Schwerindustrie in deutscher Hand, Kaczmarek, »Die deutsche wirtschaftliche Penetration in Polen«, S. 260. 109 Wynot, »The Polish Germans«, S. 51. 108 63 mit einer Reihe kleinerer Organisationen konfrontiert und machte jede weitere Mittelanweisung von der Bildung eines zentralen Gremiums abhängig. Diese »Anregung« führte schließlich zur Gründung des Fünfer-Ausschusses, der als oberste Instanz aller deutschen Wirtschaftsverbände in Großpolen und Pommerellen zum wichtigsten Gremium der deutschen Minderheit avancierte und der Kredite nach Vorgaben des Auswärtigen Amtes ausschließlich an politisch zuverlässige, »bewusste Deutsche« vergab.110 Zur großzügigeren finanziellen Unterstützung der ethnischen Deutschen wurde 1926 der Ossa-Konzern gegründet, ebenfalls eine »Hilfskonstruktion des Auswärtigen Amtes« mit Krahmer-Möllenberg und Winkler in der Geschäftsführung.111 Hatte zunächst hauptsächlich der Großgrundbesitz von dem Berliner Geldregen profitiert, während zum Beispiel die ostoberschlesische Industrie wegen des befürchteten Kapitalbedarfs noch Anfang 1926 von Stresemann persönlich ausdrücklich von der Kreditvergabe ausgenommen wurde, fielen mit Gründung der Ossa auch diese letzten Vorbehalte: »Volksdeutsche« Industrielle in Ostoberschlesien erhielten bis zum April 1933 etwa 60 bis 70 Millionen RM.112 Spätestens als ab 1928 Krahmer-Möllenberg zugeben musste, dass sie den »Charakter echter Kredite verloren« hatten und zur reinen Subventionierung mutiert waren, trat das ausschließlich politische Ziel dieser Zahlungen offen zutage.113 Wenn es dafür noch zusätzlicher Beweise bedurft hätte, lieferte sie die Weltwirtschaftskrise, die auch die deutschen Minderheiten in Polen in weitere Bedrängnis brachte. Als das Kabinett Brüning den außenpolitischen Kurs Stresemanns radikalisierte, den Übergang zur »Großraumpolitik« vollzog und in der deutschen Öffentlichkeit eine vehemente Diskussion um den »Korridor« losbrach, sahen die Vertreter der Deutschen in Pommerellen ihre Gelegenheit gekommen, Reichskanzler Brüning Ende 1930 neue Forderungen zu präsentieren:114 Entweder würden weitere günstige Kredite und ein Zollkontingent für die verbilligte Ausfuhr von Weizen gewährt, oder man müsse der eigenen »Gefolgschaft reinen Wein einschenken und ihr Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 67. Ebenda, S. 96. 112 Ebenda, S. 96 u. S. 104. 113 Ebenda, S. 120. 114 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 202. 110 111 64 volle Handlungsfreiheit zurückgeben«.115 Die Ossa wurde angewiesen, die Ausgaben für Großpolen und Pommerellen anzuheben.116 Verkehrte Verhältnisse: Ausgleich mit Polen als Voraussetzung nationalsozialistischer »Lebensraum«-Politik Es mag paradox erscheinen, dass ausgerechnet die Machtübergabe an die Nationalsozialisten eine – vorübergehende – Entspannung des Verhältnisses zu Polen brachte. Im Unterschied zu allen früheren Regierungen glaubte Hitler, seine expansiven außenpolitischen Ziele nicht durch eine weitere Radikalisierung der gegenseitigen Beziehungen gefährden zu dürfen. Die Nationalsozialisten beendeten den Wirtschaftskrieg mit Polen und unterzeichneten im Januar 1934 einen Nichtangriffspakt, in dem das Deutsche Reich erstmalig eine gewaltsame Grenzkorrektur ausschloss – ein sichtbarer Bruch mit der Außenpolitik der Weimarer Republik und sicherlich die »wichtigste, die einzig wichtige Wende im deutschen Umgang mit seinen östlichen Partnern«.117 So unverständlich dieser Vertrag vielen Zeitgenossen erschien, so logisch fügte er sich in die außenpolitischen Zielvorstellungen des Nationalsozialismus ein.118 Im unveröffentlicht gebliebenen »Zweiten Buch« hatte Hitler die Stoßrichtung einer nationalsozialistischen Außenpolitik vorgegeben: Anstelle einer starren Fixierung auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1914, die er als »wahnsinnig« kritisierte, da sie die gesamte Siegerkoalition als Feind konserviere, forderte er den Übergang »zu einer klaren weitschauenden Raumpolitik«119 und richtete sein Augenmerk über Pommerellen und Oberschlesien hinaus auf die Sowjetunion.120 Polen, dessen politiKrekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 132. Waren zwischen 1925 und 1931 37,5 Millionen Reichsmark in diese Region geflossen, so wurden die Mittel für das Jahr 1932 auf 13 Millionen und für 1933 auf 16 Millionen RM erhöht, siehe ebenda, S. 145. 117 Schramm, Der Kurswechsel der deutschen Polenpolitik, S. 23. 118 Wollstein, »Die Politik des nationalsozialistischen Deutschlands«, S. 795. 119 Zit. n. Weinberg, Hitlers Zweites Buch, S. 163. 120 Zu der Bedeutung der »Lebensraum«-Ideologie für Hitlers Weltbild siehe Jäckel, Hitlers Herrschaft, S. 29–54; Kershaw, Hitler. 1889–1936, S. 149–151 u. 240–250, sowie Smith, The ideological origins, S. 83–111; Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 166–172; Puschner, Die Völkische Bewegung, S. 151–155, die auch auf die Bedeutung dieses Konzepts für die völkische Rechte in wilhelminischer Zeit eingehen. 115 116 65 sche Elite stark antikommunistisch geprägt war und nach wie vor nicht alle Expansionshoffnungen zulasten der Sowjetunion aufgegeben hatte, drängte sich in dieser Vorstellung als Juniorpartner geradezu auf. Die Interessen der deutschen Minderheiten wurden diesem strategischen Kurswechsel wie selbstverständlich untergeordnet. Um jegliche Irritationen vonseiten »volksdeutscher« Interessenvertreter auszuschließen, bemühte sich Rudolf Heß um die Gleichschaltung der noch nicht unmittelbar staatlicher Kontrolle unterworfenen Deutschtumsverbände, hatte Hitler ihn doch am 27. April 1933 nicht nur zu seinem Stellvertreter ernannt, sondern auch mit der Volkstumspolitik betraut. Erstes Ergebnis war die Gründung des Volksdeutschen Rates (VR) im Oktober 1933 auf Anregung des »Lebensraum«-Theoretikers Karl Haushofer und Hans Steinachers, Chef des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA), der mit Abstand größten privaten Deutschtumsorganisation im Reich.121 Die hochfliegenden Erwartungen von Partei und Volkstumspolitikern scheiterten jedoch bald an der Ministerialbürokratie, die nicht daran dachte, sich aus diesem Feld verdrängen zu lassen. Auf einer interministeriellen Konferenz wurden die Vertreter der Volksdeutschen Rates aufgefordert, ihr Vorgehen an der Politik des Auswärtigen Amtes auszurichten. Ebenfalls enttäuscht wurden die Hoffnungen, auch ein Mitspracherecht bei der Verteilung der staatlichen Gelder zu erhalten. Steinacher wurde beschieden, seine Kompetenzen wohl »etwas zu optimistisch aufgefaßt« zu haben, eine Mitwirkung bei den Geldzuweisungen komme »unter keinen Umständen in Frage«.122 Es war vor allem diese Entscheidung, die das neugeschaffene Gremium zur Machtlosigkeit verdammte. In Osteuropa begrüßten die ethnischen Deutschen den Machtantritt Hitlers mit »panegyrischen Aufrufe[n] und Ergebenheitsbeteuerungen«.123 Dies verwundert wenig, legitimierte doch die Bedeutung, die die nationalsozialistische Ideologie dem »Völkischen« beimaß, Zur Person Haushofers und seinen Einfluss auf Hitlers »Lebensraum«Ideologem siehe Herwig, »Geopolitik: Haushofer, Hitler and Lebensraum«. Eine umfassende Übersicht über die Geschichte des VDA von seiner Gründung bis in die 1990er Jahre bei von Goldendach/Minow, »Deutschtum erwache!«. 122 Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 182. 123 Ebenda, S. 167. 121 66 die Bemühungen dieser Minderheiten um ethnische Homogenität und bestätigte sie in der angeblichen Rolle als Kulturbringer im Osten. Gekoppelt mit starken Ressentiments gegen die Moderne in Gestalt von Industrie und Großstadt sowie verbunden mit Hass auf Kommunisten und Juden, konnte sich der Nationalsozialismus insbesondere bei der dörflichen Bevölkerung, die den größten Teil der ethnischen Deutschen nicht nur in Polen ausmachte, seiner Erfolge sicher sein.124 Wie erfolgreich diese ideologische Expansion bei den deutschen Minderheiten war, lässt sich auch an der veränderten politischen Semantik ablesen, die das durch den Nationalsozialismus massenwirksam gewordene beziehungsweise durch ihn geprägte völkisch und rassistisch aufgeladene Vokabular nun auch unter den ethnischen Deutschen in Polen durchsetzte: Der Begriff »Auslandsdeutscher« wurde durch »Volksdeutscher« ersetzt, der Begriff »Minderheit« wich dem der »Volksgruppe«, die im Ausland zudem im »Volkstumskampf« stand.125 Die Botschaft dieses Begriffswechsels war deutlich. Sie betonte die Zugehörigkeit zu einem »größeren, jenseits der Grenze liegenden Ganzen«, der – wie es nun hieß – deutschen »Volksgemeinschaft«.126 Dieser freiwillige Nazifizierungsprozess sollte die deutschen Minderheiten in Polen aber keineswegs zur Überwindung ihrer traditionellen Zersplitterung führen. Eine Entwicklung wie in der Tschechoslowakei unter Konrad Henleins Sudetendeutscher Partei (SdP) blieb in Polen aus. Stattdessen erwies sich die Gründung des Deutsch Nationalsozialistischen Vereins für Polen 1921 in Bielitz als Katalysator für immer heftigere Auseinandersetzungen. Konflikte mit den polnischen Behörden zwangen die Organisation zwar 1928 zu einer Umbenennung in Jungdeutsche Partei für Polen (JdP). Das Programm der nun von Rudolf Wiesner geleiteten Partei hatte sich jedoch nicht geändert und trat etwa für den Aufbau einer »Volksgemeinschaft«, für einen radikalen Antisemitismus sowie für den Kampf gegen den Marxismus ein.127 Die Ausdehnung der Partei Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 28f. Seckendorf, »Kulturelle Deutschtumspflege«, S. 115, sowie Kotowski, Polens Politik, S. 17. 126 Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 25. Exemplarisch hier die kurzen Ausführungen über den Nazifizierungsprozess deutscher Vereine in Oberschlesien bei Greiner und Kaczmarek, »Vereinsaktivitäten der Deutschen in Polnisch-Oberschlesien«, S. 235. 127 Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 585. 124 125 67 über ihre Heimatregion hinaus führte zu Auseinandersetzungen mit den dortigen, in der Regel zersplitterten, etablierten Interessenverbänden der deutschen Minderheit. Durch die Machtübergabe an Hitler ermutigt, gerierten sich Wiesners Anhänger als »junge Wilde«, die sich gegen die verkrusteten Strukturen der »Alten« auflehnten – ein Habitus, der umso konstruierter war, als alle relevanten deutschen Verbände in Großpolen und Pommerellen durch den selbst gewählten Nazifizierungsprozess in ihrer politischen Programmatik von der JdP immer weniger zu unterscheiden waren. Dies nahm der Auseinandersetzung keineswegs an Schärfe, in manchen Orten endete sie gar in blutigen Zusammenstößen. Wie eine polnische Zeitung süffisant bemerkte, musste etwa in Zempelburg eine Saalschlacht von der herbeigerufenen polnischen Polizei beendet werden – und das alles unter einem Banner mit der Aufschrift »Wir wollen sein ein einig Volk und Brüder«.128 Der Volksdeutsche Rat sollte sich als unfähig erweisen, diese Eskalation zu beenden, die aus Berliner Sicht höchst unerwünscht war, drohten sich doch die deutschen Minderheiten zu paralysieren und der Kontrolle Berlins zu entziehen.129 Seine mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gerade gegenüber Parteidienststellen wie etwa der Auslandsorganisation der NSDAP (AO) veranlasste Heß im Oktober 1935, dem Parteimitglied Otto von Kursell die Koordinierung der Volkstumspolitik zu übertragen und ihn zumindest nominell dem Beauftragten für außenpolitische Fragen im Stabe Heß’, Joachim von Ribbentrop, zu unterstellen. Aus einer »autonomen, parteifreien, ehrenamtlich tätigen Institution« war damit eine »besondere Parteidienststelle« geworden, der »nur PG [Parteigenossen] angehörten und die von einem ›alten Kämpfer‹ geleitet wurde«.130 Aufsässigen Vertretern der deutschen Minderheiten konnte Kursell nun mit dem Abbruch jeglichen Kontakts und Entzug der finanziellen Zuwendungen drohen, würden die gegenseitigen Angriffe nicht sofort eingestellt. Auch wenn dies nicht – wie in Berlin erhofft – eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen etwa der JdP und anderen Gruppen einleitete, nahm die Intensität der Auseinandersetzung in der Folgezeit doch merklich ab.131 Niendorf, Minderheiten an der Grenze, S. 211. Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 586. 130 Ebenda, S. 230. 131 Ebenda, S. 593f. 128 129 68 Kursell war nicht nur Parteimitglied, sondern auch Angehöriger der SS – eine Tatsache, die Himmler für die Ausdehnung seines Einflusses auf das Feld der Volkstumspolitik auszunutzen gedachte. Aus seiner Perspektive war dieser Zug nur folgerichtig, würde die Ausweitung seiner Macht über mehr als zehn Millionen Angehörige von deutschen Minderheiten nicht nur seine Stellung innerhalb des Reiches stärken, sondern auch dem SS-eigenen Nachrichtendienst einen Zugang zu einem Netz von Informanten in vielen Staaten Europas eröffnen. Und schließlich musste Himmler darin eine Möglichkeit erkannt haben, einer mit der Gründung des Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) auch in der SS breit verankerten Idee politische Kraft zu geben, rassische Selektion mit Siedlungsplanung zu verbinden und damit das nationalsozialistische »Lebensraum«-Konzept zu konkretisieren.132 Als Kursell jedoch in einer Auseinandersetzung mit der SS um deren Einflussnahme auf die Volkstumspolitik in der ČSR verdeutlichte, dass er diese ihm von Himmler zugedachte Rolle nicht übernehmen mochte, entzog dieser ihm demonstrativ das Vertrauen. Heß, der bereits in den Auseinandersetzungen um den Volksdeutschen Rat erkannt hatte, dass Volkstumspolitik nicht gegen relevante Teile der Partei, sondern nur mit ihrer Unterstützung erfolgreich durchzuführen war, wollte den gleichen Fehler kein zweites Mal begehen. Anstatt sich auf einen Konflikt mit Himmler einzulassen, enthob er Kursell seines Amtes und akzeptierte Himmlers Vorschlag für dessen Nachfolge. Als SS-Obergruppenführer Werner Lorenz 1937 das mittlerweile in Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi) umbenannte »Büro Kursell« übernahm, geriet die Volkstumspolitik vollends in den Einflussbereich Himmlers. Obwohl die Aufgaben die gleichen geblieben waren, signalisierte die Gründung der Volksdeutschen Mittelstelle einen qualitativen Sprung in der Volkstumspolitik des Deutschen Reiches. Zum einen, weil sie mit einer sich verändernden Haltung der deutschen Regierung zusammenfiel: Am 20. Februar 1938 hatte Hitler sein fünfjähriges Schweigen zum Schicksal der »Volksdeutschen« in Osteuropa gebrochen und sich in einer Rede vor dem Reichstag zum Anwalt der Rechte der »Deutschen« in Österreich und der Tschechoslowakei gemacht. Zum anderen, weil Lorenz – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – seinen Auftrag bald auch mit einer direkten Anweisung Hitlers vom 2. Juli 132 Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 38f. 69 1938 begründen konnte: Die Volksdeutsche Mittelstelle wurde mit der »einheitlichen Ausrichtung sämtlicher Staats- und Parteistellen sowie mit dem einheitlichen Einsatz der in sämtlichen Stellen zur Verfügung stehenden Mittel für Volkstums- und Grenzlandfragen« beauftragt – einer Parteiorganisation waren Weisungsbefugnisse gegenüber staatlichen Stellen eingeräumt worden.133 Lorenz erhielt auch erstmalig die Kontrolle über die umfangreichen Geldquellen, die schon immer das wirksamste Instrument der Volkstumspolitik gewesen waren.134 Allein im Jahre 1938 bedeutete dies die Verfügungsgewalt über 50 bis 60 Millionen Reichsmark, eine Summe, die in etwa dem Etat des Auswärtigen Amtes entsprach.135 Ein halbes Jahr später schloss eine Anweisung Heß’ die Gleichschaltung der volkstumspolitischen Organisationen ab: Alle bestehenden Organisationen waren entsprechend dem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit entweder in den Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) oder in den Bund deutscher Osten einzugliedern, die wiederum der Volksdeutschen Mittelstelle unterstellt wurden.136 Die neue Machtfülle, die dieser »bastard organization« durch die Unterstützung von Staat, Partei und SS sicher war, eröffnete Lorenz einen größeren Spielraum als Steinacher oder Kursell.137 An die Stelle einer »lockeren Zusammenarbeit nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit« – so Hans-Adolf Jacobsen – »trat die Einzeldirektive und die Weisung unter Androhung von Repressalien«.138 Dies bekamen nicht nur die Deutschtumsorganisationen wie der VDA zu spüren, sondern auch die deutschen Minderheiten in Polen. Lorenz hatte die Vertreter der neun wichtigsten Gruppierungen bereits im April 1937 nach Berlin geladen, um sie von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Landesausschusses zu überzeugen. Nach ersten MissZit. n. Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik S. 243. Siehe auch Brown, »The Third Reich’s Mobilization«, S. 133. Lorenz’ Ambitionen reichten freilich weiter. Ursprünglich hatte er auf die Einrichtung eines Reichskommissariats gedrängt, später wollte er Staatssekretär für Volkstumsfragen werden. Hitlers Erlass war aus dieser Perspektive also nur ein Teilerfolg, siehe NG-972, und Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol, S. 238–240. 134 Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 67f. 135 Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 243f. 136 Anordnung Heß, 3. Februar 1939, BArch NS 19/2307, Bl. 7–9. 137 Koehl, RKFDV, S. 97. 138 Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, S. 237. 133 70 erfolgen wurde er deutlicher. In einem Schreiben an die Vertreter der einzelnen Organisationen vom 18. Mai 1938 drohte Lorenz, dies sei sein »erster, aber zugleich auch sein letzter Vorschlag«; jeder, der sich dieser Einigung entziehe, stelle sich außerhalb der »Volksgemeinschaft« und habe die Konsequenzen zu tragen.139 Damit war Lorenz zwar noch nicht zum »Herrscher über die ethnischen Deutschen in Polen« aufgestiegen, der Weg für die Gründung eines losen Dachverbandes im August 1938 war nun jedoch frei.140 Kotowskis Beobachtung, wonach die Politik Warschaus gegenüber den deutschen Minderheiten eine abhängige Variable der deutsch-polnischen Beziehungen war, trifft für die zweite Hälfte der 1930er Jahre nicht weniger zu als für den gesamten Zeitraum davor.141 Es verwundert daher nicht, dass die immer aggressivere Außenpolitik Berlins und die zunehmende Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie von einem immer irredentistischeren Auftreten der Deutschen in Polen begleitet wurde und schließlich auf diese zurückfiel. Allein zwischen März und Juni 1936 verbot die polnische Regierung den Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterbund (NSDAB) und löste 33 Ortsgruppen der Deutschen Vereinigung, der größten politischen Organisation der deutschen Minderheiten in Großpolen, auf, denen sie vorwarf, die kaschubische Bevölkerung gegen Warschau aufzuwiegeln.142 Weitere Maßnahmen zielten auf eine Zurückdrängung des deutschen – insbesondere auch ökonomischen – Einflusses und auf das deutschsprachige Schulsystem. Abgesehen von dem Bemühen, polnischsprachigen Kindern den Besuch deutscher Schulen zu verwehren, beinhalteten aber auch diese Vorgaben wenig, woran man hätte Anstoß nehmen können: Deutsche Schulen sollten angehalten werden, polnische Feiertage einzuhalten, nur genehmigte Schulbücher zu verwenden und jeglichen nationalsozialistischen Einfluss auszuschließen. Die beschlossenen Maßnahmen erwiesen sich – hier muss Kotowski widersprochen werden – im Vergleich zur preußischen Germanisierungspolitik als relativ harmlos, vor allem aber auch hilflos angesichts deutscher Minderheiten, die überwiegend den NationalsoziaZit. n. ebenda, S. 241. Koehl, »The Deutsche Volksliste«, S. 354. Siehe auch Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 97 [Übers. G.W.]. 141 Kotowski, Polens Politik, S. 348. 142 Ebenda, S. 242–244. 139 140 71 lismus unterstützten und deren Spitzenorganisationen bereits der Berliner Kontrolle unterlagen.143 Entscheidung zum Krieg Kaum war mit der Besetzung der westlichen Tschechoslowakei der politische Nutzen einer weiteren Hilfestellung aus Warschau gesunken, geriet Polen selbst ins Visier Berlins.144 Im Vergleich zu den Forderungen, die Prag präsentiert worden waren, hielt sich Ribbentrop seinen polnischen Gesprächspartnern gegenüber zunächst zurück: Als Ausgleich für die Herausgabe Danzigs, die Zustimmung zum Bau einer exterritorialen Autobahn- und Bahnverbindung nach Ostpreußen und den Beitritt Polens zum Antikominternpakt bot das Deutsche Reich Polen seinerseits eine – und dies war aus deutscher Sicht ein geradezu kühner Schritt – endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze an. Martin Broszat hat zu Recht davor gewarnt, dies »von vornherein [als] eine Scheinforderung Hitlers, der nach vorausberechneter Ablehnung die Gewalt folgen sollte«, zu verkennen.145 Schließlich passte die antisowjetische Stoßrichtung zum Axiom nationalsozialistischer Außenpolitik, das heißt zur Erringung neuen »Lebensraumes«, und war in den vergangenen Jahren geradezu zum Leitmotiv der Gespräche Hitlers, Neuraths oder Görings mit polnischen Vertretern avanciert.146 In Warschau wurde dieses mehrfach wiederholte Angebot, das Polen in eine völlige Abhängigkeit von Berlin gebracht hätte, abgelehnt. Als Ribbentrop im Januar 1939 von einem weiteren Besuch in Warschau »mit leeren Händen« zurückkehrte, war der Weg zum Krieg vorgezeichnet.147 Ende März teilte Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, mit, die »polnische Frage« im gegebenen Fall durch Krieg lösen zu wollen; Anfang April wies er das Oberkommando der Wehrmacht an, den »Fall Weiß« vorzubereiten, und künEbenda, S. 247–254. Leitz, Nazi Foreign Policy, S. 73f. 145 Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, S. 255. 146 Ebenda, S. 247, siehe auch Wollstein, »Die Politik des nationalsozialistischen Deutschlands«, S. 806. 147 Kershaw, Hitler. 1936–1945, S. 166 [Übers. G.W.]. In diesen Wochen hielt Hitler drei Reden vor Wehrmachtsoffizieren, in denen er seinen Willen zum Krieg deutlich macht, siehe ebenda, S. 166f. Siehe auch Czubiński, »Poland’s Place in Nazi Plans«, S. 31 u. 37f. 143 144 72 digte den Nichtangriffspakt mit Polen sowie das Flottenabkommen mit dem Vereinigten Königreich auf.148 War man in Berlin Ende 1938 noch davon ausgegangen, die Errichtung eines Ostimperiums auf den Trümmern der Sowjetunion mithilfe Polens zu erreichen, erzwang die kategorische Absage Warschaus eine Revision der deutschen Pläne. Vom potentiellen Verbündeten geriet Polen in die Rolle des nächsten Opfers deutscher Aggression. Die deutschen Planungen setzten aber – aufgrund einer am 31. März 1939 erfolgten Garantieerklärung Großbritanniens – ein Stillhalteabkommen mit der Macht voraus, die das eigentliche Ziel der deutschen Expansionsbestrebungen war: der Sowjetunion. Der am 23. August 1939 unterzeichnete deutsch-sowjetische »Angriffsvertrag«,149 der »U-turn of all time«,150 besiegelte Polens Schicksal auf diese Weise gleich doppelt: Während damit die Dystopie von einem »›Lebensraum‹ weiter östlich für den absehbaren Zeitraum aus dem Bereich des Möglichen schwand«,151 war ein Überfall auf das benachbarte Polen nun zu einem kalkulierbareren Risiko geworden. Diese Gewaltphantasien wurden auf Polen projiziert: »So habe ich« – so klang dies in den Worten Hitlers in einer Ansprache vor der Wehrmachtsführung am Vorabend der Vertragsunterzeichnung – »meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnt man Lebensraum.«152 Für die deutschen Minderheiten in Polen zeitigten diese Entwicklungen unmittelbare Konsequenzen, reagierte der polnische Staat nun doch deutlich gereizter auf Provokationen jeder Art, ja löste bis zu den letzten Wochen vor Kriegsausbruch einen Großteil der Organisationen der deutschen Minderheit zwangsweise auf.153 Fälschlicherweise wog sich die polnische Regierung dadurch in Sicherheit, denn sie übersah, dass damit nicht die verschiedenen nachrichtendienstlichen und konspirativen Verbindungen unterbrochen worden waren, die eine Reihe von deutschen Dienststellen Hillgruber, »Deutschland und Polen«, S. 54. Schmidt, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, S. 341. 150 Kershaw, Hitler. 1936–1945, S. 206. 151 Ebenda, S. 238 [Übers. G.W.]. 152 Zweite Ansprache Hitlers vor Spitzen der Wehrmacht, 22. August 1939, L-3, abgedruckt in: ADAP Serie D, Bd. 7, S. 171f. 153 Kotowski, Polens Politik, S. 313 u. 336. 148 149 73 nach Polen unterhielten. Diese bewährten sich etwa bei der Zusammenstellung von Proskriptionslisten, die die deutschen Einheiten mit den Namen der Personen versorgte, die verhaftet und oftmals erschossen wurden. Rudolf Wiesner bot der Volksdeutschen Mittelstelle im August 1939 sogar an, eine Rolle zu übernehmen, die der Henleins in der Tschechoslowakei entsprochen hatte.154 Die deutschen Sicherheitsorgane hatten in der Zwischenzeit mit der Bewaffnung von Angehörigen der deutschen Minderheiten begonnen und diese zu paramilitärischen Einheiten, den sogenannten K(ampf)- und S(abotage)-Organisationen, zusammengeschlossen. Während das polnische Innenministerium noch glaubte, alle Befürchtungen bezüglich einer militärischen Formierung der Deutschen in Polen beiseiteschieben zu können, verfügten die K- und S-Organisationen in Ostoberschlesien bereits über 4474 Mitglieder, während die K-Organisationen in der Wojewodschaft Posen 2324 Männer in 72 Orten unter Waffen hatten.155 Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, trat diese fünfte Kolonne in Aktion, sprengte Brücken, blockierte Straßen, besetzte Industriegebiete oder nahm – wie in Kattowitz geschehen – gar vor dem Einrücken der Wehrmacht die Stadt ein.156 Ebd., S. 338f., und Seckendorf, »Kulturelle Deutschtumspflege«, S. 132. Kotowski, Polens Politik, S. 341. Siehe auch Szefer, »Dokumentenauswahl zum Thema ›Die Diversionstätigkeit‹«, S. 297–308 u. 310–324. 156 Szefer, »Dokumentenauswahl zum Thema »Die Diversionstätigkeit««, S. 335. Siehe auch Pospieszalski, »Nazi Attacks on German Property«, S. 111f. 154 155 74 Krieg: Projektion der »Lebensraum«Dystopien auf Polen Anders als der Einmarsch in Österreich, ins Sudetenland, ins Memelgebiet und schließlich in die Tschechische Republik markierte der Überfall auf Polen im Verständnis der nationalsozialistischen Führung den Beginn einer Auseinandersetzung um die endgültige Sicherung der Lebensgrundlagen des deutschen »Volkes«, die Schaffung von »Lebensraum im Osten«. Dabei radikalisierten sich die deutschen Zielsetzungen in der kurzen Zeit vom Überfall über die Einnahme Warschaus am 28. September bis zur Kapitulation der letzten polnischen Verbände am 6. Oktober 1939 dramatisch. Wozu sich das kaiserliche Deutschland in unzähligen Diskussionen während des gesamten Ersten Weltkrieges nicht durchringen mochte, dafür reichten im nationalsozialistischen Deutschland wenige Wochen: nämlich zur Ermordung beziehungsweise Vertreibung der aus politischen oder rassischen Gründen »unerwünschten« Personen, Erfassung der »Volksdeutschen« und schließlich Ansiedlung von ethnischen Deutschen aus Osteuropa. In den zu annektierenden westpolnischen Gebieten wurde zum ersten Mal die gesamte Bevölkerung einer umfassenden Selektion unterworfen, die in einem ersten Schritt zunächst diejenigen erfasste, die in jedem Fall »unschädlich« gemacht oder aber als potentielle Mitglieder der hier zu installierenden »Volksgemeinschaft« Anrecht auf bevorzugte Behandlung erheben konnten. 75 Genese der »Lebensraum«-Politik im Krieg Nur wenige Wochen nachdem Hitler den Oberbefehlshaber des Heeres angewiesen hatte, einen Operationsplan für einen Krieg gegen Polen zu entwerfen, liefen – in Analogie zu den früheren militärischen Ausgriffen – auch im Sicherheitsdienst (SD) die Vorbereitungen an. Wie beim Einmarsch in Österreich, ins Sudentenland und in die Tschechische Republik sollten auch in Polen SS-Einheiten der Wehrmacht folgen, um die sicherheitspolizeiliche Kontrolle der rückwärtigen Gebiete zu unterstützen und gegen politische Gegner vorzugehen. Der im SD-Hauptamt unter dem Decknamen »Operation Tannenberg« firmierende Einsatz konzentrierte sich unter anderem auf die Erstellung von Proskriptionslisten, dem sogenannten Sonderfahndungsbuch Polen.1 Die allgemeine Koordination dieses Einsatzes übernahm Anfang Juni Werner Best, nach Heydrich die zentrale Figur der Sicherheitspolizei und Leiter der Abteilungen I, Organisation und Personal, sowie III, Abwehr. Die schließlich sieben Einsatzgruppen umfassten etwa 4250 Personen in 16 Einsatzkommandos, von denen 2250 von der Ordnungspolizei, der Rest vor allem von der Gestapo und der Kriminalpolizei kam, während der Sicherheitsdienst vor allem die Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos stellte.2 Von besonderem Interesse sind die Anweisungen, mit denen diese Männer in den Krieg zogen, erlauben sie doch Rückschlüsse auf die Art des Krieges, den Deutschland zu führen gedachte, und damit auf die angestrebten Kriegsziele. Die Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD wurden Ende August nach Abstimmung Heydrichs mit dem zuständigen Referenten im Oberkommando des Heeres, Oberst Eduard Wagner, erlassen und wiesen den Einsatzgruppen in sehr allgemeiner Formulierung die »Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindliWildt, Generation des Unbedingten, S. 421; ders., Radikalisierung und Selbstradikalisierung, S. 16; Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 10f. 2 Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 11–13 sowie Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 27f. Zu den Auswahlkriterien siehe Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 53–57. 1 76 chen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe« zu.3 Formulierungen wie »völkische Flurbereinigung«, die wenige Wochen später in aller Munde waren, fehlen hier ebenso wie auch jede Erwähnung der jüdischen Bevölkerung. Stattdessen wurde aber explizit die »Mißhandlung oder Tötung festgenommener Personen […] strengstens untersagt«.4 Die Massenmorde, die ebendiese Einheiten nur wenige Wochen später begingen, lassen sich in diesen Richtlinien nicht erahnen. Es bleibt also zu fragen, inwiefern diese Richtlinien den SS-Organen auch zur Tarnung gedient haben und die »killing order« von Himmler und Heydrich mündlich erteilt worden ist.5 In der jüngsten Forschung wird dieser Standpunkt am deutlichsten von Alexander B. Rossino vertreten. So soll Heydrich den Chefs der Einsatzgruppen am 18. August 1939 von weiteren angeblichen Gräueln gegenüber ethnischen Deutschen berichtet haben, die heftigen Widerstand paramilitärischer polnischer Verbände erwarten ließen, zu deren Überwindung – so der Leiter der Einsatzgruppe IV, Lothar Beutel – »alles erlaubt sei, also sowohl Erschießungen als auch Verhaftungen«.6 Ein anderer Teilnehmer dieser Besprechung, der Verbindungsführer der Einsatzgruppe IV, Dr. Ernst Gehrke, bestritt, einen »generelle[n] Liquidierungsbefehl« erhalten zu haben, fügte aber auch hinzu, dass es »damals […] nicht Methode [war], derartige Dinge so klar auszudrücken«.7 Ein Schreiben Heydrichs an den Chef des Hauptamtes der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, vom 2. Juli 1940, in dem er rückblickend auf die Morde in Polen zu sprechen kam, verschafft hier – im Gegensatz zu Rossinos Annahme – auch keine zusätzliche Klarheit. Zwar spricht Heydrich davon, dass die »Weisungen, nach denen der polizeiliche Einsatz handelte, außerordentlich radikal waren (z.B. Liquidierungsbefehl für zahlreiche polnische Führungskreise, der in die Tausende ging)«,8 was allerdings auch nicht angezweifelt wird. Strittig ist vielmehr der Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD, undatiert und unsigniert, vermutlich Anfang August, BArch R 58/241, Bl. 169–175. 4 Ebenda. 5 Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 15. 6 Zit. n. Herbert, Best, S. 592f. 7 Ebenda. 8 Heydrich an Daluege, 2. Juli 1940, zit. n. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 207. 3 77 Zeitpunkt, an dem diese Weisungen erlassen wurden, also vor oder erst während des Krieges – dazu findet sich aber in diesem Schreiben kein Wort. Auch wenn Rossinos Interpretation auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht ausgeschlossen werden kann, so stellt sie doch in meiner Sicht die Prozesshaftigkeit der nationalsozialistischen Gewaltentwicklung nicht ausreichend in Rechnung. Mordaktionen erscheinen in dieser Lesart vor allem als Endergebnis eines differenzierten Entscheidungs- und Befehlsgebungsprozesses, der zudem in der Regel in der Zentrale verortet wird, während Ereignisse an der Peripherie und die Eigeninitiative der Akteure vor Ort in einen toten Winkel geraten, sodass ein komplexeres Interaktionsmodell zwischen Peripherie und Zentrum nicht mehr gedacht wird. Meines Erachtens ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass Heydrich den Anwesenden am 18. August zunächst keinen umfassenden Mordbefehl erteilte, zumal er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, ob sich ein solcher auch tatsächlich gegen die Wehrmacht würde durchsetzen lassen. Stattdessen kann angenommen werden, dass die Männer wohl eher auf einen Einsatz eingestimmt wurden, der sich deutlich von den früheren unterscheiden würde. Und es kann sicherlich nicht ausgeschlossen werden, dass dabei explizit das in den Richtlinien ausgesprochene Tötungsverbot eingeschränkt wurde. Dafür spricht, dass Best bereits am 18. August einen Befehl an die in der Tschechoslowakischen Republik stationierten SS-Einheiten erlassen und die Feindgruppe erweitert hatte. Als »Staatsfeind[e]« waren nun all jene zu behandeln, die sich politisch gegen die deutsche Besatzung wendeten, also etwa alle Kommunisten und linken Sozialdemokraten, sowie alle Juden.9 Auch wenn kaum davon auszugehen ist, dass gegenüber der polnischen Bevölkerung eine größere Rücksicht befohlen wurde, lässt sich daraus noch kein allgemeiner Tötungsbefehl für den Einsatz in Polen ableiten.10 Dieser Radikalisierungsprozess hatte jedoch nicht allein die SSEinheiten erfasst. Auch die Wehrmacht hatte längst begonnen, sich von den »Zwängen« des Kriegsvölkerrechts zu befreien. Nachdem bereits am 16. Februar 1939 in einem Befehl die Trennung von Kriegsgefangenen nach »rassischen« Kriterien angeordnet worden war11 (und auch tatsächlich im Krieg mit der Selektion von jüdischen Erlass Bests, 8. August 1939, zit. n. Herbert, Best, S. 239. Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 265. 11 Zit. n. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 39. 9 10 78 Gefangenen durchgeführt wurde12), begannen das Oberkommando des Heeres (OKH) und auch einzelne Kommandeure, ihre Soldaten ideologisch auf den Krieg gegen Polen einzustimmen. So wurde in einem Handbuch des OKW vom 1. Juli 1939 die polnische Bevölkerung als »fanatisch verhetzt« diffamiert und ihr außerdem unterstellt, mit »Vernichtung und Vergiftung von Lebensmittelvorräten« zu operieren. Vor diesem Hintergrund müsste eine »[z]uvorkommende Behandlung […] als Schwäche« auslegt werden.13 Für das OKH war es von hier nur noch ein kurzer Weg, um am 9. August 1939 zu bestimmen, dass die Regeln der Haager Landkriegsordnung allenfalls »sinngemäß« zu beachten seien.14 Um sicherzugehen, dass die einzelnen Oberbefehlshaber auch verstanden hatten, worum es in dem bevorstehenden Krieg gehen würde und wie dieser zu führen sei, lud Hitler sie am 22. August zu einer Besprechung. Die Rede Hitlers musste eigentlich jeden noch bestehenden Zweifel der Wehrmachtsführung über den Charakter des bevorstehenden Krieges beseitigt haben: »Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie […] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen […] Jede sich neu bildende lebendige polnische Kraft ist sofort wieder zu vernichten.«15 Die deutsche Führung wollte also einen Krieg, der nicht allein auf die Ausschaltung der polnischen Streitkräfte zielte, sondern der bereits die Grundlagen für ein deutsch dominiertes Osteuropa legen sollte, dessen – vorläufige – Grenzen im Vertrag mit der Sowjetunion festgelegt worden waren. Ansonsten herrschte in Berlin aber Unklarheit. Von – wie sie Antoni Czubiński ausgemacht haben will – »detaillierten Expansions- und Eroberungsplänen« war man so weit entfernt wie von allem, was auch nur einer einigermaßen konzisen Kriegszielplanung ähnelte.16 Einigkeit herrschte lediglich über einen Aspekt: die weiträumige Annexion westpolnischer Gebiete über die Grenzen von 1918 hinaus und die nationale Homogenisierung der dortigen Bevölkerung. Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 248. OKH, Merkblatt über Eigenarten der polnischen Kriegsführung, zit. n. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 40. 14 Ebenda, S. 39. 15 Domarus, Hitler, S. 1238. 16 Czubiński, »Poland’s Place in Nazi Plans«, S. 21 [Übers. G.W.]. 12 13 79 Auch wenn also am frühen Morgen des 1. September die SS-Einsatzgruppen wohl nicht mit einem umfassenden Mordbefehl die Grenze Polens überschritten, so waren sie doch entschlossen, einen Krieg unter Missachtung aller Regeln des Völkerrechts zu führen. Und die Wehrmacht hatte einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Wie polnische Historiker bereits vor Jahrzehnten herausgearbeitet haben und wie dies auch zwei neuere Studien eindrucksvoll belegen, war die Wehrmacht im Krieg gegen Polen keineswegs bloß ein bystander der von SS- und Polizeieinheiten verübten Massenmorde.17 Zu ersten größeren Kriegsverbrechen kam es in Bromberg. Der Beschuss zurückweichender polnischer Truppen durch ethnische Deutsche, bei dem etwa 40 bis 50 Soldaten umkamen, hatte am 3. September zu Vergeltungsangriffen geführt, bei denen etwa 100 bis 300 Menschen getötet wurden.18 Bereits während der kurz darauf erfolgenden Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht kam es zu Kriegsverbrechen – eine Einheit der Einsatzgruppe IV richtete über 50 überwiegend jugendliche Verteidiger des Rathauses hin.19 Auf weitere Angriffe auf deutsches Personal antworteten die Deutschen mit immer radikaleren Terrormaßnahmen, bis der Ortskommandeur der Wehrmacht dem Chef des Einsatzkommandos 1 offensichtlich freie Hand ließ und es schließlich am 12. September zur Erschießung von wahrscheinlich 900 vorher bei Razzien gefangengesetzten polnischen Zivilisten in einem Wald vor Bromberg kam.20 Die deutsche Propaganda konzentrierte sich freilich auf die angeblichen polnischen Gräuel und erfand den »Bromberger Blutsonntag«, an dem angeblich 58000 »Volksdeutsche« grausam ermordet worden waren.21 Rossino, Hitler Strikes Poland; Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Ebenda, S. 136, nach Angaben des Polnischen Instituts zur nationalen Erinnerung. 19 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 48. 20 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 442–447. 21 Nach einer Veröffentlichung des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung in Posen, Dr. Kurt Lück, vom 9. Januar 1940 im Ostdeutschen Beobachter, dem Organ der NSDAP im Wartheland, galten zunächst insgesamt etwa 1030 »Volksdeutsche« als getötet und 858 als vermisst, siehe Pilichowski, »Nazi Genocide«, S. 189. Aus Berliner Perspektive viel zu wenig, wie Lück bald mit Erstaunen feststellen sollte, als zunächst das Auswärtige Amt in einer Dokumentensammlung von 5437 »volksdeutschen« Opfern sprach, die die Goebbels’sche Propaganda schließlich willkürlich auf 58000 verzehnfachte. Der »Bromberger Blutsonntag« mutierte dann 17 18 80 Die durch die Deutschen angeordnete Gewaltexplosion in Bromberg war in eine allgemeine Eskalation der deutschen Kriegführung eingebettet, die vor allem mit der angeblichen Gefahr durch »Franktireurs« begründet wurde. In einer erstaunlichen Parallelität zur Radikalisierung der deutschen Kriegführung im Ersten Weltkrieg forderte Himmler am 3. September die Einsatzgruppen zu einem rabiateren Vorgehen auf:22 »Polnische Aufständische, die auf frischer Tat oder mit der Waffe ergriffen« werden, seien in Zukunft »auf der Stelle zu erschießen«, wobei als Aufständische all diejenigen galten, die »das Leben von deutschen Besatzungsangehörigen oder von Volksdeutschen angriffen oder lebenswichtige Einrichtungen und Güter in den besetzten Gebieten« gefährdeten.23 Die Wehrmacht zog einen Tag später mit ihrem ersten »verbrecherische[n] Befehl« nach. »Polnische Zivilisten«, die verdächtigt würden, auf deutsche Soldaten geschossen zu haben, seien zur »Klärung des Täterschaft« nicht wie bisher der Sicherheitspolizei zu übergeben, sondern durch die eigene Truppe zu erschießen; dies solle überdies auch für diejenigen Zivilisten gelten, die sich auch nur »in Häusern und Gehöften befinden, aus denen auf unsere Truppe geschossen worden ist«.24 Diese erste Radikalisierung der deutschen Kriegführung hatte für die Zivilbevölkerung fatale Konsequenzen. Neben den polnischen Soldaten, denen – soweit sie nicht Juden waren – zumindest die auch zu einem entscheidenden Versatzstück nationalsozialistischer Propaganda, mit der die immer weiter vorangetriebene Radikalisierung im Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung begründet wurde. Zur nationalsozialistischen Propaganda zur Verhüllung der Kriegsschuld siehe Czubiński, »Poland’s Place in Nazi Plans«, S. 43f. 22 Horne/Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Horne und Kramer gehen hier auch eigens auf den Ursprung dieses Mythos im Deutsch-Französischen Krieg ein und können dann – überzeugender als etwa Böhler – darlegen, wie sich die angstvollen Vorannahmen gerade auch jüngerer Offiziere in den ersten Kriegstagen durch eine Reihe von Missverständnissen, aber vor allem auch die besondere militärische Situation scheinbar bestätigten – etwa wenn der schnelle Truppenbewegungen voraussetzende Schlieffenplan zu Desorientierungen führte oder aber moderne weit reichende Gewehre die Schützen aus dem Blickfeld rückte und die deutschen Truppen zu Racheaktionen in unmittelbarer Nachbarschaft veranlasste, ebenda, S. 139–259. Zur Bedeutung dieses Mythos für die Vernichtung Löwens siehe Kramer, Dynamic of Destruction, S. 6–30. 23 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 36f. 24 Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 149. 81 grundlegenden Rechte bei Gefangennahme verblieben, gerieten nun auch immer weitere Teile der Zivilbevölkerung ins Visier der deutschen Aggression. Nicht restlos geklärt ist jedoch der genaue Zusammenhang zwischen der Niederschlagung des Aufstandes ethnischer Deutscher in Bromberg und der ebenfalls an diesem Tage einsetzenden Gewaltexplosion auf deutscher Seite.25 Es kann jedoch angenommen werden, dass die Wut über die angeblichen Verbrechen an der »volksdeutschen« Bevölkerung in Bromberg und – allgemeiner noch – über die angeblich rechtswidrige Kriegführung durch polnische »Freischärler« im Rücken der deutschen Front sich gegenseitig verstärkten und zur Entgrenzung der Gewalt auf deutscher Seite beitrugen – auch wenn beides Resultat hauseigener Ideologieproduktion war und mit der Realität wenig zu tun hatte.26 Anders als später in der Sowjetunion war diese Radikalisierung in Polen von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen Wehrmacht und SS begleitet. Aus Sicht der SS gefährdete die Wehrmacht gar die politischen Ziele, die das Deutsche Reich in Polen verfolgte. Wie Heydrich seinen Amtschefs am 7. September mitteilte, müsse die »führende Bevölkerungsschicht […] so gut wie möglich unschädlich gemacht werden« und dürfe »auf keinen Fall in Polen bleiben, sondern müsse in deutsche Konzentrationslager gebracht werden«.27 Die angeblich skrupulöse Wehrmacht wurde hierbei nur als Hindernis empfunden, wie sich der Abwehroffizier Helmuth Groscurth einen Tag später über Heydrich beklagte, der »weiter in wüstester Weise gegen [die] Armee [hetzt]«.28 Die Wehrmacht beklagte sich nicht nur über das Vorgehen der SSEinsatzgruppen, sondern auch über die Aktionen des sogenannten Volksdeutschen Selbstschutzes. Die SS-Führung, die die Gründung einiger dieser Verbände selbst initiiert und diese mit Waffen versorgt hatte, erkannte sofort das Potenzial dieser Milizen. Am 9. September wurden sie einheitlich unter SS-Kommando gestellt und am 26. September 1939 schließlich dem Chef des SS-Hauptamtes Ordnungspolizei, Kurt Daluege, und den Befehlshabern der Ordnungspolizei Siehe auch Herbert, Best, S. 240, und Longerich, Politik der Vernichtung, S. 244. 26 Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 54. Siehe auch Wildt, Generation des Unbedingten, S. 447–449. 27 Zit. n. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 449. 28 Groscurth, Tagebücher, S. 201. 25 82 als dessen Vertretern vor Ort untergeordnet.29 Anders als die Bezeichnung suggeriert, handelte es sich beim Volksdeutschen Selbstschutz jedoch nicht um Einheiten, die etwa den Schutz der ansässigen Deutschen gewährleisten sollten, sondern er war als »Pendant zu den Einsatzgruppen« gedacht. Im Gegensatz zu diesen verfügte der Deutsche Selbstschutz bald über 100000 Menschen und verlängerte damit die Reichweite der SS in jeden Ort.30 Diese Verbände unterstützten die SS durch ihre Ortskenntnisse vor allem bei der Selektion der einheimischen Bevölkerung, der Inhaftierung von angeblich »deutschfeindlichen Elementen«, leisteten Hilfsdienste bei den bald beginnenden Deportationen und nahmen schließlich auch an Erschießungen teil.31 Proteste von Teilen der Wehrmacht gegen den sich so immer weiter ausdehnenden Aktionsradius der SS blieben erfolglos.32 In einer Unterredung im »Führer«-Zug am 12. September 1939 berichtete Admiral Wilhelm Canaris, Chef des Amtes Ausland/Abwehr, Generaloberst Keitel, Chef des OKW, dass »umfangreiche Füsilierungen in Polen geplant seien und daß insbesondere der Adel und die Geistlichkeit ausgerottet werden sollen«. Keitel war nicht überrascht, hatte ihn Hitler doch offensichtlich über die Radikalisierung der Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung und die damit verbundenen bevölkerungspolitischen Zielsetzungen informiert. Canaris erfuhr, dass »diese Sache bereits vom Führer entschieden sei […], daß, wenn die Wehrmacht hiermit nichts zu tun haben wolle, sie es auch hinnehmen müsse, daß SS und Gestapo in Erscheinung treten«.33 Als Marginalie findet sich hier ein Ausdruck, der in Zukunft immer öfter auftauchen sollte und die Zielrichtung der deutschen Politik in Polen beschreibt: »politische Flurbereinigung«.34 Zu Konflikten kam es auch angesichts des brutalen Vorgehens gegen die jüdische Bevölkerung, vor allem auch nach den Massenmorden der Einsatzgruppe z.b.V. unter Obergruppenführer Udo Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 49 u. 51, siehe auch dortige Übersichten auf S. 165 u. 167. 30 Ebenda, S. 168. 31 Ebenda, S. 102–104. 32 Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 90f. 33 Aktenvermerk Lahousens über Besprechungen im »Führer«-Zug am 12. September 1939, zit. n. Groscurth, Tagebücher, S. 358. 34 Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 20. 29 83 von Woyrsch in Bendzin. Wie sich jedoch bald herausstellen sollte, kritisierte das Oberkommando des Heeres jedoch eher das Vorgehen Woyrschs als die Stoßrichtung der SS-Politik, ordnete es doch am 12. September selbst an, die Juden »über den San abzuschieben«.35 Es schwenkte damit auf den Kurs ein, den das Reichssicherheitshauptamt vorgegeben hatte, als sich Heydrich am 11. September mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau, SS-Brigadeführer Bruno Streckenbach, getroffen hatte, um die Vertreibung der Juden über den San zu erörtern.36 Die Wehrmacht wies die Soldaten schließlich sogar an, auf Rückkehrende »auch außerhalb der Brücken« zu schießen.37 Hans Umbreits Einschätzung, wonach sich die Wehrmacht in der Behandlung der Juden der »Grenze zum Kriminellen näherte[n]«, fällt deshalb auch zu vorsichtig aus.38 Tatsächlich dauerte es keine zwei Wochen, bis auch die Wehrmachtsführung ihr Einverständnis zu einer von der nationalsozialistischen Führungsspitze forcierten Politik der ethnischen Säuberung gab, die eben nicht allein eine »politische Flurbereinigung« war, wie dies noch auf der Gesprächsnotiz eines weiteren Abwehroffiziers, Oberstleutnant Erwin von Lahousen, vom gleichen Tag vermerkt worden war und auf angebliche Freischärler sowie die polnische Elite zielte, sondern auch die jüdische Bevölkerung einschloss. Der verbleibende Gesprächsbedarf, den die Wehrmacht in der folgenden Woche noch gegenüber Himmler und Hitler anmeldete, beschränkte sich dann auch auf die Ausgestaltung dieser Arbeitsteilung und die Organisation eines geordneten Rückzugs. Als Wagner sich am 19. September von Heydrich bestätigen ließ, was er ohnehin wusste, dass nämlich die Einsatzgruppen tatsächlich den Befehl hatten, gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, bat er lediglich, damit zu warten, bis eine deutsche Zivilverwaltung eingerichtet sei und nicht mehr die Wehrmacht die Verantwortung dafür tragen müsse.39 In den Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabs des Heeres, Franz Halder, las sich dies folgendermaßen: Zit. n. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 215. Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 92. 37 Anordnung des AOK 10, 26. September 1939, zit. n. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 217. 38 Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen, S. 208. 39 Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 117. 35 36 84 »b) Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel. c) Forderungen Heer: Bereinigung nach dem Herausziehen des Heeres und nach Übergabe an stabile Zivilverwaltung. Anfang Dezember«.40 Brauchitsch, der Oberbefehlshaber des Heeres, suchte wohl aus ähnlichen Gründen am folgenden Tag eine Unterredung mit Hitler und wurde von diesem gleich auf den neuesten Stand der Kriegszielplanung gebracht. In der Zwischenzeit war nämlich ein Telegramm des deutschen Botschafters in Moskau, Friedrich Werner von der Schulenburg, mit der Meldung eingetroffen, der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow habe »durchblicken« lassen, an der »ursprüngliche[n] Neigung, ein restliches Polen bestehen zu lassen«, nicht mehr interessiert zu sein und um Verhandlungen über eine Aufteilung Polens bat.41 Dieser Vorstoß der Sowjetunion hatte unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Kriegszielplanung. Am 12. September hatte Ribbentrop Keitel im »Führer«-Zug dargelegt, dass man momentan vor der Wahl stehe, Polen ein weiteres Mal zu teilen, ein »selbständiges Restpolen« zuzulassen oder schließlich die Gründung eines ukrainischen Staates und die Arrondierung Litauens zu betreiben.42 Nach dem Sinneswandel in Moskau wurde Brauchitsch eine neue Variation präsentiert, die auf eine »Umsiedlung im Großen« zielte.43 Aus den ehemaligen deutschen Gebieten sollten alle abgeschoben werden, die nach 1918 zugezogen waren, wobei für jüdische Polen die Einweisung in Ghettos vorgesehen war, auch wenn dies »im einzelnen noch nicht klarliegend« sei.44 An ihrer Stelle sollten Deutsche angesiedelt werden.45 Damit hatte Hitler das erste Mal das spätere Programm der gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen skizziert, das zwar so ähnlich bereits bei den radikalen Nationalisten und der Diskussionen um einen polnischen »Grenzstreifen« Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 79. Schulenburg an Auswärtiges Amt, 20. September 1939, abgedruckt in: ADAP Serie D, Bd. 8, Dok. 104, S. 82. Siehe auch Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 70f. 42 Aktenvermerk Lahousens, 12. September 1939, zit. n. Groscurth, Tagebücher, S. 357. 43 Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 81. Siehe auch Wildt, Generation des Unbedingten, S. 457. 44 Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 82. 45 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 53. 40 41 85 aufgetaucht war, aber erst unter den Nationalsozialisten in Angriff genommen werden sollte. Und wie am Vortag Wagner, so scheint es auch Brauchitsch nur noch darum gegangen zu sein, die volle Implementierung dieser Politik auf die Zeit nach dem Ablauf der Militärverwaltung hinauszuschieben. Genau dies wurde ihm zugesichert. Die Wehrmacht – so Hitler – würde mit dieser »Bereinigung« nicht belastet werden.46 Noch in derselben Nacht entwarf Wagner einen Befehl, mit dem sich die Wehrmacht eigenhändig entmachtete, indem den Polizei- und SS-Einheiten gestattet wurde, »im Auftrage und nach Weisungen des Führers gewisse volkspolitische Aufgaben« durchzuführen und dabei auch Standgerichte einzurichten.47 Die SS wusste diesen neugewonnenen Spielraum zu nutzen. Am 21. September war es wieder an Himmler und Heydrich, aus den deutschen Kriegszielen in Polen ein bevölkerungspolitisches Programm zu extrapolieren. Wie Heydrich seinen Amtschefs und den versammelten Einsatzgruppenchefs verkündete, sollten die polnischen Territorien im deutschen Interessenbereich geteilt und »die ehemaligen deutschen Provinzen« an das Deutsche Reich angeschlossen werden, während in Zentralpolen »ein Gau mit fremdsprachiger Bevölkerung« einzurichten sei – jedoch nicht als polnischer Rumpfstaat, sondern »praktisch als Niemandsland« unter deutscher Kontrolle. In einem großen Wurf skizzierte er anschließend ein umfangreiches Programm »ethnischer Säuberungen«, das zum ersten Mal auch das Deutsche Reich einbezog und die »Lösung des Polenproblems« nahtlos mit einer rassischen Deportationspolitik verband.48 Aus dem – erweiterten – Deutschen Reich müssten etwa 30000 deutsche Sinti sowie alle jüdischen Deutschen »mit Güterzügen« nach Zentralpolen verschleppt werden, wobei Letztere zusammen mit den dortigen jüdischen Polen in größeren Zit. n. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 458. Oberbefehlshaber des Heeres an die Ober- und Militärbefehlshaber, 21. September 1939, zit. n. Mallmann/Böhler/Matthäus (Hg.), Einsatzgruppen in Polen, S. 146. Siehe auch Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 54. 48 Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 21. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 26–30; siehe auch Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 59; Wildt, Generation des Unbedingten, S. 457f. 46 47 86 Städten zu ghettoisieren seien. Zumindest für einen Teil der jüdischen Polen war aber offensichtlich auch die Abschiebung über die Demarkationslinie »vom Führer genehmigt« worden.49 Das »Endziel«50 – wie Heydrich dies in einem Schreiben an die Einsatzgruppen vom selben Tag formulierte – sei streng geheim zu halten und bestünde in der Deportation aller Juden in – so einen Tag später gegenüber Brauchitsch – einen »Judenstaat unter deutscher Verwaltung«.51 Von der verbleibenden polnischen Bevölkerung solle zunächst das überlebende »politische[n] Führertum« ausgeschaltet sowie »daneben Listen der Mittelschicht: Lehrer, Geistlichkeit, Adel, Legionäre, zurückkehrende Offiziere usw.« erstellt werden, damit diese »verhaftet und in den Restraum« abgeschoben werden könnten.52 Die »primitiven Polen« hingegen seien als »Wanderarbeiter in den Arbeitsprozeß einzugliedern und werden aus den deutschen Gauen allmählich in den fremdsprachigen Gau ausgesiedelt«.53 Wenn Philip T. Rutherford also mit seiner Einschätzung völlig richtigliegt, wonach Heydrich damit »den ersten detaillierten Ausblick auf die nationalsozialistische Planung für eine rassistische ›Neue Ordnung‹ in dem jüngst besetzten Gebiet« vorgelegt hatte, so blieben Heydrichs Ausführungen doch nicht darauf beschränkt.54 In dieser um pragmatische Gesichtspunkte bemühten Besprechung, die vor allem den Einsatzgruppen in Polen unmittelbare Handlungsanweisungen geben sollte, kam Heydrich auch auf die Organisation dieser gewaltigen Vertreibungsmaßnahmen zu sprechen. Und hier konnte er einen weiteren Sieg vermelden, als er die Einsetzung Himmlers als »Siedlungskommissar für den Osten« ankündigte, was den SS-Komplex zu einem entscheidenden Akteur in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik machen sollte.55 Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 21. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 26–30. 50 Zit. n. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 459. 51 Zit. n. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 61. 52 Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 21. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 26–30. 53 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 458. Siehe auch Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 21. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 26–30. 54 Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 72 [Übers. G.W.]. 55 Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 21. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 26–30. 49 87 Die Entwicklung in den letzten Septembertagen radikalisierte die deutschen Kriegsziele weiter. Wie Hitler nach Eintreffen von Schulenburgs Telegramm dem Schweden Birger Dahlerus mitteilte, einem informellen Vermittler zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich, müsse sich England mit der Tatsache abfinden, dass »Polen nicht mehr auferstehen könne«. Es könne jetzt nur noch darum gehen, »im Ostraum für Ordnung« zu sorgen durch eine »vernünftige regionale Einteilung der Nationalitäten«. Hierfür sei jedoch – und hier taucht dieser Begriff, soweit ich sehen kann, das erste Mal auf – eine »volksmäßige Flurbereinigung« vonnöten, in deren Rahmen auch Deutsche in den angeblich »dünn bevölkerten Gebieten« Westpolens angesiedelt werden müssten.56 Auch wenn der Mitschrift nicht zu entnehmen ist, an welche Deutsche Hitler hier dachte, handelte es sich doch wahrscheinlich um die ethnischen Deutschen in den polnischen Territorien, die der Sowjetunion zugesprochen werden sollten.57 In derselben Nacht sollte sich aber auch dieser Aspekt weiter konkretisieren. Nach Aussage des Leiters der deutschen Minderheitenorganisation in Lettland und späteren SS-Oberführers, Dr. Erhard Kroeger, war dieser zu Himmler bestellt worden, der ihm im Hotel Casino in Zoppot, das für einige Tage als Hauptquartier Hitlers diente, eröffnete, dass nun das gesamte Baltikum der Sowjetunion überlassen werde. Zu Kroegers Verwunderung war dabei zunächst nicht an die Evakuierung aller ethnischen Deutschen aus diesem Gebiet gedacht worden, sondern nur an diejenigen, die der nationalsozialistischen Bewegung angehörten oder sich in der »Volkstumspolitik exponiert hätten«.58 Kroeger war entsetzt und bat Himmler, diese Menschen nicht in die »Hände der Bolschewiken fallen zu lassen« und sich bei Hitler für die Umsiedlung aller ethnischen Deutschen einzusetzen.59 Am nächsten Tag teilte ihm Himmler Hitlers Einverständnis mit.60 Ein Aufzeichnungen des Gesandten Schmidt im Auswärtigen Amt, 26. September 1939, abgedruckt in: ADAP Serie D, Bd. 8, Dok. 138, S. 109–112. 57 Vermerk Weizsäckers über die bevorstehenden Verhandlungen mit Moskau vom selben Tag, 26. September 1939, abgedruckt in: ADAP Serie D, Bd. 8, Dok. 137, S. 107. 58 Kroeger, Der Auszug aus der Alten Heimat, S. 51. 59 Ebenda, S. 50. 60 Tatsächlich musste sich Himmler diesen Auftrag erst erkämpfen: Hitler hatte damit zuerst die Volksdeutsche Mittelstelle beauftragt, bevor Himmler ihn umstimmen konnte, siehe Koehl, RKFDV, S. 49. 56 88 Umsiedlungsprogramm hatte Kontur angenommen, das nur wenige Wochen später die ersten »Deutschen« aus dem Baltikum in den Hafen von Gdingen verschlagen sollte. Mit dem Entschluss zur endgültigen Aufteilung Osteuropas zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion im DeutschSowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September war in Berlin die Entscheidung für ein umfassendes Deportationsprogramm und die Zerschlagung Polens wohl endgültig gefallen. Gleich am nächsten Tag sprach Hitler Alfred Rosenberg gegenüber davon, Polen in »drei Streifen« teilen zu wollen, wobei der westliche als ein »breiter Gürtel der Germanisierung und Kolonisierung« an das Deutsche Reich angeschlossen und dabei Platz schaffen würde für »gute Deutsche aus aller Welt«. Die jüdische Bevölkerung sowie alle »irgendwie unzuverlässigen Elemente« sollten hingegen in den östlichen Streifen verschleppt werden, während dazwischen Raum für eine nicht näher bestimmte »polnische Staatlichkeit« bleibe.61 Heydrich wählte in einer Unterrichtung seiner Amtschefs deutlichere Worte und bezeichnete den östlichen Streifen als »Naturschutzgebiet oder ›Reichs-Ghetto‹«, das nach der Modifizierung der Demarkationslinie nun in der Gegend um Lublin entstehen sollte.62 Vor diesem Hintergrund ist Hitlers bekannte Rede vom 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag zu interpretieren, die als »Friedensrede« ausgegeben wurde.63 In Fortsetzung der Argumentation, die er bereits an Dahlerus erprobt hatte, behauptete Hitler, es gehe ihm allein um die »Befriedung des gesamten Gebietes« durch die Schaffung »eine[r] neue[n] Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«.64 Michael Wildt hat darauf hingewiesen, dass Hitler damit eine Rechtfertigung im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker suchte, mit dem nach dem Ersten Weltkrieg die Zerschlagung der multiethnischen Reiche in Osteuropa begründet worden Rosenberg, Politisches Tagebuch, S. 80. Niederschrift der Amtschefbesprechung mit den Einsatzgruppenleitern unter Heydrich am 29. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 36f. Teilweise abgedruckt bei Pätzold, Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung, S. 240. 63 Hitler am 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag, zit. n. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, S. 51–63. Zur zeitgenössischen Einordnung der Rede siehe Wildt, »Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«. Hitlers Reichstagsrede, S. 130. 64 Hitler am 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag, zit. n. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, S. 56. 61 62 89 war.65 Wenn – so könnte Hitlers Rede paraphrasiert werden – eine gerechte und friedliche Staatenordnung nur dann zu erreichen sei, wenn die Bevölkerung eines Territoriums ethnisch homogen sei und gleichzeitig das Recht auf einen eigenen Staat habe, genau davon aber im multiethnischen Europa nicht die Rede sein könne, müsse die Politik diesen Zustand nachträglich herstellen. Für Hitler bedeutete diese »neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse« dann auch nichts anderes als eine »Umsiedlung der Nationalitäten«. Diese könnten aber nicht auf »diesen Raum beschränkt« werden und müssten unter anderem die Rückführung von »nicht haltbaren Splittern des deutschen Volkstums« aus ganz Osteuropa beinhalten, deren Assimilation als »Angehörige[n] eines hochwertigen Volkes […] utopisch« sei.66 Dieser Redepassage kommt insofern eine zentrale Bedeutung zu, als sie ein weit über Polen hinausgehendes Deportationsprogramm andeutete und gleichzeitig die Legitimation für eine deutsche Expansion legt. Sie macht aber auch deutlich, dass diese »Ordnung des gesamten Lebensraumes nach Nationalitäten« nicht nur eine ethnische Homogenisierung, sondern auch eine ethnische Hierarchisierung anstrebte.67 Wildt, »Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«. Hitlers Reichstagsrede, S. 133–134. 66 Hitler am 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag, zit. n. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, S. 51–63, hier S. 56. 67 Ebenda, S. 61. 65 90 Perpetuierung der Gewalt: Einrichtung der deutschen Besatzungsherrschaft Sollte Hitler gehofft haben, mit seiner Rede vom 6. Oktober das Vereinigte Königreich und Frankreich für einen Sonderfrieden gewinnen zu können, hatte er sich getäuscht. Für Polen brachte der Abschluss der Kriegshandlungen deshalb auch keine Erleichterung. Im Gegenteil: Hatte sich bereits die Wehrmacht zu einem Krieg entschlossen, der auf die Regeln des Kriegsvölkerrechts allenfalls »sinngemäß« Rücksicht nahm, perpetuierte das bald eingerichtete Besatzungsregime den Terror. Hauptexponent dieser Unterdrückungsmaßnahmen sollte die noch einzurichtende zivile Verwaltung werden, die sich aus den zivilen Verwaltungsstäben entwickelte, die den Armeeoberkommandos beim Überfall auf Polen mitgegeben worden waren. In den ersten Tagen des Krieges war es jedoch zu entscheidenden Umbesetzungen gekommen. Im Norden sah sich die Wehrmacht etwa mit dem Danziger Gauleiter Albert Forster konfrontiert, der zeitgleich mit dem deutschen Überfall begonnen hatte, seinen Einflussbereich auf eigene Faust auszuweiten und bereits am 2. September die Stadtverwaltung in Dirschau übernommen hatte. Dass genau dies eigentlich die Aufgabe des zivilen Verwaltungsstabes bei der zuständigen 4. Armee war, störte Forster wenig. Nur zwei Tage später meldete er sich bei Wagner und forderte von diesem, anstelle des amtierenden Chefs der Zivilverwaltung (CdZ), SS-Oberführer Fritz Herrmann, eingesetzt zu werden – eine Forderung, die Hitler schließlich gegen das Oberkommando des Heeres durchsetzte. Der spätere Gauleiter und Reichsstatthalter des Warthelandes, Arthur Greiser, spielte sich zwar weniger in den Vordergrund, aber auch er war nicht von der Wehrmacht als Chef der Zivilverwaltung vorgesehen, sondern vom Reichsinnenministerium ins Spiel gebracht worden.68 Dieser Um68 Lammers an Pfundtner, 7. September 1939, SMR 720–5/2793, Bl. 1; Schenk, Hitlers Mann in Danzig, S. 138; Epstein, Model Nazi, S. 124–126; Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 32–34, Rutherford, Prelude to the Final Solution, S. 3, Rieß, Die Anfänge der Vernichtung, S. 244. 91 stand kann sicherlich zunächst einmal als weiterer Beweis für die diffuse und improvisierte Planung der politischen Führung gelten.69 Vor allem aber zeigten die Berufungen der »alten Kämpfer« die Bereitschaft Hitlers und der NSDAP-Spitze, die Grundlagen für eine allein an nationalsozialistischen Grundsätzen orientierte Beherrschung des eroberten Landes zu legen. Die am 25. September eingerichtete Militärverwaltung war für Hitler dann auch nur eine Übergangslösung, der er nicht »nicht viel Bedeutung« beimaß.70 Nur kurze Zeit später unterzeichnete er bereits den Erlass zur Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete, der ihre Auflösung zum 1. November 1939 sowie den Übergang zu einer zivilen Verwaltung vorsah. Nur zwei Tage nachdem er vor dem Reichstag vorgegeben hatte, vor allem die »Herstellung eines unbedingt garantierten Friedens und eines Gefühls der Sicherheit« in Europa anzustreben, besiegelte er die Annexion von weiten Teilen des polnischen Staatsgebietes und lieferte es engen Vertrauten mit dem Auftrag aus, diese Gebiete »einzudeutschen«.71 Es ist kennzeichnend für die Dynamik in der politischen Führungsspitze, dass ihr bald selbst diese drei Wochen zu lang wurden und Hitler in einem neuen Erlass den Termin zur Einsetzung der Zivilverwaltung um eine Woche auf den 26. Oktober vorzog. Aus ihrer Sicht war der Krieg mit der Kapitulation der polnischen Armee noch lange nicht beendet. Die bevorstehende Annexion Westpolens und die Verwandlung dieses Gebietes in »deutschen Lebensraum« erforderten die Konzentration auf Personengruppen, die als Gefahr für das deutsche Herrschaftsprojekt empfunden wurden oder aber aus ideologischen Gründen keinen Platz in diesem deutschen Dystopia hatten. Und obgleich sich die Wehrmacht während der Kriegshandlungen für die Politik der »ethnischen Säuberungen« als offen erwiesen hatte, schien sie doch für die weitere Fortsetzung dieses Kampfes als »zu weich und nachgiebig«.72 Nicht anders erging es den Planern im Reichsinnenministerium, die der Radikalität der nationalsozialistischen Führungsspitze ebenUmbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 11. Ebenda, S. 36. 71 Hitler am 6. Oktober 1939 vor dem Reichstag, zit. n. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, S. 62. Siehe auch Vermerk für Staatssekretär Pfundtner, 7. Oktober 1939, BArch R 1501/5401, Bl. 41. 72 Goebbels’ Tagebucheintrag vom 13. Oktober 1939, zit. n. Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 46. 69 70 92 falls hinterherhinkten. Zwar zeigte eine am 2. Oktober fertiggestellte Denkschrift über die »Aufgaben der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten« wenig Skrupel, wenn für den »Wiederaufbau und [die] Verstärkung des Deutschtums« eine »völlige und endgültige Eindeutschung« gefordert wurde.73 Wie sehr diese Überlegungen aber noch der preußischen Germanisierungspolitik verhaftet waren, zeigte der Nachsatz, waren doch nur die »1918 vom Reich abgetrennten Gebiete« gemeint.74 Während hier also noch sinniert wurde, wie etwa auf politischem Gebiet eine »Sonderstellung des Deutschtums« zu erreichen wäre oder unter Ausnutzung der polnischen Gesetzgebung die Enteignung polnischer Großgrundbesitzer vorangetrieben werden könnte, war der Kreis um Hitler bereits einige Schritte weiter. Die polnische Elite wurde entweder ermordet oder vertrieben, die polnische Bevölkerung – mit der Gründung von Görings Haupttreuhandstelle Ost und der Einsetzung von Himmlers Bodenamt – schlicht enteignet.75 Neue Grenzen Konservativ zeigte sich das Reichsinnenministerium auch bei der Grenzfestsetzung, die Forster durch sein Drängen auf eine vorzeitige Einrichtung der Zivilverwaltung Anfang Oktober auf die Tagesordnung setzte.76 Hitler zeigte sich wenig beeindruckt von einer ethnographischen Karte, die Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsinnenministerium, in einer Besprechung vorlegte und die Aufschluss über die ethnische Zusammensetzung im westlichen Polen gab, schließlich zielte die nationalsozialistische »Lebensraum«-Politik vor allem auf die Ausdehnung auf nicht von Deutschen bewohnte Gebiete, die in »deutsches Siedlungsland« verwandelt werden sollten.77 Wie sehr dieses »Lebensraum«-Ideologem mit Unsignierte RMI-Denkschrift über »Aufgaben der Zivilverwaltung in den polnischen Gebieten«, 2. Oktober 1939, BArch R 1501/5401, Bl. 24–29. 74 Ebenda. 75 Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 548–552, 564–573; Majer, »›Fremdvölkische‹ im Dritten Reich«, S. 395–404; zur HTO siehe insbesondere Rosenkötter, Treuhandpolitik, S. 81–88. 76 Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 39. 77 Gespräch zwischen Dr. Hopf (Bundesarchiv) und Ministerialdirektor Dr. Georg Hubrich, dem ehemaligen Leiter der Unterabteilung I-Ost im RMI, über Fragen der während des Krieges eingegliedert gewesenen Ge73 93 den expansiven Forderungen der imperialistischen Ostpolitik verbunden war, zeigte sich dann in dem weit nach Osten ausgreifenden »Blaustrich«, mit dem Hitler in einer imperialen Geste die landwirtschaftlich produktivsten Gebiete Polens sowie vier Fünftel seiner Industrie inklusive der gesamten Kohleförderung dem Deutschen Reich zuschlug.78 Die weitere Ausarbeitung wurde einer Kommission unter Ministerialdirektor Ernst Vollert übertragen, dem Leiter der Abteilung VI für Volkstum und Grenzziehung im Reichsinnenministerium.79 Vollert war gerade erst wieder nach Berlin zurückgekehrt, nachdem er zunächst den durch Forsters eigenmächtiges Verhalten geschassten ursprünglichen Chef der Zivilverwaltung, Fritz Herrmann, ersetzt und als Forsters Stellvertreter fungiert, sich aber nach nur 14 Tagen mit Forster überworfen hatte.80 Vielleicht war es ja nicht zuletzt diese kurze persönliche Erfahrung, die seine Skepsis gegenüber den weiträumigen Annexionsplänen bestärkte. Vollerts Memorandum unter dem Titel »Vorschlag zur territorialen Begrenzung von Westpreußen« vom 6. Oktober 1939 fiel jedenfalls selbst hinter die Forderungen kaiserlich-preußischer Hardliner zurück, er plädierte stattdessen für eine Korrektur der Vorentscheidung Hitlers.81 Zwar sah auch Vollert die »vornehmste Aufgabe« darin, »dieses alte deutsche Land möglichst schnell wieder zu einem deutschen Lande« biete, 1. Dezember 1961, BABt Ost-Dok. 13/157, Bl. 2–19. Hubrich war offensichtlich im Frühjahr 1935 auf Betreiben Stuckarts ins Reichsinnenministerium geholt worden und avancierte dort bereits ein Jahr später zum Gruppenleiter für das Sachgebiet Staatsangehörigkeit und Rasse. Ab 1. April 1941 war er Leiter der Unterabteilung I-Ost und stellvertretender Leiter der Unterabteilung I Sta R, Staatsangehörigkeit und Rasse, BArch R 2/11685, Bl. 146, BArch R 2/11689, Bl. 130, sowie Jasch, »Das preußische Kultusministerium«. 78 Bericht des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Wilhelm Keppler, zit. n. Volkmann, »Zwischen Ideologie und Pragmatismus«, S. 423. Zur wirtschaftlichen Bedeutung dieser Gebiete siehe Röhr, »Zur Rolle der Schwerindustrie«, S. 10, ders., »Zur Wirtschaftspolitik der deutschen Okkupanten«, S. 223f., Schwaneberg, The Economic Exploitation, S. 87–89 sowie Kaczmarek, »Zwischen Altreich und Besatzungsgebiet«, S. 348f. 79 Die Abteilung wurde kurz danach aufgelöst, ihre Zielsetzung war erreicht, siehe Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 324. 80 Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 33, sowie Schenk, Hitlers Mann in Danzig, S. 138. 81 Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 328. 94 zu machen und schreckte dabei auch nicht vor der »Umsiedlung eines wesentlichen Teils dieser polnischen Bevölkerung« zurück – nach seinen eigenen Angaben immerhin bis zu 4861000 Menschen. Aber Vollert unterschätzte die explosive Kraft der »Lebensraum«-Dystopie, wenn er daraus die Beschränkung auf die Grenzen von 1914 forderte und es als »unzweckmäßig« bezeichnete, die neu einzurichtende Provinz um die Kreise Lipno, Nieszawa, Rypin und Włocławek zu erweitern, ihr also »rein polnische, d.h. ehemals russische Gebiete hinzuzugeben«.82 Ebenso chancenlos wie Vollerts Memorandum erging es einer Denkschrift des hauseigenen think tanks zur gleichen Frage, der Publikationsstelle Dahlem. Um die Durchschlagkraft der eigenen Position zu verstärken, hatte die Publikationsstelle den jungen Leiter der Landesstelle Ostpreußens für Nachkriegsgeschichte, Dr. Theodor Schieder,83 nach Breslau entsandt, wo er sich am 28. September 1939 unter anderem mit den an der dortigen Universität lehrenden Professoren Walter Kuhn und Hermann Aubin traf. »Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird, sie muss sich selber zu Wort melden«, hatte Aubin am 18. September 1939 an Albert Brackmann geschrieben, bei dem als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive auch die Publikationsstelle angesiedelt war.84 Beim Treffen in Breslau sollte eine gemeinsame Position zum deutschen Vorgehen gegenüber Polen erarbeitet und über Verbindungsmänner in den politischen Entscheidungsprozess eingebracht werden.85 Und tatsächlich schien der Beratungsbedarf der Politik hoch, wurde Aubin doch noch am 4. Oktober mitgeteilt, dass – wahrscheinlich in Anspielung auf Vollerts Abteilung im Reichsinnenministerium – von »einigen höheren Reichsstellen« eine knappe Ausarbeitung sofort gewünscht werde.86 Schieders Ausarbeitungen Undatierte Denkschrift Vollerts, »Vorschlag zur territorialen Begrenzung von Westpreußen«, wahrscheinlich 6. Oktober 1939, BArch R 1501/5401, Bl. 31–40. 83 Zur Person siehe Aly, »Daß uns Blut zu Gold werde«. 84 Aubin an Brackmann, 18. September 1939, BArch R 153/291, ohne Seitenangabe. Siehe auch Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 147. 85 Ebbinghaus/Roth, »Vorläufer des ›Generalplans Ost‹«; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 330–332, Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 147f. 86 Pappritz an Aubin, 4. Oktober 1939, zit. n. Ebbinghaus/Roth, »Vorläufer des ›Generalplans Ost‹«, S. 69. 82 95 lassen dabei nur bedingt einen Bruch mit früheren Absichten Berlins erkennen, solche Forderungen waren bereits von den Alldeutschen und während des Ersten Weltkriegs in der Diskussion um den Grenzstreifen artikuliert worden.87 Ähnlich verhielt es sich mit der vorgeschlagenen Grenzziehung. Da Schieder als »[e]rste Erfordernis […] die klare Abgrenzung von polnischem und deutschem Volkstum« galt, erwähnte er zwar die alte Grenze von 1914, plädierte aber für eine weiter westlich gezogene Grenzführung, die sich an der sogenannten Plate’schen Linie orientierte, einer durch die Volkszählung von 1910 etablierten Trennlinie zwischen deutsch- und polnischsprachigen Preußen.88 Auf die »Lebensraum«-Politik im nationalsozialistischen Staat war damit natürlich kein Einfluss zu gewinnen. In seiner Reichstagsrede ließ Hitler dann auch beide Ausführungen weit hinter sich. Wie auch Johannes Pappritz, der Geschäftsführer der Publikationsstelle Dahlem, feststellen musste, war die nationalsozialistische Führungsspitze nicht auf wissenschaftliche Politikberatung angewiesen, um zu radikalen Entscheidungen zu kommen. Ein von Pappritz bereits aufgesetztes Begleitschreiben zu Schieders Denkschrift enthält die Notiz: »Nicht abgegangen, da überholt!«89 Einen Tag später wurden die Gebiete dann auch offiziell annektiert: In Hitlers Erlass zur »Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete« vom 8. Oktober 1939 wurden die Provinzen Westpreußen und Posen neu eingerichtet und die Regierungsbezirke Kattowitz an Schlesien sowie Zichenau an Ostpreußen angeschlossen.90 Und wie Aus meiner Sicht irrt deshalb auch Ingo Haar, wenn er das hier entwickelte »Planungsszenario nicht in der Tradition der preußischen Polenpolitik« sieht, weil es umfassende Deportationen von Teilen der einheimischen Bevölkerung und ihre Ersetzung durch ethnische Deutsche aus Osteuropa vorsah, Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 332. Siehe auch Ebbinghaus/Roth, »Vorläufer des ›Generalplans Ost‹«, S. 76. 88 Undatierte Denkschrift Schieders, wahrscheinlich am 7. Oktober 1939 fertiggestellt, BArch R 153/291, ohne Seitenangabe [Hervorhebung im Original, G.W.]. Zur Datierung siehe Ebbinghaus/Roth, »Vorläufer des ›Generalplans Ost‹«, S. 70. 89 Notiz auf dem am 7. Oktober 1939 aufgesetzten Schreiben an Aubin, zit. n. ebenda, S. 92. 90 Hitlers Erlaß über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete, 8. Oktober 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 84–88. In Anlehnung an die früheren preußischen Bezeichnungen hießen die Provinzen zunächst Westpreußen und Posen, erst später 87 96 die verbleibenden Scharmützel um den genauen Grenzverlauf belegen, gedachte die nationalsozialistische Führung nicht nur Vollerts Mahnungen bezüglich Danzig-Westpreußens zu ignorieren, sondern auch die ähnlich begründeten gegen eine expansive Lösung bei der Grenzziehung im Wartheland und in Schlesien. Gegen den Willen des Oberpräsidenten in Schlesien wurden der Provinz wirtschaftliche wichtige Gebiete auf früherem russischen Teilungsgebiet sowie dem Wartheland und aus denselben Gründen noch Anfang November die Industriestadt Lodsch91 angeschlossen, jeweils Gebiete mit ausschließlich oder doch überwiegend polnischsprachiger Bevölkerung.92 Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Während Hitler in seiner Reichstagsrede der Welt noch die Friedensbereitschaft des Deutschen Reiches vorgaukelte, hatte er nicht nur die Annexion Westpolens und die Einrichtung einer Zivilverwaltung angeordnet, sondern errichtete bereits das zweite Standbein des deutschen Besatzungsregimes und beauftragte Himmler mit der Durchführung der – wie es in der Rede geheißen hatte – »Ordnung des gesamten Lebensraumes nach Nationalitäten«. Im »Erlaß zur Festigung deutschen Volkstums« vom 7. Oktober 1939 wird dieser Passus aufgegriffen und Himmler aufgetragen, »die Siedlung der Volksgruppen so zu gestalten, dass bessere Trennungslinien zwischen ihnen erreicht werden« könnten – das Schlagwort von der »Germanisierung des Bodens« sollte politische Praxis werden.93 erfolgte die Umbenennung in Danzig-Westpreußen und Wartheland, siehe RGBl., Teil 1, 1940, S. 251. 91 Die Bezeichnung der Stadt folgt der amtlichen: bis zum deutschen Überfall und nach der Befreiung – Łódź; von September 1939 bis März 1940 – Lodsch; von April 1940 – Litzmannstadt. 92 Zur Eingliederung von Łódź und zu genaueren Angaben zum territorialen Umfang zur administrativen Gliederung des Warthelands im Allgemeinen siehe Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 112–116. Der deutsche Anspruch auf Łódź wurde ideologisch schließlich auch mit archäologischen Funden begründet, die angeblich auf eine frühe germanische Siedlung hinwiesen, Furber, »Near as Far in the Colonies«, S. 557. 93 Erlaß zur Festigung deutschen Volkstums, gez. Hitler, Göring, Lammers, Keitel, 7. Oktober 1939, BArch R43 II/1412, Bl. 575–577. Abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 176–178; Moll (Hg.), »Führer-Erlasse«, S. 100–102. Wie Philip Morgan zu Recht anmerkt, war die Beauftragung Himmlers »ein gutes Beispiel für eine klassi- 97 Dass dies vor allem auf Kosten der als nicht deutsch erachteten Bevölkerung zu geschehen habe, war ebenso selbstverständlich wie die Rücksichtslosigkeit, die sich Vollert einen Tag vorher noch nicht hatte vorstellen können. Der Gedanke, Himmler als »Siedlungskommissar« einzusetzen, war freilich nicht neu, sondern ging auf die bereits angesprochenen Planungen zur Umsiedlung der ethnischen Deutschen in Südtirol zurück. Die Bedeutung Italiens als wichtigster außenpolitischer Verbündeter des Deutschen Reiches hatte Hitler im Vorfeld des Münchener Abkommens veranlasst, eine zentrale Hypothek der gegenseitigen Beziehungen endgültig aus dem Weg zu räumen und Mussolini kurzerhand die Aussiedlung der ethnischen Deutschen zuzusagen. Ideologische Vorgaben wurden wieder einmal strategischen Überlegungen untergeordnet, schließlich – so Hitler – gehe es in der Politik doch nicht um »Sentiments, sondern nur [um] Kaltschnäuzigkeit« und hier schade das »Geschwätz über Südtirol« dem Deutschen Reich.94 So wie Berlin die ethnischen Deutschen in Polen mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt düpiert hatte, erfuhren nun die ethnischen Deutschen in Südtirol, dass der »Schutz« des Deutschen Reiches sie im Zweifelsfall ihre Existenz kostete.95 Dieser Pragmatismus war den Nationalsozialisten umso leichter gefallen, als er nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen geboten schien. Der aufrüstungsindizierte Boom sche faschistische Praxis«, nämlich »faschistische Schattendienststellen« einzurichten, deren Kompetenzen gegenüber der staatlichen Verwaltung nicht hinreichend abgegrenzt und die in Konkurrenz zu ihr tätig wurden, Morgan, Fascism in Europe, S. 133–138 [Übers. G.W.]. 94 Zit. n. Jäckel, Hitlers Herrschaft, S. 34. Danach war Hitler bereits Ende 1922 oder Anfang 1923 zum Verzicht auf Südtirol bereit gewesen. »Nötig« – so Hitler weiter – sei »ein klarer und bündiger Verzicht auf Südtirol«, zit. n. ebenda. Siehe auch den von Gottfried Feder verantworteten parteiamtlichen Kommentar zu dem Parteiprogramm, in dem zum ersten Programmpunkt, also der Forderung nach dem Zusammenschluss aller »Deutschen« in einem »Groß-Deutschland«, noch bis 1928 neben dem Sudetenland und Österreich auch Südtirol aufgeführt wurde. In der 1929 erschienenen fünften Auflage wurde Südtirol nicht mehr erwähnt. Siehe Broszat, Weltanschauung, S. 32f. Die deutlichste und gleichzeitig ausführlich begründete Absage an den Anspruch auf Südtirol findet sich schließlich in Hitlers Zweitem Buch, S. 189–215. 95 Aly, »Endlösung«, S. 64. Zu Südtirol siehe Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol, Bd. 1, S. 30–86. 98 der deutschen Wirtschaft hatte bereits 1933 erste Mängel bei der Versorgung der Landwirtschaft mit einer ausreichenden Zahl an Arbeitskräften sichtbar werden lassen96 und in den folgenden Jahren zu immer deutlicheren Krisenerscheinungen auch in der übrigen Wirtschaft und schließlich zu einer immer direkteren Kontrolle des Arbeitsmarktes geführt.97 Die forcierte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften vor allem auch in Polen führte zur Belastung der deutschen Devisenbilanz und warf – zumindest aus Sicht der SS und Polizei – Risiken auf, denen man mit dem gezielten Einsatz von ethnischen Deutschen aus dem Ausland am ehesten glaubte begegnen zu können. An dieser Schnittmenge von »sicherheitspolizeilichen« und wirtschaftlichen Überlegungen hatte Himmler bereits Anfang 1937 in seinem Persönlichen Stab die Dienststelle Vierjahresplan unter SS-Oberführer Ulrich Greifelt eingerichtet, um »hauptsächlich auf dem Gebiet des landwirtschaftlichen Arbeitseinsatzes […] Maßnahmen zur zusätzlichen Beschaffung von landwirtschaftlichen Hilfskräften« anzuregen.98 Als Hitler dann zunächst formlos Himmler mit der Umsiedlung der »Volksdeutschen« in Südtirol betraute, gab dieser – nachdem zunächst auch die Volksdeutsche Mittelstelle im Gespräch war – den Auftrag am 23. Juli 1939 sicherlich nicht zufällig an Greifelt weiter, zumal zu diesem Zeitpunkt der Krieg unmittelbar bevorstand, mit einem weiteren Einbruch am Arbeitskräftemarkt also zu rechnen war.99 Im darauffolgenden Gerangel mit der Reichskanzlei und den betroffenen Ministerien versuchte Himmler Hitlers Beauftragung in eine möglichst weitreichende Vollmacht zu übersetzen und erreichte im Letzten mit Lammers vereinbarten Entwurf vom 17. August sowohl die Ernennung zum Reichskommissar wie auch einen weiten Spielraum gegenüber der Ministerialbürokratie.100 August, »Die Entwicklung des Arbeitsmarkts«, S. 306–308. Tooze, The Wages of Destruction, S. 291. 98 SS-Obersturmbannführer Rudolf Creutz an Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) Hildebrandt, 1. März 1940, BDC SSO-Akte Rudolf Creutz. Für dieses Dokument danke ich Götz Aly. Siehe auch undatierter Vortrag Greifelts, wahrscheinlich Januar 1939, NO-5591, abgedruckt in: Loeber (Hg.), Diktierte Option, S. 4–7. 99 Zu den Rivalitäten zwischen Lorenz und Himmler siehe Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol, Bd. 1, S. 245f. 100 Ebenda, S. 249f. 96 97 99 Der Krieg schob die Herausgabe dieses Erlasses jedoch zunächst hinaus, nur um dann die Umsiedlung der Südtiroler in einen gänzlich neuen Kontext zu katapultieren. Nachdem die nationalsozialistische Führungsspitze zu der Entscheidung gelangt war, weite Teile Westpolens zu annektieren und »einzudeutschen« und – zeitgleich dazu, jedoch zunächst ohne kausalen Zusammenhang – Hitler auch beschlossen hatte, die ethnischen Deutschen aus dem Baltikum umzusiedeln, war es nur noch ein kurzer Weg zu der Erkenntnis, dass sich diese Maßnahmen ergänzten und also koordiniert werden müssten. Wie bereits in den Denkschriften des preußischen Innenministeriums noch vor dem Ersten Weltkrieg die Umsiedlung von »Volksdeutschen« aus Russland aufgetaucht war, als es um die Erhöhung der Anzahl »deutscher« Landarbeiter und gleichzeitig die Erhöhung der »deutschen« Bevölkerung an den Ostgrenzen Preußens oder aber später um die »Eindeutschung« des zu annektierenden »Grenzstreifens« ging, so mündete auch diesmal die Entscheidung zur Annexion polnischer Gebiete umstandslos in Überlegungen, wie diese mit »Deutschen« zu besiedeln seien, und landeten schließlich bei den ethnischen Deutschen jenseits der Reichsgrenzen. Die Südtiroler sollten nun nicht mehr im Deutschen Reich oder etwa in Mähren, sondern in einem neu eingerichteten »Beskidengau« südlich von Kattowitz angesiedelt werden101 und die Balten in DanzigWestpreußen und im Wartheland.102 Als Hitler am 7. Oktober den »Erlaß zur Festigung deutschen Volkstums« unterzeichnete, war es also nur folgerichtig, Himmler damit zu beauftragen. Himmler hatte bereits eine eigene Dienststelle zur Umsiedlung der Südtiroler aufgebaut und verfügte auch über die (Zwangs-)Mittel, die für das geplante Umsiedlungs- sowie Mordund Vertreibungsprogramm notwendig waren. So vage sich diese noch zu Beginn des Krieges darstellten, so konkret lasen sich nun diese Maßnahmen im Erlass: erstens die »Zurückführung« der für die »Heimkehr« ins Deutsche Reich infrage kommenden »Deut- Unsignierter Vermerk zu einer Besprechung beim HSSPF Südost, Erich von dem Bach-Zelewski, 27. November 1939, NO-5055, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 139. Siehe auch Aly, »Endlösung«, S. 64; Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 125; Longerich, Heinrich Himmler, S. 434–437. 102 Himmler an unter anderem Lorenz, Heydrich, Forster, Greiser, 11. Oktober 1939, NO-4613. 101 100 schen« im Ausland, zweitens ihre Ansiedlung in Polen und damit die »Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete« sowie drittens die »Ausschaltung des schädigenden Einflusses von […] volksfremden Bevölkerungsteilen«. Himmler wurde ermächtigt, alle dafür notwendigen »allgemeinen Anordnungen« zu treffen.103 Die Aufgaben, die sich aus dieser Ermächtigung ergaben, übertrug Himmler auf den SS-Apparat. Als Koordinationsinstanz wurde Greifelts für die Umsiedlung der Südtiroler eingerichtete und dem Persönlichen Stab zugeordnete Leitstelle für Ein- und Rückwanderung bestimmt und am 17. Oktober in die Dienststelle des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums umgewandelt.104 Diesen Titel sah Hitlers Erlass zwar nicht vor, er war aber im Erlassentwurf zur Umsiedlung der Südtiroler aufgetaucht – für Himmler offensichtlich Grund genug, sich diesen nun selbst zu verleihen und wahrscheinlich auch Grund für die ausbleibenden Proteste anderer Reichsbehörden. In der Berliner Dienststelle wurden zunächst die drei Abteilungen Planung, Bodenamt und Einwandererverteilung eingerichtet, wobei Letztere bald in Menscheneinsatz umbenannt wurde, was wiederum die Bedeutung unterstreicht, die Himmler der Ausbeutung der Arbeitskraft beimaß. Die bevölkerungspolitische Praxis delegierte Himmler an die Volksdeutsche Mittelstelle, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht völlig im SS-Orbit kreiste, sondern zumindest formal Heß unterstand, sowie an das Rasse- und Siedlungshauptamt und das Reichssicherheitshauptamt der SS. Heydrich hatte bereits am 11. Oktober 1939 die Einwandererzentralstelle Nordost (EWZ) errichtet, die im Auftrag Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) die Selektion der aus den baltischen Ländern umzusiedelnden »Volksdeutschen« durchführen sollte.105 Um Erlaß zur Festigung deutschen Volkstums, gez. Hitler, Göring, Lammers, Keitel, 7. Oktober 1939, BArch R43 II/1412, Bl. 575–577. Abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 176–178, und Moll (Hg.), »Führer-Erlasse«, S. 100–102. 104 1. Anordnung Himmlers als RKF, 7. Oktober 1939, NO-3078, siehe auch Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol, Bd. 1, S. 251. 105 Chef der Sicherheitspolizei und des SD an die obersten Reichsbehörden, BArch R 43 II/1412, Bl. 55, und Heydrich an Oberste Reichsbehörden, 13. Oktober 1939, BArch R 3001/20043, Bl. 1. Siehe auch Koehl, RKFDV, S. 54; ders., The Black Corps, S. 187f.; Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 189–192, und Leniger, Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und 103 101 die Kooperation mit den anderen SS-Instanzen zu gewährleisten und auch um einen regionalen Ansprechpartner für diesen Aufgabenbereich zu schaffen, ernannte Himmler zudem die Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) im besetzten Polen zu seinen Beauftragten, die bald in ihren Stäben Außenstellen einrichteten, die in ihrem Aufbau der Berliner RKF-Zentrale nachempfunden waren.106 Der Erlass vom 7. Oktober sollte Himmlers Macht entscheidend stärken und zu einem entscheidenden Einfallstor für die SS werden. Während Himmler eine der wichtigsten Beschränkungen des Erlasses, nämlich das Verbot des Aufbaus eigener Dienststellen, bald ignorierte, nutzte er ihn gleichzeitig als Begründung, auch jenen Stellen allgemeine Anordnungen zu erteilen, die nicht Teil des SS-Komplexes waren, deren Tätigkeit aber – zumindest in seiner Sicht – die »Festigung deutschen Volkstums« berührte. Im annektierten Polen gab es kaum einen Bereich, der davon ausgenommen werden konnte. Einrichtung der Zivilverwaltungen Als am 26. Oktober 1939 die Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung abgelöst wurde, waren also bereits entscheidende Weichen gestellt, die die Intensivierung der Unterdrückungsmaßnahmen ermöglichten, um die besetzten Gebiete baldmöglichst »einzudeutschen«. Nach wie vor unklar aber waren Aufbau und Kompetenzen der zivilen Verwaltungsorgane. Aufgrund der Schnelligkeit, mit der dieser Transformationsprozess vorangetrieben wurde, konnte das Reichsinnenministerium die dafür notwendigen Bestimmungen erst nach Einrichtung der Zivilverwaltung erlassen. Das Reichsinnenministerium war vor allem an einer deutlichen Stärkung der Verwaltungschefs interessiert und plädierte faktisch für die Beibehaltung der CdZ-Struktur, ohne den vorgesetzten Militärbefehlshaber. In der ersten Dienstanweisung der Reichswehr für einen Chef der Zivilverwaltung vom 14. Februar 1935 war diesem bereits die gesamte zivile Verwaltung unterstellt worden, also mitUmsiedlungspolitik, S. 148–151. Zum RKF siehe Stiller, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Zur Einwandererzentralstelle siehe Strippel, NS-Volkstumspolitik. 106 1. Anordnung Himmlers als RKF, 7. Oktober 1939, NO-3078. 102 samt den Sonderbehörden wie Finanzen oder Justiz. Weisungen der Zentralbehörden waren über ihn zu erlassen, er konnte die Dienststellen auch direkt anweisen.107 Das Reichsinnenministerium geriet dadurch mit den betroffenen Ministerien aneinander, die in Erwartung der Ablösung der Militärs auch – wie etwa im Sudetenland geschehen – die Angleichung an die Verhältnisse im Reich, also die direkte Kontrolle über ihre regionalen Dienststellen forderten. Für das Innenministerium war dies aber ein Grund mehr, am eigenen Vorhaben festzuhalten. In den dortigen Planungen sollte die vorgeschlagene Zentralisierung der Verwaltung nämlich auch als Testfall dienen und spätere Veränderungen im Reich selbst vorbereiten. Letztlich konnte das Reichsinnenministerium diese Kraftprobe mit Unterstützung der Partei für sich entscheiden.108 Es verging über eine Woche, ehe Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 2. November 1939 die Durchführungsverordnung über die »Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete« unterzeichnen konnte, die Hitlers Erlass vom 8. Oktober näher ausführte. Die Zielrichtung des Reichsinnenministeriums war dabei sehr deutlich: die weitere Stärkung der Reichsstatthalter und generell der Spitzen der allgemeinen Verwaltung. Neben der mit der Einrichtung des Reichsgau Sudetenland eingeführten Immediatstellung der Reichsstatthalter unter Hitler wurden zum einen die Sonderbehörden auf Provinzund Kreisebene nicht wie im Deutschen Reich üblich den jeweiligen Fachministerien, sondern direkt den Verwaltungschefs unterstellt. Zum anderen erhielten Reichsstatthalter und Regierungspräsidenten eine größere Kontrolle über ihre jeweils untergeordnete Verwaltungsebene zugesprochen.109 Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 6. Umbreit geht jedoch nicht auf die erstaunliche Parallele ein, die diese nicht mehr wesentlich veränderte Institution des Chefs der Zivilverwaltung zu den Planungen des Reichsinnenministeriums für den zukünftigen Aufbau der Besatzungsverwaltung in Polen aufwies. 108 Siehe Heß an Lammers, 25. 10. 1939, Stelbrink, Der preußische Landrat im Nationalsozialismus, S. 167. 109 Hier vor allem Fricks »Zweite Verordnung zur Durchführung des Erlasses des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete«, 2. November 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 89–92, sowie Fricks Erlass v. 27. Dezember 1939, abgedruckt in: ebenda, S. 92–95. Ausnahmen galten für die an die 107 103 Die Unterstützung der Partei hatte ihren Preis. Wie Heß Stuckart wissen ließ, sollten die »politische Führung und die politische Verwaltung in Personalunion ausgeführt werden«.110 Auch die Partei gedachte, in den annektierten Ostgebieten Strukturveränderungen durchzusetzen, die im Reichsgebiet noch nicht erreichbar schienen, um sie schließlich auch hierher zu übertragen. Das Ziel wäre in der Tat vielversprechend gewesen: Wäre jede staatliche Stelle mit der entsprechenden Stelle auf Parteiebene gekoppelt gewesen, hätte die Partei ein direktes Vorschlagsrecht und Veto für jeden Verwaltungsposten erhalten, die endgültige »Machtübernahme« wäre damit erreicht gewesen. Im Bündnis mit den jeweiligen Gauleitern, die ja gleichzeitig auch die Verwaltungschefs, also Reichsstatthalter oder Oberpräsidenten, waren, begann die Partei einen Kleinkrieg um die Besetzung der Landratsposten, in dem das Reichsinnenministerium bald erkannte, wie sehr die selbst betriebene Stärkung der Reichsstatthalter die eigenen Kontrollmöglichkeiten einschränkte. Um ihren Zugriff auf die staatliche Verwaltung zu verstärken, torpedierten die Gauleiter in ihrer Eigenschaft als Verwaltungschefs systematisch die Ernennungen des Reichsinnenministeriums und setzten stattdessen Vertrauensleute ein. Im Wartheland wurde die Hälfte der Landratsposten mit Personen aus dem Parteiapparat besetzt, in Danzig-Westpreußen sogar 88 Prozent, in vielen Kreisen kam es zu einer Personalunion von Landrat und Kreisleiter.111 Diese deutliche Stärkung der – so ein zeitgenössischer Begriff – »Grenzgauleiter« ging im Wesentlichen auf Kosten der Reichsministerialverwaltungen in Berlin sowie der untergeordneten Dienststellen und der Selbstverwaltungskörperschaften in den Provin- Provinzen Schlesien und Ostpreußen angeschlossenen Gebiete. Siehe auch das Gesetz über den »Aufbau der Verwaltung im Reichsgau Sudetenland«, 14. April 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 84–86. 110 Sommer an Stuckart, 11. Oktober 1939, BArch R 1501/5401, Bl. 73. 111 Stelbrink, Der preußische Landrat im Nationalsozialismus, S. 103–111, sowie Pohl, »Die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland«, S. 4f. Pohl geht auch auf die in der Forschung immer wieder getroffene Behauptung ein, wonach ein großer Teil des Personals entweder wegen Disziplinarverfahren oder anderer Verfehlungen nach Polen abgeschoben wurde oder aber ideologisch besonders motiviert war, und stellt dies besonders für das Wartheland heraus, ebenda, S. 7. Zu der Praxis im Generalgouvernement siehe Lehnstaedt, »›Ostnieten‹ oder ›Vernichtungsexperten‹«. 104 zen.112 Durchaus kennzeichnend für die projektierte Politik mussten die so gestärkten Reichsstatthalter und Oberpräsidenten jedoch in einem Bereich sogar Einbußen gegenüber der Situation im Deutschen Reich akzeptieren: in ihrer Stellung zur Polizeiverwaltung und dem gesamten SS-Komplex. Himmler hatte sich durch das Wüten der Einsatzgruppen eine Machtbasis geschaffen, die über den Volksdeutschen Selbstschutz in jedes Dorf reichte und etwa in Danzig-Westpreußen bald 80 Prozent der männlichen »volksdeutschen« Bevölkerung umfasste.113 Mit der Einsetzung als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums wurde diese Position weiter gestärkt, denn sie ermöglichte Himmler, auch über den sicherheitspolizeilichen Bereich hinaus aktiv zu werden und sich dabei sogar anderer Dienststellen zu bedienen. Die massive Präsenz unterschiedlichster SS-Formationen hatte bereits vor der Einrichtung der Militärverwaltung zur Ausdehnung der SS-Verwaltungsstruktur geführt, insbesondere durch die Ernennung von Höheren SS- und Polizeiführern, denen als »Himmlers regionale[r] Vertreter« – in Anlehnung an die Inspekteure im Reichsgebiet – Inspekteure der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei unterstellt wurden.114 Wie im Reichsgebiet wurden sie den Verwaltungschefs »persönlich und unmittelbar unterstellt«, konnten aber in Polen wegen der noch ungefestigten Herrschaftsstrukturen einen deutlich größeren Spielraum entfalten.115 Nach der Territorialisierung der Einsatzgruppen am 20. November 1939 waren auch die annektierten Gebiete bald mit einem sicherheitspolizeilichen Netzwerk überzogen, das zur allgemeinen Verwaltung in einer ähnlichen Zwitterstellung stand. So wurden die Leiter der Stapo-Leitabschnitte zu den politischen Referenten der Reichsstatthalter, während die Leiter der Stapo-Abschnitte die gleiche Funktion bei den Regierungspräsidenten übernahmen. Ihre Einbindung Kaczmarek, »Zwischen Altreich und Besatzungsgebiet«, S. 351, zu ihrer herausgehobenen Stellung siehe S. 351–355. 113 Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 61 u. 67. 114 Witte et al. (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 49. 115 Fricks »Zweite Verordnung zur Durchführung des Erlasses des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete«, 2. November 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 89–92. Siehe auch die Ernennungen von HSSPF im Reichsgebiet am 25. August 1939, Birn, Die höheren SS- und Polizeiführer, S. 13. 112 105 in den SS-Apparat, also die Unterstellung unter den Inspekteur der Sicherheitspolizei und Höheren SS- und Polizeiführer, ging aber vor: Anweisungen aus dem Amt IV des Reichssicherheitshauptamts hatten Vorrang vor denen der allgemeinen Verwaltung.116 Die Einsicht, dass die angestrebte »Eindeutschung« der annektierten Provinzen vor allem durch Gewalt zu bewerkstelligen war, hatte zu einem massiven Ausbau der Kompetenzen der allgemeinen Verwaltungsspitzen geführt. Dass davon ausgerechnet SS und Polizei nicht betroffen waren, sondern im Gegenteil ihr Handlungsspielraum erheblich ausgeweitet wurde, verweist auf die Mittel, mit denen die nationalsozialistische Führung diese »Eindeutschung« erreichen wollte. 116 Erlass Himmlers über die Organisation der Geheimen Staatspolizei in den Ostgebieten, 7. November 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 101–103. 106 Herrschaftssicherung: Bevölkerungspolitische Stabilisierung des deutschen Besatzungsregimes Vertreibung und Ermordung potentieller Gegner Die totale polnische Niederlage, flankiert durch die Vereinbarung mit der Sowjetunion, gab den Nationalsozialisten freie Hand diesseits der Demarkationslinie – beschränkte sie aber auch darauf.1 Diese – wenn auch von vornherein als temporär gedachte – Abhängigkeit von der Sowjetunion beschleunigte die Projektion der »Lebensraum«-Dystopie auf Polen: Sollte diese zentrale Verheißung der nationalsozialistischen Ideologie nicht weiter in die Ferne rücken, also auf die Zeit nach dem »Endsieg« im Westen und der anschließenden Vernichtung der Sowjetunion verschoben werden, so blieb nur Polen. Das vorher sicherlich auch vielen Nationalsozialisten utopisch anmutende »Lebensraum«-Ideologem avancierte zu einer treibenden Kraft für die Konzeption der Besatzungspolitik. Der politischen Machbarkeit schienen keine Grenzen gesetzt, die nicht durch den massiven Einsatz von Gewalt überwunden werden konnten. Hatte man bereits während des Krieges mit einer Politik der »ethnischen Säuberung« angefangen, gingen die Ethnokraten in Berlin und den besetzten Gebieten bald einen Schritt weiter und bereiteten die systematische Selektion der gesamten Bevölkerung vor. Zu entscheiden war, ob diesen Menschen als »Deutschen« oder – und dies ein zeitgenössischer Begriff für diejenigen, die sich der ethnischen Zuschreibung entzogen – als Angehörigen der »Zwischenschicht« gestaffelte Aufenthalts- und Lebensrechte im neuen »deutschen Osten« zugesprochen oder aber ob ihnen dies als »Fremdvölkischen« verweigert werden sollte. Die unbedingte Bereitschaft und Radika1 Zur Besatzungspolitik im sowjetisch besetzten Teils Polen siehe: Häufele, »Deutsche und sowjetische Besatzungspolitik«; ders., »Zwangsumsiedlungen in Polen«; Musial, »Das Schlachtfeld zweier totalitärer Systeme«; Davies, God’s Playground, S. 327f., 331–335, 343–365. 107 lität, mit der diese Diskussionen in die Tat umgesetzt wurden, weist sie als Teil eines genuin nationalsozialistischen Projektes aus. Im Kern gingen sie aber auf Absichten zurück, die bereits im königlichen Preußen wie auch in der Debatte um den »Grenzstreifen« ventiliert worden waren. Die Nisko-Aktion: gescheiterter Auftakt In den ersten Wochen nach dem deutschen Überfall bildeten Danzig-Westpreußen und, in etwas geringerem Maße, das Wartheland die Schwerpunkte der »völkischen Flurbereinigung«. Tatsächlich waren es jedoch die annektierten Gebiete Schlesiens, wo die Ethnokraten die ersten Schritte auf dem Weg zu einer umfassenderen und an den ideologischen Prämissen der Nationalsozialisten ausgerichteten »Lebensraum«-Politik unternahmen.2 Eichmann war nach seinen Erfolgen als Chef der Wiener Zentralstelle für jüdische Auswanderung im Juli 1939 beauftragt worden, dieses Modell auch auf Prag zu übertragen. Der Ausbruch des Krieges führte jedoch zu Stockungen und zwang die beteiligten Dienststellen, nach neuen Wegen zu suchen. Eichmann glaubte fündig geworden zu sein, als ihm ein Befehl Heydrichs zugestellt wurde, in dem dieser am 7. September die Verhaftung, Enteignung und Verschleppung der im Deutschen Reich wohnenden polnischen Juden anordnete.3 Zusammen mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Prag, Dr. Franz Stahlecker, fand sich jedoch am 10. September eine Alternativlösung:4 An die Stelle der gewaltsam forcierten Emigration sollten staatlich organisierte Deportationen in ein von Deutschland kontrolliertes Territorium treten. Damit war der Nisko-Plan geboren. Da diese Idee von Stahlecker über Heydrich auch Himmler erreichte, kann Claudia Steurs mit ihrer Einordnung einer Bemerkung Heydrichs durchaus richtigliegen,5 der seine Amtschefs während einer Besprechung am 14. September 1939 darüber inforHierzu ausführlicher Szefer, »Dokumentenauswahl zum Thema ›Die Diversionstätigkeit‹«, S. 335; Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 26; Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 77–82; Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 54–146. 3 Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 92. 4 Moser, Nisko. Siehe auch Longerich, Politik der Vernichtung, S. 252; Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 94. 5 Steur, Theodor Dannecker, S. 28f. 2 108 mierte, dass Himmler Hitler »Vorschläge unterbreitet, die nur der Führer entscheiden könne, da sie auch von erheblicher politischer Tragweite sein werden«.6 Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit eine Radikalisierung von der forcierten Emigrations- zur Deportationspolitik gemeint war. Wenn die Nisko-Aktion tatsächlich einen Wendepunkt darstellte, bleibt allerdings zu klären: auf welchem Weg? Miroslav Kárnýs bereits vor 20 Jahren skeptischer Hinweis, wonach es noch »viele[n] in der Geschichte von Nisko ungeklärte Fragen« gebe, ist aus meiner Sicht nicht überholt.7 Sie blieben unbeantwortet, weil sie falsch oder besser gesagt vor dem Hintergrund falscher Vorannahmen gestellt wurden. Zwar wurde explizit herausgestellt, dass es sich bei diesen Deportationen um eine Radikalisierung der antijüdischen Politik handelte, gleichzeitig nahm man jedoch an, dass es sich um eine Radikalisierung der bisherigen Politik handelte, sozusagen um verschärfte Maßnahmen zur Erreichung des gleichen Ziels, nämlich dem Versuch, das Deutsche Reich »judenrein« zu machen. Daher verwundert es nicht, dass der Deportation der Wiener Juden ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird, obwohl diese Gruppe durchaus nicht die größte war. Was aber, wenn die Deportationen in das Gebiet um Nisko am San, genauer: das Dorf Zarzecze jenseits des San, gar nicht in erster Linie mit der Absicht durchgeführt wurden, deutsche Juden aus dem Reich zu vertreiben, sondern polnische Juden aus den annektierten Gebieten, das heißt, nicht Deutschland, sondern die annektierten westpolnischen Gebiete zu germanisieren? Der Forschungsstand zur Nisko-Aktion ist bereits in der Bestimmung ihrer Anfänge problematisch. Dies beginnt bei der Frage, wer diese Idee zuerst lanciert hatte, Eichmann oder Stahlecker? Entscheidender ist hier vielleicht aber, dass beide die gestellte Aufgabe mit Deportationen nach Polen beantworteten – und zwar zu einem Zeitpunkt, als dies im Reichssicherheitshauptamt noch gar nicht auf der Tagesordnung stand.8 Nicht völlig geklärt ist auch der »offizielle« Vermerk, gez. unleserlich, über die Amtschefbesprechung am 14. September 1939, 15. September 1939, BArch R 58/825, Bl. 10–12. 7 Kárný, »Nisko«, S. 69. 8 Während Goschen behauptet, die Idee stamme von Eichmann, siehe ders., Nisko, behauptet Moser, sie sei in einem Gespräch zwischen Eichmann und Stahlecker entstanden, siehe Moser, Nisko. 6 109 Beginn der Nisko-Aktion. In der Forschung wird er oftmals mit einem Vermerk Eichmanns über eine Anordnung des Gestapochefs, SS-Oberführers Heinrich Müllers, vom 6. Oktober 1939 angegeben, in der Eichmann zu einer »Fühlungsaufnahme mit der Dienststelle des Gauleiters Wagner – Kattowitz« aufgefordert wurde. Zentrales Ziel dieser Sondierungen sei die »Abschiebung von 70–80000 Juden aus dem Kattowitzer Bezirk […] über die Weichsel«, wobei »gleichzeitig« auch Juden »aus der Mährisch-Ostrauer Gegend mit zum Abschub gebracht werden« könnten.9 Wohlgemerkt: Von Wiener Juden war hier keine Rede. Seev Goshen weist zwar zu Recht darauf hin, dass nur dieser Vermerk, nicht aber die Weisung selbst überliefert ist. Sehr wahrscheinlich – merkt Michael Wildt an – überschätzt er aber Eichmanns Möglichkeiten, wenn er von der »angebliche[n] Anordnung« Müllers spricht, die Existenz einer offiziellen Anordnung also anzweifelt und stattdessen vermutet, Eichmann habe versucht, die Vertreibung der tschechischen und Wiener Juden durch Müller abzeichnen zu lassen, das heißt, mit der nötigen Autorität zu versehen.10 Weitaus wahrscheinlicher ist es, dass Eichmann die Möglichkeit sah, Müllers Befehl generell auf die Juden auszudehnen, für deren »Auswanderung« er ohnehin zuständig war. Dies änderte aber den Ereignisverlauf nicht grundlegend, der im Einklang mit der Anordnung Müllers den Schwerpunkt eindeutig auf das Gebiet um Kattowitz oder – wie sich herausstellen sollte – auf polnische Juden legte.11 Dieser Fokus auf Polen spiegelte die veränderte Schwerpunktsetzung der Führungsspitze im Reichssicherheitshauptamt wider, deren Bestreben sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Germanisierung der annektierten westpolnischen Gebiete konzentrierte. Auf die durch die Einsatzgruppen und Selbstschutzverbände durchgeführten Vertreibungen und Mordaktionen sollten nun die ersten Vermerk Eichmann, 6. Oktober 1939, zit. n. Kárný, »Nisko«, S. 74. Siehe auch Browning, »Nazi Resettlement Policy«, S. 503. 10 Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion« [Hervorhebung G.W.], S. 84; Wildt, Generation des Unbedingten, S. 469. 11 Mit den hier angegebenen 70000- bis 80000 Juden wären nach Steinbach dreiviertel der gesamten jüdischen Bevölkerung der Region Kattowitz betroffen gewesen, siehe Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 113. Siehe auch Übersicht der Einsatzgruppe z.b.V. an Heydrich, in der die Zahl der Juden in Städten über 20000 Einwohner mit 57010 angegeben wird, 8. November 1939, SMR 500–1/431, Bl. 178f. 9 110 planmäßigen Schritte zur Vertreibung der verbleibenden unerwünschten Bevölkerung folgen. Und es ist wohl kein Zufall, dass diese Neuausrichtung der Gewaltpolitik just an dem Tag erfolgte, als Hitler im Reichstag die ethnische Neuordnung Osteuropas ankündigte. Wie Moser und auch Goshen nun richtig anführen, fuhr Eichmann nicht auf direktem Weg nach Kattowitz. Allerdings machte er wohl nicht – wie bei beiden wiederum ohne Quellenverweis nachzulesen ist12 und in der Folgezeit etwa von Longerich und anderen übernommen wurde13 – am 7. Oktober in Wien Station, um dann über Mährisch-Ostrau nach Kattowitz weiterzureisen; das wäre in der Tat eine »Parforcetour« gewesen.14 Stattdessen begab er sich direkt nach Mährisch-Ostrau, um seinen Untergebenen über den Befehl Müllers zu informieren, und erreichte schließlich am 9. Oktober Kattowitz. Hier traf er zunächst mit dem von Wagner entsandten Verwaltungschef, Otto Pfitzner, und dem Chef des Grenzkommandos III, Generalmajor von Knobelsdorff, zusammen und am folgenden Tag schließlich auch mit dem Oberpräsidenten Schlesiens, Josef Wagner, und sprach nun von zunächst je zwei Zügen aus der Gegend um Kattowitz und Mährisch-Ostrau.15 Danach würde Heydrich einen Erfahrungsbericht an Himmler verfassen, der »wahrscheinlich an den Führer weitergeleitet würde«, bevor schließlich über den »generellen Abtransport« aller Juden entschieden werden würde. Allerdings: als Erstes abzuschieben waren dabei Juden aus den annektierten Gebieten und nicht etwa aus Österreich oder dem Deutschen Reich.16 Moser, Nisko; Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 89. Longerich, Politik der Vernichtung, S. 256f.; Kárný; »Nisko«, S. 75; etwas distanzierter Wildt, Generation des Unbedingten, S. 471. 14 Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 89. Bei Longerich kommt auch hinzu, dass er aus meiner Sicht eine aus zwei Fassungen rekonstruierte Denkschrift der Sonderbeauftragten für Judenfragen im Stab des Reichskommissars, Dr. Eugen Becker, vom 11./12. Oktober 1939 missinterpretiert. Becker gab hier eine »streng vertrauliche[r] Mitteilung des Leiters der Zentralstelle für Judenauswanderung« weiter, wonach der »Führer den Auftrag erteilt [habe], daß zur Einleitung der geplanten Gesamtaktion fürs erste 300000 minderbemittelte Juden aus dem großdeutschen Reichsgebiet nach Polen umgesiedelt werden«. Ein Treffen zwischen ihm und Eichmann wird hier aber nicht erwähnt, siehe Botz, Wohnungspolitik, S. 186. 15 Ebenda, S. 85; Longerich, Politik der Vernichtung, S. 256f. 16 Niederschrift der Besprechung bei Kárný, »Nisko«, S. 77. 12 13 111 Es ist anzunehmen, dass Eichmann mit der Absicht, 4000 Juden an oder über die Demarkationslinie zu deportieren, bei seinen Gesprächspartnern »offene Türen ein[rannte]«, hatte Wagner doch schon vorgehabt, selbst die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zu initiieren.17 Etwas unklar blieb hingegen die Zahl von 300000 Juden, die Eichmann hier erstmals ins Spiel brachte – und zwar aus dem Deutschen Reich und Österreich. Nach Kárnýs Interpretation war damit aber wohl nicht ein Programm zur Deportation aller Juden aus dem Deutschen Reich und Österreich gemeint, dafür war die Zahl zu gering. Und schließlich heißt es in der Niederschrift, dass Hitler die »Umschichtung« dieser Personen angeordnet habe, nicht aber deren Abschiebung über die Landesgrenze.18 Angesichts dieses Vorlaufs bleibt unklar, wie es überhaupt zu den Deportationen von Wiener Juden kam, war doch davon – nach Eichmanns eigenen Aufzeichnungen – in Müllers Anweisung ebenso wenig die Rede wie von den nun insgesamt 300000 Juden, die zu deportieren seien. Steur führt diese abermalige Radikalisierung auf einen Besuch Heydrichs bei Hitler am 7. Oktober zurück, bei dem unter anderem die »Judenbehandlung« erörtert wurde.19 Und auch wenn es durchaus möglich erscheint, dass sich Heydrich hier eine Ermächtigung für eine Ausweitung der Deportationen einholte und diese an Eichmann weitergab, der an diesem Tag eben nicht bereits auf dem Weg nach Wien, sondern noch in Berlin war, so erscheint Steurs Beleg doch zumindest fraglich. Ihre Vermutung basiert nämlich auf einem nur wenige Worte umfassenden Eintrag in Halders Kriegstagebuch. Dieser Eintrag ist jedoch wenig aufschlussreich und bezieht sich zudem wohl eher auf eine Auseinandersetzung zwischen Wehrmacht und SS bei der Mordaktion einer Polizeieinheit in Mława,20 heißt es doch bei Halder: »Klage über Mława. Judenbehandlung«.21 Auch wenn Halders Kriegstagebuch nicht ausreicht, um eine Zustimmung Hitlers zu einer umfassenden Deportation von Juden aus dem Reichsgebiet abzusichern, ist es dennoch meines Erachtens sehr Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, S. 75. Niederschrift der Besprechung bei Kárný, »Nisko«, S. 77. Im Gegensatz hierzu Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation, S. 32. 19 Steur, Theodor Dannecker, S. 30; siehe auch Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 99, Eintrag für den 7. Oktober 1939. 20 Krausnick, »Hitler und die Morde in Polen«, S. 66. Zu den Kriegsverbrechen der Polizeieinheit siehe Rossino, Hitler Strikes Poland, S. 103–105. 21 Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 99, Eintrag für den 7. Oktober 1939. 17 18 112 viel wahrscheinlicher, dass Eichmann vor seiner Abfahrt von Müller oder Heydrich diese Zahl erfuhr, als dass er sie schlichtweg erfand und Wagner gegenüber ohne Rückendeckung erwähnte. Eine solche rasante Entwicklung wäre im Übrigen für die gesamte Nisko-Aktion und auch die folgenden Deportationsunternehmungen nichts Außergewöhnliches gewesen. Als Bestimmungsort der Deportationszüge nannte Eichmann in Mährisch-Ostrau und Kattowitz zwar Polen, wo dieser Ort aber genau sein würde, wusste er nicht. Zusammen mit Stahlecker machte sich Eichmann erst nach der Unterredung mit Wagner nach Polen auf, um auch diese Frage zu klären. Die anfänglichen Überlegungen, die noch auf das Gebiet um Krakau zielten, waren durch den deutsch-sowjetischen Grenzvertrag vom 28. September überholt worden, deshalb rückte nun die Gegend um Lublin in den Blickpunkt. Von dort erreichte dann auch am 15. Oktober 1939 Eichmanns Funkspruch die Gestapo in Mährisch-Ostrau: »Eisenbahnstation für Transporte ist Nisko am San« – gerade noch rechtzeitig, um nicht den gesamten Ablauf zum Erliegen zu bringen.22 Nur zwei Tage später stellte die Gestapo den Transport zusammen, der am 18. Oktober als erster Zug im Rahmen der NiskoAktion die Stadt verließ. An Bord waren ca. 900 männliche Juden, die aus Sicht der Gestapo in guter körperlicher Verfassung und – das ist entscheidend, verweist es doch auf den Schwerpunkt der NiskoAktion – überwiegend polnische Staatsangehörige waren.23 Ebenso wie die Genese der Nisko-Aktion wirft auch ihr unvermittelt aus Berlin befohlener Abbruch grundsätzliche Fragen auf. Einen Tag nachdem ein Zug Mährisch-Ostrau verlassen hatte (dem am 20. Oktober ein weiterer aus Wien folgen sollte), traf ein Fernschreiben Müllers aus dem Reichssicherheitshauptamt in Kattowitz ein. Abgesandt nur eine Stunde nach dem Abgang des Transports aus Mährisch-Ostrau, stellte Müller klar, dass für jeden weiteren Transport »grundsätzlich eine Genehmigung der hiesigen Dienststelle vorliegen [muss]«.24 Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, S. 76. Přibyl, »Das Schicksal des dritten Transports«, S. 297–342. 24 Fernschreiben des Reichssicherheitshauptamtes an Sipo und SD in Mährisch Ostrau, 19. Oktober 1939, zit. n. Adler, Der verwaltete Mensch, S. 134; siehe Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 92; Wildt, Generation des Unbedingten, S. 471. 22 23 113 Da Eichmann, der Adressat dieses Schreibens, die Stadt aber bereits verlassen hatte, wurde es an seinen Stellvertreter Rolf Günther weitergereicht, der gerade die Abfertigung des Deportationszuges der Kattowitzer Juden beaufsichtigte.25 Günther entschied sich dagegen, die Abfahrt dieses Zuges zu stoppen, und leitete das Fernschreiben stattdessen an Eichmann weiter. Als dieser daraufhin sofort von Wien nach Mährisch-Ostrau zurückkehrte, erfuhr er von Günther, dass das Reichssicherheitshauptamt in der Zwischenzeit sogar angeordnet hatte, dass nun »jeglicher Abtransport von Juden zu unterbleiben habe«.26 Eichmann reiste daraufhin sofort nach Berlin weiter, um den Sachverhalt aufzuklären, schließlich war erst die Hälfte der ursprünglich geplanten Transporte abgegangen. Weitere Transporte ließen sich jedoch nicht mehr durchsetzen. Zwar wurde am 1. November noch ein weiterer Zug mit 300 überwiegend polnischen Juden aus Prag abgefertigt, er musste jedoch bereits in Sosnowitz gestoppt werden, zumal in der Zwischenzeit auch die Brücke über den San eingestürzt war.27 Ein dritter Transport aus Wien kam ebenfalls nicht mehr zustande. In der Forschung wird allgemein davon ausgegangen, dass Eichmann zumindest insoweit »erfolgreich« war, als dass der ersten Deportationswelle vom 18./20. Oktober eine zweite am 26./27. folgte, mit der insgesamt – so zumindest Moser – 476028 Juden aus Mährisch-Ostrau, Kattowitz und Wien29 verschleppt wurden. Was die Deportationen aus Wien angeht, erscheint eine Übersicht im Staatsarchiv Wien am aufschlussreichsten, die mit »Richtige NiskoListen« überschrieben ist. Hier ist ein erster Transport für den 20. und ein zweiter für den 26. Oktober verzeichnet, wobei letzterem Moser, Nisko. Vermerk Günthers, 21. Oktober 1939, zit. n. Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, S. 79. 27 Neben Přibyl, »Das Schicksal des dritten Transports«, siehe auch Nižňanskỳ, Die Aktion Nisko, S. 325–335. Zur Staatsangehörigkeit siehe ebenda, S. 329, sowie Přibyl, »Das Schicksal des dritten Transports«, S. 300. 28 Moser, Nisko. 29 Siehe etwa Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 89–91; Moser, Nisko; aber auch Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, S. 78; Aly, »Endlösung«, S. 64; Longerich, Politik der Vernichtung, S. 258; Gottwaldt/ Schulle, »Judendeportationen« S. 32, gehen von zwei Transportwellen aus. 25 26 114 669 Personen zugewiesen wurden, die mit Waggon- und Platznummer vermerkt sind.30 Diese Liste taucht aber in der Forschung nicht auf. Tatsächlich ist auch fraglich, wie belastbar sie ist, belegt sie doch zunächst nur, dass die Absicht der Deutschen, jüdische Wiener zu vertreiben, bereits weit gediehen war. Sie beantwortet aber nicht die Frage, ob dieser Transport auch abgegangen ist oder ob er nicht auch in letzter Sekunde gestoppt wurde. Einen Beleg hierfür gibt es weder bei H. G. Adler,31 Herbert Rosenkranz,32 Moser oder Goshen. Letzterer führt ein Telegramm Eichmanns vom 24. Oktober an, in dem dieser aus Berlin zwar den Deportationsstopp bestätigte, seinen Untergebenen in Mährisch-Ostrau aber trotzdem einen weiteren und letzten Transport ankündigte, »um das Prestige der hiesigen [Ostrauer] Staatspolizei zu wahren«.33 Moser stützt seine Behauptung auf ein Telegramm, in dem Günther dem Lagerleiter in Nisko, Theodor Dannecker, einen Tag später die Ankunft eines kombinierten Transports aus Mährisch-Ostrau und Kattowitz ankündigte, der Kattowitz am Abend des 27. Oktober verlassen würde – von Wien ist hier keine Rede.34 Wichtiger noch: In einem nach dem Krieg von zwei Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens zusammengestellten Bericht über die Geschichte der österreichischen Juden im Nationalsozialismus wird Nisko zwar erwähnt – aber eben nur mit dem einen Transport, der Wien am 20. Oktober verlassen hat.35 Gleiches gilt für den 50-seitigen Bericht des ehemaligen Leiters Unsignierte und undatierte Transportlisten für am 20. und 26. Oktober abgehende Deportationen aus Wien, DOeW Dok. 22142. Siehe auch die undatierte und unsignierte Liste der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, IKG Bestand Wien, A/Vie/IKG/III/Bev./Dep./1/4, die den zweiten Transport auf den 27. Oktober datiert und bei einigen wenigen Namen handschriftliche Zusätze verzeichnet wie etwa »wieder dep.« oder »in Wien«. Angesichts der Tatsache, dass die Nisko-Aktion aber natürlich nicht das letzte, sondern das erste Deportationsprogramm war, sind auch solche Einträge nicht wirklich eindeutig. 31 Adler, Der verwaltete Mensch, S. 135, erwähnt den zweiten Transport kurz, jedoch ohne Quellenangabe. 32 Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 217. 33 Eichmann an Gestapo Mährisch-Ostrau, 24. Oktober 1939, zit. n. Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 92. 34 Moser, Nisko. 35 Es handelte sich um Dr. Otto Suschny und Dr. Knut Weigel, die auf der Grundlage von Material, das der Jüdisch-Historischen Kommission in 30 115 der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Dr. Josef Löwenherz. Auch er beschreibt Nisko als traumatischen Einschnitt, wie auch die ab Anfang 1941 wieder einsetzenden Deportationen nach Polen einzeln aufgeführt werden – von einem zweiten Transport nach Nisko aber auch hier kein Wort.36 In der Forschung wird hingegen, abgesehen von Tuviah Friedmann37 und Götz Aly,38 diese Sichtweise übernommen – so etwa von Christopher R. Browning,39 Sybille Steinbacher40 oder Wolf Gruner.41 Tatsächlich gibt es aber für den zweiten Transport aus Wien keinen belastbaren Beweis, außer eben die angeführten Absichtserklärungen der Protagonisten der NiskoAktion, die aber sehr viel überzeugender als Ausweis für deren Eifer gesehen werden können, das einmal angedachte Projekt auch tatsächlich zu Ende zu bringen. Dies dürfte aber zu einem Zeitpunkt, als die Deportationen unter massiven Beschuss aus Berlin gerieten, wohl allein nicht mehr ausgereicht haben, um Züge in Bewegung zu setzen. Meine Zweifel stützen sich jedoch vor allem auf ein Schreiben des Staatssekretärs im Reichsverkehrsministerium, Dr. Wilhelm Kleinmann, an Himmler vom 1. März 1940, das alle Transporte verzeichnet, die seit dem 18. Oktober 1939 durchgeführt wurden und noch bis zum 15. März 1940 geplant waren.42 Hier kommen jedoch nur drei für die Nisko-Aktion infrage: ein Transport vom 18. Oktober Wien unter Tuviah Friedmann übergeben wurde und Gestapo-Akten, Dokumente der Kultusgemeinde, Zeugenberichte etc. umfasste. Siehe Friedmann, Die Tragödie des österreichischen Judentums. 36 Undatierter Bericht von Josef Löwenherz, YVA, O.2/595. 37 Friedmann, Die Tragödie des österreichischen Judentums, S. 32. 38 Aly, »Endlösung«, S. 64. 39 Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 71, mit Verweis auf Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. 40 Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 114. 41 Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation, S. 34. Als Beleg wird auf die Besprechung der Wiener Stadtverwaltung vom selben Tag hingewiesen. Dort ist aber von einem zweiten Transport ebenfalls keine Rede. Beigeordneter Dr. Tavs erwähnt lediglich, dass zum damaligen Zeitpunkt etwa 3000 Juden wöchentlich die Stadt verlassen würden – »auf Grund freiwilliger Meldungen« (undatierte Niederschrift über die 1. Amtsbesprechung des Bürgermeisters mit den Beigeordneten und Amtsleitern am 26. Oktober 1939, gez. Schaufler, ÖSta/AdR ZNsZ RK). 42 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. Für das Dokument danke ich Peter Klein. 116 1939 von Mährisch-Ostrau mit 3000 Personen sowie zwei Züge mit zusammen 1000 Personen, die Wien am 20. Oktober verließen. Damit würde zwar die von Moser genannte Zahl von 4760 nach Polen verschleppten Juden ungefähr zutreffen, wobei die Differenz auf die geringere Zahl der verschleppten Wiener Juden zurückzuführen ist, die demnach nicht über 1500 Personen,43 sondern ca. 1000 umfasste. Zwar wirft auch diese Übersicht Fragen auf, ist doch etwa kein Zug aus Kattowitz verzeichnet, und die Zahl für den Transport aus Mährisch-Ostrau erscheint zunächst etwas hoch. Beides könnte jedoch damit erklärt werden, dass der Transport von Mährisch-Ostrau über Kattowitz ging, wo ihm weitere Waggons angehängt wurden.44 Außerdem weicht die Eintragung zu diesem Transport noch in zweierlei Hinsicht von allen anderen in der Liste ab: Zum einen weist die Zugnummer diesen Zug nicht als »Sonderzug« aus, sondern als Zug der Wehrmacht. Zudem ist er mit der Bemerkung versehen: »50 Güterwg.«45 Da die Wehrmacht Truppenkontingente ebenfalls mit Güterwaggons mit jeweils ca. 40 Soldaten mit Ausrüstung verlegte, ist es also durchaus denkbar, dass hier mit 50 Waggons 3000 Menschen deportiert wurden.46 Kleinmann hatte dieses Schreiben nach einem Treffen bei Göring verfasst, an dem unter anderem die Gauleiter der annektierten Ostprovinzen sowie der Chef des Generalgouvernements Hans Frank und Himmler teilgenommen hatten. An zentraler Stelle war es um die Deportation der polnischen Bevölkerung und nicht zuletzt um die zur Verfügung stehenden Transportkapazitäten gegangen. Himmler hatte hier am deutlichsten für eine Fortsetzung der Deportationen plädiert, und Kleinmanns Schreiben zielte nun darauf, ihm die bisher unternommenen Anstrengungen der Reichsbahn deutlich zu machen. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass sich Kleinmann bemühte, wirklich alle Transporte, von denen man in Berlin wusste, aufzuführen – eine zweite Deportationswelle aus Wien Ende Oktober 1939 ist hier dennoch nicht verzeichnet. Die Zahl von 1584 Juden wird übereinstimmend etwa bei Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 70f.; Moser, Nisko; Goshen, »Eichmann und die Nisko-Aktion«, S. 89; Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 217, genannt. 44 Moser, Nisko. 45 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. Für das Dokument danke ich Peter Klein. 46 Für diese Vergleichsangaben danke ich Alfred Gottwaldt. 43 117 Anders als bei Genese und Beginn der Nisko-Aktion ist sich die Forschung darüber einig, was ihren Abbruch erzwang: die Umsiedlung der »Volksdeutschen« aus Osteuropa.47 Bereits am 15. Oktober 1939 hatte das Deutsche Reich eine Vereinbarung mit Estland unterzeichnet, die die Auswanderung der dortigen ethnisch-deutschen Bevölkerung vorsah. Es folgten ähnliche Verträge mit Lettland am 30. Oktober und der Sowjetunion am 16. November.48 Am 18. Oktober war der Zug mit 3000 Juden aus MährischOstrau und Kattowitz deshalb auch nicht der einzige Deportationstransport, den die Deutschen zusammengestellt hatten. Am selben Tag landeten in Gdingen, das die Besatzer in Gotenhafen umbenannt hatten, auch die ersten »Volksdeutschen« aus Estland. Um für diese Platz zu schaffen, hatten Forsters Behörden einen Deportationszug angefordert, der ebenfalls am 18. Oktober mit 925 Polen die Stadt in Richtung Kielce in Zentralpolen verließ und dem weitere folgen sollten.49 Das Reichssicherheitshauptamt, das ohnehin entgegen Eichmanns ursprünglicher Planung den Schwerpunkt der Nisko-Aktion auf die Deportation der Kattowitzer oder allgemeiner polnischen Juden gelegt hatte, sah sich nun gezwungen, rasch umzudisponieren, denn mittlerweile war klargeworden, dass in den folgenden Wochen Zehntausende von »Volksdeutschen« im besetzten Westpolen ankommen würden. Wegen der angespannten Transportlage musste sich Himmler entscheiden, ob die von Eichmann geleitete Deportation von Juden oder aber die Unterbringung von »Volksdeutschen« Vorrang bekommen sollte. Es erstaunt nicht weiter, dass sich Himmler für die Deportation der polnischen Bevölkerung in und um Gotenhafen entschied, um damit die notwendigen Wohnungen und Arbeitsplätze für die nun anrollenden »Volksdeutschen« frei zu machen. Browning, Nazi Resettlement Policy, S. 504. Protokoll über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppe Estlands in das Deutsche Reich, 15. Oktober 1939, abgedruckt in: Loeber (Hg.), Diktierte Option, S. 471–476, Vertrag über die Umsiedlung lettischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in das Deutsche Reich, 30. Oktober 1939, abgedruckt in: ebenda, S. 515–526; Browning, Nazi Resettlement Policy, S. 504; Aly, »Endlösung«, S. 63–69; Łossowski, »The Resettlement of the Germans«, S. 89–91. 49 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. Für das Dokument danke ich Peter Klein. 47 48 118 In der Forschung besteht nun Einigkeit darüber, dass es die Anlandung der Balten in Gdingen und Danzig war, die die Deportationen nach Nisko stoppte. Dieser Abbruch wird jedoch aus meiner Sicht fälschlicherweise als Eingriff von außen verstanden, als ob hier die nationalsozialistischen Bestrebungen, die Juden aus dem Deutschen Reich zu vertreiben, zumindest kurzfristig den Bedürfnissen der ethnischen Deutschen untergeordnet wurden. Richtiger ist es meines Erachtens, die Nisko-Aktion selbst als einen frühen Versuch zur Germanisierung der annektierten westpolnischen Gebiete zu begreifen. Würde diese Hypothese zutreffen, hätte dies auch Auswirkungen auf die Position, die der Nisko-Aktion in der Geschichte der Vernichtung der Juden zugeschrieben wird. David Cesarani etwa unterstellt Müller, dass dieser bereits zu diesem frühen Zeitpunkt weiter gedacht und die Nisko-Aktion angeordnet hatte, »um eine völlig neue Politik zu lancieren«: den Beginn der Deportation aller Juden aus dem deutschen Herrschaftsbereich,50 und auch Michael Alberti sieht sie als »Teil eines viel umfangreicheren Plans«.51 In dieser Vorstellung erscheint die Nisko-Aktion als erster Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden, aber eben dezidiert antijüdischen Politik. Soweit ich die Forschungsliteratur übersehe, ist es allein Ludmila Nesládková, die dieser Interpretation widerspricht und den Abbruch des Nisko-Aktion als Bemühung betrachtet, die zum damaligen Zeitpunkt »dringendste Angelegenheit« des Reichssicherheitshauptamtes voranzutreiben: die annektierten polnischen Gebiete »judenrein« zu machen.52 Dieser Auffassung möchte ich mich explizit anschließen und für eine Sichtweise plädieren, die den Abbruch der Nisko-Aktion vor allem in den Rahmen der Germanisierungspolitik der westpolnischen Gebiete verortet. Es trifft sicherlich zu, dass Eichmanns und Stahleckers Initiative ursprünglich auf die Deportation der Juden aus ihrem Verantwortungsbereich zielte und damit einen weiteren Radikalisierungsschritt in der antijüdischen Politik des Deutschen Reiches bedeutet hätte. Ebenso richtig ist aber auch, dass sich die beiden damit im Reichssicherheitshauptamt nicht durchsetzen konnten. Heydrichs und Himmlers Aufmerksamkeit war in der Zwischenzeit – so meine Interpretation – Cesarani, Eichmann, S. 77 [Übers. G.W.]. Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 127. Siehe aber auch Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 65–74. 52 Nesládková, »Eine Episode in der Geschichte des Dritten Reichs«, S. 352. 50 51 119 vollständig auf die Ereignisse in Polen und auf die Beseitigung der Menschen aus den zu annektierenden Gebieten gerichtet, die aus politischen oder rassischen Gründen als unerwünscht galten. Eichmanns Vorhaben zur Deportation von Juden kam hier zwar gerade recht, aber eben nicht in seiner ursprünglichen Form, denn es galt, polnische und nicht deutsche Juden zu vertreiben.53 Der Abbruch der Nisko-Aktion war Ergebnis der Bemühungen Heydrichs und Himmlers, auch dieses Vorhaben in die auf Polen ausgerichtete Politik einzupassen. Wenn dies auch nicht den Einschluss der jüdischen Wiener erklären kann, so legte die Gestapo doch bei den durchgeführten Deportationen aus Mährisch-Ostrau und den geplanten aus Prag Wert auf die Selektion der Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Die Ankunft der »Volksdeutschen« in Polen zwang das Reichssicherheitshauptamt zwar dazu, die bisherigen Maßnahmen zu überdenken und schließlich die Nisko-Aktion einzustellen. Wie dargelegt, würde ich aber im Gegensatz zur gängigen Meinung in der Forschungsliteratur nicht behaupten, dass damit ein Projekt gestoppt worden war, das mit der Germanisierung der zu annektierenden Gebiete nichts zu tun hatte. Wenn die Nisko-Aktion, wie ich vermute, eher als Fortsetzung der durch von Woyrschs Einsatzgruppe und den Vertreibungsbefehl der Wehrmacht begonnenen Germanisierungspolitik zu werten ist, so dürfte die durch die Ankunft der »Volksdeutschen« notwendig werdende Verlagerung der Deportationen von Oberschlesien nach Danzig-Westpreußen Heydrich und Müller umso leichter gefallen sein, als sie in ihrer Perspektive eher als regionale Schwerpunktverschiebung in der Germanisierungspolitik erschien. Modell Gotenhafen: Etablierung eines Umsiedlungskreislaufs Mit dem Abbruch der Nisko-Aktion scheiterte der erste Versuch des Reichssicherheitshauptamtes, nach der Festnahme und/oder Ermordung der polnischen politischen Elite auch eine ideologisch bestimmte Feindgruppe ins Visier zu nehmen: die jüdische Bevölkerung. Die Anlandung der Balten im Norden drängte Oberschlesien zunächst in den toten Winkel der Planer in Berlin, während die zunehmende Abhängigkeit der deutschen (Rüstungs-)Wirtschaft von den dortigen Industrierevieren auch für den Rest des Krieges da53 Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 65. 120 für sorgen sollte, dass die Bevölkerung – und dies galt bis zu einem gewissen Zeitpunkt auch für die Juden54 – von ähnlichen Eingriffen wie in den beiden nördlichen Provinzen weitgehend verschont wurde. In den folgenden Monaten sollte sich der Schwerpunkt der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik zunächst in den Nordwesten Polens verlagern. Die dortige Situation unterschied sich in vielfältiger Hinsicht von der Oberschlesiens. Bereits in der Zwischenkriegszeit hatte der »Korridor« einen besonderen Platz in den deutschen Revisionsforderungen innegehabt. Nach der Eroberung Polens erschienen hier, im Unterschied etwa zum industriell wichtigen Oberschlesien, die Freiräume für ein brutales Vorgehen größer. Ebenso wichtig war sicherlich das institutionelle Gefüge, das sich in den zwei neugebildeten Provinzen Danzig-Westpreußen und Wartheland bis Ende 1939 wesentlich ungefestigter darstellte als etwa in Oberschlesien oder auch Zichenau. Während diese beiden Gebiete bereits bestehenden Provinzen zugeschlagen und sofort in die dortige Verwaltungsstruktur einbezogen wurden, war eine solche in den neuen »Reichsgauen« noch zu etablieren, wie auch das Verhältnis zwischen SS-Apparat und Zivilverwaltung. Im Nordwesten Polens gingen aber auch die Besatzer erstmals einen Schritt weiter und versuchten, einen systematischen Umsiedlungskreislauf in Gang zu setzen, das heißt, den als »unerwünscht« bezeichneten Teil der einheimischen Bevölkerung zu deportieren und mit immigrierten »Volksdeutschen« aus Osteuropa zu ersetzen. Genese und Verlauf dieser Umsiedlungen, die in Gotenhafen ihren Ausgangspunkt hatten, sollten sich für den weiteren Verlauf der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik als charakteristisch erweisen. Die Entscheidung zum Abbruch der Nisko-Aktion zu einem Zeitpunkt, als in Gotenhafen ein weiteres Projekt der nationalsozialistischen Volkstumspolitik erste Erfolge zeitigte, war gleichzeitig eine Entscheidung, zwei in ihrer Konzeptionsphase zunächst voneinander unabhängige Unternehmungen zu einer einheitlichen Germanisierungspolitik zu verbinden. Wie bereits Wildt bemerkte, relativiert dies den von Aly behaupteten ursächlichen Zusammenhang zwischen der Immigration von ethnischen Deutschen und der Deportation und schließlich Venichtung der Juden. Dieser Zusam54 Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 153–156. 121 menhang war nicht von Anfang an gegeben oder gar intendiert, sondern wurde erst hergestellt und setzte dann eine von Aly richtig herausgearbeitete radikalisierende Dynamik frei.55 Bereits die Entscheidung zur Aussiedlung der ethnischen Deutschen wirft ein bezeichnendes Licht auf den mangelnden Planungsstand auf deutscher Seite, war doch Hitlers Zusage an Kroeger, alle Angehörigen der deutschen Minderheit umzusiedeln, buchstäblich über Nacht erfolgt. Und dennoch kann die plötzliche Entscheidung Hitlers angesichts eines seit Jahrzehnten immer wieder auftauchenden bevölkerungspolitischen Vorhabens, die sogenannten Russlanddeutschen in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches anzusiedeln, wohl auch damals kaum überrascht haben. Das Projekt machte jedenfalls schnelle Fortschritte und führte allein bis Februar 1940 zur Umsiedlung von 200000 ethnischen Deutschen aus Osteuropa in die annektierten Gebiete – eine Vorhut für die fast eine Million »Volksdeutschen«, die noch folgen und von der nationalsozialistischen Propaganda als »Rückkehrer« gefeiert werden sollten.56 Anfangs- und Ausgangspunkt dieses erzwungenen Bevölkerungsaustauschs sollte die bedeutendste polnische Hafenstadt Gdynia werden, auf Deutsch Gdingen und von den Nationalsozialisten in Gotenhafen umbenannt. Noch am gleichen Tag, an dem Himmler zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt wurde, machten bereits die ersten Gerüchte die Runde, wonach die Stadt ein erster Schwerpunkt für die Ansiedlung der ethnischen Deutschen aus dem Baltikum werden sollte. Groscurth notierte in seinem Tagebuch: »Lettland: Weisung des Führers: Deutsche ohne Rücksicht auf Lage abtransportieren. Auffangorganisation in Gotenhafen, das hierfür von Polen geräumt wird.«57 Kurz darauf bestätigte Heydrich diese Gerüchte, als er am 9. Oktober Ribbentrop mitteilte, dass er eine »weitgehende Räumung der Stadt von ihrer polnischen Bevölkerung für erforderlich« halte.58 Siehe Wildt, Generation des Unbedingten, S. 462, sowie Aly, »Endlösung«. Unsignierter und undatierter Bericht des SS-StHA über den Stand der Umund Ansiedlung am 1. Juni 1944, BArch R 49/86, Bl. 46–55. Für die Überlassung der Kopie danke ich Götz Aly. 57 Groscurth, Tagebücher, S. 214. Siehe auch Schenk, Hitlers Mann in Danzig, S. 177. 58 Heydrich an Ribbentrop, 9. Oktober 1939, abgedruckt in: Loeber (Hg.), Diktierte Option, S. 127. 55 56 122 Weshalb die Wahl ausgerechnet auf diese Stadt fiel, lässt sich nicht eindeutig klären. Sicherlich lag es nahe, die Bewohner von baltischen Hafenstädten ebenfalls in einer Hafenstadt anzusiedeln. Ich glaube jedoch, dass bei der Wahl dieses Ortes auch dessen symbolische Bedeutung in den deutsch-polnischen Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt hat. Gdynia war lange Zeit ein unbedeutendes Fischerdorf gewesen, bis der Sejm, das Parlament des wiedererrichteten polnischen Staates, am 23. September 1922 entschied, hier – in Sichtweite Danzigs – einen Tiefseehafen für die polnische Kriegs- und Handelsflotte einzurichten und mit dem Bau der Kohlenmagistrale bald auch die oberschlesischen Abbaugebiete von deutschen Exporthäfen unabhängig zu machen.59 Als Gdynia 1932 mit dem benachbarten Danziger Freihafen gleichzog, war er für den polnischen Außenhandel längst überlebenswichtig60 und als »Stolz der Zweiten Polnischen Republik« geradezu zum Sinnbild des polnischen Erfolgs und Überlebenswillens geworden.61 Gdynia war also wohl nicht allein aus pragmatischen Gründen ausgewählt worden – der Beginn der Germanisierung der zu annektierenden Gebiete in ausgerechnet dieser Stadt setzte gleichzeitig ein symbolisches Zeichen. Himmler jedenfalls plädierte zwei Tage nach Heydrichs Schreiben an Ribbentrop ebenfalls für Gotenhafen und ordnete an, die Angehörigen der polnischen Elite »in erster Linie auszuweisen«.62 Der Wunsch, zunächst die aus politischen und ideologischen Gründen unliebsamen Bewohner zu vertreiben, hätte eigentlich eine genaue Erfassung der Bewohner Gotenhafens vorausgesetzt, wie sie bereits in anderen besetzten Städten begonnen worden war.63 Als Forsters Behörden jedoch die Organisation der Umsiedlungen Mitte Oktober übernahmen, war dazu keine Zeit mehr. Die Selektionskriterien, die Forsters Stellvertreter, Wilhelm Huth, der spätere Regierungspräsident und Leiter der Abteilung I in der ReichsstattKalisch, »›Full Use‹«, S. 57; Pfeifer, Danzig und Gdingen, S. 11f., und Cleef, »Danzig and Gdynia«, S. 105. 60 Pfeifer, Danzig und Gdingen, S. 17. 61 Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 243. 62 Himmler an u.a. Lorenz, Heydrich, Forster und Greiser [Hervorhebung im Original, G.W.], 11. Oktober 1939, NO-4613. 63 Siehe etwa die Erfassung der Bevölkerung im südlich gelegenen Dirschau, Landrat Dirschau an Bürgermeister und Amtskommissare des Kreises [Hervorhebung im Original, G.W.], 14. Oktober 1939, AGK NTN/200, Bl. 111–113. 59 123 halterei,64 und Forsters Volkstumsreferent, Wilhelm Löbsack,65 am 14. Oktober präsentierten, verdeutlichten den Druck, unter dem die Behörden in Danzig-Westpreußen standen, und widersprechen der Einschätzung Jastrz˛ebskis, wonach es sich bei den Deportationen um eine »sorgfältig vorbereitete Evakuierungsmaßnahme« gehandelt habe.66 Huth machte sich erst gar nicht die Mühe, die Gruppen zu bestimmen, die zur Deportation freigegeben waren, sondern führte im Gegenteil nur die auf, die in der Stadt zu belassen seien: »Volksdeutsche« und – mit Ausnahmen – Kaschuben. Dabei brachte er die wohl erste Definition der »Volksdeutschen« in den annektierten Gebieten zu Papier: »Als Volksdeutscher soll der angesehen werden, der einer der deutschen Organisationen in Polen angehört hat, der als Unorganisierter Deutsch als seine Muttersprache anerkannt hat, die Kinder in die deutsche Schule schickte, bezw. sie deutsch erzog und der in der Lage ist, einen einwandfreien volksdeutschen Bürgen zu stellen.«67 Die von den Deutschen als Kaschuben bezeichnete Bevölkerung Gotenhafens und des angrenzenden Ortes Adlershorst sollte dann verschont bleiben, wenn sie in der Stadt geboren worden war. »Die übrigen Kaschuben wären den Polen gleich zu behandeln, so weit man ihre Wohnungen für Baltendeutsche benötigt.«68 Die deutschen Besatzer interessierten sich in diesem Fall also nicht so sehr dafür, inwiefern die Bewohner einer Wohnung für ihre Germanisierung geeignet waren, sondern ob die Wohnung selbst gebraucht wurde. Diese Betonung der Wohnungsfrage verdeutlicht, wie sehr die ersten Deportationsmaßnahmen unter dem Imperativ standen, die ankommenden »Volksdeutschen« unterzubringen – ein Vorgang, der sich bald im Wartheland wiederholen sollte. Sollten die zu er1. Verfügung des Regierungspräsidenten in Danzig, Fritz Hermann, 7. November 1933, BArch R 138-I/142, Bl. 47–49. 65 Aufzeichnungen Wilhelm Huth, 14. Oktober 1939, APG 279/1639, Bl. 9–11. 66 Jastrz˛ ebski, Nazi Deportations, S. 5 [Übers. G.W.]. 67 Aufzeichnungen Wilhelm Huth, 14. Oktober 1939, APG 279/1639, Bl. 9–11. 68 Ebenda. Wie auch weitere Beispiele zeigen werden, widerspricht dies der Behauptung Jażdżewskis, wonach »Forster […] die Kaschuben nicht für eine gesonderte Nationalgruppe [hielt]«, Jażdżewski, Kaschuben in der deutschen Armee, S. 82. 64 124 wartenden Zehntausende hier untergebracht werden, so mussten die meisten der ca. 80000 Einwohner Gotenhafens vertrieben werden. Eine differenziertere Erfassung, wie sie in der restlichen Provinz gerade begann und die die einheimische Bevölkerung in »Volksdeutsche«, ansässige und zugezogene oder politisch gefährliche Polen und schließlich Juden unterteilte, wurde hier als nicht machbar erachtet. Huth sah sich offensichtlich gezwungen, diesen Aspekt besonders zu betonen: »Es besteht keine Anordnung […] nach der in Westpreußen geborene [Bevölkerung] dort verbleiben solle.« Angesichts der damit aus völkischer Perspektive verbundenen Gefahr mahnte Huth jedoch zur Vorsicht: »Es ist aber besondere Aufmerksamkeit der Tatsache zuzuwenden, ob unter diesen Deutschsprachige sind und ob diese ihre Kinder deutsch erzogen haben. Wenn ja, dann sind diese Fälle als Grenzfälle in dem Sinn zu bearbeiten, daß solche nicht als Polen behandelt werden.«69 Für die Durchführung dieser Maßnahmen war nach der Weisung Huths die städtische Verwaltung »allein zuständig« – eine Bestimmung, die die Einwandererzentralstelle ausschaltete.70 Noch am selben Tag hatte der Polizeipräsident von Gotenhafen, SS-Obersturmbannführer Manfred Körnich, die Aufgabenverteilung vorgenommen.71 Danach sollte die Sicherheitspolizei die »Volksdeutschen« selektieren, registrieren und mit Ausweisen versehen – und zwar nach den Richtlinien des Gauleiters. In den Befehlen an die städtische Polizei führte Körnich jedoch ein weiteres Selektionskriterium ein. Da der Wohnungsbedarf der Immigranten gewissermaßen über Nacht zu einem alles beherrschenden Thema geworden war und mit wirtschaftlichen Erfordernissen ausbalanciert werden musste, ordnete er an, neben den »Volksdeutschen« auch diejenigen Polen festzustellen, die in lebenswichtigen Betrieben arbeiteten, um sie ebenfalls von den Deportationen auszunehmen. Nur wenige Tage später und nachdem der erste Transport die Stadt bereits verlassen hatte, wurden Körnichs Weisungen präzisiert. Während die von der Gestapo selektierten »Volksdeutschen«, etwa 80 eingesessene kaschubische Fischerfamilien und ca. 5000 FacharAufzeichnungen Wilhelm Huth, 14. Oktober 1939, APG 279/1639, Bl. 9–11. 70 Ebenda. 71 Vermerk Körnich, 14. Oktober 1939, APG 279/1639, Bl. 5. 69 125 beiter von den Deportationen freizustellen waren, sollten – und jetzt wurden die völkischen und wirtschaftlichen Selektionskriterien noch um soziale ergänzt – »sämtliche Wohlfahrtsunterstützungsempfänger« erfasst werden.72 Insgesamt verlor die Stadt ca. 36000 Einwohner. Neben 13171 Personen, die zwischen dem 18. und 26. Oktober nach Radom, Kielce, Lublin und Siedlce im Generalgouvernement deportiert wurden, nahmen weitere 23000 Personen ihr Schicksal in die eigene Hand und flohen – und zwar mehrheitlich nach Posen und Umgebung.73 Als besonderer Erfolg konnte das nicht gewertet werden: Zum einen war nicht einmal die Hälfte der Stadtbewohner vertrieben worden, die meisten zudem eben nicht in das Generalgouvernement, sondern in andere Teile der annektierten Gebiete.74 Zum anderen geriet das Reichssicherheitshauptamt bereits während dieser ersten Deportationen mit dem Oberbefehlshaber Ost in Konflikt, der die Genehmigung nur »widerwillig«75 erteilte, da er den Verlust »nicht ersetzbare[r] Arbeitskräfte« befürchtete.76 Auch wenn diese Transporte also einerseits in ein ideologisch aufgeladenes Gesamtprojekt, nämlich die nationalsozialistische Germanisierungspolitik, eingebunden waren, blieben die Selektionskriterien doch einer herrschaftsfunktionalen Logik verpflichtet. Zwar wurden etwa »Volksdeutsche« mit einer völkischen Begründung vor der Deportation geschützt. Die bei weitem größere Gruppe wurde hingegen aus wirtschaftlichen Gründen verschont: die polnischen Facharbeiter. Diese Logik scheint auch den Kreis derer bestimmt zu haben, die schließlich abgeschoben wurden. Deportiert wurden Unterstützungsempfänger und vor allem Personen, die der Ansiedlung Niederschrift über eine Besprechung beim Stadtkommissar Gotenhafen, 20. Oktober 1939, APG 279/1639, Bl. 15–19. 73 Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 407, sowie Anlage zu Kleinmanns Schreiben an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. 74 Diese Zahlen werden von den Aussagen des 2. Bürgermeisters, Gerhard Cartellieri, gestützt, der von ca. 35000 vertriebenen Einwohnern ausging, 3. Januar 1946, BStU MfS-HA IX/11 1402, Bl. 2–4. Andere – und wohl überhöhte – Zahlen geben Jastrz˛ebski/Sziling, Okupacja hitlerowska, S. 144–146 an, die von ca. 50000 Personen ausgehen, die bis zum 26. Oktober die Stadt verlassen oder aus dieser vertrieben wurden. 75 Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen, S. 218. 76 Lagebericht der Rüstungsinspektion bei dem Oberbefehlshaber Ost, 28. Oktober 1939, EC-302-2. 72 126 der ethnischen Deutschen im Weg standen. Bei der aus völkischen Gründen im Allgemeinen auszunehmenden kaschubischen Bevölkerung wurde dies auch expliziert, galt diese Ausnahmeregelung doch dann nicht, wenn die Betroffenen über gute Wohnungen verfügten. Am deutlichsten wird dieser neue Pragmatismus im Vergleich zu den Deportationen im Rahmen der Nisko-Aktion. Damals, Anfang Oktober 1939, in einer Situation, als sich die stetig steigende Zahl der einwandernden »Volksdeutschen« noch nicht abzeichnete, glaubten die Deutschen, alle Freiheiten zu haben, sich – parallel zu den Massenerschießungen vermeintlich politischer Gegner – dem ideologischen Hauptfeind zuwenden und alle Juden aus dem Regierungsbezirk Kattowitz vertreiben zu können. Dieses – allein ideologisch motivierte – erste Deportationsprojekt wurde jedoch sofort eingestellt, als es in Konflikt mit den sich abzeichnenden Bedürfnissen der ethnischen Deutschen geriet, und schließlich von einem zweiten abgelöst, das Menschen aus Gotenhafen und Umgebung deportierte. Bei diesem Deportationsprojekt ging es aber nicht darum, Juden aus Danzig-Westpreußen abzuschieben, es verfolgte ausschließlich das Ziel, Platz für die einwandernden Balten zu schaffen – ein in der Tat eklatanter Unterschied zur Nisko-Aktion, der die Prioritätenverschiebung ankündigte, die die Deportationspolitik der deutschen Besatzer in den annektierten westpolnischen Gebieten bis zum Ende des Krieges bestimmen sollte. Verglichen mit der Anzahl von erwarteten »Volksdeutschen« erscheint die Zahl der mit diesen Transporten verschleppten Menschen sehr gering. Und dennoch ließ Himmler alle weiteren Züge sofort stoppen. Am 26. Oktober benachrichtigte er über den BdS in Krakau, Bruno Streckenbach, alle beteiligten Dienststellen, dass die Deportationen aus Danzig-Westpreußen vorerst ausgesetzt waren.77 Neben Protesten der Wehrmacht78 war dafür die rapide Verschlechterung im Verhältnis zwischen SS-Apparat und Zivilverwaltung verantwortlich. Forster sah seine Autorität als Chef von Partei und Staat durch den SS-Apparat und Himmler in seiner Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums bedroht. Hinzu kamen inhaltliche Differenzen. Aus Forsters Perspektive war 77 78 Streckenbach an Hildebrandt, 26. Oktober 1939, APB 9/2, Bl. 2. Lagebericht der Rüstungsinspektion Ober-Ost, 28. Oktober 1939, EC-302-2. 127 eine etwas flexiblere Haltung gegenüber einem Großteil der einheimischen Bevölkerung dringend geboten, wenn eine schnelle Befriedung der Provinz das Ziel war und auch die Abhängigkeit von den Sicherheitsorganen, das heißt von Himmler, nicht weiter verstärkt werden sollte. Unwillig, Himmler freie Hand zu lassen und die SS-Apparate zu einer möglichst weitgehenden Deportationspolitik anzuhalten, um Danzig-Westpreußen so zum Ansiedlungsschwerpunkt für die ethnischen Deutschen aus Osteuropa zu verwandeln, blockierte Forster Ende Oktober »unvermittelt« jede weitere Ansiedlung von Balten79 und stellte damit alle weiteren SSUmsiedlungspläne infrage, war doch deren Ansiedlung gegen den Widerstand von Partei und Staat nicht durchzusetzen.80 Anstatt die gesamte einheimische Bevölkerung dauerhaft zu beunruhigen, entschied sich Forster frühzeitig für eine Politik, die sich eher an der »traditionellen deutschen Polenpolitik« orientierte.81 Früher als in anderen Teilen des deutsch besetzten Osteuropas sollte sich in Danzig-Westpreußen eine Auseinandersetzung zwischen Zivilverwaltung auf der einen und SS-Apparat auf der anderen Seite abzeichnen, die – dies in den Worten von Jansen und Weckbecker – auf den Nenner »effiziente Ausbeutung versus rassistische Volkstumspolitik mit systematischer Ausrottung« bringen ließ.82 Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen, S. 218. Siehe auch Koehler, RKFDV, Bl. 62f.; Łuczak, Die Ansiedlung der deutschen Bevölkerung, S. 196; Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 480. Als Begründung hatte sich Forster auf eine freilich nicht ganz irrige Behauptung verlegt und auf das im Vergleich zu anderen Umsiedlergruppen relativ hohe Alter der Balten verwiesen. Zur demographischen Zusammensetzung der Umsiedler siehe den Bericht des Leiters einer DAI-Kommission vom 21. April 1940, Oblt. Dr. Rüdiger, BStU MfS-HA IX/11/143,69, Bl. 4–18. 80 Sandberger an Stapo-Leitstelle Stettin, 2. November 1939, BArch R 69/854, und Himmlers Anordnung 4/II, 3. November 1939, AGK 68/5, Bl. 3. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Als Notlösung mussten die Umsiedler zunächst provisorisch untergebracht werden, zum Teil auch außerhalb der Provinz in Mecklenburg und Pommern. 81 Levine, »Local Authority and the SS State«, S. 349 [Übers. G.W.]. 82 Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 179. Um die gleiche Frontstellung ging es auch in zwei weiteren Konflikten, die Forster ebenfalls für sich entscheiden konnte, als er die Auflösung des Volksdeutschen Selbstschutzes und den Stopp der Ermordungen von Anstaltsinsassen in Danzig-Westpreußen durchsetzte. 79 128 Es gab aber noch einen zweiten Grund, weshalb Himmler seine Prioritäten so rasch der veränderten Situation anpassen konnte und die Bedeutung, die Danzig-Westpreußen in den ersten Siedlungsplanungen zugewiesen worden war, relativierte. Nur zwei Tage vorher war er mit Greiser zusammengetroffen, um die Ansiedlung der Balten auch im Wartheland zu besprechen. In dieser Unterredung, die sich – wie später noch zu zeigen sein wird – für die weitere Bevölkerungspolitik des Warthelandes als überaus entscheidend herausstellen sollte, hatte sich Greiser mehr als bereitwillig gezeigt, die momentan in Danzig-Westpreußen auftretenden Schwierigkeiten zu nutzen und die Balten in seine Provinz umzulenken. Als er dies am 26. Oktober dem Chef der Einwandererzentralstelle, Martin Sandberger, noch einmal explizit versicherte und – wie dieser berichtete – »größten Wert darauf [legt], ab sofort laufende Transporte von Balten nach Posen zu erhalten«, glaubte Himmler, einen Kurswechsel vollziehen und den Schwerpunkt der Deportations- und Ansiedlungspolitik von Danzig-Westpreußen auf das Wartheland verlegen zu können.83 Durchgriff des Reichssicherheitshauptamtes Mit dem Stopp der Deportationen aus Gotenhafen durch Himmlers Anordnung vom 26. Oktober 1939 war – nach dem Nisko-Plan – das zweite großangelegte Vertreibungsprojekt beendet worden, noch ehe es richtig begonnen hatte. Auch wenn meines Erachtens die hierfür in der Forschung angeführten Gründe sehr plausibel erscheinen, so ist die Frage nach den Ursachen nicht die einzige, die diese Anordnung aufwirft. Dies wird dann deutlich, wenn sie nicht in erster Linie als letzter Akt eines, gemessen am eigenen Anspruch, gescheiterten Unternehmens, sondern vielmehr als Ausdruck einer neuen Phase in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik begriffen wird. Trotz der dürftigen Aktenlage sind umfassende organisatorische Veränderungen innerhalb des SS-Komplexes erkennbar. Neben der Einrichtung neuer Institutionen, die für die weitere Deportationspolitik bedeutsam wurden, kam es vor allem auch zu einer stärkeren Zentralisierung der Deportationsplanung. Da die regional geplanten Deportationen nicht länger der rasant ansteigenden Komplexität der 83 Sandberger an EWZ, 26. Oktober 1939, BArch R 69/490, Bl. 17–19. 129 bevölkerungspolitischen Zielsetzungen entsprachen und der SS-Apparat in Danzig-Westpreußen außerdem auf einen Reichsstatthalter gestoßen war, der eigene Vorstellungen von der Germanisierung »seiner« Provinz hatte, schien eine stärkere Einschaltung der SSZentralen geboten. Auf diese Weise konnte nicht nur die Germanisierungspolitik in allen besetzten Gebieten aufeinander abgestimmt und mit der Einwanderung der ethnischen Deutschen synchronisiert werden. Eine direktere Beteiligung der Berliner SS-Stellen und vor allem Himmlers versprach auch, diesen bevölkerungspolitischen Planungen der SS gegenüber den Reichstatthaltern größeren Nachdruck zu verleihen. Diese Differenzierung des SS-Apparats Ende 1939 ist von der bisherigen Forschung nur unzureichend herausgearbeitet worden – ein Versäumnis, das umso schwerwiegender ist, als organisatorische Entscheidungen immer auch inhaltliche Präferenzen ausdrücken. In erster Linie ist hier natürlich die bereits erwähnte Umwandlung von Greifelts Leitstelle für Ein- und Rückwanderer zur Dienststelle des Reichskommissars in der zweiten Oktoberhälfte 1939 zu nennen,84 in der Greifelt zum »Reichsgeschäftsführer« Himmlers in dessen Funktion als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) avancierte.85 In der Forschung weitgehend ungeklärt ist die Frage, warum Himmler sich für Greifelts Dienststelle und damit für einen äußerst kleinen Stab entschied, der noch im Dezember 1939 nicht mehr als 29 Mitarbeiter umfasste.86 Weil zumindest ein Teil der Südtiroler in die annektierten polnischen Gebiete umgesiedelt werden sollte, »lag es nahe«, so etwa Isabel Heinemann, auf Greifelts Leitstelle zurückzugreifen.87 Angesichts der Tatsache, dass die SS über ein eigenes Siedlungsamt verfügte, erscheint diese Einschätzung jedoch fraglich. Da die »Festigung deutschen Volkstums« im eigenen Verständnis neben der Vertreibung der einheimischen »Polen« vor allem auf die Ansiedlung von »Deutschen« setzte, Erste Anordnung Himmlers als RKF, undatiert, jedoch wahrscheinlich am 17. Oktober unterzeichnet. Zur Datierung siehe Koehl, RKFDV, S. 56. 85 Niederschrift Ehlichs, 1. November 1939, BArch R 69/493, ohne Seitenangabe. Siehe auch Sandberger an Einwandererzentralstelle, 1. November 1939, R 69/426, ohne Seitenangabe. Für beide Dokumente danke ich Götz Aly. 86 Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol, Bd. 1, S. 251. 87 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 191. Siehe auch Leniger, Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und Umsiedlungspolitik, S. 61f. 84 130 hätte sich die Übertragung dieser neuen Kompetenzen auf den Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, SS-Gruppenführer Günther Pancke, mindestens ebenso angeboten. Dies umso mehr, als das Siedlungsamt seit der Besetzung der Tschechischen Republik zunächst auf beträchtliche »Erfolge« in der Enteignungs- und Umsiedlungspolitik verweisen konnte,88 die seinem Chef, SS-Oberführer Curt von Gottberg, am 17. Mai 1939 die Leitung des Prager Bodenamtes eintrugen.89 Ein weiterer Ausbau dieser Position im Siedlungswesen gelang dem Rasse- und Siedlungshauptamt mit dem Überfall auf Polen, an dem sich auch eigene Erfassungskommandos beteiligten, die den Einsatzgruppen beigestellt wurden und unter anderem auch in Polen ein Bodenamt errichten sollten.90 Himmler schien Panckes Ambitionen zunächst auch noch zu unterstützen: Als es zwei Tage nach seiner Beauftragung durch Hitler am 7. Oktober um die Erarbeitung von Durchführungsbestimmungen zu diesem Erlass ging, beauftragte er damit nicht etwa Greifelt, sondern Pancke.91 Die Ernennung Greifelts zu Himmlers »Reichsgeschäftsführer« nur eine Woche später markierte also für Pancke einen ernsten Rückschlag. Pancke gab jedoch nicht auf, zumal die Kompetenzen von Greifelts neuem Amt noch unklar waren. In der Hoffnung, Greifelts Aufstieg doch noch abwenden zu können, wandte er sich am 20. November an Himmler und bat diesen, ihn zum »persönliche[n] Beauftragte[n] des Reichskommissars […] für alle sich aus dem Führererlass vom 7. 10. 39 ergebenden Aufgaben« zu ernennen.92 Dies war nun in der Tat keine bescheidene Bitte und hätte, wäre Pancke erfolgreich gewesen, die eben eingerichtete RKF-Zen- Pancke an Heydrich, 31. März 1939, NS 2/141, Bl. 61–63, und Gottbergs Denkschrift vom 11. Mai 1939, Letztere in Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 129f. Siehe auch Koehl, RKFDV, S. 43. 89 Die Ernennung durch den Reichsprotektor, Konstantin von Neurath, zum kommissarischen Leiter des Prager Bodenamtes erfolgte am 17. Mai 1939, Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 131f. 90 Tätigkeitsbericht der RuS-Beratung B, 1. Januar 1940, zit. n. Müller, Hitlers Ostkrieg, S. 86. Siehe auch Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 201–208; Buchheim, »Die SS – Das Herrschaftsinstrument«, S. 224. 91 Pancke an Himmler, betr. Entwurf zur Durchführung des Erlasses des Führers zur Festigung deutschen Volkstums, 23. Oktober 1939, BArch NS 2/60, Bl. 122. Der Entwurf findet sich in den Akten leider nicht. 92 Pancke an Himmler, 20. November 1939, BArch NS 2/60, Bl. 51–59. 88 131 trale Greifelts ihm untergeordnet sowie – gerade auch angesichts der zweiten Kern-»Kompetenz« dieses Hauptamtes: der rassischen Selektion – unabsehbare Auswirkungen auf die gesamte zukünftige Germanisierungspolitik gehabt. Von der Forschung ist dieser Vorstoß Panckes bisher nicht rezipiert worden, was vor allem bei Heinemanns Studie umso verwunderlicher ist, da sie zwar mehrmals aus dem Schreiben zitiert, aber gerade diese Passage unerwähnt lässt. Stattdessen wird auch hier das vorherrschende Bild vom faktisch alternativlosen Aufstieg von Greifelts Dienststelle bekräftigt.93 Pancke erlitt mit seinen Ambitionen jedoch einen Schiffbruch, was nicht nur alle Hoffnungen auf die Einsetzung als persönlicher Beauftragter zunichtemachte, sondern im Gegenteil seine Kompetenzen erheblich einschränkte. Warum aber »mußte Pancke mit seinem Amt beiseite geräumt werden« – um eine Frage Rolf-Dieter Müllers aufzugreifen, die dieser leider unbeantwortet lässt.94 Tatsächlich hatte sich im November genügend Konfliktstoff zwischen Himmler und Pancke angesammelt. Ein Punkt betraf die Tätigkeit der Rasse- und Siedlungsberatungen in Polen, mit denen Himmler unzufrieden war. Die Begeisterung Panckes über einen Bericht der RuS-Beratung A, den er Himmler am 20. November zukommen ließ und als »außerordentlich interessant« anpries, teilte dieser jedenfalls nicht. Die RuS-Beratung hatte darin weitgehende Vorschläge zur Raum- und Bevölkerungsplanung in Ostoberschlesien gemacht, die unter anderem die Umleitung der Südtiroler in die Beskiden vorsah. Himmler reagierte auf dieses Ausgreifen der RuS-Beratung in die Siedlungsplanung kühl: »Die Arbeiten, die gemacht worden sind, sind sicherlich ganz interessant, doch in meinen Augen heute verfrüht.«95 Im Gegensatz zu Heinemann sehe ich deshalb nicht, wie dieser Bericht die Folgerung zulassen soll, dass Himmler die – so Heinemann – »Erfassungen ausdrücklich billigte«.96 Den Ausschlag für das Scheitern Panckes dürfte jedoch das Agieren des Chefs des Siedlungsamtes, Curt von Gottberg, gegeben haben. Ohnehin in ständigem Kompetenzgerangel mit dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Walther Darré, etwa in Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 194f. u. 213. Müller, Hitlers Ostkrieg, S. 88. 95 Himmler an Pancke, 28. November 1939, BArch NS 2/60, Bl. 65. 96 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 205. 93 94 132 Fragen der Siedlungsplanung, eskalierte dieser Konflikt, als Gottberg die Leitung des Prager Bodenamts übernahm und unter anderem damit begann, die Ansiedlung der Südtiroler in Mähren vorzubereiten.97 Mögen Darrés frühere Beschwerden bei Pancke noch auf taube Ohren gestoßen sein, erhielten sie zusätzliches Gewicht, als Gottbergs Agieren in Prag selbst unter immer stärkeren Beschuss geriet:98 Während Gottberg eine interne Revision über sich ergehen lassen musste, in deren Verlauf eine systematische Veruntreuung staatlicher Gelder auffliegen sollte, durchleuchtete der SD-Leitabschnitt Prag sein Personal und fällte schließlich »ein vernichtendes Urteil« über gleich 29 seiner deutschen Bediensteten.99 Gottberg wurde fallengelassen, zum einen von Himmler, nachdem Darré sich mit einer langen Liste von Verfehlungen Gottbergs an »Heini« gewandt hatte und diesem Konsequenzen androhte, falls er es zulasse, »daß der Fall v. Gottberg Kreise zieht, die weder von Dir noch von mir gewünscht werden«.100 Und zum anderen auch von Pancke, blamierte ihn Gottberg doch ausgerechnet zu einer Zeit, in der er sich um die Ausweitung der Kompetenzen des Rasse- und Siedlungshauptamtes bemühte. Dies erklärt sicherlich auch Panckes harsches Durchgreifen: Er forderte Gottberg auf, sich sofort krankzumelden, anderenfalls drohe ihm die »Überweisung in ein Konzentrationslager«101 – eine Drohung, für die Himmler ihm später seine »schärfste Mißbilligung« aussprach.102 Himmler war jedoch nicht mehr umzustimmen, sondern übertrug diese neuen Aufgaben stattdessen auf eine neue und gleichsam unbelastete Institution, da – so ließ er Pancke wissen – eine Beauftragung des Rasse- und Siedlungshauptamtes den gesamten Auftrag »durch den nicht zu vermeidenden Gegensatz mit allen Ministerien Longerich: Himmler, S. 434–437. Vermerk Panckes über die Besprechung bei Darré, 17. Mai 1939, abgedruckt in: Müller, Hitlers Ostkrieg, S. 117f. Siehe auch zur Kritik des dortigen Chefs der Zivilverwaltung, Reichsprotektor Konstantin von Neurath, Bryant, Prague in Black, S. 110. 99 Klein, »Curt von Gottberg«, S. 97. 100 Darré an Himmler, 18. August 1939, BDC Curt v. Gottberg. 101 Von Pancke verfasstes Schreiben, das Gottberg in Anwesenheit des Chefs des Rassenamtes, Oberführer Otto Hofmann, unterzeichnen musste, 13. November 1939, BDC Curt v. Gottberg. 102 Himmler an Pancke nach einem Disziplinarverfahren gegen Gottberg, in dem dieser voll rehabilitiert wurde, undatiert, BDC Curt v. Gottberg. 97 98 133 gefährden würde«.103 Von einer Beauftragung Panckes war dann auch nicht mehr die Rede. Mit der Ernennung des ehemaligen Regierungspräsidenten von Niederbayern und der Oberpfalz, Gruppenführer Friedrich Wilhelm von Holzschuher, zum Chef des neu eingerichteten Zentralbodenamtes beim Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums vom 14. November 1939, wurde dieser Bereich gleichzeitig aus dem Kompetenzbereich des Rasseund Siedlungshauptamtes herausgebrochen.104 Pancke wurde darüber spätestens am 29. November in Kenntnis gesetzt, als Himmler ihn und Verschuer zu sich zitierte, um ihnen »über den Aufbau der Reichsstelle ›Reichskommissar f.d.F.d.V.‹ im einzelnen Aufklärung« zu erteilen. In Himmlers Ausführungen über das Tätigkeitsfeld des neuen Zentralbodenamtes tauchte das Rasse- und Siedlungshauptamt schon gar nicht mehr auf.105 Wenig später beendete Himmler dann auch alles restlichen Ambitionen Panckes. Durch die mündliche Unterrichtung, so Himmler, »beantwortet sich auch die Frage […] über Ihre eigene Stellung«.106 Diese »spielt zunächst in meiner Arbeit als Reichskommissar keine besondere Rolle«. Gewissermaßen als Trost sicherte Himmler Pancke jedoch zu, ihm die »Siedlung der Menschen« zu übertragen, außerdem solle Holzschuher neben dem Zentralbodenamt auch das RuSHA-Siedlungsamt übernehmen, womit der Informationsfluss gewährleistet sei, auch wenn Pancke »offiziell nicht […] eingeschaltet« werde.107 Während die Siedlungsfrage in diesem Schreiben nicht weiter ausgeführt wurde und sich dann ausschließlich auf die rassische Selektion der Umsiedler beschränken sollte, kann auch die Doppelbesetzung Pancke kaum zufriedengestellt haben. Als Holzschuher am 14. Dezember zum Chef des Siedlungsamtes ernannt wurde, glich das eher einem Ausgreifen der neuen RKF-Dienststelle, war doch jetzt anHimmler an Pancke, 12. Dezember 1939, BArch NS 2/60, Bl. 49f. Ernennung Holzschuhers durch Himmler, 14. November 1939, BArch NS 2/60, Bl. 83. Siehe auch BDC Wilhelm Freiherr v. Holzschuher. Heinemann irrt also, wenn sie von einer Unterstellung der Bodenämter unter das RuSHA noch bis April 1940 ausgeht, Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 686. Ähnlich auch Buchheim, »Die SS – Das Herrschaftsinstrument«, S. 223f. 105 Vermerk Holzschuhers über die Unterrichtung durch Himmler, 1. Dezember 1939, BArch NS 2/60, Bl. 60–63. 106 Himmler an Pancke, 12. Dezember 1939, BArch NS 2/60, Bl. 49f. 107 Ebenda. 103 104 134 stelle der Eingliederung des Zentralbodenamtes in das Rasse- und Siedlungshauptamt faktisch das Siedlungsamt durch einen Abteilungsleiter Greifelts übernommen worden. Und selbst wenn diese Personalunion tatsächlich nur eine bessere Koordinierung der beiden Tätigkeitsfelder und zugleich den Einfluss des Rasse- und Siedlungshauptamtes gewährleisten sollte, so war damit spätestens am 1. Juni 1940 Schluss: Als Himmler Holzschuher auf eigenen Wunsch von beiden Positionen entband, wurden sie bis ans Ende des Krieges nicht mehr zusammen besetzt.108 Aus meiner Sicht irrt Heinemann deshalb auch in ihrer Einschätzung der besonderen Bedeutung des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Mit der klaren Absage an die Ambitionen Panckes begann Himmler geradezu eine Demontage des RuSHA, sodass selbst die Bezeichnung dieses Hauptamtes sehr bald in die Irre führte, wurde sein Tätigkeitsfeld doch auf die rassische Selektion von Menschen beschränkt, mit ihrer Ansiedlung hatte das Amt nichts mehr zu tun. Von einer »Schlüsselinstitution«109 oder gar »Koordinationszentrale der SS-Siedlungs- und Rassenpolitik«110 kann meiner Meinung keine Rede sein, das Rasse- und Siedlungshauptamt wurde im Gegenteil bereits in den ersten Monaten des Krieges als zentraler Akteur in der deutschen Bevölkerungspolitik ausgeschaltet. Parallel zum Aufstieg von Greifelts Dienststelle und der Kaltstellung des Rasse- und Siedlungshauptamtes vollzogen sich auch im Reichssicherheitshauptamt bedeutsame Änderungen, mit denen Heydrich die bereits begonnene (Zwangs-)Migration von einer immer größer werdenden Anzahl von Menschen konzeptionell wie institutionell besser zu steuern gedachte. Dies betraf zum einen die Einwandererzentralstelle, die am 19. Oktober 1939 durch eine Vereinbarung zwischen den Amtschefs III, Otto Ohlendorf, und IV, Müller, dem Zuständigkeitsbereich des Ersteren zugesprochen wurde.111 Ohlendorf richtete dafür am 31. Oktober 1931 das neue Sonderreferat III ES ein, dessen Leiter Dr. Hans Ehlich wurde, der Himmler an Holzschuher, 29. Mai 1940, BDC Wilhelm Freiherr v. Holzschuher. 109 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 42. 110 Ebenda, S. 10. 111 EWZ-Anordnung Nr. 12, gez. Sandberger, 19. Oktober 1939, BArch R 69/228, Bl. 24. 108 135 bereits das Referat Rasse und Volksgesundheit leitete.112 Als Einwanderungs- und Siedlungsreferat sollte es zunächst alle Fragen bearbeiten, die im Rahmen der »Heim-ins-Reich«-Aktionen anfielen, und hierfür »reichszentral die Verbindung herstellen«.113 Sein Arbeitsbereich wurde jedoch bald allgemein auf »grundsätzliche Probleme der Ostansiedlung« ausgeweitet, sodass es sich zum Zentrum der »Lebensraum«-Planung im Reichssicherheitshauptamt entwickelte.114 Für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang entscheidender ist jedoch die verstärkte Zentralisierung auch des anderen Aspekts der (Zwangs-)Migration, also der Vertreibung von Teilen der einheimischen Bevölkerung, die ebenfalls dem Reichssicherheitshauptamt und seinen lokalen Dienststellen oblag. Angesichts der negativen Erfahrungen mit den bisherigen Deportationsprojekten strebte Heydrich eine stärkere Koordinierung an, die für das gesamte Gebiet des besetzten Polens die gegenläufigen Bevölkerungsverschiebungen synchronisieren und diese mit den Interessen der jeweiligen Verwaltungschefs und anderen Stellen abstimmen sollte. Der eingangs erwähnte Befehl zum sofortigen Stopp der Deportationen vom 26. Oktober 1939 war ein erster Schritt in diese Richtung. Unterzeichnet war er von Streckenbach, dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei des SD in Krakau, der nun »mit der Zentralplanung der Ansiedlung bezw. Evakuierung im Ostraum beauftragt« wurde.115 Bevor also die Deportationen aus Gotenhafen fortgesetzt werden würden, sollte eine »Zentralplanung« erfolgen, um die Germanisierung aller annektierten westpolnischen Gebiete zusammenzufassen, dabei die Deportationen zu koordinieren und auf die Einwanderung der nun auch aus anderen Regionen Osteuropas einreisenden »Volksdeutschen« abzustimmen. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 381f.; Roth, »›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹«, S. 34. Zur Entwicklung des Referats bis zu seinem Aufgehen in der Amtsgruppe III B siehe Ehlich an Heydrich, 12. Februar 1940, SMR 500-4/72, Bl. 26–29. 113 EWZ-Anordnung Nr. 22, gez. i.V. Sturmbannführer Roeder, 1. November 1939. 114 Ehlich an Heydrich, 2. Februar 1940, BA-DH, HA IX/11/ZR 890. Für dieses Dokument danke ich Götz Aly. 115 Niederschrift der Besprechung der HSSPF in dem besetzten Polen und Ostpreußen in Krakau am 8. November 1939, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 3–5. 112 136 In welch megalomanischen Dimensionen zu diesem Zeitpunkt gedacht wurde, offenbart die Anordnung 1/II, die Himmler in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums am 30. Oktober 1939 unterzeichnete und die die erste Phase der zentral geplanten Deportationspolitik einleitete. Während Deportationen aus dem Deutschen Reich hier nicht mehr auftauchten, wurden zum ersten Mal alle annektierten Provinzen einbezogen, Verantwortlichkeiten festgelegt und ein Zeitplan und eine Hierarchie der zu verschleppenden Menschen vorgegeben. Zwischen November 1939 und Februar 1940 sollten ca. eine Million Menschen deportiert werden, also jeden Tag über 8000 Personen. Danach sollten zunächst »alle Juden« und »alle Kongresspolen« aus DanzigWestpreußen deportiert werden sowie eine nicht näher bestimmte »Anzahl besonders feindlicher polnischer Bevölkerung«.116 Die Erstellung des hierfür notwendigen »Umsiedlungsplan[s]« wurde den jeweiligen Höheren SS- und Polizeiführern übertragen, die sich am 8. November 1939 zu einer ersten Besprechung in Krakau einfanden, um hier von Streckenbach auf den aktuellen Planungsstand gebracht zu werden. Streckenbach skizzierte einen dreiphasigen Deportationsplan: In Anlehnung an Himmlers Anordnung sollten in einer ersten Phase »ab Mitte November« 1939 bis Februar 1940 mit einer Million Menschen »sämtliche Juden und Kongresspolen« erfasst, beraubt und deportiert werden, um so Platz für ca. 150000 ethnische Deutsche aus dem Generalgouvernement, Wolhynien und dem Baltikum zu schaffen. Aus Danzig-Westpreußen sollten 400000 Menschen vertrieben werden, wobei ein Teil der »zurückfahrenden Transportzüge[n]« die 30000 »Volksdeutschen« aus der Gegend um Warschau an Bord haben sollte. In einer zweiten Phase bis Ende des Jahres 1940 sollte die verbleibende Bevölkerung daraufhin »untersucht werden, ob sie als Polen oder als Volksdeutsche, bezw. als noch erwünschte Polen zu bewerten« seien. In der letzten Phase ab Anfang 1941 galt es schließlich, die festgestellten »unerwünschten Polen« zu vertreiben.117 Damit war in Krakau zum ersten Mal ein Plan skizziert worden, der nicht mehr – wie vorher im Falle von Himmlers Anordnung 1/II, 30. Oktober 1939, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 1f. 117 Niederschrift der Besprechung der HSSPF in dem besetzten Polen und Ostpreußen in Krakau am 8. November 1939, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 3–5. 116 137 Kattowitz und später Gotenhafen – lediglich einzelne Regionen einer Germanisierungspolitik unterwarf, sondern die Germanisierung aller annektierten Gebiete ins Blickfeld rückte und dabei die Deportation der unerwünschten Menschen mit der Ansiedlung der ethnischen Deutschen verzahnte. Spätestens bei dieser Besprechung in Krakau musste den deutschen Ethnokraten deutlich geworden sein, dass die Aufgaben, die sie sich hier gestellt hatten, die bisherigen Mord- und Vertreibungswellen bei weitem übertreffen würden. Sie sollten die deutschen Möglichkeiten gleich doppelt überfordern: Sie setzten ein Deportationsprojekt in Gang, das die zeitlichen Vorgaben von Beginn an verfehlte und schließlich nur einen kleinen Teil der Menschen erfasste, die zunächst für die Deportation vorgesehen waren. Nachdem der 15. November 1939 als ursprünglicher Termin für die Fortsetzung der Deportationen verstrich, ohne dass auch nur in einer Provinz damit begonnen werden konnte, die oftmals bereits inhaftierten Menschen ins Generalgouvernement abzuschieben, verließ der erste Zug schließlich am 22. November Gladau in Danzig-Westpreußen. Mit der Deportation von 9250 Menschen bis zum Ende des Monats scheinen dann die Vorgaben für 1939 erreicht worden zu sein.118 Die restlichen 390000 sollten – so Hildebrandt am 26. November 1939 – Anfang des nächsten Jahres folgen.119 In Oberschlesien hingegen war die Situation allein schon wegen der kriegswirtschaftlichen Bedeutung dieser Region wesentlich komplizierter.120 Zudem war bis ins Jahr 1940 hinein die territoriale Ausdehnung der Provinz unklar. Wagner und sein Stellvertreter, Vizepräsident Fritz-Dietlof von der Schulenburg, waren von Beginn an gegen den Anschluss der östlichen Kreise an Schlesien121 und forderten deren Rückgliederung an das Generalgouvernement. Die Die weiteren Deportationsorte waren Mewe und Gotenhafen. Vermerk Dr. Pothus, BArch R 75/3b, Bl. 9f. 120 Am ausführlichsten hierzu Sulik, »Die Bedeutung der Großindustrie Oberschlesiens«, der auch auf den Bedeutungszuwachs nach dem Überfall auf die Sowjetunion und die Integration der Region in einen Industrieverbund mit dem Donezbecken in der Sowjetunion verweist, sowie Röhr, »Zur Rolle der Schwerindustrie«. 121 Es handelte sich um die Kreise Krenau, Olkusch und Wadowitz sowie Teile der Kreise Warthenau, Blachownia und Saybusch, siehe Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 40; Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 112. 118 119 138 »Gründe«, die Wagner anführte, waren vor allem »volkspolitischer Art«, da die dortige »fast 400000 Köpfe zählende nationalpolnische Bevölkerung« das »Ringen um die Assimilation der Zwischenschicht« den »Volkstumskampf im umstrittenen Ostoberschlesien [belasten]« würde.122 Mit Durchsetzung der Polizeigrenze am 20. November 1939 hatte die Zweiteilung der Provinz dann auch einen rechtlichen Ausdruck gefunden.123 In der Frage, wer in erster Linie zu deportieren war, war sich Wagner mit Forster und Greiser einig: Das Ziel sei die »Vertreibung und Ausrottung des polnischen, gegen Deutschland aufständisch vorgegangenen Volkes«.124 Die Regierungspräsidenten sahen es genauso. In Kattowitz war dies Walter Springorum, der als Mitglied im Aufsichtsrat der Hoesch AG und ehemaliger Leiter des Referats Minderheiten unter besonderer Berücksichtigung der oberschlesischen Frage im Reichsinnenministerium wirtschaftliche Expertise mit volkstumspolitischen Kompetenzen verband.125 Tatsächlich verstand Springorum es in der Folgezeit aufs beste, die Germanisierung des Regierungsbezirks mit den sicherheitspolizeilichen Prämissen und wirtschaftlichen Erfordernissen der oberschlesischen Schwerindustrie zu verbinden. Wie diese Anforderungen im Zweifelsfall Wagner an Lammers etc., 2. Februar 1940, NG-3750 [Hervorhebung im Original, G.W.], siehe auch Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 40; Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 112f. Obwohl sich die beteiligten Stellen im Jahresverlauf prinzipiell auf eine Rückverlegung der Grenze einigten, kam es schließlich nicht dazu, weil Hitler und Göring diese Frage im Rahmen eines europäischen Friedensvertrages klären wollten, Vermerk Lammers, 6. September 1940, NG-3750. Göring ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass jede Grenzziehung sich in erster Linie an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der hiesigen Schwerindustrie zu orientieren hätte. Siehe auch Kaczmarek, »Die deutsche wirtschaftliche Penetration in Polen«, S. 259. 123 Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 110. Die Polizeigrenze wurde noch mehrmals verändert, am 1. August 1941 nur noch formell aufrechterhalten, als die Besetzung aufgehoben wurde, Reichsführer SS, gez. i. A. von Kamptz, an HSSPF und Regierungspräsidenten, 27. Juli 1941, APK 117/32, Bl. 3, und schließlich am 12. Mai 1942 aufgehoben, Heydrich an außerpreußische Landesregierungen und preußische Regierungspräsidenten, 12. Mai 1942, APK 117/32, Bl. 50. 124 Wagner an Darré, 9. Dezember 1939, Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 115. 125 Personalakte Reichsinnenministerium Walter Springorum, SMR 720–5/ 9624, Bl. 105. 122 139 auszutarieren waren, daran ließ Springorum keinen Zweifel. In der Besprechung vom 21. November 1939 legte er »entscheidenden Wert« auf die sofortige Deportation derjenigen »Polen aus der Industriebevölkerung«, die sich in der Vergangenheit als »deutschfeindlich« erwiesen hätten.126 Erst danach kam er auf die »Bereinigung der ländlichen Bezirke« zu sprechen und meinte damit in erster Linie die gewaltsame Änderung der ländlichen Besitzstruktur, die von einer hohen Anzahl von Klein- und Kleinstbetrieben dominiert wurde. Springorum dachte aber nicht daran, die dadurch »überflüssig« gewordenen Personen zu vertreiben, sondern wollte sie als Arbeitskräfte behalten. Da zu diesem Zeitpunkt die Ansiedlung ethnischer Deutscher in Schlesien offensichtlich noch nicht besonders weit fortgeschritten war, fürchtete er im größeren Ausmaß die zu deportierenden politischen Aktivisten mit »Ersatz aus Galizien und Kongreßpolen« decken zu müssen – und da waren ihm die »Ersatzarbeiter aus den bäuerlichen Kreisen [lieber]«.127 Abgesehen von politischen Gegnern, die in jedem Fall zu vertreiben waren, hatten die Deportationen jedoch einer wirtschaftlichen Rationalität zu folgen: Die »überflüssige« Bevölkerung bemaß sich in dieser Vorstellung allein nach dem durch eine Modernisierung der Landwirtschaft reduzierten Personalbedarf, der dann – in einer Art staatlich forcierten und gelenkten »Landflucht« – zur Deckung des erwarteten Arbeitskräftemangels in der Industrie genutzt werden sollte. Was Springorum also vorschwebte, war ein gewaltsam durchgesetztes Modernisierungsprogramm, das die industrielle und landwirtschaftliche Produktion durch die Beseitigung der von deutschen Wissenschaftlern bereits vor dem Krieg als zentrales Problem für Polens Rückständigkeit ausgemachten »ländlichen Überbevölkerung« zu erreichen suchte.128 Die praktischen Fragen wurden der im November 1939 eingerichteten Arbeitsgruppe Umsiedlung übertragen,129 die AutorisieUndatierte Niederschrift einer Besprechung am 21. November 1939 unter Leitung Springorums, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 139f. 127 Ebenda. 128 Siehe hierzu etwa Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung; Esch, »Gesunde Verhältnisse«, S. 79–102 u. 128–165. 129 Ihr gehörten unter Schulenburgs Leitung der Reichsverteidigungsdezernent und Beauftragte für die Umsiedlungen am Oberpräsidium Wolf von Wrangel, der Chef des Landesarbeitsamtes, die Schlesische Landgesellschaft, der 126 140 rung der Erfassungen und Deportationen erfolgte am 7. Dezember.130 Die Selektion der Bevölkerung erfolgte durch eine Kommission der landeseigenen Schlesischen Landgesellschaft unter Klix, die in jedem Landkreis mit einem dortigen Ausschuss die Einheimischen in drei Gruppen sortierte:131 in Gruppe A jene, die mit der »Waffe in der Hand gegen Deutschland gekämpft haben, sowie […] aktiv gegen Deutschland und gegen Deutsche sich betätigten« – sie waren als Erste zu deportieren.132 Gruppe B war jenen vorbehalten, die »stark mit dem Polentum sympathisieren, ausgesprochen deutschfeindlich eingestellt sind, aber nicht zu den führenden Schichten gehören«, während jene, die »unzweifelhaft zur polnischen Minderheit [sic!] gehören«, in Gruppe C eingeteilt wurden.133 HSSPF in Breslau, der Chef seiner RKF-Dienststelle, die Regierungspräsidenten in Kattowitz und Oppeln, einige Landräte, der Führer der Landesbauernschaft, Vertreter der Bezirkslandwirte und der Leiter des Landeskulturamtes an, siehe auch Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 115. 130 Schulenburg an die Regierungspräsidenten in Oppeln und Kattowitz, 7. Dezember 1939, APK 117/826, Bl. 195f., abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 143f. 131 Die Ausschüsse tagten unter Vorsitz des Landrats, ihr gehörten weiterhin der Kreisleiter, der Kreisbauernführer, die Bezirkslandwirte als Vertreter der Schlesischen Landgesellschaft und je ein Vertreter der Siedlungsbehörde und des Regierungspräsidenten an. Siehe dazu auch das unsignierte Schreiben der Abteilung I im Oberpräsidium an die Regierungspräsidenten Kattowitz und Oppeln und die Schlesische Landgesellschaft, 21. November 1939, APK 117/826, Bl. 63f. Die Beauftragung der Schlesischen Landgesellschaft ist so verwunderlich nicht, schließlich war sie die zuständige Siedlungsgesellschaft, die überdies bereits 1939 mit dem planmäßigen Ankauf und der Besiedlung des Hultschiner Ländchens begonnen hatte, Reichsfinanzministerium, gez. i. A. unleserlich, an Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 24. Juni 1939, BArch R 2/19014, ohne Seitenangabe. Das Gebiet war nach dem Ersten Weltkrieg an die Tschechoslowakei gefallen und von den Deutschen nach dem Münchener Diktat besetzt worden. Es wurde zunächst an den neu eingerichteten Reichsgau Sudetenland und ab April 1939 an die Provinz Schlesien angeschlossen. 132 Schulenburg an die Regierungspräsidenten in Oppeln und Kattowitz, 7. Dezember 1939, APK 117/826, Bl. 195f., abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 143f. 133 Vermerk der Abt. I im Oberpräsidium, gezeichnet vermutlich Wrangel, 30. November 1939, APK 117/826, Bl. 82f. Zur Einteilung der einheimischen Bevölkerung siehe auch Bericht der SLG über Tätigkeit in Ostoberschlesien, vorbereitet für die Aufsichtsratssitzung am 1. Februar 1940, 12. Januar 1940, BArch R 2/19014, ohne Seitenangabe. 141 Die Deportationen sollten zunächst auf Kreise westlich der Polizeigrenze beschränkt bleiben, denn Wagner hoffte immer noch, die Kreise östlich davon ans Generalgouvernement rückgliedern zu können. Anders als in den beiden anderen Ostprovinzen wurden sie auch nicht mit der Notwendigkeit begründet, Volksdeutsche unterbringen zu müssen. Ein Teil des enteigneten Landes sollte stattdessen zur »Stärkung des alteingesessenen deutschen Bauerntums« verwandt werden.134 Beim verbliebenen Teil war Springorum mittlerweile sogar bereit, die »Abzusiedelnden […] mit Einwohnern des Generalgouvernements Polen, insbesondere Landarbeitern aus Gegenden, in denen der Volkstumskampf unbekannt war« auszutauschen.135 Auch wenn es offensichtlich dazu nicht kam, zeigt diese Überlegung doch, wie sehr die deutschen Besatzer bemüht waren, die wirtschaftlichen Folgeschäden der Deportationspolitik zu begrenzen. Wenn dies die Ersetzung der vertriebenen politischen Aktivisten durch Polen aus dem Generalgouvernement erforderlich machen sollte, so war man anfangs auch dazu bereit. Wie in Danzig-Westpreußen stießen solche pragmatischen Politikvorstellungen auch in Schlesien auf Widerstand, vor allem seitens des SS-Komplexes. Der Höhere SS- und Polizeiführer in Breslau, Erich von dem Bach-Zelewski, sah seinen Spielraum jedoch durch die starke Stellung des Oberpräsidenten deutlich eingeschränkt. Zwar musste auch er akzeptieren, dass das »Industriegebiet in weiten Umfang […] zunächst von den Evakuierungsmaßnahmen aus wirtschaftlichen Gründen vollkommen ausgespart werden« müsse, der landwirtschaftlich geprägte südliche Teil Oberschlesiens eigne sich dafür jedoch umso besser. Dies gelte vor allem für den Landkreis Saybusch, zumal die dortige Bevölkerung »fast durchweg minderrassisch und daher sofort zu evakuieren« sei.136 Dies könnte nun als ein weiterer Ausweis für die Dominanz rassischen Denkens verbucht werden. So argumentiert etwa Isabel Unsigniertes Schreiben der Abteilung I im Oberpräsidium an die Regierungspräsidenten Kattowitz und Oppeln und die Schlesische Landgesellschaft, 21. November 1939, APK 117/826, Bl. 63f. 135 Kulturamt Kattowitz, gez. Bittner, an das Oberpräsidium in Breslau, 8. Dezember 1939, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 145–147. 136 Siehe unsignierte Niederschrift einer Besprechung am 26. November 1939 bei Bach-Zelewski, 27. November 1939, NO-5055, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 138f. 134 142 Heinemann, wenn sie behauptet, dass solche Überlegungen »die Grundlage weitreichender Deportationspläne für Ostoberschlesien« bildeten und damit auch die Bedeutung des Rasse- und Siedlungshauptamtes bekräftigt sieht, dessen Gutachten Bach-Zelewski die Argumente lieferten.137 Erhellender wäre freilich ein Zugang, der die Wirkmächtigkeit ideologischer Denkmuster aus ihrer Funktionalität für die Festigung deutscher Herrschaft in dieser Region entwickelt. Die »rassischen Qualitäten« der Bevölkerung dieser Gegend waren nämlich bereits einmal Gegenstand deutschen Forschungsinteresses gewesen. Nach dem Überfall auf Polen war im Reichsinnenministerium eine Kommission eingesetzt worden, die unter Vollert Vorschläge für die neue deutsche Reichsgrenze erarbeiten sollte. In den Beskiden, also unter anderem im Kreis Saybusch, hatte man in den »Goralen« dann auch Menschen mit »nordischem Blut« ausfindig gemacht und damit den Anspruch auf dieses Gebiet begründet.138 Bach-Zelewski brachte wenig Empathie für die Saybuscher Bevölkerung auf, denn sie störte seine Pläne. Er hatte erfahren, dass die SS-Ethnokraten in Berlin die Aus- und Ansiedlung einer weiteren »Volksgruppe«, der Südtiroler, vorbereiteten und dabei Oberschlesien ins Gespräch gebracht hatten. Diese Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen: Die Verfügungsgewalt über eine scheinbar sofort abrufbare größere Gruppe von »Volksdeutschen« musste aus ideologischen, aber auch aus sicherheitspolitischen Gründen die weit bessere Option zur beschleunigten Germanisierung dieser Gebiete darstellen als die Assimilation der »Goralen«. Bach-Zelewski entschied sich deshalb, den Kreis Saybusch »aus klimatischen und landwirtschaftlichen Gründen zur Ansetzung von Südtirolen [sic!]« zu empfehlen. Die einheimische Bevölkerung war zum Störfaktor geworden und wurde von Bach-Zelewski zur Deportation freigegeben – ein Schritt, der im Rückgriff auf die Machwerke der RuS-Be137 138 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 205. Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 159f. Anfänglich war auch Himmler diesen Überlegungen nicht abgeneigt. Auf einer Rundreise Himmlers durch die Beskiden im Winter 1939 glaubte der ihn begleitende Präsident der Reichsschrifttumskammer, Hanns Johst, feststellen zu können, dass die Goralen germanischer Abstammung seien und erfreute sich an den Hakenkreuzschnitzereien der Holzhäuser und dem dort angeblich vorherrschenden Hass auf Polen und Juden, siehe Burleigh, The Third Reich, S. 443f. 143 ratung auch ideologisch abgesichert werden konnte.139 Heinemann kehrt in ihrer Interpretation also den Kausalzusammenhang um. Tatsächlich war es nicht der Bericht der RuS-Beratung, der in diesem Fall Bach-Zelewski die Deportation der Saybuscher Bevölkerung fordern ließ. Die Entscheidung war unabhängig davon bereits gefallen, und wenn Bach-Zelewski dennoch darauf zurückgriff, dann um seine Handlung nachträglich auch ideologisch abzusichern. Auf die Zivilverwaltung in Krakau machte dies dennoch wenig Eindruck. Wie Bach-Zelewski Vertretern der dortigen Regierung vorhielt, war ab dem 15. November die Deportation von 4000 Menschen pro Tag geplant, was nun aus Krakau »von Woche zu Woche verschoben« und schließlich auf eine Deportation von 1000 Menschen pro Tag reduziert worden war.140 Nur vier Tage später war selbst dies Makulatur, als eine Breslauer Delegation in Krakau erfuhr, dass sich das Generalgouvernement momentan außerstande sehe, auch nur »1000 Menschen zu verpflegen«.141 Die Deportationen fanden nicht statt und mussten ins nächste Jahr verschoben werden. Die endgültige Absage aller kurzfristigen Deportationspläne ereilte die SS-Ethnokraten in Schlesien aber ausgerechnet aus dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Mit einem Fernschreiben vom 28. November 1939 hatte Heydrich sich wieder direkt in die Deportationsplanung eingeschaltet und die Höheren SS- und Polizeiführer sowie Inspekteure der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in den betroffenen Provinzen und in Krakau informiert, dass die »Raeumung […] auf grundsaetzlichen Befehl« Himmlers von der Sicherheitspolizei durchgeführt werde. Die weiteren Deportationen würden sich an einem »Raeumungsplan« orientieren, der wiederum aus einem Fern- und mehreren Nahplänen bestehe.142 Der Fernplan Unsignierte Niederschrift einer Besprechung am 26. November 1939 bei Bach-Zelewski, 27. November 1939, NO-5055, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 138f. 140 Ebenda. 141 Borkenhagens Niederschrift über eine Besprechung beim Chef der Abteilung Ernährung und Landwirtschaft im Generalgouvernement, Helmuth Körner, am 29. November 1939, 30. November 1939, APK 117/826, Bl. 173–175. 142 Heydrich an HSSPF und IdS in Breslau, Posen, Danzig, Königsberg sowie HSSPF und BdS in Krakau, 28. November 1939, abgedruckt in: Datner u.a., »Wysiedlanie ludności«, S. 15–17. Siehe auch Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 406f. 139 144 werde derzeit im Reichssicherheitshauptamt (und also nicht mehr von Streckenbach) erarbeitet und seine Ausführung den Inspekteuren der Sicherheitspolizei übertragen. Damit waren die Höheren SSund Polizeiführer endgültig aus der direkten Verantwortung für die Deportationspolitik verdrängt worden. Nach der von Himmler angeordneten Volkszählung im Dezember 1939, die endlich eine genauere Übersicht über die einheimische Bevölkerung liefern sollte, konnte der Fernplan terminiert werden.143 Bis dahin sollte jedoch bereits der erste Nahplan anlaufen – allerdings nur im Wartheland. Dort seien bis zur Volkszählung »soviel Polen und Juden abzutransportieren, dass die hereinkommenden Baltendeutschen untergebracht werden koennen«.144 Es galt also, vom 1. bis zum 17. Dezember 80000 Einheimische gegen 40000 ethnische Deutsche auszutauschen.145 Der Fernplan der Umsiedlung in den Ostprovinzen wurde wahrscheinlich nur wenige Tage später von Ehlich fertiggestellt und ist nach Karl Heinz Roth die »erste Variante der volkstumspolitischen Ostplanungen des Reichssicherheitshauptamtes«.146 In Anknüpfung Reichsführer SS, gez. i.V. SS-Obergruppenführer Kurt Daluege, an die Verwaltungschefs, Regierungspräsidenten sowie HSSPF und BdO in Schlesien, Ostpreußen und im Wartheland, betr. Volkszählung in den rückgegliederten und den neu zum Reich tretenden ehemals polnischen Gebieten, 25. November 1939, APK 117/826, Bl. 90–95. 144 Heydrich an HSSPF und IdS in Breslau, Posen, Danzig, Königsberg sowie HSSPF und BdS in Krakau, 28. November 1939, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 15–17. 145 Heydrich an HSSPF und IdS in Posen sowie HSSPF und BdS in Krakau, 28. November 1939, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 18. 146 Roth, »›Generalplan Ost‹ und der Mord an den Juden«, S. 55. Zur Datierung siehe Aly, »Endlösung«, S. 71; Roth, »›Generalplan Ost‹ und der Mord an den Juden«, S. 57. Während Aly den Plan auf Ende November datiert, glaubt Roth, dass er zum Zeitpunkt von Heydrichs Fernschreiben schon vorgelegen habe. Letzteres ergibt sich allerdings nicht eindeutig aus dem Fernschreiben, da Heydrich hier lediglich davon sprach, dass er »von hier entworfen [wird]«, eine wenige Tage später erfolgte Fertigstellung also ebenfalls möglich scheint. Während Aly den Fernplan etwas unbestimmt dem Amt III zuschreibt (siehe Aly, »Endlösung«, S. 70f.), spricht Roth bereits etwas genauer von einer Gruppe um Ehlich. Wahrscheinlicher war es aber Ehlich allein, der dafür verantwortlich war, so wie er kurz darauf im Januar 1940 wohl ebenfalls allein die Denkschrift zur Einrichtung von Umwanderungszentralen vorschlug (Denkschrift Ehlichs an Heydrich, betr. Errichtung von Umwanderungszentralstellen, 2. Februar 1940, BA-DH, ZR 890/A.2. Für das Dokument danke ich Götz Aly). 143 145 an den bereits in Krakau erreichten Diskussionsstand sei die »Besiedlung des deutschen Ostens« nur durch die »Umsiedlung der Angehörigen des fremden Volkstums« zu erreichen. Diese erfordere jedoch einen in »alle[n] Einzelheiten durchdachten Plan«, wolle man nicht die »schwersten Erschütterungen des wirtschaftlichen Lebens der Ostprovinzen« riskieren.147 Besser als Streckenbach erkannte Ehlich, welche grundlegenden sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen Deportationen in dieser Größenordnung tangieren würden – und zwar nicht nur im Generalgouvernement, sondern auch im Deutschen Reich. Zum einen erhob die Wehrmacht aus militärischen Gründen »schwerste Bedenken« gegen eine relevante Erhöhung der Bevölkerungszahl im Generalgouvernement, auch die schlechte ernährungspolitische Lage lasse dies nicht zu, insbesondere wenn die von Hitler befürchteten »Hungerrevolten« vermieden werden sollten. Zum anderen musste Ehlich anerkennen, dass die einheimische Bevölkerung nicht einfach nur unerwünschte »Fremdvölkische«, sondern notwendige Arbeitskräfte darstellte. Man könne »an der Tatsache nicht vorübergehen«, dass die deutsche (Land-)Wirtschaft weiterhin auf polnische Arbeitskräfte angewiesen sei. So habe der Reichsnährstand den Arbeitskräftebedarf allein für das folgende Jahr prognostiziert: 1,7 Millionen polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen für die deutsche Landwirtschaft. Aber auch in den annektierten Gebieten, so Ehlich, werde man auf polnische Zwangsarbeiter so lange nicht verzichten können, bis genügend ethnische Deutsche zur Verfügung stünden. Wie aber – und dies war das Anliegen der Ethnokraten im Reichssicherheitshauptamt – konnte erstens auf die wirtschaftlichen und militärischen Erfordernisse eingegangen werden, zweitens die mit der Verschleppung einer großen Zahl von Zwangsarbeitern ins Innere des Deutschen Reiches verbundene Gefahr von »politische[r] Zersetzung und Sabotage größten Ausmaßes« gebannt und drittens an der nationalsozialistischen Dystopie von der »Besiedlung des deutschen Ostens« festgehalten werden? Die Antwort auf diese komplexe Frage war keine neue: rassische Selektionen. Ehlich übernahm die bereits von Streckenbach skizzierte erste Phase, in der es um die Vertreibung aller Juden und politischen Gegner ins Generalgouvernement ging, rückte die »rassi147 Fernplan der Umsiedlung in den Ostprovinzen, ohne Signatur und Datum, BArch R 69/1146, Bl. 1–13. 146 schen Musterungen« jedoch stärker ins Zentrum aller weiteren Überlegungen. Sollten sie bei Streckenbach lediglich über die »rassische Eignung« und damit über das Aufenthaltsrecht befinden, avancierten sie bei Ehlich zu einem differenzierten Instrumentarium, das ideologische Entscheidungen mit weiteren, vor allem ökonomischen Bedürfnissen der deutschen Besatzer harmonisieren sollte. Wie sich Ehlich die praktische Handhabung vorstellte, ist im Fernplan nachzulesen: Die restliche Bevölkerung war in einer zweiten Phase in die Arbeitsämter einzubestellen. Dort sollte sie für den Arbeitsmarkt erfasst und dabei eine »kurze unbemerkte rassische Überprüfung« durchlaufen.148 Auch wenn diese zu keiner differenzierten Beurteilung führen könne, reiche sie doch für die Entscheidung aus, ob die betreffenden Personen für die »Verschickung in das Reich geeignet« seien oder nicht.149 In einer dritten und letzten Phase müssten die jeweiligen Landräte noch entscheiden, wer von diesen Menschen sofort abkömmlich sei und welche durch entsprechende Kräfte aus dem Deutschen Reich ersetzt werden müssten. Das Reichssicherheitshauptamt brachte damit ein Verfahren ins Spiel, das auf gleichsam wundersame Weise den bisherigen Gegensatz von wirtschaftlichen Erfordernissen und ideologischen Prämissen versöhnte und die von der Wirtschaft geforderte Zwangsrekrutierung polnischer Arbeitskräfte in ein Element wahrhaft nationalsozialistischer Germanisierungspolitik verwandelte. Die SS konnte sich damit der Zustimmung der Hardliner sicher sein, suggerierte sie doch mit der Vorlage eines den rassischen Prämissen der nationalsozialistischen Ideologie entsprechenden Programms deren Relevanz für die politische Praxis. Und für die SS wäre eine dauerhafte Durchsetzung dieser Politik einem Durchbruch von großer politischer Tragweite gleichgekommen. Da die rassischen Musterungen natürlich von sogenannten Eignungsprüfern des Rasse- und Siedlungshauptamtes durchzuführen waren, wäre die SS zu einem entscheidenden Akteur in der Arbeitskräftebewirtschaftung avanciert. Aus dieser Perspektive ist es nicht weiter verwunderlich, dass die nun benötigte Koordinierungsleistung nur noch in Berlin möglich schien, Streckenbach also seine Kompetenzen an die Planungsgruppe um Ehlich abgeben musste. Wenig erstaunlich ist aber auch, dass die komplexeren Anforderungen an die gesamte Deportations148 149 Ebenda. Ebenda. 147 politik die SS auch in einem stärkeren Maß auf die Kooperationsbereitschaft der Verwaltungschefs verwies. Die Konflikte mit Forsters Behörden mussten in dieser Hinsicht besonders abschreckend wirken und führten zu einer letzten geographischen Schwerpunktverlagerung: ins Wartheland. Erster Nahplan: Deportation der polnischen Elite Greiser hatte an seiner Bereitschaft zum brutalen Vorgehen nie einen Zweifel aufkommen lassen. Als er Hitler am 28. September 1939 seine Absichten vortrug, wo immer er es für richtig halte, »die polnische Intelligenz [zu liquidieren]«, zeigte sich dieser »sehr befriedigt« und bemängelte gleichzeitig Forsters Politik als »zu weich«, was gerade »auch gegenüber der Intelligenz […] ungut« sei.150 Mit dieser Rückversicherung nach Posen zurückgekehrt, wies Greiser seine Landräte an, »unter strengster Geheimhaltung Listen der Polenführer und polnischer Intelligenz – Pfarrer, Lehrer, Großgrundbesitzer, Kaufleute und Industrielle – anzulegen und mir auf dem Dienstwege unter ›Geheime Reichssache‹ an meine persönliche Adresse zuzuleiten«.151 Parallel zu der bis zum Ende des Jahres allmählich abebbenden Mordwelle begannen SS und Polizei in enger Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der neu installierten Zivilverwaltungen mit der lückenlosen Erfassung der einheimischen Bevölkerung. Die großangelegten Deportationen begannen im Wartheland etwas später als in Danzig-Westpreußen, standen aber mit den dortigen Entwicklungen in unmittelbarem Zusammenhang, hatte Himmler in dem Befehl vom 11. Oktober 1939 doch neben Gotenhafen auch Posen als neue Heimat für die Balten genannt.152 Und tatsächlich hatte der Chef der Gestapo, Heinrich Müller, den Chef der dort stationierten Einsatzgruppe VI, Erich Naumann, bereits zwei Tage vorher angewiesen, »ein gutes Stadtviertel von den Polen freizumachen« und einen Teil von ihnen ins Generalgouvernement abzuschieben, um 20000 BalEintragung für den 28. September 1939 in: Engel, Heeresadjutant bei Hitler, S. 63. 151 Greiser an die Landräte im Wartheland, betr. Richtlinien für den Verwaltungsaufbau in den Kreisen und Städten der Provinz Posen, Geheim, 29. September 1939, AGK NTN/11, Bl. 1f. 152 Himmler an u.a. Lorenz, Heydrich, Forster und Greiser, 11. Oktober 1939, NO-4613. 150 148 ten unterzubringen.153 Im Gegensatz zu Danzig-Westpreußen traf die SS in Greiser jedoch auf einen Gauleiter, der die Ansiedlung von »Volksdeutschen« in seinem Gau nicht nur tolerierte, sondern aktiv vorantrieb – nicht zuletzt in dem Gespräch mit Himmler und Sandberger Ende Oktober, das Letzteren schließlich dazu bewog, das Gros der Ansiedler nicht mehr nach Danzig-Westpreußen, sondern ins Wartheland umzuleiten.154 Die ersten Bemühungen für die Deportationen aus Posen zielten auf die Einrichtung eines Auffanglagers für die zu vertreibende Bevölkerung, das schließlich in Posen-Głowno entstand und bald 5000 Menschen fassen konnte.155 Die ersten Insassen waren Posener, die – ähnlich wie in Danzig-Westpreußen – entweder als politisch gefährlich galten oder aber der Ansiedlung der Balten im Wege standen. Die Selektionskriterien orientierten sich dann auch an den Berufen der Betroffenen. Für die 7500 erwarteten »Volksdeutschen« sollten 450 Familien vertrieben werden, deren Mitglieder Intelligenzberufe ausübten und über die »bereits negative Beurteilungen vorliegen«, sowie 300 Familien mit Angehörigen in der Stadtverwaltung. Offensichtlich fühlten sich die Deutschen aber durch die vorhergehenden Mordwellen bereits so sicher, dass die restlichen 1250 Familien sich ausschließlich aus Personen zusammensetzten, die in Industrie und Handel sowie im Handwerk tätig waren, also Wirtschaftssektoren, die möglichst schnell von den anreisenden »Volksdeutschen« besetzt werden sollten.156 Am 5. November 1939 wurden die ersten 217 von ihnen nach Głowno verschleppt.157 Völlig ungeklärt war zu diesem Zeitpunkt, wann die ersten Transporte aus dem Wartheland abgehen sollten, lag doch noch kein umfassender Plan zur Germanisierung der annektierten Gebiete vor. Dieser wurde – wie erwähnt – erstmals am 8. November in Krakau Müller an den Chef der Einsatzgruppe VI, SS-Oberführer Naumann, 9. Oktober 1939, AGK 687/29, Bl. 1. 154 Sandberger an Einwandererzentralstelle Gotenhafen, 26. Oktober 1939, BArch R 69/490, Bl. 17–19. 155 Siehe Damzog an Jäger, 26. Oktober 1939, BArch R 75/3b, Bl. 1. 156 Niederschrift der Besprechung beim Stadtkommissar Posen, 1. November 1939, AGK 687/29, Bl. 122f. 157 Vermerk des SD in Posen, gez. unleserlich, 8. November 1939, AGK 68/188, 3–10. Siehe auch Marczewski, »The Nazi Nationality Policy«, S. 35. Zu den Bedingungen in Głowno siehe Łuczak, Pod niemieckim jarzmem, S. 55. 153 149 Lagertor Głowno. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) 10327 Krankenbaracken und Gleisanschluss, Lager Głowno. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) 10327 150 Kinder im Lager Głowno. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) 10327 Im Innern einer Baracke, Lager Głowno. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) 10327 151 den angereisten Höheren SSund Polizeiführern vorgelegt. Und tatsächlich beschleunigten die dortigen Vereinbarungen die Ereignisse im Wartheland. Als Vertreter aus dem Wartheland hatte SS-Gruppenführer Walther Koppe teilgenommen, der mit Wirkung vom 26. Oktober zum Höheren SS- und Polizeiführer ernannt worden und in dieser Position spätestens ab dem 1. November 1939 auch Beauftragter Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums war.158 Nach Posen zurückgekehrt, schuf Koppe am 11. November 1939 zunächst MG-Turm Lager Głowno. die institutionellen Grundlagen Collection of Archive of Modern für die BevölkerungsverschieConflict (AMC) 10327 bungen:159 einerseits einen Stab für die örtliche und berufliche Unterbringung der Balten und Wolhynier, andererseits einen Stab für die Evakuierung und den Abtransport der Polen und Juden in das Generalgouvernement. Letzterer war – nach einer Umbenennung in »Der Höhere SS- und Polizeiführer, Amt für Umsiedlung von Polen und Juden« – die Vorläuferorganisation der späteren Umwandererzentralstelle sowie Schrittmacher für die weitere Deportationspolitik im Wartheland und stand unter der Leitung des Chefs des SDLeitabschnitts Posen, SS-Sturmbannführer Albert Rapp.160 Zu Koppes Person und dem Umständen seiner Ernennung und Amtseinführung siehe Klein, Die »Ghettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 134–137. 159 Anweisung Koppes, Geheim, 11. November 1939, AGK 69/5, Bl. 8. Am 4. Dezember 1939 wurde Koppes Position durch Greiser gestärkt, der ihn auch auf Staats- und Parteiebene zum Verantwortlichen für die Deportationen ernannte, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 12f. 160 Zum Personal siehe Aufstellung über die beim Evakuierungsstab beschäftigten Personen, gez. SS-Hauptscharführer Blenk, 12. Januar 1940, AGK 68/83, Bl. 2f. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 158 152 Am 12. November – die Zeit drängte, schließlich waren die ersten Transporte in Krakau auf den 15. November festgesetzt worden – hatte Rapp bereits einen Entwurf fertiggestellt,161 den Koppe sofort an alle beteiligten Stellen von SS und Polizei sowie Zivilverwaltung verschickte.162 Der Einschluss etwa der Landräte, Regierungspräsidenten und auch des Reichsstatthalters war nur deshalb möglich, weil Koppe nicht nur als Höherer Polizeiführer SS unterzeichnete, sondern hier zum ersten Mal die Kompetenzen als Vertreter Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums in Anspruch nahm. Wie Frick in einer nachträglichen Erläuterung an die Zivilverwaltungen in den annektierten Gebieten ausführte, waren die »fachlichen Weisungen des Reichsführers SS in dem bezeichneten Rahmen […] für Sie und alle Ihnen unterstehenden Verwaltungszweige bindend«.163 Der jeweilige Höhere Polizeiführer SS als Beauftragter Himmlers könne sich in diesem Rahmen auch der Abteilungen der Reichsstatthalterei und unterstellten Dienststellen bedienen, wobei bei Streitigkeiten allerdings der Reichsstatthalter entscheide. Dieser für die folgenden Deportationen grundlegende Befehl Koppes gab die Abfolge der Maßnahmen vor, benannte die Verantwortlichkeiten und machte vor allem auch Vorgaben über die Auswahl der zu deportierenden Menschen. Das Ziel der Deportationen war danach die »Säuberung und Sicherung« des annektierten Gebietes.164 Um dies zu erreichen, waren bis zum 28. Februar 1940 300000 Menschen zu vertreiben. Betreffen sollte dies 100000 Juden (also fast alle außerhalb Lodsch und Umgebung sowie 30000 Lodscher Juden) und 200000 Polen. Während jedoch der Einschluss der jüdischen Polen aus Sicht der deutschen Ethnokraten nicht weiter zu differenzieren war, da sie in jedem Fall zu deportieren waren, sah dies bei den christlichen Polen durchaus anders aus. In den Selektionsbestimmungen für diese Gruppe versuchte Koppe konfligierende Interessen zu versöhnen: Die Deportationen sollten erstens alle Polen erfassen, die politische Aktivisten, Entwurf Rapps, 12. November 1939, AGK 68/95, Bl. 4–7. Anweisung Koppes an Reichsstatthalter, Regierungspräsidenten, Oberbürgermeister, Landräte, Sicherheitspolizei, Ordnungspolizei, etc., Geheim, 12. November 1939, AGK 68/99, Bl. 1–5. 163 Frick an die Zivilverwaltungen in den annektierten Gebieten, 8. Dezember 1939, APP 406/3, Bl. 15–17, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 179f. 164 Anweisung Koppes, Geheim, 12. November 1939, AGK 68/99, Bl. 1–5. 161 162 153 Intellektuelle oder Kriminelle waren, zweitens Wohn- und Arbeitsplätze für die ankommenden ethnischen Deutschen bereitstellen und dabei, drittens, die Wirtschaft des Warthelands nicht in Mitleidenschaft ziehen. So sollten etwa »Arbeiter der Faust, kleine Angestellte und Beamte« als dringend benötigte Arbeitskräfte verschont werden, falls sie nicht »bewußte Nationalpolen […] oder kriminell vorbestraft« waren, während andererseits Handwerker bevorzugt zu deportieren waren, da diese Berufsgruppe unter den »Volksdeutschen« besonders stark vertreten war.165 Die Verantwortung der Deportationen wurde den Landräten übertragen, die jedoch bei der Selektion der Menschen zur Kooperation mit Rapps neuer Dienststelle verpflichtet wurden, die als »zentrale Planungsstelle und beratendes Organ« fungierte.166 Als Grundlage diente eine Übersicht über die ethnische, politische sowie die soziale und wirtschaftliche Struktur der Kreise, die die Landräte innerhalb einer Woche vorzulegen hatten. Damit diese Übersichten nicht sofort wieder an Aktualität einbüßten, untersagte Koppe Juden und Polen den Wohnungswechsel.167 In dem zweiseitigen Erhebungsbogen war die Bevölkerung getrennt nach »Deutschen«, Juden und Polen (unterschieden in Alteingesessene und Kongresspolen) anzugeben sowie die Mitgliederzahl der nationalen Verbände und Parteien, die Zahl der Kriminellen und die berufliche Struktur des Kreises (unterschieden in Arbeiter, Bauern, Intellektuelle).168 Wenige Tage später verschickte Rapp Ausführungsbestimmungen über die Selektion der polnischen, nichtjüdischen Bevölkerung: Zu erfassen waren zum einen die Angehörigen der Intelligenz, der allgemein alle Personen zugerechnet wurden, die ein »Hemmnis für Ebenda. Bericht Rapps, betr. zu Erfahrungen aus dem bisherigen Ablauf der Aktionen und Planungen für die zukünftigen Transporte, 18. Dezember 1939, SMR 500–1/88, Bl. 185–196, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 19–27. 167 In diesem Zusammenhang untersagte Koppe auch allen christlichen und jüdischen Polen den Wohnungswechsel, Bekanntmachung Koppes im Ostdeutschen Beobachter, 15. November 1939, AGK 68/4, Bl. 1. Da dies aus Sicht Koppes noch nicht ausreichte, verbot er am 16. Januar 1940 auch die Benutzung der Züge, Koppe an Regierungspräsidenten, 16. Januar 1940, AGK 68/4, Bl. 6. 168 Als Beispiel siehe Übersicht für den Kreis Krotoschin, undatiert, vermutlich jedoch um Mitte November 1939, AGK 68/237, Bl. 9f. 165 166 154 die Durchsetzung des Deutschtums in den einzelnen Kreisen darstellen«, weshalb auch die »Reihenfolge der Evakuierung […] nach dem Grad der Gefährlichkeit zu bestimmen« sei.169 Zu erfassen waren zum anderen alle »reichs- und deutschfeindlichen Polen« und hier vor allem die »nationalpolnischen Mitglieder der deutschfeindlichen, chauvinistischen und klassenkämpferischen Parteien«. Zu erfassen waren schließlich die »kriminellen Elemente« und diejenigen, die »als asozial anzusehen sind wie Arbeitsscheue, Bettler, Dirnen usw.«.170 Stärker als bisher in der Forschung angenommen, waren die Deportationen jedoch ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen Rapps Dienststelle, den lokal verantwortlichen Landräten und allgemein der Zivilverwaltung.171 So überprüfte die Posener Stadtverwaltung die übernommenen Beamten172 und der Oberlandesgerichtspräsident die einsitzenden Gefangenen,173 während das Staatsarchiv oder die Reichsbahn etwaige Zurückstellungen von kurzfristig nicht ersetzbaren Arbeitskräften mit Rapp absprachen.174 Neben den Auswirkungen auf den staatlichen Apparat war Rapp aber vor allem auch gezwungen, Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen zu nehmen. Auf einer großen Besprechung mit Vertretern der Reichsstatthalterei am 23. November 1939 sicherte Rapp zu, keine Landarbeiter zu deportieren – es sei denn, es handelte sich um politische Aktivisten.175 Das hieß aber nicht, dass sich die Reichsstatthalterei nicht darum bemühte, die Arbeitskraft dieser Menschen bis zu ihrer Abschiebung auszubeuten und sie etwa in den Abschiebelagern zur Zwangsarbeit heranzuziehen.176 Rundschreiben Rapps, Geheim, 16. November 1939, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 108f. 170 Ebenda. 171 Siehe dazu Pohl, »Die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland«, S. 402, der für das Wartheland die »nahezu einzigartige Symbiose der Verwaltung mit dem SS-Apparat« herausstellt. 172 Rapp an Stadtverwaltung Posen, 16. November 1939, AGK 68/144, Bl. 1f. 173 Oberlandesgerichtspräsident an Oberstaatsanwälte und Vollzugsanstalten, 21. November 1939, AGK 62/293, Bl. 4–6. 174 Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 170–172. 175 Unsignierte Niederschrift über das Treffen vom 23. November 1939, 25. November 1939, AGK 68/107, Bl. 17–35. 176 Siehe unsigniertes Schreiben der Reichsstatthalterei, Abteilung Wirtschaft und Arbeit, an die Regierungspräsidenten, 18. November 1939, AGK 62/ 334, Bl. 1f., und Riediger an Landräte, 27. November 1939, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 9f. 169 155 Ende November waren die Vorbereitungen zumindest so weit abgeschlossen, als dass die Landräte sowohl eine Übersicht über die Anzahl der abzuschiebenden Personen erstellt, als auch einen Teil von diesen bereits in eigens eingerichtete Durchgangslager verschleppt hatten. Dabei wurde deutlich, dass das in Krakau dem Wartheland zugewiesene Deportationskontingent von 200000 Polen und 100000 Juden bei weitem nicht ausreichen würde – gaben doch 29 von 41 Landkreisen an, bereits 400000 deportieren zu wollen.177 Spätestens zu diesem Zeitpunkt erfuhren die Ethnokraten im Wartheland auch von den Veränderungen in Berlin, das heißt von der Zentralisierung der weiteren Deportationsplanung sowie der Unterteilung der weiteren Deportationswellen in einen Fern- und mehrere Nahpläne, und erhielten die Anweisung für die Durchführung des ersten Nahplans. In dem Befehl vom 28. November 1939 befahl Heydrich, für die Ansiedlung von 40000 Balten »80000 Juden und Polen zur Freimachung in das Generalgouvernement« abzuschieben.178 Faktisch zwang Heydrichs Befehl zu einer Prioritätensetzung, also zu der Entscheidung, welche von den mindestens 400000 als »unerwünscht« geltenden Menschen zuerst zu deportieren waren. Leider ist diese Prioritätensetzung nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren – was angesichts der besonders dichten Quellenlage zu dieser ersten Deportationswelle erstaunt. Als die Deportationen am 1. Dezember 1939 planmäßig einsetzten und am 17. Dezember um einen Tag verspätet abgeschlossen wurden, dokumentierte der Stab Rapps zwar die Zahl der Transportzüge (80),179 ihren Zeitplan und die Abgangsorte,180 Vermerk Krumeys, 22. November 1939, abgedruckt in: Rutherford, Nazi Deportation Policy, S. 139. Auch wenn Rutherford dies nicht explizit angibt, so bezogen sich die 409 Transportzüge wohl auf die später genannte Aufstellung von 29 Landräten über 402000 Menschen, siehe etwa Rapps Abschlussbericht, 18. Dezember 1939, SMR 500-1/88, Bl. 185–196, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 22–31; Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 19–27, und die diesem Bericht angeheftete, nach Landkreisen gegliederte Übersicht, SMR 500-1/88, Bl. 197f. 178 Heydrich an HSSPF und IdS in Posen, sowie HSSPF und BdS in Krakau, 28. November 1939, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 18. 179 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. 180 Undatierte und unsignierte Übersicht über die Deportationstransporte im Rahmen des ersten Nahplanes, wahrscheinlich Ende Dezember 1939/ Anfang Januar 1940, AGK 68/208, Bl. 20–23. 177 156 die Gesamtzahl der verschleppten Menschen (87883)181 und oft auch die Namen der Einzelpersonen.182 Weniger klar ist jedoch, nach welchen Kriterien die Menschen ausgesucht wurden, ob also die Landräte Himmlers Anweisungen vom 30. Oktober 1939 gefolgt waren und vor allem Juden und Kongresspolen erfasst hatten. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass auch jede Übersicht fehlt, wie viele der Deportierten Juden waren,183 zumal die Nationalsozialisten auf die Unterscheidung zwischen »Nicht-Juden« und »Juden« im Allgemeinen sehr wohl bestanden und diese Trennung in den weiteren Deportationswellen auch dokumentierten. In der jüngeren Forschung gibt es zu dieser Frage die unterschiedlichsten Positionen. So vermutet etwa Alberti, daß die Mehrzahl der fast 90000 im Zuge des ersten Nahplans deportierten Menschen Juden gewesen sein müssen, während Christopher Browning das Gegenteil annimmt und von weniger als 10000 ausgeht.184 Wenn also auch keine Deportationslisten überliefert sind, so kann man sich der Identität der Deportierten doch über die Rekonstruk- Rapp, betr. Erfahrungsbericht über die Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, 26. Januar 1940, NTN/13, Bl. 39–50, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 46–57. Nach Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 137, kommen zu dieser Zahl noch weitere ca. 30000 Menschen, die Opfer lokal organisierter Vertreibungen wurden. 182 Unsignierte handschriftliche Liste mit den Namen, Adressen und Berufen der am 14. Dezember aus Posen deportierten Menschen. 183 Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 259. 184 Browning, »From Ethnic ›Cleaning‹ to Genocide«, S. 9. Das wären weniger als die 16000, die nach Alberti allein zwischen dem 2. und 15. Dezember 1939 aus Kalisch deportiert worden sein sollen, Alberti, »Exerzierplatz des Nationalsozialismus«, S. 134f. Alberti stützt sich dabei vor allem auf Golczewski, »Polen«, S. 428f., der diese Zahlen wiederum vor allem polnischer Literatur entnommen hat. Tatsächlich führt die Aufstellung Kleinmanns über die im Rahmen des ersten Nahplans aus Kalisch Deportierten jedoch »nur« 8000 Personen auf, ohne weiter darauf einzugehen, ob es sich bei ihnen um Juden oder Christen gehandelt hat, Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BAB R 49/2791, ohne Seitenangabe. Diese Angaben werden von einer undatierten und unsignierten kreisweisen Übersicht für die Deportationen bis einschließlich dem dritten Nahplan bestätigt, für die Kalisch für den ersten Nahplan eine Zahl von 8350 Personen angibt, AGK 62/76, Bl. 5. Ähnlich wie Alberti argumentierte bereits Łuczak, Pod niemieckim jarzmem, S. 56. Die neueste Untersuchung zum Thema unterstützt wiederum Brownings These, siehe Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 156f. 181 157 tion der Selektionskriterien annähern. In den Quellen tauchen immer wieder Bemerkungen auf, aus denen die Zielsetzung dieser Deportationen erschlossen werden kann. So sprach Rapp in seinem Erfahrungsbericht zum ersten Nahplan, dass vor allem diejenigen deportiert worden waren, »die eine unmittelbare Gefahr für das Deutschtum darstellen«,185 während ein zusammenfassender Bericht aus dem Jahr 1942 nicht weniger vage als Ziel des ersten Nahplans die »Aussiedlung der politisch führenden Intelligenz und teilweise Juden« bezeichnete.186 Konkreter wurde SS-Hauptscharführer Siegfried Seidl fünf Wochen nach Abschluss des ersten Nahplans bei einem Report in Eichmanns Referat, als er diesem mitteilte, dass »bisher nur politisch Vorbelastete und Leute mit guten Wohnungen [evakuiert wurden], damit Platz für die Baltendeutschen geschaffen würde«.187 Juden erwähnte er nicht. Wie sehr der erste Nahplan auf diejenigen zielte, die entweder der gesellschaftliche Elite angehörten oder aber – und dies fiel natürlich oft zusammen – gute Wohnungen besaßen, also eher einer sicherheitspolizeilichen und pragmatischen Logik folgte, verdeutlicht aber auch die Behandlung der Kongresspolen. Diese neben den Juden immer an erster Stelle genannte Gruppe der vorrangig zu Deportierenden wurde ebenfalls ausgespart. Wie Seidl Eichmann mitteilte, seien diese nämlich in der Regel »nur einfache Arbeiter«, verfügten also weder über »gute Wohnungen […] für die Baltendeutschen« und seien zudem »zum Teil unabkömmlich gestellt«.188 Für viele jüdische Polen mag Ähnliches gegolten haben. Tatsächlich ist nur ein einziger Fall dokumentiert, bei dem jüdische Polen deportiert wurden – und dieser verweist sogar eher auf Unsignierter Erfahrungsbericht, betr. Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, vermutlich Rapp, 26. Januar 1940, AGK 68/208, Bl. 1–12. 186 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht, betr. Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Bessarabiendeutschen (3. NP) vom 21. 1. 1941 bis 20. 1. 42 im Wartheland, AGK NTN/13, Bl. 99–106, abgedruckt in: Biueltyn 21, S. 106–110. 187 Vermerk Seidls über die Besprechung mit Eichmann, SS-Hauptsturmführer Günther, Dr. Erich Rajakowitsch am 22. und 23. Januar 1940 in Berlin, 25. Januar 1940, AGK 68/107, Bl. 44, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 44f. Seidl war ein ehemaliges Mitglied der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, der ab Mitte Januar 1940 zur Dienststelle Rapp versetzt worden war. 188 Ebenda. 185 158 die Nachrangigkeit der Deportation der jüdischen Bevölkerung. Nachdem erst Ende November 1939 die Entscheidung getroffen wurde, auch Lodsch in die Deportationen einzubeziehen, wurde ein Mitarbeiter Rapps, SS-Sturmbannführer Heinz Richter, dorthin entsandt. In Lodsch angekommen, musste er feststellen, dass die Proskriptionslisten fehlten, weil – so der Stadtkommissar Franz Schiffer – noch immer »alles durcheinanderginge« und er auch vom Polizeipräsidenten nicht unterstützt werde.189 Als kurzfristige Lösung schlug Schiffer stattdessen vor, »jüdisches Proletariat« zu vertreiben – da sei schließlich jede Selektion überflüssig. Wenig Hilfe erhielt Richter auch von der SD-Außenstelle, die angeblich die polnische Intelligenz der Stadt zwar erfasst und an die Gestapo gemeldet hätte – diese Liste sei aber seitdem nicht wieder aufzufinden.190 Eine von der Gestapo hastig zusammengestellte neue Übersicht sollte sich ebenfalls als wenig hilfreich erweisen. Sie umfasste zwar 3000 Personen, doch stellte sich bald heraus, dass ein Drittel nicht mehr unter der angegebenen Adresse aufzufinden und ein weiterer Teil »sogar Volksdeutsche in führender Stellung« waren, sodass die Polizei schließlich nur 2600 politische Aktivisten mitsamt Familien in das Durchgangslager verschleppen konnte. Die ursprünglich vorgesehene Deportation von 15000 in »erster Linie […] politisch verdächtige[r] und intellektuelle[r] Polen« war damit jedenfalls unmöglich geworden. Richter schloss sich also dem Vorschlag des Polizeipräsidenten Litzmannstadt, Johannes Schäfer, an: »Um die Zahl von 15000 Personen aufzufüllen, musste daher auf Juden zurückgegriffen werden.«191 Nachdem vorher offensichtlich überhaupt keine Anstalten gemacht worden waren, einen Teil der jüdischen Bevölkerung für die ersten Transporte zu bestimmen, wandten sich die Besatzer nun hastig an den Ältestenrat »zwecks freiwilliger Stellung von auswanderungswilligen Juden«.192 Und erst als sich nur 1000 Personen meldeten, umstellte die Polizei ganze Häuserblöcke und veranstaltete nach Zeugenberichten eine regelrechte »Treibjagd« auf die dortige Undatierter Bericht Richters über seine Gespräche in Lodsch am 30. November 1939, AGK 68/218, Bl. 13f. 190 Ebenda. 191 Richters Bericht über die in Lodsch vom 12. bis zum 16. Dezember durchgeführten Deportationen, 16. Dezember 1939, AGK 68/218, Bl. 27–35. 192 Ebenda. 189 159 jüdische Bevölkerung.193 Wie viele jüdische Lodscher von diesen Abschiebungen betroffen waren, ist jedoch unklar. In dem Bericht Richters, der vor allem als Entschuldigung für das Versagen von Gestapo und Sicherheitsdienst (SD) zu lesen ist, wird allein die Stadtverwaltung dafür verantwortlich gemacht, die es unterlassen habe, die Menschen vor ihrer Deportation zu registrieren; deshalb könne nicht einmal eine genaue Gesamtzahl angegeben werden: Während die Stadtverwaltung von 8400 ausgehe, schätzten SS und Polizei die Zahl auf 9600 bis 9900. Da nicht mehr als 9000 Juden festgenommen worden waren, erscheint es aber fraglich, ob diese überhaupt alle ins Generalgouvernement verschleppt wurden. Schließlich wurden die aus politischen Gründen Inhaftierten sicherlich zuerst abgeschoben, zumal die Razzien zur Festnahme von Juden erst in der Nacht zum 15. Dezember einsetzten. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber bereits fünf von insgesamt zehn Transporten Lodsch verlassen, und keiner sollte mehr als 1000 Personen aufnehmen.194 Wenn Juden in den abschließenden Deportationsberichten zum ersten Nahplan nicht eigens aufgeführt wurden, dann also deshalb, weil fast keine Juden deportiert wurden – bis auf die »Notlösung« in Lodsch. Warum jedoch selbst die – bis auf den internen Bericht Richters – nicht erwähnt werden, hat bereits Browning zu erklären versucht: Ihre Deportation zeugte nicht »von einem Erfolg, Juden zu deportieren, sondern vom Versagen, polnische politische Aktivisten und Intellektuelle zu identifizieren und festzunehmen« und wurde deshalb lieber nicht eigens in der Statistik aufgeführt.195 Belegen bereits die Deportationen in Lodsch, wie wichtig den Ethnokraten im Wartheland die vorrangige Deportation der politischen Aktivisten gewesen ist, wird dieser Eindruck durch einen Blick auf die Abwicklung der Deportationen in Posen noch weiter verstärkt. Dort war die Erfassung nicht wie im restlichen Wartheland von den Behörden der inneren Verwaltung, sondern dem Volkstumsreferenten des SD-Leitabschnitts Posen, SS-Untersturmführer Herbert Strickner, durchgeführt worden,196 der hierzu ein Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 135. Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. 195 Browning, »From Ethnic ›Cleaning‹ to Genocide«, S. 9f. [Übers. G.W.]. 196 Rapp an Koppe, Damzog, etc., 7. Dezember 1939, AGK 68/74, Bl. 1f. Nach Ablauf der ersten Deportationswelle wurde die Kartenstelle der Stadt end193 194 160 komplexes Karteikartensystem anlegte, das bald zur »Lehr- und Prüfungszentrale für das gesamte Erfassungswesen« avancierte.197 Zunächst wurden die »Angehörigen der führenden chauvinistischen polnischen Parteien und Verbände« in der Zentralkartei des SDLeitabschnitts erfasst198 und dann von diesen bald mehr als 100000 Personen199 diejenigen ausgewählt, »die […] Lebensstellungen innehatten, die unmittelbar durch Deutsche (besonders Balten und Wolhynier) besetzt werden mussten«.200 Anschließend wurden die Namen mit der »Volksdeutschen Kartei«, der »Rückstellungskartei« und der »Ukrainer- und Russenkartei« abgeglichen, um diejenigen auszuschließen, die entweder als »Stammesdeutsche[n] und Volksdeutsche[n]« galten, als Arbeitskräfte unverzichtbar oder keine Polen waren. Zuletzt wurde die »Evakuiertenkartei« erstellt, die nach Straßenzügen und hier jeweils nach sehr guter, mittlerer und schlechter Wohnung sortiert war.201 Wie Rapp in seinem Erfahrungsbericht behauptete, orientierten sich die Selektionen an »der Planung für die Baltenansiedlung«: Opfer dieser Deportationen wurde also nicht in erster Linie die nach 1920 zugezogene polnische oder verbliebene jüdische Bevölkerung, sondern die polnische Elite – gestaffelt nach Beruf und der Qualität ihrer Wohnung.202 gültig an den SD übergeben, Stadtverwaltung an Rapp, 19. Dezember 1939, AGK 68/100, Bl. 1. 197 Rapp, betr. Erfahrungsbericht über die Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, 26. Januar 1940, NTN/13, Bl. 39–50, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 46–57. 198 Ebenda. 199 Undatierter Bericht Strickners über Entstehung und Entwicklung der DVL, wahrscheinlich im November 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 19–130, hier S. 53. 200 Rapp, betr. Erfahrungsbericht über die Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, 26. Januar 1940, NTN/13, Bl. 39–50, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 46–57. 201 Ein Mitarbeiter im Stab Rapp und Leiter der Zentralkartei, SS-Hauptscharführer Blenk, an Rapp, 20. Januar 1940, AGK, 68/7, Bl. 10–13. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Solche Listen finden sich unter APP 834/10, Bl. 122–313. 202 Rapp, betr. Erfahrungsbericht über die Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, 26. Januar 1940, NTN/13, Bl. 39–50, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 46–57. 161 Diese Fixierung auf die gesellschaftliche Elite Polens verschonte einerseits Kongresspolen und – vorübergehend – Juden vor ihrer Deportation. Sie verschonte aber nicht notwendigerweise Menschen, die ansonsten als »Volksdeutsche« galten. Unmittelbar nach Beginn der Deportationen hatte die Reichsstatthalterei den SD zwar gebeten, diejenigen auszunehmen, bei denen »irgendwelche äusseren Merkmale (deutsche Namen, fliessende deutsche Sprache, Bürgschaft von Volksdeutschen für die deutsche Volkszugehörigkeit) […] sprechen«.203 In Posen selbst war ein Abgleich mit der aufgebauten »Volksdeutschen«-Kartei deshalb auch zur Routine geworden. Anders als von der Zivilverwaltung gefordert, wurden die Schwerpunkte jedoch zuweilen abweichend gesetzt. Strickner war aufgegeben worden, »Volksdeutsche« und »Personen deutschen Blutes« auszunehmen – allerdings nur, wenn es sich um »politisch nichtbelastete Personen« handelte.204 Und tatsächlich wurde in Posen wie auch in den Landkreisen im Zweifelsfall eher für die Abschiebung eines politischen Gegners als für die Verschonung von »Personen deutschen Blutes« votiert – oder für »Deutschstämmige«, wie der Terminus bald hieß, weil das mit den Nürnberger Gesetzen etablierte »deutschblütig« in der deutschen Rechtsprechung lediglich die Abgrenzung der Juden meinte und nun ein neuer Begriff notwendig geworden war, »um […] die Personen deutscher Abstammung von denen polnischer […] zu unterscheiden«.205 So ist etwa in einem Erfahrungsbericht über die Deportationen im Landkreis Schrimm zu lesen: »Bei Auswahl der zu evakuierenden Personen ist weniger Rücksicht auf die Deutschstämmigkeit dieser Personen genommen worden, als auf ihre Einstellung zum Deutschtum gegenüber.«206 Coulon an Rapp, 4. Dezember 1939, AGK 68/159, Bl. 5. Rapp an Koppe, Damzog, Stadtkommissar Posen, 7. Dezember 1939, AGK 68/74, Bl. 1f. 205 Undatierter Bericht Strickners über die Deutsche Volksliste in Polen, vermutlich Ende 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 87. Siehe ausführlicher auch Jürgen Arndts Denkschrift zum Begriff der Deutschstämmigkeit in Abgrenzung zu den Begriffen »deutsches« oder »artverwandtes Blut«, »deutschblütig«, »stammesgleich«, »volksdeutsch«, 26. August 1942, BArch R 186/35, ohne Seitenangabe. 206 Erfahrungsbericht des Landrats Schrimm, gez. i. A. Mattern, 22. März, 1940, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 121f. 203 204 162 Empört über dieses Verfahren, wandten sich viele deutsche Staatsangehörige an das Reichssicherheitshauptamt und protestierten gegen die Deportation ihrer Verwandten, die schließlich im Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft hätten, ausgezeichnet worden waren und natürlich »Deutsche« seien. Nach der Überprüfung einiger solcher Fälle wurde die Dienststelle in Posen verwarnt und zu einer sorgfältigeren Prüfung angehalten.207 Rapps Verteidigung zeigt die Aporien, in denen sich die deutschen Ethnokraten verstrickt hatten: In Ermangelung einer »Reichsanweisung« habe man die Bedeutung der Begriffe »stammesdeutsch« und »volksdeutsch« in der eigenen Dienststelle selbst vornehmen müssen. Danach waren bei »den Stammesdeutschen die blutsmäßige Zugehörigkeit und […] den Volksdeutschen das Bekenntnis zum Deutschtum während der letzten 20 Jahre« entscheidend. Das »Bekenntnis zum Deutschtum« wurde dabei »außerordentlich weit gefaßt« und umfasste nicht nur etwa eine Familie, die »sich öffentlich für das Deutschtum eingesetzt, deutschen Organisationen angehört oder ihre Kinder in deutsche Schulen geschickt hatte«; es »genügte« vielmehr, dass sie »bewußt deutsch geblieben war«. Schwieriger sei da schon die Bestimmung der »Deutschstämmigkeit bei denjenigen [gefallen], die nicht gleichzeitig als Volksdeutsche im oben erwähnten Sinne anzusprechen waren«, zumal Rapp zu melden wusste, dass »gerade die deutschstämmigen Polen die – z.T. führenden – Träger der grosspolnischen deutschfeindlichen Arbeit waren«.208 Und bei diesen Personen ging aus Rapps Perspektive die sicherheitspolitische Gefährdung vor ideologisch bestimmter Zugehörigkeit – die deutschen Behörden im Wartheland gingen jedenfalls von mehreren tausend »Deutschstämmigen« aus, die ins Generalgouvernement deportiert worden waren.209 Unsigniertes Schreiben des Amtes IV RSHA, wahrscheinlich Eichmann, an IdS Posen, 29. Dezember 1939, AGK 68/159, Bl. 6f. 208 Rapp, betr. Erfahrungsbericht über die Umsiedlung von Polen und Juden aus dem Wartheland, 26. Januar 1940, NTN/13, Bl. 39–50, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 46–57. 209 Rücksprache SS-Sturmbannführers Schmidt mit dem Chef des Polizeiregiments Warschau, Oberst Brenner, und SS-Standartenführer Meisinger vom 8. Januar 1940, die jedoch beide verneinten, dass die Beschwerden durch sie erfolgt seien, 10. Januar 1940, AGK 68/253, Bl. 1f. 207 163 Für diese Konzentration auf die politische Elite der polnischen Gesellschaft gibt es natürlich gute Gründe. Die deutschen Besatzungsbehörden waren in erster Linie ebendas: Besatzer, und mussten deshalb im eigenen Interesse zunächst die machtpolitischen Grundlagen für die eigene Herrschaft in diesen Gebieten legen, bevor weitergehende Pläne verwirklicht werden konnten. Die Deportation vor allem von Personen, die als sicherheitspolizeiliches Risiko eingestuft wurden, war also aus deutscher Perspektive nur konsequent und gewissermaßen die Fortsetzung der Mordaktionen der ersten Monate mit anderen Mitteln. Dieser Umstand wird in Befehlen, Berichten und Denkschriften um den ersten Nahplan sowohl vonseiten des SS-Komplexes wie auch der zivilen Verwaltung wiederholt genannt. Das entscheidende und stereotyp wiederholte Schlagwort ist dabei das von der notwendigen »Sicherung und Säuberung« der Provinz, die allenfalls noch zu ergänzen sei durch die Schaffung von – wahlweise – »Wohn- und Arbeitsräumen« oder »Unterkunfts- und Erwerbsmöglichkeiten« für die anzusiedelnden »Volksdeutschen«.210 Mochten die Anordnungen von Himmler und Heydrich noch so sehr auf die Durchsetzung ideologischer Selektionskriterien pochen, die Ethnokraten im Wartheland optierten dagegen: Deportiert wurden nicht Juden und Kongresspolen, sondern die potentiellen Gegner der deutschen Besatzung – vor allem dann, wenn sie über gute Wohnungen oder Berufe verfügten. Selbst »Deutschstämmige« waren davon nicht ausgenommen. Sicherheitspolitische und wirtschaftliche Erwägungen hatten hier ganz offensichtlich Vorrang vor ideologischen. 210 Siehe Rapps erster Entwurf zum Befehl Koppes vom 12. Dezember 1939, 10. Dezember 1939, AGK 68/95, Bl. 8–14, oder etwa Coulons Entwurf eines Berichts an das Reichsinnenministerium, 9. Februar 1940, AGK 62/ 297, Bl. 83–90. 164 Einbindung der zuverlässigen »deutschen Volkszugehörigen« Im Einklang mit einem großen Teil der historischen Forschung wäre durchaus anzunehmen, dass nationalsozialistische Bevölkerungspolitik – so etwa Jerzy Marczewski – vor allem Exklusionspolitik war, wie die im vorigen Kapitel bereits beschriebenen Mordwellen und Deportationen belegen.211 Im Folgenden geht es mir um den Beweis des Gegenteils, dem Nachweis also, dass die Germanisierungspolitik der Besatzer zumindest im gleichen Maße auch auf Inklusion setzte – und zwar nicht nur der etwa in deutschen Vereinen organisierten »Volksdeutschen«, sondern bald eines immer größeren Teils der einheimischen Bevölkerung. Wenn also aus Sicht der Deutschen die Germanisierung der annektierten polnischen Gebiete einer Kombination aus gewissermaßen »negativen« und »positiven« bevölkerungspolitischen Maßnahmen bedurfte, mag es auch wenig verwundern, dass die Kriterien, nach denen Menschen als »deutsch« oder »eindeutschbar« galten, denen nicht so unähnlich waren, die über die Deportation von »Polen« entschieden, also vor allem einer herrschaftsfunktionalen Logik folgten. Initiativen in den einzelnen Provinzen Schlesien In Schlesien kam die Erfassung der »volksdeutschen« Bevölkerung nur allmählich in Gang. Dies lag zum einen daran, dass Schlesien im Gegensatz zu den beiden anderen Ostprovinzen zunächst nicht als Aufnahmeland für die aus dem Baltikum anreisenden ethnischen Deutschen in Betracht gezogen worden war. Zum anderen bestand aber noch immer keine Klarheit über den endgültigen Verlauf der Ostgrenze. Nach wie vor wehrte sich Wagner gegen die aus wirtschaftlichen Gründen beschlossene Erweiterung seiner Provinz etwa um die Industrieregion D˛abrowa, da er fürchtete,212 dass die 211 212 Marczewski, »The Nazi Nationality Policy«, S. 33. Drozdowski, Górny Śl˛ask, S. 73. Siehe auch Ehrlich, Between Germany and Poland, S. 39. 165 dortige fast ausschließlich polnische Bevölkerung die Germanisierung Schlesiens weiter erschweren würde.213 Diese Auseinandersetzung strukturierte nicht nur die anfängliche Deportationsplanung, sondern führte auch zu einer zunächst sehr zögerlichen Erfassung der einheimischen Bevölkerung.214 Danzig-Westpreußen Ganz anders stellte sich die Situation in Danzig-Westpreußen dar, das bereits frühzeitig zu einem Zentrum der Mordaktionen des »Volksdeutschen Selbstschutzes« und mit der Anlandung der Balten und dem Abbruch der Nisko-Aktion bald auch zum neuen Deportationsschwerpunkt geworden war. Dies blieb auch der einheimischen Bevölkerung nicht verborgen, die sich – wie im Landkreis Bromberg – aus Angst vor SS und Polizei frühzeitig mit der Bitte an den Landrat Walther Nethe wandte, sogenannte »Volkdeutschen«Ausweise auszugeben. Nethe sah sich dazu außerstande und übertrug diese Aufgabe am 6. Oktober 1939 an die ihm unterstehenden und mit den lokalen Verhältnissen besser vertrauten Bürgermeister und Amtskommissare.215 Der Landrat des benachbarten Kreises Dirschau ging eine Woche später einen Schritt weiter und wies seine Amtskommissare und Bürgermeister zur Selektion der Bevölkerung an. Wie überall in Danzig-Westpreußen, wurde die Bevölkerung in vier Gruppen sortiert: »Volksdeutsche«, Juden und Polen, wobei Letztere noch einmal getrennt wurden in die bereits vor 1918 hier ansässigen »Einheimischen« und die Zuwanderer aus »Kongresspolen und Galizien«. »Volksdeutsche« waren jene, »die sich offen als Deutsche bekannt Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 111–113; Wagner an RMI, 2. Februar 1940, mit der Bitte, die Grenze zurückzuverlegen. Siehe auch Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 143. 214 Noch am 24. Februar 1940 hatte es ein Treffen bei Stuckart gegeben, auf dem sich die Versammelten darauf einigten, die Grenze tatsächlich zurückzuverlegen. Göring, der nicht anwesend war, hatte angeblich nichts dagegen, solange nur das Industriegebiet nicht auseinandergerissen würde, Stuckart an Himmler, Heß und Göring, 8. Februar 1940, NG-3750 und unsigniertes Schreiben des Oberpräsidiums in Breslau an das Reichsinnenministerium, 2. März 1940, BArch R 43 II/647b, Bl. 38–40. 215 Personalakten des Reichsinnenministeriums unter SMR 720–5/6930 u. SMR 720–5/6931. Zu dem Beginn der Erfassung siehe Nethe an Amtskommissare und Bürgermeister, 6. Oktober 1939, APB 9/2, Bl. 1. 213 166 und sich für ihr Deutschtum eingesetzt« hatten, während andererseits Einheimische, die sich »aktiv an der Bekämpfung des Deutschtums beteiligt« hatten, zur Gruppe der Zuwanderer gezählt wurden.216 Die sicherheitspolizeiliche Logik dieses Vorgehens ist offensichtlich: Erstens bestand der ursprüngliche Anlass dieser Anweisung nicht in der möglichst schnellen Registrierung aller »Volksdeutschen«, sondern in der zunächst als wichtiger erachteten Erfassung der feindlichen Bevölkerung. Die Registrierung der »Volksdeutschen« wurde vor allem deshalb als notwendig erachtet, um zu verhindern, dass sie »von Maßnahmen betroffen werden, die nur für Polen und Juden wirksam werden sollen«.217 Zweitens zielten die schließlich gefundenen Kriterien, nach denen sowohl die zu vertreibenden »Polen« wie auch die zu privilegierenden »Volksdeutschen« zu selektieren waren, vor allem auf eins: ihr (politisches) Verhalten. Hatten bereits die Massenmordaktionen der ersten Monate und die anschließenden Deportationswellen insbesondere jene Personen ins Visier genommen, die in polnischen Parteien oder Verbänden organisiert waren und deshalb als besonders gefährlich galten, so folgte das geforderte »Bekenntnis zum Deutschtum« der gleichen Überlegung: »Deutscher« war, auf wen die deutsche Besatzungsverwaltung zählen konnte, und hierunter fielen insbesondere die Mitglieder von Organisationen der deutschen Minderheit. Für die erste Volkszählung in Danzig-Westpreußen, die zwischen dem 3. und 6. Dezember 1939 stattfand, wurden diese Selektionskriterien übernommen und die einheimische Bevölkerung in vier Gruppen getrennt: »Volksdeutsche«, »einheimische« oder »zugewanderte« Polen und Juden. Einrichtung der Deutschen Volksliste im Wartheland Am deutlichsten zeigte sich die Dominanz des sicherheitspolizeilichen Paradigmas aber mit der Gründung der Deutschen Volksliste (DVL) im Wartheland. Auch hier hatte die Selektion der einheimischen Bevölkerung durch die Zivilverwaltung mit der Erfassung und Ausschaltung der tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Landrat Dirschau an Bürgermeister und Amtskommissare des Kreises [Hervorhebung im Original, G.W.], 14. Oktober 1939, AGK NTN/200, Bl. 111–113. 217 Ebenda. 216 167 Gegner begonnen.218 Doch schon bald wurde auch die Erfassung der »Volksdeutschen« vorbereitet. Im Zentrum dieser Bemühungen stand der Jurist Dr. Karl Albert Coulon, Politik- und Volkstumsreferent des Reichsstatthalters und in dieser Funktion auch Chef des Gaugrenzlandamtes.219 Im März 1906 geboren, war er bereits 1926 während seines Studiums der NSDAP beigetreten und hatte anschließend unter anderem bei der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP in Hamburg gearbeitet – konnte auf dem Feld der Volkstumspolitik also bereits Erfahrung vorweisen.220 Am 16. Oktober 1939 in Posen angekommen, begann er – nach eigenen Angaben – nur drei Tage später mit den Vorarbeiten für die Deutsche Volksliste.221 Sein Arbeitsumfeld sollte ihm diese Aufgabe erleichtern. Vor allem in dem Volkstumsreferenten des SD-Leitabschnitts, Herbert Strickner, traf er auf einen Gesinnungsgenossen, der Coulons ideologische Vorstellungen teilte und – über alle institutionellen Grenzen hinweg – zu einem engen Mitarbeiter avancierte, der auch wichtige Funktionen innerhalb der DVL-Dienststellen übernahm.222 Die Kooperation des SD-Leitabschnitts verwundert freilich wenig, bereitete man sich dort doch auf die kommenden Deportationen vor und hatte gerade mit dem Aufbau einer Volkstumskartei begonnen, um die Einbeziehung von politisch unbelasteten »Volksdeutschen« zu vermeiden. Die Ausgangssituation, die Coulon und Strickner in Posen vorfanden, war in der Perspektive beider Ethnokraten unbefriedigend. So schrieb Strickner in einem umfangreichen Bericht über die TätigSiehe etwa Greisers Schreiben an die Landräte im Wartheland, betr. Richtlinien für den Verwaltungsaufbau in den Kreisen und Städten der Provinz Posen, Geheim, 29. September 1939, AGK NTN/11, Bl. 1f. 219 Geschäftsverteilungsplan der Reichsstatthalterei im Wartheland, 15. Dezember 1939, APP 406/82, Bl. 1–53, undatierter Geschäftsverteilungsplan der Gauleitung Wartheland, wahrscheinlich Ende 1939, APP 406/2, Bl. 50–52. 220 BArch, BDC, OPG- und PK-Akte Karl Albert Coulon. 221 Bericht Coulons über Verlauf und Abschluss des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. 222 Es gibt freilich keinen Hinweis darauf, dass – wie Richard J. Evans behauptet – »die SS-Führung im Wartheland Gauleiter Greiser überzeugte, eine Deutsche Volksliste einzurichten«, Evans, The Third Reich, S. 31. Die Initiative scheint vielmehr umgekehrt von Greiser ausgegangen zu sein. Ähnlich irreführend auch Burleigh, The Third Reich, S. 449f. 218 168 keit der Deutschen Volksliste, dass bei Einmarsch der deutschen Truppen die größte politische Organisation der deutschen Minderheit in Großpolen, die Deutsche Vereinigung, bereits mit einer abgestuften Registrierung der »volksdeutschen« Bevölkerung begonnen habe.223 Die Deutsche Vereinigung stellte drei verschiedene Bescheinigungen aus: Während diejenigen, die vor dem 1. September 1939 Mitglieder deutscher Organisationen waren, Anspruch auf Bescheinigung A hatten, mussten sich jene, die zwar »deutschstämmig« waren, sich aber »aus wirtschaftlichen Gründen nicht zum Deutschtum bekennen«, mit Bescheinigung B begnügen. Personen, auf die beides nicht zutraf, die aber als »loyale Polen« galten, konnten sich lediglich um Bescheinigung C bewerben. Die deutschen Besatzer kritisierten jedoch nicht nur, dass die Deutsche Vereinigung vor allem die Bescheinigung B angeblich »außerordentlich grosszügig« ausgegeben hatte, sondern dass ähnliche Volkstumsbescheide auch noch von einer Reihe anderer Organisationen ausgegeben worden waren; Ende Oktober belief sich die Anzahl auf 40000.224 Aus Sicht der deutschen Besatzer war dieser Zustand inakzeptabel. Die – so die Objektivität suggerierende Sprachregelung – »Feststellung der Volkszugehörigkeit« musste den einheimischen »Volksdeutschen« entrissen und in eine staatliche, also »reichsdeutsche« Regie überführt werden, stellte sie doch den ersten Schritt in der Germanisierung der neu eingerichteten Provinzen dar. Die Deutsche Volksliste wurde durch einen Erlass Greisers am 28. Oktober 1939 eingerichtet – das heißt zu einem Zeitpunkt, als in den anderen Provinzen mit diesen Fragen noch auf Landkreisebene experimentiert wurde und weder von den jeweiligen Gauleitern noch aus dem Reichsinnenministerium verbindliche Anweisungen vorlagen. Dieser frühe Zeitpunkt mag Anzeichen für die Bedeutung sein, die Greiser und seine Beamten dieser Aufgabe beimaßen. Sicherlich wurde sie aber auch durch die bereits erwähnte Zusage Himmlers befördert, einen großen Teil der Balten ins Wartheland Undatierter Bericht Strickners über Entstehung und Entwicklung der DVL, wahrscheinlich im November 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 38. Die Aussagen Strickners sind jedoch vorsichtig zu bewerten, da sie oftmals seine Rolle wie auch die seiner Dienststelle nachweislich mehr Gewicht beimessen, als ihnen zukam. 224 Undatierter Bericht Strickners über Entstehung und Entwicklung der DVL, wahrscheinlich im November 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), hier S. 38. 223 169 umzuleiten: Der wahrscheinlich ohnehin präferierte harte Kurs mit dem Ziel möglichst umfassender Deportationen der einheimischen Bevölkerung schien nun möglich, die »laufende[n] Transporte von Balten nach Posen« würden Ersatz schaffen.225 Es galt also, möglichst schnell diejenigen Einheimischen zu registrieren, die als »Volksdeutsche« vor diesen Deportationen zu bewahren waren. Kompromisse, wie sie in den beiden anderen Provinzen mit dem Verweis auf die angeblich dort lebende »Zwischenschicht« gemacht wurden, schienen hier nicht nötig. Die Deutsche Volksliste sollte die Volkstumszugehörigkeit der Antragsteller möglichst schnell, in einem einheitlich geregelten Verfahren und für alle staatlichen Stellen verbindlich bestimmen. »Wer in der deutschen Volksliste geführt wird« – so die zentrale Bestimmung des Erlasses – »ist Deutscher.«226 Die Deutsche Volksliste war zunächst als eine zweistufige Einrichtung konzipiert, die aus einer Zentralstelle bei Coulons Referat in der Abteilung I der Reichsstatthalterei sowie aus lokalen Zweigstellen bei den Landräten oder Oberbürgermeistern bestand. Besetzt wurden die Entscheidungsgremien mit Vertretern der staatlichen Verwaltung, des SD und örtlichen »Volksdeutschen«, den Vorsitz führte der jeweilige Landrat oder Oberbürgermeister.227 Der Arbeitsschwerpunkt sollte bei den Zweigstellen liegen – diese hatten die »Volksdeutschen« zum Antrag auf Aufnahme in die Deutsche Volksliste aufzufordern und ihnen Erfassungsfragebögen auszuhändigen, diese bei Rückgabe zu bearbeiten und die Entscheidung »mündlich« zu verkünden.228 Der Aufbau der DVL-Dienststellen musste zunächst gegen den Widerstand der Verwaltung vor allem in den Bezirksregierungen in Hohensalza und Posen durchgesetzt werden. Ihre Selektionstätigkeit begann schließlich in Posen, dem politischen Zentrum der Region und damit Brennpunkt der früheren Auseinandersetzungen zwischen »volksdeutschen« und polnisch-nationalistischen VerbänSandberger an EWZ, 26. Oktober 1939, BArch R 69/490, Bl. 17–19. Erlaß Greiser, 28. Oktober 1939, APP 406/1105, Bl. 1. 227 Coulon an Zweigstellen, 15. November 1939, APP 406/1113, Bl. 390f. Am 4. April 1940 wies Greiser Coulon an, für den Fall, dass die Ämter des Landrats und des Kreisleiters nicht in Personalunion besetzt waren, Letzterem ein Einspruchsrecht einzuräumen, Greiser an Coulon, 4. April 1940, APP 406/1108, Bl. 108f. 228 Jägers erste Durchführungsbestimmungen zur DVL, 28. Oktober 1939, APP 406/1105, Bl. 5–7. 225 226 170 den.229 Die dortige Zweigstelle wurde deshalb ausnahmsweise nicht dem Oberbürgermeister, sondern Strickner unterstellt230 und das »Verfahren vor Errichtung aller übrigen Zweigstellen erprobt«.231 Coulon gab der Bevölkerung am 3. November 1939 in der Tagespresse das Verfahren bekannt: Zwischen dem 8. und 18. November 1939 würden Fragebögen in doppelter Ausfertigung an Antragsteller ausgegeben, die innerhalb von drei Tagen mit einem Foto zurückzugeben seien, um eine Woche später die Entscheidung einzuholen. Antragsberechtigt seien Personen, die bis zum 1. September 1939 einer Organisation der deutschen Minderheit angehört hätten, oder »deutschblütig sind, aber infolge des Terrors nicht in der Lage waren, sich im deutschen Sinne zu betätigen oder offen als Deutsche hervorzutreten«.232 Allen weiteren Stellen war ab sofort die Ausgabe von Volkstumsbescheinigungen untersagt. Obwohl sich für diesen Zeitpunkt keine differenzierten Selektionsrichtlinien ausmachen lassen, verweisen die Bekanntmachung wie auch die ausgegebenen Fragebögen auf den Kern der späteren Selektionspraxis, die bis zum Kriegsende nicht grundlegend verändert wurde (siehe Abb. S. 172/173). Die Deutsche Volksliste zielte auf die Erfassung von – so sollte dies bald heißen – »Bekenntnisdeutschen« (vor allem Mitglieder deutscher Organisationen) und von »Stammesdeutschen« (Menschen, die, wenn sie auch nicht in den gewünschten Verbänden organisiert waren, so doch eine »deutsche« Abstammung nachweisen konnten). Die Fragen zielten in erster Linie auf das »Verhalten im Volkstumskampf«: Die Antragsteller mussten Muttersprache und religiöses Bekenntnis angeben, wann und von wo sie nach Posen zugezogen waren, welche Schulen die Bericht Coulons über Verlauf und Abschluss des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. Zur Einrichtung der Deutschen Volksliste in den Regierungsbezirken siehe Coulon an Regierungspräsident in Hohensalza, Dr. Hans Burckhardt, 15. November 1939, APP 406/1113, Bl. 159, und am 27. November 1939, APP 406/1113, Bl. 387. Es ist anzunehmen, dass diese Sendung auch an die Regierungspräsidenten in Posen und Kalisch ging. 230 Unsignierter Vermerk des Volkstumsreferats der Reichsstatthalterei Posen, 25. Juli 1940, APP 406/1109, Bl. 215f. 231 Coulon an Bezirksstelle Posen, 1. Juli 1940, APP 406/1113, Bl. 72. 232 Coulons Bekanntmachung, betr. Durchführung der Verordnung des Reichsstatthalters in Posen über die Errichtung einer Deutschen Volksliste, 3. November 1939, APP 406/1105, Bl. 4. 229 171 Erster Fragebogen der Zweigstelle DVL Posen-Stadt, ausgefüllt von einem prominenten nationalsozialistischen Vorkämpfer der ethnischen Deutschen im Wartheland. Er wurde in Gruppe A eingetragen, erhielt Ausweis Nr. 1 172 und wurde später in Abteilung 1 umgetragen (Stempel in der oberen rechten Ecke). APP DVL-Posen-Stadt, 12126 173 Kinder besucht und welchen deutschen oder polnischen Vereinen sie angehört hatten. Es wurde gefragt, welchen »Verfolgungen« sie aufgrund ihres »Bekenntnisses zum deutschen Volkstum ausgesetzt« waren, und die Bestätigung von Bürgen erbeten. Und schließlich mussten sie noch angeben, ob sie »arischer Abstammung« waren und »sich stets zum deutschen Volkstum bekannt« hatten.233 Noch deutlicher wurde dieser Schwerpunkt in einem weiteren Fragebogen, der nur für die Personen erstellt wurde, die von der Deutschen Vereinigung eine C-Bescheinigung erhalten hatten, also gar nicht als »Deutsche«, sondern als »loyale Polen« galten. Als Polen kamen sie an sich für das DVL-Verfahren nicht infrage, da sie sich aber offensichtlich als »zuverlässig« erwiesen hatten, sollten sie dennoch erfasst werden. Auf Deutsch und Polnisch wurde auch hier wieder nach den »politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, konfessionellen, religiösen, militärischen, halbmilitärischen, sportlichen Vereinen, Schülerverbindungen, Parteien, Vereinigungen, Kultureinrichtungen, Berufsverbänden, Genossenschaften, Stud[enten]Vereinigungen, usw.« gefragt. Anstelle der Erklärung, zum »deutschen Volkstum« zu gehören, trat hier die Versicherung: »Ich habe nie Deutsche verfolgt oder mich aktiv oder passiv gegen das deutsche Volkstum betätigt.«234 Zweierlei scheint mir an der von der Zivilverwaltung im Wartheland vorgenommenen Bestimmung des Begriffs »volksdeutsch« besonders bemerkenswert: Erstens knüpfte sie die behauptete »deutsche Volkszugehörigkeit« in erster Linie an die Mitgliedschaft in Organisationen der deutschen Minderheit. Angesichts der nationalsozialistischen Ausrichtung der meisten dieser Verbände unterstellten die Besatzer damit auch Kooperationsbereitschaft beim nationalsozialistischen »Lebensraum«-Projekt. Zweitens hatten sich die Ethnokraten im Wartheland mit diesem Verfahren keinesfalls für einen Alleingang entschieden, sondern Selektionskriterien gewählt, Siehe auch frühen Entwurf vom 6. Dezember 1939 unter APP 406/1109, Bl. 247f., und undatiertem Bericht Strickners über Entstehung und Entwicklung der DVL, wahrscheinlich im November 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 47f. Dieser Fokus auf die Erziehung der Kinder ist durchaus keine Besonderheit der deutschen Besatzer allein in Polen. Die Besatzungsverwaltung in der Tschechischen Republik verfuhr ähnlich, siehe Zahra, Kidnapped Souls, S. 187–189. 234 Anweisung Strickners für die Stadt Posen, 29. November 1939, AGK 68/159, Bl. 1–4. 233 174 die durchaus in der Tradition deutscher Einbürgerungspraxis standen und auch bei weiten Teilen der nationalsozialistischen Bewegung mit breiter Zustimmung rechnen konnten. Politische Loyalität hatte etwa dem Optionszwang in Elsass-Lothringen und Nordschleswig zugrunde gelegen, erklärt die Bedeutung des Wehrdienstes für die Frage der Einbürgerung und nicht zuletzt die Diskriminierung von Antragstellern, denen vorgeworfen wurde, mit der politischen Linken zu sympathisieren.235 Diese Regelung korrespondierte aber auch mit dem neuen Reichsbürgerrecht, galt darin als Reichsbürger doch nur derjenige »Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk zu dienen«.236 Aber auch vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP war das DVL-Verfahren als vorbildlich anerkannt und insbesondere die auf das politische Verhalten abgestützte Selektion positiv herausgestellt worden.237 Schließlich schien diese Begriffsbestimmung auch in den annektierten Gebieten konsensfähig gewesen zu sein, glich sie doch derjenigen, die im Rahmen der Deportationen in Gotenhafen und auch bei der Selektion durch die Geschäftsstelle der Deutschen Vereinigung in Posen angewandt worden war. Während diese weitestgehende Übereinstimmung zwischen den Besatzungsverwaltungen in Danzig-Westpreußen und im Wartheland bald Risse bekam und schließlich zu zwei völlig unterschiedlichen Germanisierungspolitiken führte, scheint sie sich innerhalb des Warthelandes zwischen deutschen Besatzern und der politischen Elite der »volksdeutschen« Bevölkerung gehalten zu haben. Wie angekündigt begann die DVL-Zweigstelle in Posen am 8. November 1939 mit der Aushändigung der Fragebögen. Da diese Fragebögen nur an Personen ausgegeben werden sollten, die auf die DVLBeschäftigten einen »deutschen« Eindruck machten, wurden 6648 Siehe Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 191–193, Nathans, The Politics of Citizenship, S. 142f., sowie Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 135–137 u. 163–165. 236 Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, RGBl. 1935, Teil 1, S. 1146. 237 Im Gegensatz zur Auffassung, die von den Nürnberger Nachfolgeprozessen bis in die jüngste Forschung davon ausgeht, dass die Deutsche Volksliste im Wartheland die praktische Umsetzung der Denkschrift von Wetzel und Hecht darstellt, ist umgekehrt richtig, dass sich Letztere von der bereits etablierten Praxis in Posen und Lodsch inspirieren ließen. 235 175 ausgehändigt, während ca. 3000 Antragsteller abgewiesen wurden.238 Bevor jedoch der Prüfungsausschuss die eingegangenen Fragebögen auswerten konnte, wurden die Ethnokraten in ihre Schranken gewiesen: In der Zwischenzeit hatte sich das Reichsinnenministerium mit einem eigenen Erlass eingeschaltet und die Behörden im Wartheland angewiesen, die Tätigkeit der »Zweigstellen der ›Deutschen Volksliste‹ […] sofort ein[zu]stellen«.239 Einführung der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Reichsinnenministerium Im Reichsinnenministerium verursachte die Initiative Greisers zur Einrichtung der Deutschen Volksliste einige Beunruhigung. So hatten das am 1. September 1939 in Kraft getretene Gesetz zur Vereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich240 und der am 26. Oktober in Kraft getretene Annexionserlass Hitlers zwar allgemein festgehalten, dass die »Volksdeutschen […] Reichsbürger« und die »Bewohner deutschen oder artverwandten Blutes […] deutsche Staatsangehörige« werden.241 Für die Durchführung wurde aber auf noch zu erlassende Vorschriften verwiesen. Die Einrichtung der Deutschen Volksliste drohte diese vorwegzunehmen und stieß im Reichsinnenministerium gleich auf zweifachen Widerstand: Die angewandten Selektionskriterien wurden als zu exklusiv kritisiert und das Vorpreschen Greisers als Amtsanmaßung abgelehnt. Da nach deutschem Rechtsverständnis die Staatsangehörigkeit an die »Volkszugehörigkeit« gebunden war, präjudizierte die Aufnahme in die Deutsche Volksliste folglich auch die staatsrechtliche Stellung der Betroffe- Undatierter Bericht Strickners über Entstehung und Entwicklung der DVL, wahrscheinlich im November 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 56. 239 Riediger an Landräte und Oberbürgermeister, 5. Dezember 1939, APP 406/1113, Bl. 384. 240 Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich; abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 35f. 241 Hitlers Erlaß über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete, 8. Oktober 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 84–88. Der Terminus »deutschen oder artverwandten Blutes« stammt aus dem Reichsbürgergesetz. Siehe zur Wortwahl Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 134–154. 238 176 nen – dies aber fiel in den Kompetenzbereich des Reichsinnenministeriums. Auch wenn im Reichsinnenministerium also Einigkeit darüber herrschte, dieses Politikfeld nicht den Reichsstatthaltern zu überlassen, kristallisierten sich eigene Vorstellungen jedoch erst allmählich heraus. Zwar hatte sich bereits bei der Annexion Österreichs, des Sudetenlandes und auch des Memelgebiets ein »verstärkte[r] Trend von individuellen zu kollektiven Entscheidungen« etabliert, indem die Sammeleinbürgerung an die Stelle der traditionellen Einzelfallprüfung getreten war.242 Dabei waren jedoch »[v]ölkische Gesichtspunkte außer Betracht« [geblieben]«. Hier schien nach der Annexion Westpolens eine Kehrtwende notwendig.243 Eine vom Reichsinnenministerium an die Obersten Reichsbehörden versandte Übersicht erläuterte die Gründe, gehörten doch selbst nach eigenen Schätzungen nur 2,7 von 10,2 Millionen Menschen den deutschen Minderheiten an.244 Es erstaunt deshalb nicht, dass gerade zu dieser Zeit eine Reihe von Denkschriften in Umlauf kam, die sich dieser Frage annahmen und von politischen Entscheidungsträgern deshalb aufgegriffen wurden, weil sie Antworten boten, wie die deutsche Herrschaft in diesen Gebieten zu konsolidieren war, ohne Kernpunkte der nationalsozialistischen Ideologie aufzugeben. Fokus der Debatten war die Frage, welcher »Volkszugehörigkeit« die einheimische Bevölkerung war. Die Herausforderung, dass sich dieser Terminus auf Imaginiertes bezog, ihm also durch trennscharfe Kategorien nicht beizukommen war, wurde auf bewährte Weise »gelöst«: Der Begriff wurde zum Kampfbegriff, seine Definition zur Machtfrage, die sich ausschließlich an seiner politischen Funktionalität orientierte. Wenn also schon akzeptiert werden müsse, dass nur ein kleiner Teil der einheimischen Bevölkerung »Deutsche« seien, so könne doch zumindest verhindert werden, dass die Mehrheit Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 203. Im Detail siehe Ernst, Das Staatsangehörigkeitsrecht im Deutschen, S. 72–87, und Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 401–403. 243 Stuckart, Die Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten, S. 233. 244 Errechnet aus einer vom RMI an die Obersten Reichsbehörden versandten Übersicht vom 29. November 1939, BArch R 1501/5401, Bl. 141 f. Berücksichtigt wurde dabei nur das von mir behandelte Territorium, also Danzig-Westpreußen, Wartheland und die spätere Provinz Oberschlesien. 242 177 »Polen« seien. Der argumentative Trick bestand in der Konstruktion einer »Mischbevölkerung«245 oder aber eines – so wegweisend Robert Beck 1938 – »schwebenden Volkstums«, das zwar sprachlich, politisch und kulturell oftmals »polnische« Züge zeige, sich aber angeblich im »Gesinnungswandel« (Robert Beck) befände und eben zum »Deutschtum« tendiere.246 Bis zum deutschen Überfall hatte sich insbesondere das Reichsinnenministerium bemüht, diese Argumentation weiter auszubauen. Eines der in der Folgezeit von der hauseigenen Publikationsstelle mit besonderer Verve vorangetriebenen Projekte war etwa die Herstellung eines ethnographischen Atlas, der die deutschen Ansprüche auf Westpolen legitimieren sollte. In der Begutachtung der Karten für Oberschlesien plädierte der Breslauer Ordinarius für Deutsche Volkskunde, Walther Kuhn, dann auch für die Ausdehnung des Begriffes »Schlonsaken« über das – polnische – Teschen hinaus auf das – deutsche – Oberschlesien, um die »dumme Bezeichnung ›Wasserpolak‹« zu vermeiden. Darüber hinaus ließe sich so auch die »Wesens- und Schicksalsgemeinschaft beider Gruppen und damit auch die Verantwortung der Oberschlesier für die Teschener Schlonsaken [betonen]«. Dies sei umso richtiger, da die Schlonsaken zwar nach »Abstammung und Mundart polnisch, aber nach Kultur und Gesinnung deutsch« und – in Anlehnung an Beck – »im Osten in der Mischzone die nationale Gesinnung das einzig entscheidende« sei. Wenn aber die Gesinnung das entscheidende Kriterium sei, müssten die Schlonsaken auf den Karten folglich auch »als das dargestellt [werden], was sie sind, als Deutsche«.247 Dem Reichsinnenministerium wurde in dieser Frage aber auch von anderen Dienststellen zugearbeitet, zum Beispiel der Volksdeutschen Mittelstelle. In seiner Denkschrift vom 25. August 1939 zur »Behandlung der Masuren-, Schlonsaken-, Oberschlesier- und Kaschubenfrage« beteiligte sich auch der Leiter des Amtes für Presse und Berichterstattung, Waldemar Rimann,248 an der Atomisierung der polnischen Bevölkerung durch die Konstruktion ver- Stuckart, Die Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten, S. 236. Beck, Schwebendes Volkstum im Gesinnungswandel. 247 Kuhn an Pappritz, 25. August 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.] 248 Zu Rimann siehe Lumans, Himmler’s Auxilliaries, S. 139 u. 143. 245 246 178 schiedener »Volksgruppen«.249 Aus Sicht der Volksdeutschen Mittelstelle dürften diese Gruppen ebenso wenig »als polnisch bezeichnet werden« wie »ihre Gebräuche und […] Haussprache als slawisch«.250 Im Gegensatz zu Kuhn plädierte Riman jedoch dafür, dass der Begriff »Schlonsake« ausschließlich für eine Bevölkerungsgruppe des Teschener Gebietes gebraucht werden solle, in dem folglich vier »Volksgruppen« lebten: Deutsche, Tschechen, Schlonsaken und Polen. Während Rimann annahm, für die Unterscheidung von Deutschen und Tschechen keine weiteren Erläuterungen anführen zu müssen, galt es bei der Unterscheidung der beiden anderen Gruppen jedem Missverständnis zuvorzukommen: Polen seien danach die »aus Galizien und Kongresspolen eingewanderten Industriearbeiter«, während das »einheimische Bauerntum« nicht als Polen, sondern als Schlonsaken zu bezeichnen sei. Natürlich vergaß er aber nicht, auf das politische Haltbarkeitsdatum dieser feinen Unterscheidungen hinzuweisen, das spätestens mit der Besetzung dieses Gebiets überschritten sein würde. Dann würde der »Sprachgebrauch […] nur noch Deutsche, Tschechen und Polen kennen«, wobei sich die dortigen Deutschen in die »Stadtbevölkerung, das sind die Deutschen schlechthin, und in das deutsch-schlesische Landvolk, […] das Schlonsakentum [gliedern]«. Diese dürften dann nicht eigens aufgeführt werden, da die unterschiedliche Haussprache, die Tatsache also, dass diese Menschen polnisch sprachen, wenig entscheidend und »ohnehin im Absterben« begriffen sei. Bedeutsam sei vielmehr das »Bekenntnis […] zum Deutschtum«, das bei den Schlonsaken zweifelsfrei gegeben sei, sie also zu Deutschen mache. Gleiches gelte auch für die bisher als »Wasserpollacken« bezeichnete Bevölkerung Oberschlesiens, die in Zukunft schlicht als »Oberschlesier« zu bezeichnen sei. Und natürlich seien auch die »KaschuRimanns unsignierte Denkschrift der VoMi über Richtlinien zur Behandlung der Masuren-, Schlonsaken-, Oberschlesier- und Kaschubenfrage, 25. August 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. Burleigh gibt als Datum fälschlicherweise den 8. September 1939 an und behauptet, dass es sich hierbei bereits um eine überarbeitete Fassung handelt; ders., Germany Turns Eastwards, S. 184. Der Akt enthält jedoch nur diese, vor dem Überfall erarbeitete Fassung. 250 Rimanns unsignierte Denkschrift der Vomi über Richtlinien zur Behandlung der Masuren-, Schlonsaken-, Oberschlesier- und Kaschubenfrage, 25. August 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. 249 179 ben […] keine Polen«. Zwar liege hier die »Versuchung nahe, den Begriff slawisch zu gebrauchen«, dies müsse allerdings »unter allen Umständen unterbleiben«. Auf Karten seien diese Gruppen dann auch »ohne besondere Kennzeichnung immer dem deutschen Volks- bezw. Sprachgebiet zuzurechnen«.251 Vollert erklärte sich »grundsätzlich einverstanden«, bat »um eine Überprüfung auf Grund der inzwischen veränderten Verhältnisse«, sprich: der mittlerweile erfolgten Besetzung dieser Gebiete, und reichte die Denkschrift auch an die Publikationsstelle Dahlem zur Stellungnahme weiter.252 Diese fiel erwartungsgemäß positiv aus. Dem Reichsinnenministerium wurde überdies empfohlen, den »deutsche[n] Kulturwille[n] der Bevölkerungsgruppe in geeigneter Weise« herauszustreichen.253 So könnten etwa in ethnographischen Karten »alle, die sich politisch oder kulturell zum Deutschtum bekannt haben – gleich welche Haussprache sie sprechen – als Deutsche behandelt werden«, es dürfe also auf »keiner Karte mehr Masuren geben«.254 Praktische Relevanz erlangten diese Fragen, als sich das Ende der militärischen Besatzungsherrschaft abzeichnete. Die politischen Entscheidungsträger in Berlin und in den Provinzen waren sich einig, dass die Germanisierung der annektierten Gebiete nicht ohne umfassende Deportationen zu erreichen war. Weitgehend uneins war man sich jedoch, wer zu deportieren war. In dieser Situation fand die Denkschrift zur »Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten« weite Verbreitung, die Dr. Erhard Wetzel und Dr. Gerhard Hecht vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP am 25. November 1939 vorstellten. Eben von einer Studienreise aus Polen zurückgekehrt, wo sie in Litzmannstadt in die Arbeitsweise der Deutschen Volksliste und wohl auch in die der Deportationsbehörden eingeführt worden waren, setzten auch sie – notgedrungen – die »Atomisierung der […] Gesamtbevölkerung in handhabbare Segmente« Ebenda. Vollert an VoMi, 5. September 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. Eine überarbeitete Fassung ist in dem Akt nicht enthalten. 253 Unsigniertes Schreiben der Publikationsstelle an Dr. Werner Essen, Referent in Vollerts Abteilung im RMI und selbst ausgewiesener Ostforscher (Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 85, 89, 242, 245 u. 302f.), 4. Oktober 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. 254 Ebenda. 251 252 180 fort.255 Zwar wird eingangs deklamatorisch festgestellt, dass Deutsche und Polen »aus rassischen Gesichtspunkten tief wesensverschieden«, die Polen also zu deportieren seien.256 Doch wer genau ist Pole? Wetzel und Hecht konnten beruhigend verkünden, dass die deutschen Besatzer nicht etwa mit einem geschlossenen Block von 35 Millionen Menschen konfrontiert seien, da es sich doch angeblich bei der Hälfte um Angehörige nichtpolnischer Minderheiten wie Ukrainer und Juden, Masuren, Kaschuben, »Wasserpolen«, Schlonsaken und so weiter handelte. Und selbst bei den verbliebenen immerhin 18 Millionen Menschen glaubten die Rassenexperten große Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen des Landes feststellen zu können, wo doch »Jahrtausende […] vor dem Einsickern slavischer Stämme« bereits »Germanen« gelebt hätten. Diesen hätten die Polen nicht nur »ihre Volk- und Staatswerdung [zu verdanken]«, sondern auch einen »nicht unerheblichen germanischen Blutseinschlag«, dem ein »dauernder deutscher Blutstrom« während des Vordringens kaiserlicher Truppen im Mittelalter gefolgt sei.257 Das gewünschte Ergebnis: In den annektierten Gebieten waren nicht etwa sechseinhalb Millionen Menschen zu vertreiben, da fast die Hälfte entweder einer angeblich nichtpolnischen Minderheit angehörte oder aus anderen Gründen durchaus »eingedeutscht« werden könnte. Die Vertreibungen selbst empfahlen Wetzel und Hecht aus sicherheitspolitischen, ökonomischen und nicht zuletzt logistischen Gründen über einen längeren Zeitraum zu planen – eine Empfehlung, die ihrerseits die Überlegungen der Deportationsorgane kopierte, die ja genau dies vorhatten. Und auch mit den dort gefundenen Prioritätensetzungen zeigte man sich im Rassenpolitischen Amt einverstanden: Zu beginnen sei mit den »polnischen Chauvinisten, Mitglieder[n] der polnischen politischen und kulturpolitischen Parteien«,258 wie auch im Allgemeinen der »polnische[n] Esch, »Gesunde Verhältnisse«, S. 330. Erhard Wetzel und Gerhard Hecht, Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten, NO-3732, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 2–28, hier S. 5. Zu Hecht und Wetzel siehe Uhle, Neues Volk und reine Rasse, S. 112–116 u. 119–121. 257 Wetzel/Hecht, Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten, NO-3732, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 25. 258 Ebenda, S. 18. 255 256 181 Intelligenz«.259 Hinzu kam schließlich die jüdische Bevölkerung, »gleichgültig ob Glaubensjuden oder getaufte, sowie die sogenannten Asozial[en], Menschen mit Vorstrafen und Insassen von Justizvollzugsanstalten und die als unheilbar geisteskrank eingeschätzte[n] Menschen«.260 Angesichts der laufenden Deportationsplanungen blieb die Diskussion nicht auf Orte der Ideologieproduktion beschränkt. Den angespannten Arbeitsmarkt im Blick, drängte etwa das Reichsarbeitsministerium am 11. November auf eine baldige Entscheidung, wie die »Kaschuben rassisch einzuordnen und infolgedessen […] zu behandeln sind«.261 Dem Reichsinnenministerium wurden zwei Stellungnahmen der leitenden Ärzte des Arbeitsamtes Danzig-Westpreußen beigelegt, die beide für eine wirtschaftsfreundliche Lösung plädierten. Dr. Scharphuis mochte es zwar etwas vorsichtiger formulieren, wenn er davor warnte, »einen Kaschuben […] ohne weiteres […] wie einen Volksdeutschen« zu behandeln. Wie selbstverständlich ging aber auch er davon aus, dass die Kaschuben eher Deutsche seien, hätten sie doch »als Restbestand slawischer Herkunft mit den Polen nichts gemein«.262 Dr. Petzsch war noch eindeutiger. So beklagte er, dass bei den Dienststellen von Staat und Partei in den Kreisen Neustadt, Karthaus und Berent »Unklarheiten über die Beurteilung der bodenständigen Landbevölkerung (Kaschuben)« bestünden. Die Kaschuben seien ein »slawischer Volkssplitter«, hätten aber »viele deutschen Wörter mit polnischer Endung, […] rechnen nur mit deutschen Zahlen« und sprächen zumindest ein »fehlerhaftes Deutsch«.263 Vor allem aber rekrutiere das Deutsche Reich aus ihrem Kreis die für die Landwirtschaft dringend benötigten Wanderarbeiter, und diese hätten »durchaus achtbare Leistungen geliefert«. Natürlich müssten die »kaschubische Oberschicht« und Ebenda, S. 17f. Ebenda, S. 19. 261 Reichsarbeitsministerium, gez. i. A. Dr. Martineck, an Reichsinnenministerium, 11. November 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. 262 Bericht Dr. Sharphuis, 26. Oktober 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. Scharphuis stützte sich hier auf den Königsberger Ordinarius Erich Keyser, der eine wichtige Funktion in der Legitimation von Forsters Assimilationspolitik spielen sollte. Zu Keyser siehe auch Pinwinkler, Keyser. 263 Bericht Dr. Petzsch, 15. Oktober 1939, BArch R 153/280, ohne Seitenangabe. Siehe auch Burleigh/Wippermann, The Racial State, S. 130f. 259 260 182 die »Intellektuellen« deportiert werden, man werde »jedoch sorgsam prüfen müssen, ob […] bodenständige Sippen für eine Verdeutschung in Betracht kommen«.264 Als Stuckart am 13. November 1939 einen Entwurf zur »Neuregelung der Staatsangehörigkeit der bisherigen Danziger und polnischen Staatsangehörigen« vorlegte, blieben diese Fragen zunächst allesamt unbeantwortet. Stuckart wies im Gegenteil auf die »Schwierigkeiten« hin, die momentan eine »umfassende gesetzliche Regelung […] nicht möglich« machten. So seien zwar unstrittig »Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden und jüdische Mischlinge« von der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit auszuschließen, und natürlich dürfe auch »kein polnischer Volksangehöriger das Reichsbürgerrecht und damit politische Rechte erwerben«. Allerdings müsse »eingehend geprüft werden […], ob es im deutschen Interesse liegt, alle polnischen Volkszugehörigen von dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auszuschließen«. So sei etwa eine Lösung denkbar, die all jene summarisch zu deutschen Staatsbürgern mache, deren Vorfahren die Staatsangehörigkeit eines deutschen Landes besessen hätten. Wenn sich das Reichsinnenministerium in diesem Fall zu einer solchen Lösung nicht durchringen konnte, dann vor allem deshalb, weil noch nicht absehbar war, wer den weiteren Deportationen zum Opfer fallen würde, es aber »nicht in Frage kommen [konnte, G.W.] polnische Volkszugehörige, die später ausgesiedelt werden, zunächst zu deutschen Staatsangehörigen zu machen«. Was also blieb, war eine »vorläufige Regelung«, die Erfassung zumindest der »deutschen Volkszugehörigen«. Stuckart legte einen Erlassentwurf bei, der am 17. November in Berlin diskutiert werden sollte.265 Frick unterzeichnete den Erlass kurze Zeit später am 25. November 1939 faktisch unverändert. Einschränkend hieß es hier, dass »vorbehaltlich einer abschließenden gesetzlichen Regelung […] [d]eutsche Staatsangehörige […] diejenigen deutschen Volkszugehörigen« seien, die entweder am 1. September 1939 die Danziger oder am 26. Oktober 1939 die polnische Staatsangehörigkeit besessen 264 265 Ebenda. Stuckart an SdF, z. H. Dr. Sommer, RFSS, z. H. Dr. Wetz, VoMi und RKF, 13. November 1939, BArch R 1501/5378, Bl. 109–113 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 183 hatten.266 Die Feststellung erfolgte – in patrilinearer deutscher Tradition – über den Ehemann. Wurde er als »Volksdeutscher« anerkannt, so erstreckte sich dies auch auf seine Frau und minderjährige Kinder, wie umgekehrt eine »volksdeutsche« Frau keine deutsche Staatsangehörige wurde, wenn sie mit einem »fremdvölkischen« Mann verheiratet war. Eine differenzierte Definition der »deutschen Volkszugehörigkeit« war aus Sicht des Reichsinnenministeriums nicht notwendig, schien doch ein Erlass vom 29. März 1939 ausreichend, der nach der Besetzung der Tschechischen Republik ergangen war: »Deutscher Volkszugehörigkeit ist, wer sich selbst als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird. Eine genauere Erläuterung dieses Begriffes ›deutscher Volkszugehörigkeit‹ ist nach Lage der Verhältnisse nicht möglich. Im Allgemeinen wird es aber gleichwohl keine Schwierigkeiten bereiten, danach die Feststellung zu treffen, ob jemand ›Deutscher Volkszugehörigkeit‹ ist, oder nicht.«267 Bei dieser Definition erscheint mir zweierlei bemerkenswert. Es war zum einen nicht zu übersehen, welch zentrale Bedeutung dem Bekenntnis der Betroffenen zukam. Folgerichtig wurden die Staatsangehörigkeitsstellen in einem weiteren Passus explizit darauf hingewiesen, dass »deutsche Volkszugehörigkeit […] indes nicht volle oder überwiegende Deutschstämmigkeit voraus[setze]. Da dem BekenntFricks Erlaß über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit in den in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten, 25. November 1939, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 108–114. 267 Erl. des Reichsinnenministers, gez. i. V. Pfundtner, 29. März 1939, RMBliV 1939, S. 783 [Hervorhebung im Original, G.W.]. Diese Definition hat im Übrigen eine gewisse Verbreitung erreicht. So regelte sie etwa die Selektion der »Volksdeutschen« aus Osteuropa im Rahmen der Einwandererzentralstelle, siehe Richtlinien für die Einbürgerung von Volksdeutschen aus Wolhynien und Galizien, gez. Der Sonderbeauftragte des Reichsinnenministeriums bei der Einwandererzentralstelle Oberregierungsrat Duckart, 12. Dezember 1939, APL 205/6,1, Bl. 20f. Sie überdauerte aber auch den Krieg und fand – wiederum zur Selektion der aus Osteuropa einreisenden »Volksdeutschen« – Einlass in das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVEG) vom 19. Mai 1953, siehe Ernst, Das Staatsangehörigkeitsrecht im Deutschen, S. 33–36. 266 184 nis, Angehöriger des deutschen Volkes zu sein, eine wesentliche Bedeutung zukommt, kann vielmehr auch als deutscher Volkszugehöriger betrachtet werden, wer teilweise oder auch ganz anderen Stammes […] ist. Umgekehrt ist es im Einzelfall möglich, daß jemand, der teilweise oder ganz deutschstämmig ist, auf Grund seines Bekenntnisses als Angehöriger eines fremden Volkes angesehen werden muß.«268 Das Reichsinnenministerium war aber, zum anderen, mitnichten gewillt, diese Entscheidung allein in die Hand der Antragsteller zu legen. Im Gegenteil wurde der ohnehin traditionell weite Ermessensspielraum der Staatsangehörigkeitsstellen weiter ausgedehnt. Im Zweifelsfall sei »vor allem zu prüfen, ob derjenige, der auf Grund seiner angeblichen Zugehörigkeit zum deutschen Volk die deutsche Staatsangehörigkeit in Anspruch nimmt, nach seinem gesamten Verhalten einen erwünschten Bevölkerungszuwachs darstellt. Ist dieses der Fall, so ist bei der Entscheidung der Frage […] großzügig zu verfahren; ist es nicht der Fall, so sind die Voraussetzungen streng zu prüfen.«269 Für die Erhebung der dafür notwendigen Daten wurde ein Fragebogen vorgegeben, der von den zuständigen Stellen, also in der Regel den Regierungspräsidenten, an die Antragsteller auszugeben war (siehe Abb. S. 186/187). Im Gegensatz zu Tara Zahra glaube ich jedoch nicht, dass diese Art der Bestimmung der Volkszugehörigkeit mit dem Begriff »civic« richtig umschrieben ist – ihre relative Offenheit ist schließlich von den Antragstellern nicht einklagbar, sondern erweitert allein den Handlungsspielraum der politisierten Bürokratie.270 Nach GoseAusgenommen waren allein »voll Fremdblütige«, also vor allem Juden, Erlaß des Reichsinnenministeriums, gez. i. V. Pfundtner, 29. März 1939, RMBliV 1939, S. 783. 269 Erl. des Reichsinnenministers, gez. i. V. Pfundtner, 29. März 1939, RMBliV 1939, S. 783 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 270 Zahra, Kidnapped Souls, S. 186. Aus dem gleichen Grund glaube ich auch nicht wie Mazower, dass diese Regelung »eigentlich mit weniger Druck« erfolgte als die des tschechoslowakischen Staatsangehörigkeitsrechts [Übers. G.W.], das die Annahme der Staatsangehörigkeit erzwungen hatte, siehe Mazower, Hitler’s Empire, S. 186 [Hervorhebung im Original, G.W.]. Siehe auch die Verwunderung Bryants über die seiner Meinung nach »open-ended definition«, ders., Prague in Black, S. 73. 268 185 Der neue Fragebogen, den das Reichsinnenministeriums mit Erlass vom 25. November 1939 zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit verpflichtend vorgeschrieben hatte und den auch die DVL im Wartheland übernehmen musste. Dieser Antragsteller wurde zuerst nicht aufgenommen, da er als Pole galt. Als die DVL im Wartheland auf fünf Gruppen erweitert wurde, wurde er in Abteilung C eingetragen, um schließlich bei der Einführung der Deutschen Volksliste in den annektierten Ostgebieten durch das Reichsinnenministerium in Gruppe 3 übertragen zu werden. Die kon- 186 tinuierlichen Proteste des Betroffenen führten schließlich zu einer Höherstufung in Gruppe 2. Obwohl der »Antragsteller poln. Abstammung war«, so die Bezirksstelle, war dies deshalb gerechtfertigt, weil er bereits vor dem deutschen Überfall eine ethnische Deutsche geheiratet hatte, der Deutschen Vereinigung beigetreten war und außerdem ein positives Zeugnis seiner – deutschen – Arbeitgeberin erhalten hatte. APP DVL-Wollstein, 427 187 winkel war dies durchaus beabsichtigt: Begriffe wie »Deutscher« oder »Pole« sollten »nicht einheitlich definiert« werden. Eben weil sich die Nationalsozialisten sehr wohl bewusst waren, dass diese Begriffe »nicht essentialistisch-rassisch, sondern nur mehr politisch zu bestimmen waren«, hatten sie Interesse daran, sie »offenzuhalten, um sie wechselnden politischen Interessenlagen anpassen zu können«.271 Den Besatzern blieb freilich auch keine andere Wahl, war doch eine konzise und operationalisierbare essentialistische Bestimmung per definitionem unmöglich. Schließlich lässt sich die Frage »Wer ist Deutscher?« eben nicht essentialistisch, sondern nur formal beantworten, also nicht in Abhängigkeit von – unter Umständen rassisch begründeten – persönlichen Charakteristika, sondern allein vom politischen Akt des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit. Wenn also das Bedürfnis noch jeder nationalistischen oder rassistischen Bewegung darin bestand, diesem dezisionistischen, also politischen Akt ebendiese Qualität abzusprechen und ihn in der Natur zu gründen, musste er in seiner Operationalisierung gezwungenermaßen sozial hergestellt werden – und wurde in der Regel an das Verhalten der Betroffenen gebunden. Genau dies aber machte die Flexibilität dieses Begriffes aus und unterwarf ihn der politischen Logik. Mit der Beschränkung auf die Erfassung der »Volksdeutschen« sanktionierte das Reichsinnenministerium faktisch die bisherige Politik in den annektierten Gebieten, die auf die Ermordung und zunehmend die Deportation der politischen Elite sowie Erfassung der »volksdeutschen« Bevölkerung zielte.272 Zwei Einschränkungen sind aber hervorzuheben: Zum einen war damit keineswegs der grundsätzliche Anspruch aufgegeben worden, die große Mehrzahl der einheimischen Bevölkerung wie angekündigt zu deutschen Staatsangehörigen zu machen. Zumindest ein Großteil der ehemaligen Bürger Preußens wurde offensichtlich als assimilierbar angesehen. Der Verzicht darauf, ihnen sofort die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen, war eine Konzession an die momentane Situation, sollte die Bekämpfung der politischen Gegner nicht zusätzlich erschwert werden. Zum anderen aber war dem Reichs271 272 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 411. Stuckart an SdF, z. H. Dr. Sommer, RFSS, z. H. Dr. Wetz, VoMi, RKF, 13. November 1939 [Hervorhebung im Original, G.W.], BArch R 1501/ 5378, Bl. 109–113. 188 innenministerium bewusst, dass sich der Erfolg oder Misserfolg der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in der Behandlung der Mehrheitsbevölkerung entscheiden würde – und hier gedachte Frick mit dem vereinbarten Erlass die angestrebte Assimilationspolitik zumindest teilweise vorwegzunehmen. Auch deshalb wurde auf den Erlass vom März 1939 zurückgegriffen, der dem (freiwilligen) Bekenntnis und damit der zumindest passiven Kollaborationsbereitschaft eine entscheidende Bedeutung zuwies.273 Es waren solche Bestimmungen, die Himmler dazu bewogen, am 13. Januar 1940 Protest beim Reichsinnenministerium einzulegen. Es gehe doch nicht an, die Entscheidung allein nach »rein äußerlichen Bekenntnissen zum deutschen Volkstum (Sprache, Erziehung, Kultur usw.)« zu treffen, wo doch das »erste Merkmal für die deutsche Volkszugehörigkeit die positive Feststellung der rassischen Zugehörigkeit sein muss«.274 Während das Reichsinnenministerium die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft vor allem von der sich aus dem Verhalten der Antragsteller abzuleitenden Kollaborationsbereitschaft abhängig machen wollte, plädierte die SS für eine vom Verhalten zumindest theoretisch unabhängige und auf biometrische Charakteristika gestützte rassische Zuschreibung. Auch wenn diese einander diametral entgegengesetzten Ansichten im Winter 1939/40 noch nicht zu einem offenen Konflikt führten, spannten sie doch das Kampffeld auf, in dem in den folgenden Jahren eine zunehmend schärfere Auseinandersetzung stattfinden sollte. Ausgenommen waren allein »voll Fremdblütige«, also vor allem Juden, Erlaß des Reichsinnenministeriums, gez. i. V. Pfundtner, 29. März 1939, RMBliV 1939, S. 783. 274 Vermerk Dr. Walter, RKF-Zentrale Berlin, 20. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 47f. 273 189 »Lebensraum«: Bevölkerungspolitik im Spannungsfeld von rassischer Hybris und Herrschaftsrationalität Herrschaftsfunktionale Dilemmata rassischer Deportationspolitik Der Überfall auf Polen hatte die Dystopie vom »deutschen Lebensraum« als Kriegsziel ersten Ranges auf die Tagesordnung gesetzt. Die Nisko-Aktion kann als frühes Beispiel für die Hybris gelten, ideologisch bestimmte Politikansätze weiter zu radikalisieren und endlich ohne Rücksicht in Praxis umzusetzen. In der Fortsetzung der Vertreibungen von 1938, in ihrer Zielrichtung jedoch auch an die neue Situation nach der Besetzung Polens angepasst, offenbarte sie das entgrenzte radikalisierte Denken auf deutscher Seite. Der schließlich durch die Ankunft der Balten notwendige Abbruch der Deportationen von Juden aus Kattowitz und der Übergang zur Deportation von vor allem christlichen Polen aus Danzig-Westpreußen mag zwar als pragmatische Wende erscheinen. Das zentrale Ziel ging aber nicht verloren: die Germanisierung der annektierten Gebiete. Ähnliches gilt auch für das Vorgehen der Ethnokraten im Wartheland, wo die Vertreibung der jüdischen Polen nur deshalb vorübergehend ausgesetzt wurde, um die Balten unterzubringen. Die Versuche der Berliner SS-Zentrale, die Deportationen wieder stärker ideologisch auszurichten, folgten auf den Fuß – zunächst mit Himmlers Befehl vom 30. Oktober 1939 und dann einen Monat später mit Heydrichs Fernplan. Beide Anordnungen hatten in allererster Linie die Deportation von Juden zum Ziel und beide sollten scheitern. In den folgenden Monaten entfernte sich die Deportationspraxis eher noch weiter von diesen Anordnungen, verfehlte sie doch genau die Gruppen, deren Abschiebung hier als besonders dringend angesehen wurde: Juden und Kongresspolen. Zu glauben, dass die Berliner Zentralstellen wie auch die Ethnokraten vor Ort über diese erzwungenen Kompromisse zu Pragmatikern geworden sind, würde natürlich die Schwerkraft ideologischer Überzeugungen ver191 kennen. Die bisherigen Maßnahmen wurden stattdessen in gewohnter Manier zu Übergangslösungen erklärt – in der Hoffnung, die rassischen Maximalziele mit den jeweils nächsten Abschiebungen verwirklichen zu können. Die Hindernisse, die sich gegen eine endlich allein an ideologischen Prämissen ausgerichtete Germanisierungspolitik aufbauten, sollten in den folgenden Monaten jedoch eher zu- als abnehmen. Die Rassisten in der SS mussten bald erkennen, dass nicht nur die Notwendigkeit, die ethnischen Deutschen aus Osteuropa unterzubringen, zu einer anderen Schwerpunktsetzung drängte. Eine Rolle spielte auch die Tatsache, dass entscheidende Machtzentren im Deutschen Reich die einheimische Bevölkerung nicht nur als Hindernis für die Germanisierung der annektierten Gebiete wahrnahmen, sondern auch als nützliche Arbeitskräfte für die Wirtschaft oder als Soldaten für die Wehrmacht betrachteten. Zwischenplan: Abschiebung von Juden oder Ansiedlung ethnischer Deutscher? Vermutlich noch während der Volkszählung vom 17. bis 23. Dezember 1939 und kurz nach dem Abschluss des ersten Nahplans legte der SD-Leitabschnitt Posen ein Papier zur »Berechnung der Abschiebezahlen« für die folgenden Deportationen vor. Als Orientierung galten dabei noch immer die in Krakau am 8. November 1939 vereinbarten Eckdaten, die dem Wartheland die Vertreibung von 300000 Personen bis Ende Februar 1940 erlaubten. Auch wenn es dabei aus Sicht des SD galt, »eine biologische, eine politische und eine soziale Komponente« – das heißt, jüdische Polen, politische Gegner und die gesellschaftliche Elite – zu erfassen, so konzentrierte man sich doch in Fortsetzung der bisherigen Politik zunächst auf die beiden letzten Gruppen und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Obwohl »die Zahl der politisch aktiven Polen durch Flucht, Erschießungen oder Verhaftungen stark reduziert worden ist«, verblieben nach Erhebungen des SD in 29 von 41 Kreisen immerhin noch 50780 Mitglieder von politischen Vereinen und Parteien, die abzuschieben waren.1 Hinzu kamen noch die Angehörigen der gesell1 Unsigniertes und undatiertes Dokument, betr. Berechnung der Abschiebezahlen, vermutlich SD Posen Ende Dezember 1939, AGK 68/99, Bl. 17–22. Am 10. Februar 1939 waren es bereits 75000, Rapp an Eichmann, AGK 68/7, Bl. 15–19. 192 schaftlichen Elite, deren Zahl sich in 34 Kreisen auf – und auch hier suggerierte der SD mit der Vorlage »exakter« Zahlen Kompetenz – genau 148484 Menschen belief,2 dann hätte die für das Wartheland vorgesehene Deportation von 300000 Menschen nicht einmal ausgereicht, um »die gesamte Intelligenz und alle politisch aktiven Polen zu erfassen« und mitsamt Familien zu vertreiben.3 Im Reichssicherheitshauptamt in Berlin hatte man andere Sorgen und monierte die zu geringe Anzahl von vertriebenen Juden. Heydrich war entschlossen, dies zu ändern, und ordnete für die Deportationen im Rahmen des sogenannten zweiten Nahplans, der sich nicht mehr nur auf das Wartheland, sondern auf die gesamten annektierten Gebiete erstrecken würde, die »restlose Erfassung sämtlicher Juden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht in den deutschen Ostgauen [an] und deren Abschiebung in das Generalgouvernement Polen«. Zwischen dem 15. Januar und Ende April 1940 gelte es 600000 jüdische Polen zu vertreiben.4 Heydrich hatte damit den Anspruch des Reichssicherheitshauptamtes unterstrichen, die weitere Deportationspolitik aus Berlin vorzugeben. Dabei fällt auf, dass er einerseits in der geforderten Vertreibung vor allem der jüdischen Bevölkerung eine Reideologisierung der Deportationspolitik durchzusetzen versuchte, sich andererseits aber offensichtlich gezwungen sah, den in Krakau festgelegten Zeitplan deutlich zu relativieren. War dort noch von der Deportation von einer Million Juden und Polen bis Ende Februar 1940 die Rede gewesen, hatten die bisherigen Schwierigkeiten nicht nur die Ausweitung des Zeitraums, sondern auch die gleichzeitige Reduzierung der abzuschiebenden Personen um fast die Hälfte notwendig gemacht. Um die Kontrolle und den direkteren Zugriff des Reichssicherheitshauptamtes auch organisatorisch abzusichern, gab Heydrich die Ernennung Eichmanns zum »Sonderreferenten« bekannt, dessen Referat IV R nun die »zentrale Bearbeitung der sicherheitspolizeilichen Angelegenheiten bei der Durchführung der Räumung Die Zahl stammte aus einer nach Landkreisen geordneten Übersicht des SD vom 12. Dezember 1939, SMR 500-1/88, Bl. 199f. 3 Unsigniertes und undatiertes Dokument, betr. Berechnung der Abschiebezahlen, vermutlich SD Posen Ende Dezember 1939, AGK 68/99, Bl. 17–22. 4 Ankündigung Heydrichs, 21. Dezember 1939, AGK 68/97, Bl. 1–7. 2 193 im Ostraum« übernehmen werde.5 Während Ehlich also die »Deportations- und »Rückvolkungs«-Strategie« verantwortete, war Eichmann nun »für die Logistik zuständig«.6 In den von ihnen geleiteten Referaten liefen bis zum Kriegsende die Fäden der deutschen Vertreibungs- und Selektionspolitik in den von den Deutschen besetzten Gebieten zusammen. In Polen unterstanden ihnen sowohl die Einwandererzentralstelle als auch die regionalen Deportationsstellen, also die späteren Umwandererzentralstellen.7 Die ersten konkreten Vorarbeiten zum zweiten Nahplan begannen mit einer Besprechung am 4. Januar 1940 bei Eichmann, zu der die Sachbearbeiter bei den Inspekteuren der Sicherheitspolizei in den annektierten Gebieten und beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau geladen waren. Dabei handelte es sich aber wohl weniger um einen weiteren Versuch Eichmanns, nach dem gescheiterten Nisko-Experiment die Deportation der Juden gleichsam eigenmächtig erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Eichmann handelte stattdessen wiederum auf ausdrückliche Anweisung seiner Vorgesetzten. Wenn es zu Modifikationen kam, dann auf Druck von außen. Die Regierung in Krakau bestand darauf, das »vom Generalgouvernement vorgeschriebene Kontingent« auch tatsächlich einzuhalten, und zwang Eichmann, die Zahl der zu deportierenden jüdischen Polen noch einmal drastisch zu senken: und zwar auf 350000, also auf fast die Hälfte der noch vor kurzem von Heydrich geforderten 600000 Juden.8 Aber auch die Vertreter des Warthelands waren unzufrieden, kamen doch täglich neue Trecks von ethnischen Deutschen aus den der Sowjetunion überlassenen Gebieten Ostpolens, Wolhynien und Galizien an, obwohl die meisten Auffanglager im Wartheland noch mit Balten belegt waren, Heydrich an BdS Krakau und IdS in Danzig, Posen, Breslau, Königsberg, 21. Dezember 1939, SMR 500-1/4, Bl. 67, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 32. 6 Roth, »›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹«, S. 34. 7 Eine Übersicht über die sich verändernde Organisationsstruktur im Reichssicherheitshauptamt bei Wildt, Generation des Unbedingten, S. 358–362 u. 381. 8 Niederschrift der Besprechung am 4. Januar 1940, gez. SS-Hauptsturmführer aus Danzig, Franz Abromeit, 8. Januar 1940, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 29–31. 5 194 deren Ansiedlung sich verzögerte.9 Um die Neuankömmlinge unterzubringen, konnten nicht nur Juden deportiert werden, das Wartheland setzte überdies durch, zusätzlich – und wie sich später herausstellte: vor allem – 80000 christliche Polen zu deportieren, deren Wohnungen erfahrungsgemäß eher gebraucht wurden.10 Es waren aber nicht allein die Bedürfnisse der jeweiligen Besatzungsverwaltungen, die aufeinander abgestimmt werden mussten: Das Reichssicherheitshauptamt sah sich bald mit Forderungen der deutschen Wirtschaft konfrontiert. Nachdem der rasant ansteigende Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft mit dem Zwangseinsatz der polnischen Kriegsgefangenen nur vorübergehend gelindert werden konnte, richteten sich die Begehrlichkeiten schnell auf das scheinbar unerschöpfliche Potential polnischer Zivilarbeitskräfte. In akuten Zugzwang wurde das Reichssicherheitshauptamt durch die Anordnung Görings vom 16. November 1939 gebracht, die Verschleppung von polnischen Arbeitskräften »im größten Ausmaß zu betreiben«, schließlich fiel die Kontrolle von Ausländern im Deutschen Reich in den eigenen Zuständigkeitsbereich.11 Bereits bei der Erarbeitung des Fernplans vom November 1939 hatte sich Ehlich gezwungen gesehen, die Forderungen des Reichsnährstandes nach 1,7 Millionen polnischen Landarbeitern zu diskutieren. Und tatsächlich hatte der Staatssekretär im Reichsernährungsministerium, Herbert Backe, diese Forderung bekräftigt und den Bedarf am 12. Dezember 1939 mit 1,5 Millionen polnischen Landarbeitern angegeben.12 Am 5. Januar 1940 traf Otto Ohlendorf, Leiter der Amtes III und Ehlichs und Eichmanns Vorgesetzter, mit Regierungsrat Dr. Helmut Kästner vom Reichsarbeitsministerium zusam- Zwischen dem 25. Dezember 1939 und dem 9. Februar 1940 erreichten 119771 Personen das Wartheland, Undatierter Bericht des Leiters des VoMi-Einsatzstabes in Lodz, SS-Obersturmbannführer Ludwig Doppler, BArch R 49/20, Bl. 11–28. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Bei Luhmans, Himmler’s Auxilliaries, S. 164, ist fälschlicherweise der 26. Januar 1940 als Enddatum angegeben. 10 Niederschrift der Besprechung am 4. Januar 1940, gez. SS-Hauptsturmführer aus Danzig, Franz Abromeit, 8. Januar 1940, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 29–31. 11 Herbert, Fremdarbeiter, S. 79. 12 Ebenda. Siehe auch Umbreit, »Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft«, S. 258–264; Kroener, »Die persönlichen Ressourcen des Dritten Reiches«, S. 774–778. 9 195 men. Dabei musste Ohlendorf Zugeständnisse machen, versuchte diese jedoch gleichsam rassisch zu neutralisieren: Wenn man sich schon dem Druck der Wirtschaft nicht entziehen und die aus rassischen Gründen unerwünschte »Anwerbung« von Ausländern nicht verhindern könne, so bestehe das Reichssicherheitshauptamt doch darauf, nur solchen Arbeitskräften den Grenzübertritt ins Deutsche Reich zu gestatten, die vorher durch die SS rassisch gemustert worden wären. Zur praktischen Klärung dieser Fragen ordnete Ohlendorf für den 11. Januar 1940 eine Besprechung in Posen an, zu der sich unter dem Vorsitz Rapps wiederum Kästner vom Reichsarbeitsministerium sowie Vertreter der Deportationsbeauftragten bei den Inspektoren der Sicherheitspolizei un des SD in Danzig-Westpreußen und im Wartheland und der jeweiligen Landesarbeitsämter einfanden. Vom Wartheland wurde die Bereitstellung von zunächst 100000 Arbeitskräften für die deutsche Landwirtschaft erwartet. Der Leiter der Abteilung Arbeit in der Reichsstatthalterei, Oberregierungsrat Ernst Kendzia, erhob scharfe Einwände und verwies auf die 20000 Arbeitskräfte, die das Wartheland dem Deutschen Reich bereits im vorangegangenen Jahr zur Verfügung gestellt hatte. Die Erfüllung der neuen Forderungen sei »unmöglich«, das Wartheland könne keine weiteren Arbeitskräfte verlieren, die Deportationen müssten im Gegenteil eingestellt werden.13 Kendzia musste sich aber ebenso den Bedürfnissen der deutschen Kriegswirtschaft unterordnen wie auch Ehlich, der eingestand, zunächst sogar auf die ursprünglich vorgesehenen rassischen Musterungen zu verzichten. Die dafür notwendigen Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungshauptamtes standen noch nicht zu Verfügung – und die Rekrutierung von Zwangsarbeitern wurde natürlich nicht aus ideologischen Gründen aufgeschoben. Was blieb, war die Neutralisierung der angeblichen »Gefahr«, die sich aus der Unterlassung der rassischen Musterungen ergaben. So dachte man, die Rekrutierungen auf freiwillige Bewerber zu beschränken, die zudem aus den annektierten Gebieten stammen mussten, da aus dem Generalgouvernement ohnehin nur »Staatsfeinde« zu erwarten wären.14 Um das halluzinierte Risiko weiter zu minimieren, kündigte Ehlich an, diese Personen im Deutschen Reich Unsignierte Niederschrift, wahrscheinlich eines Mitarbeiters Rapps, über die Besprechung am 11. Januar 1940, AGK 68/146, Bl. 3–9. 14 Ebenda. 13 196 auch noch eigens zu kennzeichnen. Diese Drohung wurde durch die Einführung des P-Abzeichens für polnische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich ab März 1940 dann auch wahr – also noch bevor die jüdischen Deutschen mit einem gelben Stern gebrandmarkt wurden.15 Am Erfolg dieser »freiwilligen« Meldungen zweifelte man nicht, da die Alternative hieß, mittellos und ohne Unterkunft ins Generalgouvernement verschleppt und aller Wahrscheinlichkeit nach von den deutschen Behörden dort zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden. Der Arbeitskräftemangel hatte damit einen – erneuten – Kurswechsel in der gesamten Germanisierungspolitik erzwungen und den Deportationsbehörden eine weitere Aufgabe zugewiesen. Wie es in einer Niederschrift aus Rapps Dienststelle heißt: »Zu der bisherigen Aktion der Evakuierung und der Unterbringung von Balten- und Wolhyniendeutschen sei nun die Abschiebung der vom Reich geforderten polnischen Landarbeiter hinzugekommen.«16 Der SD-Leitabschnitt in Posen hatte bereits in den vergangenen Wochen in einem Minenfeld konfligierender Anforderungen agieren müssen, in dem Himmler und Heydrich die Deportation vor allem von Juden und Kongresspolen befahlen, während Greiser, seine Landräte und später auch die SS-Ansiedlungsstäbe zuerst auf die gesellschaftliche Elite zielten, um potentiellen politischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung auszuschalten und gleichzeitig die einwandernden ethnischen Deutschen unterzubringen. Hatte sich Rapp systematisch gegen die ideologisch begründeten Selektionskriterien gewandt und war dafür etwa von Eichmann kritisiert worden, sah er sich jetzt mit neuen Forderungen konfrontiert: Die Deportationen sollten sich nun zusätzlich auch an den Erfordernissen des deutschen Arbeitsmarktes ausrichten. Die aus dem Reichssicherheitshauptamt kommenden Forderungen nach einer ideologischen Ausrichtung der Deportationspolitik wurden in der Vorbereitung der kommenden Deportationen jedoch zunehmend durch andere überlagert. Sorgen bereiteten die Verknappung der Arbeitskräfte, die durch die Rekrutierung für die deutsche Kriegswirtschaft akut zu werden drohte und sich durch die Siehe ausführlicher Herbert, Fremdarbeiter, S. 74–82, sowie Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 93f. 16 Unsignierte Niederschrift, wahrscheinlich eines Mitarbeiters Rapps, über die Besprechung am 11. Januar 1940, AGK 68/146, Bl. 3–9. 15 197 weiter auszudehnenden Deportationen nur noch verschlimmern musste. Der SD hatte bereits frühzeitig begonnen, dies in Rechnung zu stellen, und eigens eine Rückstellungskartei für Personen angelegt, die wirtschaftlich unabkömmlich waren. Die Abteilungen Wirtschaft und Arbeit bei der Reichsstatthalterei waren damit nicht zufrieden und der SD wurde dazu verpflichtet, diese Negativselektion in Abstimmung mit den betroffenen Betrieben und Arbeitsämtern zu treffen, um so »in jedem Fall Rücksicht auf Unabkömmlichkeitserklärungen« zu nehmen.17 Die Krise auf dem Arbeitsmarkt erklärt auch die Resonanz, die eine weitere Kritik an der Selektionspraxis des SD annehmen konnte und schließlich auch die Germanisierungspolitik affizierte. Bei einem Besuch in Posen hatte Frick offensichtlich Kritik an der seiner Meinung nach zu rigiden Selektionspraxis des SD geübt und Greiser aufgefordert, »bei den Evakuierungsmaßnahmen in weitaus größerem Maße als bisher Rücksicht auf sogenannte Grenzfälle« zu nehmen.18 Greiser schien Frick zuzustimmen, gab jedenfalls die Kritik an Koppe weiter und forderte diesen auf, »mehr als bisher die Möglichkeit der Assimilierung solchen Personen gegenüber anzuwenden«. Und Greiser hatte auch klare Vorstellungen, welche Personen besonders geeignet wären. In einem weiteren Beleg für die deutliche wirtschaftliche Schlagseite der Germanisierungspolitik ließ er Koppe wissen, dass »die Frage des Handarbeiters hierbei von besonderer Bedeutung« sei, diese Berufsgruppe für eine Assimilierung also besonders infrage käme.19 Das nach der Ermordung und Verschleppung der Spitzen der politischen Opposition mittlerweile wohl drängendste Problem, das zu lösen die Deportationen beitragen mussten, war aber die Unterbringung der vor allem im Wartheland in immer größerer Zahl ankommenden ethnischen Deutschen. Auch Ehlich und Eichmann begannen zu akzeptieren, dass dies nicht ohne Konsequenzen für die Deportationen bleiben konnte. In einer Besprechung am 17. Januar 1940 wurde das Ausmaß des inzwischen eingetretenen Dilemmas deutlich: Zu den mehr als 30000 Umsiedlern aus dem Baltikum, die immer noch in Lagern auf ihre Unterbringung warteten, waren Koppe an die Regierungspräsidenten, Landräte, Gestapo, SD, 20. Januar 1940, AGK 68/96, Bl. 8–10 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 18 Greiser an Koppe, 3. Januar 1940, AGK 62/293, Bl. 21. 19 Ebenda. 17 198 in der Zwischenzeit 80000 aus Wolhynien hinzugekommen. Diese »Schwierigkeiten, die aus der Wechselwirkung zwischen Ansetzung der Volksdeutschen und Evakuierung der Polen und Juden entstehen«, nahmen ein Ausmaß an, das den beiden nur bei einer Chefbesprechung unter Heydrich lösbar schien. Bis dahin blieb den Planern im Reichssicherheitshauptamt nichts weiter übrig, als sich den Überlegungen ihrer Kollegen vom SD-Leitabschnitt in Posen anzuschließen und ebenfalls zu befinden, »daß für den Warthe-Gau unter allen Umständen in Form einer Evakuierung Raum geschaffen werden muß«. Die Unterbringung der Umsiedler, so nun auch das Reichssicherheitshauptamt, war wichtiger als die Abschiebung von Juden und Kongresspolen. In jedem Fall musste dafür der sich verhärtende Widerstand Franks überwunden werden, überhaupt weitere Personen aufzunehmen. Eichmann wusste sich die starke Stellung der SS im Generalgouvernement zunutze zu machen. Nur einen Tag vorher hatte er sich telefonisch direkt an Streckenbach gewandt, der »die Notwendigkeit einer gewissen vordringlichen Räumung im Warthe-Gau ein[gesehen]« und – offensichtlich über Frank hinweg – der Aufnahme von 40000 Personen zugestimmt hatte. Beiden war aber klar, dass dadurch nicht mehr als 20000 Umsiedler untergebracht werden konnten, dieser Schritt in Ehlichs Sicht also nur ein »Notventil« war. Ein weiteres Problem, dem sich Ehlich und Eichmann gegenübersahen, betraf die Versprechungen Ohlendorfs an das Reichsarbeitsministerium. Als Erste sollten die Balten angesiedelt werden, da sie länger in Lagern saßen als die erst kürzlich angekommenen Umsiedler aus Ostpolen. Da aber die meisten aus Städten kamen und deshalb auch wieder in Städten untergebracht werden sollten, war bereits absehbar, dass die dafür zu vertreibenden Polen in der Mehrzahl »für eine manuelle Arbeit im Altreich nicht in Frage kommen« würden. Ehlich und Eichmann mussten also nicht nur konstatieren, dass die von Himmler und Heydrich geforderte Abschiebung von Juden und Kongresspolen nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu Ohlendorfs Konzessionen an das Reichsarbeitsministerium stand, sondern dass beides mit der Notwendigkeit, die Umsiedler unterzubringen, nicht zu vereinbaren war. Dem Versuch, die Deportationsplanung en détail aus dem Reichssicherheitshauptamt zu steuern, drohte damit der Kollaps. Bevor man sich jedoch dieses Scheitern eingestand, wurde es in gewohnter Manier kaschiert. 199 Ehlich zog es vor, von einer »Zwischenlösung« zu sprechen, die sich dann zu einem »Zwischenplan« auswuchs, der noch vor dem zweiten Nahplan eingeschoben werden sollte.20 Die Konferenz fand am 30. Januar 1940 in Berlin statt. Äußerst hochrangig besetzt, sollten hier zum ersten Mal gültige Rahmenbedingungen für die Deportationen des laufenden Jahres vorgegeben werden.21 Dabei brach Heydrich deutlich mit der bisherigen Planung im Reichssicherheitshauptamt und beugte sich erstmals den Realitäten vor Ort: In einer ersten »Massenbewegung« – dem späteren Zwischenplan – sollten »40000 Polen und Juden im Interesse der Baltendeutschen« und in einer zweiten – dem zweiten Nahplan – »120000 Polen im Interesse der Wolhyniendeutschen« vertrieben werden.22 Die Vertreibung der Juden, die zuvor von Himmler und Heydrich immer als oberste Priorität angesehen worden war, sollte nun zuletzt erfolgen, in einer dritten und abschließenden Deportationswelle. Danach würden – und hier kam Heydrich auf ein bereits in Krakau gefasstes Vorhaben zurück – noch einzurichtende »Umwanderungsstellen« die rassische Musterung der verbliebenen einheimischen Bevölkerung in »Deutsche« und »Polen« vornehmen. Heydrich hatte damit die durch die Ethnokraten im Wartheland forcierte Prioritätensetzung akzeptiert, in der der Unterbringung der ethnischen Deutschen absoluter Vorrang eingeräumt wurde. Vermerk Ehlichs, betr. Zwischenlösung zum 2. Nahplan, 17. Januar 1940, BA-DH, ZR 890/A.2. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Siehe auch Aly, »Endlösung«, S. 78f. 21 Unsignierte Niederschrift des Referats III ES der Besprechung vom 30. Januar 1940, NO-5322, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 66–75. Neben Heydrich nahmen teil der Chef der Regierung des Generalgouverneurs, Reichsminister Seyß-Inquart, die HSSPF in Danzig, Königsberg, Posen, Krakau, Greifelt und sein Stellvertreter Creutz, die SSPF und KdS des Generalgouvernements, die Gestapochefs der annektierten Gebiete sowie Best, Ehlich, Eichmann und weitere Vertreter des RSHA. Zu dieser Konferenz siehe auch Vermerk Rapps für Koppe, Damzog und Döring 1. Februar 1940, AGK 68/109, Bl. 1–3. Erstaunlich wenig Beachtung findet diese Sitzung bei Aly, »Endlösung«, S. 82f., Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 98–100, Longerich, Politik der Vernichtung, S. 266f. 22 Unsignierte Niederschrift des Referats III ES der Besprechung vom 30. Januar 1940, NO-5322, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 66–75. 20 200 Schwerer noch als die Zugeständnisse an die Bedürfnisse der ethnischen Deutschen wogen die an die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes: In der nächsten Zeit waren – so Heydrich – 800000 bis eine Million polnischer Arbeitskräfte für die deutsche Landwirtschaft zu rekrutieren, von denen das Wartheland lediglich 20000 und Danzig-Westpreußen sogar nur 8000 stellen könnten. Stattdessen sah sich das Reichssicherheitshauptamt genötigt, einer Option zuzustimmen, die bislang stets ausgeschlossen worden war: der Verschleppung polnischer Arbeitskräfte aus dem Generalgouvernement. Die vom SD-Leitabschnitt in Posen im Rahmen des ersten Nahplans entwickelte Selektionspraxis änderte sich jedoch nicht. Mochte Eichmann nur zwei Tage vorher auch die vorrangige Deportation von Juden und Kongresspolen gefordert haben – Strickner wies seine Untergebenen dennoch an, für die »nächste Evakuierung« wie bisher zunächst die »Träger der polnischen Intelligenz, die gleichzeitig politisch vorbelastet sind«, auf die Deportationsliste zu setzen, war doch nur dadurch »die Erfassung guter Wohnungen zu gewährleisten«.23 Von der Erfassung von Kongresspolen und Juden war keine Rede.24 Bis der erste Deportationszug im Rahmen des Zwischenplans mit 1000 Personen den Bahnhof Posen-Ost verließ,25 dauerte es dann Arbeitsanweisung Strickners an Abt. III, 6. Januar 1940, AGK 68/7, Bl. 1 [Hervorhebung im Original, G.W.]. Daran änderte übrigens auch die Anweisung Koppes vom 14. Januar 1940 wenig, in der dieser zwar die Deportation vor allem von Juden befahl. Doch er ließ eben auch die Erfassung von christlichen Polen zu, solange ihre Vertreibung für die Unterbringung von ethnischen Deutschen erforderlich sei. Die vorher noch bei Eichmann ausgehandelte Obergrenze von 80000 christlichen Polen wurde hier nicht erwähnt, Koppe an Reichsstatthalter, Regierungspräsidenten, Landräte etc., 14. Januar 1940, AGK 68/98, Bl. 1–4. 24 Der Leiter der Zentralkartei beim SD, SS-Hauptscharführer Blenk, an Rapp, 20. Januar 1940, AGK, 68/7, Bl. 10–13. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Siehe auch als Vorbereitung Haußmanns Zusammenstellung der deutschfeindlichen polnischen Organisationen, 3. Januar 1940, BArch R 75/5, Bl. 11, und Rapp an Eichmann, betr. Arbeitsgang bei der Evakuierung, Überprüfungs- und Erfassungsstelle, 20. Februar 1940, AGK 68/7, Bl. 15–19. 25 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. Für das Dokument danke ich Peter Klein. Siehe auch die undatierte Übersicht mit leichten Abweichungen, von vermutlich unmittelbar vor dem Beginn der Deportationen, AGK 68/96, Bl. 22. 23 201 Polen vor dem Eingang des Durchgangslagers Mogilno-Kloster vor ihrer Abschiebung ins Generalgouvernement. Diese Deportation fand im Rahmen des Zwischenplans statt und wurde mithilfe des Polizeibataillons 103 durchgeführt, das hier von örtlichen Volksdeutschen unterstützt wurde. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) A10327 Abtransport vom Durchgangslager zum Bahnhof in Mogilno. Collection of Archive of Modern Conflict (AMC) A10327 202 noch bis zum 10. Februar 1940.26 In den folgenden Wochen wurden bis zum 15. März 1940 in 40 Transporten 40128 Menschen ins Generalgouvernement deportiert.27 Wie beim ersten Nahplan wurde diese Zahl in den überlieferten Berichten jedoch nicht weiter differenziert. Es ist deshalb weder mit Sicherheit feststellbar, aus welchen Kreisen des Warthelandes die Deportierten kamen, noch wie viele von ihnen autochthone Polen, Kongresspolen oder Juden waren. Aus meiner Sicht gibt es jedoch keinen Grund anzunehmen, dass sich die Selektionskriterien geändert hatten. Da es vor allem um die Unterbringung von Stadtbewohnern aus dem Baltikum ging, waren Hauptleidtragende polnische Stadtbewohner, die entweder politische Aktivisten und/oder Besitzer guter Wohnungen waren. Juden waren wiederum kaum betroffen. Alberti notiert, dass unter den über 24000 Menschen, die aus Lodsch und Posen deportiert wurden, nicht mehr als 2018 Juden waren.28 Und zumindest in Lodsch scheint dies eher eine Ausnahme gewesen zu sein. So wurden etwa bei den Erfassungen am 4. März 1940 auch Juden aus ihren Wohnungen vertrieben – aber nur, weil ihre Wohnungen im Stadtzentrum für die Balten gebraucht wurden. Dieser Vertreibung folgte dann auch keine Abschiebung ins Generalgouvernement, sondern die Einweisung in Ersatzwohnungen, die später dem Ghetto zugeschlagen wurden. Deren – christliche – Bewohner hingegen wurden abgeschoben.29 Dem Amt für Umsiedlung war es offensichtlich Ernst, die Deportationen an den Bedürfnissen der Balten auszurichten, wie Rapp dem Regierungspräsidium in Kalisch auseinandersetzte, das wie andere Stellen der Zivilverwaltung zwar nicht Juden, aber etwa Fürsorgeempfänger abschieben wollte: »Der Zwischenplan, der le- Ursprünglich war der Beginn für den 7. Januar 1940 festgelegt worden, bevor er dann jeweils wochenweise bis auf den 10. Februar verschoben wurde, Koppe an Greiser, 4. Januar 1940, AGK NTN/13, Bl. 36f., Damzog an Rapp, 12. Januar 1940, AGK 68/114, Bl. 9, und Koppe an Greiser und Landräte, 1. Februar 1940, AGK 68/98, Bl. 1–4. 27 Kleinmann an Himmler, 1. März 1940, BArch R 49/2791, ohne Seitenangabe. Kleinmann führt für diese Zeit 41 Züge auf, einer davon fuhr jedoch am 13. Februar 1940 aus Stettin los und schob zum ersten Mal jüdische Deutsche nach Polen ab, in diesem Fall nach Lublin. Für das Dokument danke ich Peter Klein. 28 Siehe Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 141, der sich dabei auf Angaben der Umwandererzentralstelle stützt. 29 Barth an Rapp, 7. März 1940, AGK 68/129, Bl. 1. 26 203 diglich zur Schaffung von Wohnungen und endlichen Einsiedlung der Balten aufgestellt wurde, verträgt leider keine Evakuierungen, die nicht gleichzeitig Erwerbs- und Wohnungsmöglichkeiten für Baltendeutsche schaffen.«30 Zweiter Nahplan: rassische Angstphantasien und Arbeitskräftemangel Vor allem die Planer im Reichssicherheitshauptamt hatten sich damit abfinden müssen, dass die zur Deportation vorgesehene einheimische Bevölkerung zuerst nach sicherheitspolizeilichen Kriterien und schließlich danach selektiert wurde, inwieweit ihre Verschleppung der Unterbringung der »volksdeutschen« Umsiedler diente – aber eben nicht in erster Linie nach rassisch-ideologischen Kriterien. Dies war insofern vertretbar geworden, als die weitgehende Ausnahme der jüdischen Polen zwar aus ideologischen Gründen bedauerlich war, aber durch die damit zu beschleunigende Ansiedlung von ethnischen Deutschen durchaus dem gleichen Ziel folgte: der Germanisierung der annektierten Gebiete. Die Vereinbarung zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und dem Reichsarbeitsministerium markierte hier einen grundlegenden Wandel: Die Ethnokraten sahen sich erstmals mit der Forderung konfrontiert, mit dem Arbeitskräftemangel der deutschen Wirtschaft einen Faktor zu berücksichtigen, der der Funktionslogik der bisherigen Germanisierungspolitik nicht nur äußerlich war, sondern ihr sogar widersprach. Aus rassischer Perspektive war die Gefahr nur zu offensichtlich: Zur Deportation vorgesehene Personen würden unter Umständen nicht etwa ins Generalgouvernement abgeschoben, sondern aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten ins Deutsche Reich verschleppt werden. Der Arbeitskräftemangel im Deutschen Reich drohte also nicht nur die Selektionskriterien in den annektierten Gebieten zu affizieren, sondern auch noch das Deutsche Reich rassischen und völkischen Gefahren auszusetzen. Wollte das Reichssicherheitshauptamt politisch handlungsfähig bleiben und an dem Anspruch festhalten, die Deportationspolitik aus Berlin zu steuern, musste ein Weg gefunden 30 Rapp an Regierungspräsidium Kalisch, 6. März 1940, AGK 68/96, Bl. 35f. Siehe auch Oberbürgermeister der Stadt Posen, Dr. Gerhard Scheffler, an den HSSPF, 5. März 1940, AGK 68/153, Bl. 1. 204 werden, ebendiese Risiken zu minimieren. Die Lösung: Synchronisierung von Germanisierungspolitik und Arbeitseinsatz. War es Ohlendorf am 5. Januar noch gelungen, die ihm abgerungene Zusage der Rekrutierung von zunächst 100000 polnischen Zwangsarbeitern an deren rassische Musterung zu binden, musste er bald feststellen, dass der SS die hierfür notwendigen personellen Ressourcen nicht zur Verfügung standen. Für das erste Quartal 1940 finden sich folglich auch keine Hinweise auf (Massen-)Rekrutierungen von polnischen Zwangsarbeitern in den annektierten Gebieten, und niemand scheint im Rahmen des Zwischenplans anstatt ins Generalgouvernement ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit abgeschoben worden zu sein. Natürlich schloss dies die Vermittlung von »Freiwilligen« durch die lokalen Arbeitsämter nicht aus. Heydrich hatte diesen am 30. Januar diesbezüglich so lange freie Hand gelassen, bis der SS-Apparat die rassische Musterung einer größeren Anzahl von Personen sicherstellen konnte. Die Zahl der aus dem Wartheland ins Deutsche Reich verbrachten (Zwangs-)Arbeiter mit 49000 bis 30. April 1940 blieb dennoch verhältnismäßig gering,31 zumal ca. 20000 bereits bis Ende 1939 vermittelt worden waren.32 Dies ist umso bemerkenswerter, als der Druck aus dem Deutschen Reich nicht nachließ. Nur wenige Tage nach der Besprechung bei Heydrich wurde auf einer Ministerratssitzung am 2. Februar 1940 die Forderung nach polnischen Landarbeitern ebenso bekräftigt33 wie weitere zehn Tage später auf einer Besprechung bei Göring. Am 12. Februar 1940 hatten sich in Karinhall Frank, die vier Gauleiter in den annektierten Gebieten, Himmler, Winkler und eine Reihe Staatssekretäre eingefunden, um über »Ostfragen« zu beraten. Was Göring darunter vor allem verstand, machte er den Versammelten gleich zu Beginn klar, als er feststellte, »daß oberstes Ziel aller im Osten zu treffenden Maßnahmen die Stärkung des Kriegspotentials des Reiches sein muß« – und nicht etwa die schnellstmögliche Germanisierung der annektierten Gebiete. Im Gegenteil: Nur dann sei »die größtmögliche landwirtschaftliche Produktion aus den neuen Ostgauen herauszuholen«, wenn »genügend Arbeitskräfte im Lande Kroener, Die persönlichen Ressourcen des Dritten Reichs, S. 775. Aussage Kendzias auf der Besprechung am 11. Januar 1940, unsignierte Niederschrift, wahrscheinlich eines Mitarbeiters Rapps, über die Besprechung am 11. Januar 1940, AGK 68/146, Bl. 3–9. 33 Herbert, Fremdarbeiter, S. 87. 31 32 205 bleiben. Das werden weitestgehend Polen sein.« Das hieß natürlich nicht, dass die Deportationen von Arbeitskräften generell untersagt wurden, schließlich wurde der Arbeitskräftemangel der deutschen Kriegswirtschaft immer bedrohlicher. Im Protokoll heißt es dann auch: »Alle Evakuierungsmaßnahmen sind darauf abzustellen, dass brauchbare Arbeitskräfte nicht verschwinden. Darüber hinaus müssen die gesamten Ostgebiete die vorgesehene Zahl von Arbeitskräften an das Reich abgeben.«34 Obwohl Göring mit dieser an wirtschaftlichen Kriterien orientierten Deportationsplanung sicherlich die Vorstellungen Himmlers und in Teilen auch die mancher Gauleiter infrage stellte, ist dieser Interessenkonflikt dem kurzen Besprechungsprotokoll kaum zu entnehmen. So vermerkt das Protokoll keinen Widerspruch, als sich Himmler bereit erklärte, die »Übernahme« von bis zu 240000 »Volksdeutschen« aus Litauen, Bessarabien und der Bukowina »mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Umsiedlung und die Kriegsnotwendigkeiten« zurückzustellen; an der Unterbringung von 200000 Balten und Wolhyniern aber hielt er fest.35 Frank jedenfalls verbuchte diesen Verlauf als Erfolg und notierte zwei Wochen später optimistisch in seinem Diensttagebuch, dass der Plan, alle 7,5 Millionen Polen aus den annektierten Gebieten hierher abzuschieben, endgültig vom Tisch sei und ihm auch ein Vetorecht bei allen weiteren Deportationen ins Generalgouvernement zugesagt worden war.36 Sicherheitshalber erwirkte er aber einen Erlass Görings, in dem dieser alle involvierten Stellen anwies: »Ich verbiete weitere […] Deportationen ohne meine Genehmigung und ohne Nachweis des Einverständnisses seitens des Herrn Generalgouverneurs.«37 Unter anderem anwesend waren noch die Staatssekretäre Körner, Neumann (Vierjahresplanbehörde), Landfried (Reichswirtschaftsministerium, Backe (Reichsernährungsministerium), Syrup (Reichsarbeitsministerium), Kleinmann (Reichsverkehrsministerium), Alpers (Reichsforstamt), Tagung bei Göring, 12. Februar 1940, EC-305a. 35 Ebenda. 36 Sitzung des Reichsverteidigungsausschusses am 2. März 1940, S. 131, und Dienstversammlung der Kreis- und Stadthauptmänner des Distrikts Lublin, 4. März 1940, S. 146f., auszugsweise abgedruckt in: Präg/Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs; siehe auch Browning, »Von der ›ethnischen Säuberung‹ zum Völkermord«, S. 24f. 37 Anordnung Görings, betr. vorläufiges Deportationsverbot in das Generalgouvernement, 24. März 1940, abgedruckt in: Pätzold (Hg.), Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung, S. 262. 34 206 Zudem brachte er auch den bereits aufgeworfenen Verfahrensvorschlag ins Spiel, anstatt Personen aus den annektierten Gebieten ins Generalgouvernement auszuweisen, nur um sie von dort als Zwangsarbeitskräfte ins Deutsche Reich weiterzuleiten, sie doch gleich direkt ins Deutsche Reich zu verschleppen. Dem Reichssicherheitshauptamt blieb damit lediglich die Sorge, wie die vermeintliche rassische Bedrohung zu bannen war, die sich durch die Öffnung der Grenzen für eine so große Anzahl von polnischen Zwangsarbeitern ergab. Ulrich Herbert scheint die politische Brisanz dieser Situation zu verkennen, wenn er unterstellt, dass die SS darauf allein mit forciertem Terror reagierte.38 Die wachsende Abhängigkeit von angeblich minderwertigen Menschen sollte zwar mit Gewalt erträglich gemacht werden und führte zu den sogenannten Polenerlassen vom 8. März 1940, die polnische Zwangsarbeiter einer Reihe von diskriminierenden Beschränkungen unterwarfen und im Deutschen Reich ihre Kennzeichnung mit einem »P« durchsetzte.39 Dieser – wie Herbert es nennt – »Terror als Herrschaftskompromiß« mochte die Gefahren begrenzen, die mit dem Aufenthalt von Ausländern innerhalb des Deutschen Reiches verbunden wurden, ausschalten konnte er sie in SS-Perspektive nicht.40 Der für den Nationalsozialismus charakteristische Wunsch nach »Endlösungen« ließ die Ethnokraten im Reichssicherheitshauptamt nicht ruhen und setzte schließlich die Forderung nach rassischen Musterungen bald wieder auf die Tagesordnung. Am 2. Februar 1940 legte Ehlich Heydrich eine Denkschrift vor, die rassische Musterungen erstmals ins Zentrum des zweiten Nahplans rücken sollte. Eindringlich wurde hier die »rassische Bestandsaufnahme der gesamten polnischen Bevölkerung« zur Voraussetzung für »die gesamte Volkstumspolitik im deutschen Osten« erklärt«. Obwohl Heydrich noch am 30. Januar den Beginn dieses Unterfangens auf die Zeit nach der Deportation der jüdischen Polen verschoben hatte, drängte Ehlich nur drei Tage später auf eine Revision. In der Zwischenzeit hatte sich nämlich herausgestellt, dass die an die Einwandererzentralstelle abgestellten RuSHA-Eignungsprüfer bereits Ende April die »Schleusung« der Wolhynier und Galizier abHerbert, Fremdarbeiter, S. 81–85. Zu den »Polenerlassen« siehe Schminck-Gustavus, »Zwangsarbeitsrecht und Faschismus«, S. 16–21. 40 Herbert, Fremdarbeiter, S. 81. 38 39 207 schließen würden. Genau zu diesem Zeitpunkt aber würde vermutlich auch der zweite Nahplan anlaufen, der die Deportation von etwa 120000 Menschen vorsah. Laut Ehlich reichte die Zahl an Eignungsprüfern für die »noch durchzuführende[n] Gesamterfassung« zwar nicht aus, aber es sei doch eine »Teilerfassung« möglich, ja »erforderlich«. Zu diesem Zweck sollten neue Dienststellen, sogenannte »Umwanderungszentralstellen«, gegründet werden, die die rassischen Musterungen in den Deportationsprozess integrieren würden. Damit war die imaginierte Gefahr gebannt, die sich in der nationalsozialistischen Vorstellungswelt mit der Rekrutierung einer großen Anzahl von »fremdvölkischen« Arbeitskräften verband. Die Umwanderungszentralstellen würden jene identifizieren, die »rassisch für einen Einsatz in Form einer Landarbeiterfamilie im Altreich in Frage kommen« und sich »in den Evakuierungsvorgang als Filter einschalten, um den rassisch wertvollen Teil der Polen nach dem Altreich abzulenken«.41 Ehlichs Denkschrift wurde zum Leitfaden der Reorganisation des Umsiedlungsapparats an der Peripherie, der von weitreichenden Veränderungen im Reichssicherheitshauptamt begleitet wurde: Im Amt III kam es zur Einrichtung einer neuen Amtsgruppe III B (Volkstum) unter Ehlich42 und im Amt IV zur Einrichtung der Amtsgruppe IV D (Besetzte Gebiete) unter Dr. Erwin Weinmann, der Eichmanns Referat IV R (Räumung) als IV D 4 (Auswanderung und Räumung) zugeordnet wurde.43 Institutionell aufgewertet und personell besser ausgestattet konnten Ehlich und Eichmann die Planung der Germanisierungspolitik und die Steuerung der involvierten Institutionen in den annektierten Gebieten fortführen, die mit der Gründung der – so die endgültige Bezeichnung im Wartheland: »Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Umwandererzentralstelle« – nun ebenfalls neu geordnet wurden. Wie die Bezeichnung verdeutlicht, hatte Heydrich dieses Tätigkeitsfeld den Höheren SS- Denkschrift Ehlichs an Heydrich, betr. Errichtung von Umwanderungszentralstellen, 2. Februar 1940, BA-DH, ZR 890/A.2 (2). Für das Dokument danke ich Götz Aly. 42 Ehlich an Ohlendorf und Heydrich, 12. Februar 1940, SMR 500-4/72, Bl. 26–29. 43 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 352 u. 381f. 41 208 und Polizeiführern nun vollends entrissen und der direkten Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes unterstellt.44 Die Aufgaben der neuen Dienststelle waren aber freilich – bis auf eine bedeutende Neuerung – die gleichen geblieben. Erstens galt es nach wie vor, die zur Deportation anstehenden Personen zu selektieren und dabei auf den »Schutz deutschen Blutes« wie auch auf die »Rückstellung von in kriegswichtigen Betrieben beschäftigten Polen« zu achten.45 Zweitens mussten die Deportationen selbst in Verbindung mit den lokalen Stellen vorbereitet und angeleitet werden. Drittens – und dies war nun neu – verliefen die Deportationen nicht mehr in einem Zweierschritt, also zunächst in die jeweiligen Lager auf Kreisebene und von dort in das Generalgouvernement. Stattdessen wurden alle zunächst nach Lodsch deportiert, wo die Umwandererzentralstelle einen abgestuften Lagerbereich aufbaute, der die Betroffenen einem komplexen Selektionsprozess unterwarf. Das Ergebnis entschied darüber, ob sie wie bisher ins Generalgouvernement abgeschoben oder ins Deutsche Reich als (Zwangs-)Arbeiter verschleppt wurden. Mit Ausweitung der Deportationen auf die anderen annektierten Gebiete Westpolens wurde dieses Verfahren auch auf die dort vertriebenen Personen übertragen, sodass bald alle »Polenzüge« aus den annektierten Gebieten ins Generalgouvernement über den Lagerkomplex in Litzmannstadt geschleust wurden.46 Da die »Volksdeutschen« aus Wolhynien und Galizien mit der Bahn über den Verkehrsknotenpunkt Lodsch eintrafen und sowohl die Volks- Dieser Prozess war ein gradueller und lässt sich an der Bezeichnung der Dienststelle gut nachvollziehen: Aus »Der Höhere SS- und Polizeiführer, Amt für Umsiedlung von Polen und Juden« wurde »Der Inspekteur der Sicherheitspolizei, Umwanderungsstelle« und schließlich »Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Umwandererzentralstelle«. Als offizieller Gründungstermin gilt die Ankündigung Bests vom 24. April 1940 über die Einrichtung einer Umwandererzentralstelle, Best an den Reichsstatthalter, HSSPF und IdS in Posen, 24. April 1940, AGK 62/297, Bl. 101. Zu den Hintergründen siehe Klein, Die »Ghettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 138–141. 45 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, vermutlich Ende Januar 1941, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 46 Ebenda. 44 209 deutsche Mittelstelle als auch die Einwandererzentralstelle47 ihren Arbeitsschwerpunkt hierher verlegt hatten, war Lodsch – in dem bald auch das größte jüdische Ghetto auf »deutschem« Boden entstehen sollte48 – endgültig zur Drehscheibe der deutschen Bevölkerungspolitik in den annektierten polnischen Gebieten avanciert. Der Aufbau der Umwandererzentralstelle wurde diesem erweiterten Aufgabenbereich angepasst. Es wurden sieben Referate eingerichtet, die neben Organisation, Transportwesen, Kartei (Referat I), Verwaltung (Referat II), einer Beschwerdestelle (Referat V) und dem Polizeieinsatz (Referat VII) auch die Inspektion für die in Litzmannstadt neu einzurichtenden Lager umfasste (Referat III), die ärztliche »Betreuung« der Lager, also die ärztliche Musterung der Gefangenen (Referat VI), und eine RuS-Stelle (Referat IV), die ab dem 1. November 1940 in die – selbständige – RuSHA-Außenstelle Litzmannstadt umgewandelt wurde.49 Eine personelle, aber keine strukturelle Änderung ergab sich auch in der Leitung der Umwandererzentralstelle. Wie vorher unterstand sie dem Leiter des SDLeitabschnitts in Posen, ab Mai 1940 also dem SS-Hauptsturmführer Rolf-Heinz Höppner. Die Zentralisierung der Deportationsplanung im Reichssicherheitshauptamt bedeutete für die lokalen Höheren SS- und Polizeiführer zunächst einen massiven Kompetenzverlust. Dass sie sich dennoch als starke Akteure in der Germanisierungspolitik behaupten konnten, lag an dem zeitgleichen Ausbau der regionalen RKFZweigstellen, die in Posen SS-Oberführer Hans Döring unterstanden.50 Parallel zur Einrichtung der Umwandererzentralstelle wurde Best an Oberste Reichsbehörden, 3. Februar 1940, SMR 1372-6/26, Bl. 13. Zur Einrichtung des Ghettos in Łódź siehe Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, S. 147–193. 49 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 50 Vermerk Holzschuhers über die Unterrichtung durch Himmler, 1. Dezember 1939, BArch NS 2/60, Bl. 60–63, Himmlers Anordnung 13/I, 19. Dezember 1939, BArch R 138 I/33, Bl. 38, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 181, sowie die Bekanntmachung Greifelts, 9. April 1940, APK 119/10701, Bl. 48f., in der er die Einrichtung einer Abteilung anordnete, die gegenüber Entscheidungen der zivilen Verwaltung bei der Klärung der »Volkstumszugehörigkeit« als Be47 48 210 in Posen und in Litzmannstadt je ein SS-Ansiedlungsstab aufgestellt, denen wiederum lokale SS-Arbeitsstäbe in den Kreisen beigegeben wurden, in denen Ansiedlungen von ethnischen Deutschen anstanden. Ihre Aufgabe bestand darin, den ihnen zugewiesenen Kreis »kurz gesagt, deutsch zu machen«.51 Es waren diese Arbeitsstäbe, die als Erste den Druck zu spüren bekamen, der von jedem weiteren Transport ankommender ethnischer Deutscher ausging. Um jedem dieser Neuankömmlinge Beruf und Unterkunft zu sichern, fertigten sie Dorfskizzen an, erfassten die einzelnen Höfe auf sogenannten Hofkarten und planten Zusammenlegungen, wenn sie eine Mindestgröße von ca. 15 ha nicht erreichten – Letzteres eine Maßnahme zur Modernisierung der landwirtschaftlichen Struktur. Die dort lebenden Menschen wurden auf einer Liste erfasst, und mit der Bitte um deren Deportation wurde auch der Druck an die Umwandererzentralstelle weitergegeben, die die Listen zu genehmigen und die Deportationen zu organisieren hatte. Was als Arbeitsteilung gedacht war, scheiterte in der Praxis oft am Kompetenzgerangel dieser Institutionen untereinander sowie am engen Spielraum deutscher Gestaltungsmacht und sollte bis zum Ende der Besatzung immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Einen Vorgeschmack erhielt Rapp, als er SS-Obersturmführer Rudolf Barth nach Lodsch entsandte,52 um in Vorbereitung des Zwischenplans eine Außenstelle einzurichten. Kaum dort eingetroffen, stieß er mit einem Abgesandten Koppes zusammen, der ebenfalls für sich in Anspruch nahm, die Deportationen in Lodsch organisieren zu wollen.53 Und kaum hatte sich die Umwandererzentralstelle in diesem Kompetenzstreit durchgesetzt, zog Koppe einen schwerdeinstanz auftreten sollte und die SS auf Konfrontationskurs mit der Deutschen Volksliste brachte. 51 Gloystein an RuSHA, 20. April 1940, BDC SSO-Akte Georg Gloystein. 52 Siehe auch BDC SSO-Akte Rudolf Barth, UWZ-Personalakte unter AGK 358/6. 53 Unsignierte Telefonnotiz über ein Gespräch mit Barth, 1. Februar 1940, AGK 68/22, Bl. 7, Krumey an Rapp, 1. Februar 1940, AGK 68/22, Bl. 5, Barth an Rapp, 2. Februar 1940, AGK 68/12, Bl. 1–3, Zuständigkeitsabgrenzung durch den Leiter der RKF-Dienststelle Posen, SS-Oberführer Döring, 3. Februar 1940, AGK 68/218, Bl. 53, Barth an Rapp, 8. Februar 1940, AGK 68/22, Bl. 9. Siehe auch Vernehmung SS-Hauptsturmführers Alois Schwarzhuber durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen am 28. März 1969 (BArch 162/20047). Für das Dokument danke ich Götz Aly. 211 Teil der höheren SS-Offiziere aus dieser ihm entgleitenden Institution ab, versetzte sie in den Ansiedlungsapparat und schwächte damit die Umwandererzentralstelle personell.54 Dass sich die Auseinandersetzungen ausgerechnet in Lodsch ereigneten, kann bei der Bedeutung dieser Stadt für die deutsche Bevölkerungspolitik nicht verwundern. Aber auch die Ansiedlungs- und Deportationspolitik sollte die Stellung von Lodsch in der Topographie der deutschen Bevölkerungspolitik herausstreichen. Hatten die ersten Deportationen vor allem die westlichen Gebiete des Warthelandes und die Hauptstadt Posen erfasst,55 sollten die Deportationen im Rahmen des zweiten Nahplans vor allem die Grenzkreise zum Generalgouvernement erfassen. Es war diese Schwerpunktverlagerung in den Osten der Provinz, die in Posen zur Auflösung des Lagers Głowno56 und im März 1940 in Lodsch zur Aufwertung der bisherigen Außenstelle in eine Zweigstelle der Posener Umwandererzentralstelle führte.57 Neuer Leiter in Lodsch wurde SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey,58 der damit – neben Höppner – zur wichtigsten Person innerhalb dieser Organisation avancierte. Während Höppner in Posen sich auf die Klärung grundlegender Fragen und den Verkehr mit den übergeordneten Dienststellen konzentrierte, oblag Krumey in Lodsch die Leitung und Koordination der Vertreibungsaktionen.59 Die Entscheidung zur grundlegenden Modifikation der Deportationspraxis bereits im Rahmen des zweiten Nahplans, hierbei vor allem die vorzeitige Einführung von rassischen Musterungen, hatte Vermerk Höppners, 8. Mai 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49, Höppner an Krumey, 14. Mai 1940, AGK 68/68, Bl. 1, Ehlich an SD-Leitabschnitt und UWZ Posen, 22. Mai 1940, AGK 68/49, Bl. 1. Siehe zu den Hintergründen dieser Auseinandersetzung auch Klein, Die »Ghettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 137–141. 55 Davon allein 29000 in Posen, Himmler an Lammers, betr. Abschlussbericht über den Ansatz der Baltendeutschen, 26. Juli 1940, BArch R 43 II/1412, Bl. 405–421. 56 Vorgesehen war die Schließung für den 1. Mai 1940, Rapp an den Oberbürgermeister von Posen, 18. April 1940, AGK 68/186, Bl. 4. Tatsächlich wurden die letzten Häftlinge erst am 20. Mai 1940 in die UWZ-Lager nach Litzmannstadt verlegt, Rapp an Eichmann, Damzog, Krumey, 15. Mai 1940, AGK 68/186, Bl. 11. 57 Rapp an UWZ-Außenstellen, 1. April 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49. 58 UWZ-Personalakte unter AGK 358/51. 59 Rapp an UWZ-Außenstellen, 1. April 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49. 54 212 sowohl zu einer Reorganisation der mit diesen Fragen beauftragten Stellen im Reichssicherheitshauptamt wie auch an der Peripherie geführt. Diese Reorganisation war zudem Ausdruck der zunehmenden Komplexität der Deportationspolitik und – aus Sicht des Reichssicherheitshauptamtes – nur durch einen direkteren Zugriff auf die regionalen Dienststellen zu leisten. Im Unterschied zu den früheren Deportationen sollten die folgenden Räumungspläne erstmals alle Ostprovinzen einbeziehen. Zudem sollte sich die Auswahl der betroffenen Kreise nicht mehr allein an den unmittelbaren Bedürfnissen der »volksdeutschen« Umsiedler orientieren, sondern in langfristige, auf den Umbau der Wirtschafts-, Sozial- und Infrastruktur zielende Germanisierungsplanungen eingebettet werden, die – unter anderem – im Auftrag Himmlers in der Berliner RKF-Zentrale entstanden.60 Die erste Ausarbeitung, die sogenannten »Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete«, legte der neue Leiter der Planungshauptabteilung und Leiter des Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik an der Berliner Universität, Konrad Meyer, vermutlich im Januar 1940 vor.61 Charakteristisch für alle weiteren Überarbeitungen des Generalplans Ost plädierte er dafür, die militärische Sicherung und wirtschaftliche Modernisierung der neuen Ostprovinzen vor allem als ein bevölkerungspolitisches Problem zu begreifen, das durch die gewaltsamen Veränderungen der ethnischen und sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung gelöst werden könne.62 Während sich die Kollegen im Reichssicherheitshauptamt gerade – wie gezeigt wurde: vergeblich – darum bemühten, die Deportationen der jüdischen Polen durchzusetzen, setzte Meyer sie nicht nur voraus, Zu den Aktivitäten weiterer Planungsstäbe siehe Roth, »›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹«; Schulz, Nachkriegskonzeptionen. 61 Müller datiert den Plan, der einem Schreiben an das OKW vom 8. März 1940 beilag, auf den Februar 1940. Abgedruckt in: Müller, Hitlers Ostkrieg, S. 130–138. 62 Meyer steht hier freilich in einer unrühmlichen Tradition. Deutsche Historiker wie Theodor Oberländer oder Werner Conze hatten bereits in der Vorkriegszeit die negativen Konsequenzen einer Zunahme der Landbevölkerung skizziert. Auf dem im Herbst 1939 geplanten Soziologenkongress in Bukarest wollte Conze gar – so das Manuskript – die »Entjudung der Städte und Marktflecken« fordern, siehe Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 283–286 u. 315–318. Siehe auch Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 102; Aly, Macht, S. 153. 60 213 sondern forderte darüber hinaus auch die Vertreibung weiterer 3,4 Millionen (christlicher) Polen. An ihre Stelle sollten ethnische Deutsche treten, für deren Ansiedlung die »Planungsgrundlagen« Vorschläge für die Besitz- und Bodenordnung und die Zahl und Größe der Gemeinden lieferten. Die Ansiedlungen hatten sich dabei zunächst auf die »Siedlungszone 1. Ordnung« zu konzentrieren, die etwa 40 Prozent des gesamten Territoriums der annektierten Gebiete umfasste und sich vor allem auf die an das Generalgouvernement angrenzenden Landkreise des Warthelandes und Danzig-Westpreußens erstreckte, sowie auf zwei »Volkstumsbrücken«, die den Grenzstreifen durch den früheren Korridor und über Posen mit dem Deutschen Reich verbinden sollten.63 Ob und welche praktischen Wirkungen diese Planungen entfalteten, ist schwer zu sagen. Wie sich meiner Meinung nach beispielhaft an der Ausdehnung dieser Siedlungszone erster Ordnung zeigen lassen kann, ist eine gewisse Skepsis angebracht, zumal Parallelen zwischen den Berliner Planungen und der politischen Praxis an der Peripherie noch keinen kausalen Zusammenhang etablieren. So ließ etwa Greiser seine Regierungspräsidenten und Landräte am 1. März 1940 wissen, dass die Ansiedlung der Umsiedler aus Wolhynien und Galizien im Osten der Provinz zu erfolgen habe und begründete dies mit der Notwendigkeit, einen »festen, undurchdringlichen Wall mit deutschen Menschen gegen das Polentum zu schaffen«.64 In welcher Verbindung diese Anweisung zu den Planungen Meyers steht, ist jedoch völlig unklar. Mir ist keine zeitnahe Korrespondenz zwischen der Reichsstatthalterei und der RKF-Zentrale oder ihrer Dependance in Posen zu diesem Komplex bekannt – und für die Prioritisierung der Grenzgebiete brauchte er vermutlich keine professorale Handreichung aus Berlin, war dies doch allein schon aus militärischen Gründen naheliegend. Und natürlich stellt auch die hier vielleicht beabsichtigte »Erdrückung« der eingekesselten Polen mitnichten eine Erfindung der Ethnokraten der RKF-Zentrale dar. Zum letzten Mal hatten solche Planungen bekanntlich während des Ersten Weltkrieges in der Diskussion um den »Grenzstreifen« eine große Wirkung entfaltet. Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete, abgedruckt in: Müller, Hitlers Ostkrieg, Januar/Februar 1940, S. 130–138. 64 Greiser an die Regierungspräsidenten und Landräte, 1. März 1940, AGK NTN/36, Bl. 147–150, siehe auch Aly, »Endlösung«, S. 87. 63 214 Die regionale Verlagerung des UWZ-Tätigkeitsfelds innerhalb des Warthelandes lässt sich auch an dem dichten Netz an UWZAußenstellen erkennen, mit dem der Osten der Regierungsbezirke Hohensalza und – so nun die neue Bezeichnung – Litzmannstadt überzogen wurde.65 Diese insgesamt zwölf lokalen Dienststellen wurden am 1. April 1940 von Rapp informiert, dass die Arbeiten im Rahmen des zweiten Nahplans am 5. April 1940 beginnen würden.66 Hinsichtlich der Frage, wie diese Deportationen abzuwickeln waren, griffen die Ethnokraten auf die bereits gemachten Erfahrungen zurück. Leichte Modifikationen gab es lediglich bei der Frage, wer abzuschieben war. Betroffen waren nach wie vor in erster Linie jene, deren Wohn- und Arbeitsplätze für die Unterbringung der ethnischen Deutschen gebraucht wurden – bei den Wolhyniern meistens polnische Bauern.67 Der SD bemühte sich jedoch, diese Bestimmung mit anderen zu koppeln und so eine differenzierte Steuerung der Selektionspolitik durchzusetzen. Zu diesem Zweck hatten die SD-Außenstellen sogenannte Umwanderungskarteien (UWK) anzulegen, in die eingetragen wurde, wer den Sicherheitskräften und Landräten als »politisch unerwünschte«, »wirtschaftlich entbehrliche« oder »asoziale Elemente« galt.68 Die aus deutscher Sicht besonders gefährlichen politischen Gegner sollten jetzt nicht mehr ins Generalgouvernement, sondern in die Konzentrationslager des Deutschen Reiches deportiert werden. Im Rahmen der Vorbereitung zum zweiten Nahplan überzogen die Deutschen die einheimische Bevölkerung deshalb mit weiteren Terrorwellen, bei denen in Kontinuität zur »Intelligenzaktion« jene ins Visier gerieten,69 die »in irgendeiner Die Idee für den neuen Namen der Stadt ging offensichtlich auf die Frau Uebelhoers zurück und wurde am 1. April 1940 wirksam, Untersuchungsbericht des Ministerialdirigenten im Reichsinnenministerium Dr. Hans Eugen Stephan Fabricius zu den Veruntreuungsvorwürfen gegen Uebelhoer, 27. Februar 1940, SMR 720-5/10244, Bl. 18–32. 66 Rapp an UWZ-Außenstellen, 1. April 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49. 67 Siehe auch Eichmann an Rapp, 14. März 1940, AGK, 68/130, Bl. 35, Rapp an Landratsamt Dietfurt, 5. April 1940, AGK 68/130, Bl. 57. 68 Unsigniertes Dokument, betr. Planung der Arbeit der UWZ, 30. März 1940, BArch R 75/3b, Bl. 72–74. 69 Zum Verlauf dieses Politizids siehe Röhr, Die faschistische Okkupationspolitik, S. 80f., Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 187f., Musial, »Das Schlachtfeld zweier totalitärer Systeme«, S. 13–18. Ausführlicher für Danzig-Westpreußen siehe Schenk, Hitlers Mann in 65 215 Form den Widerstandsgeist beleben und sicherheitspolizeilichen Belangen entgegenarbeiten«.70 Im April betraf dies zunächst die östlichen Grenzkreise in und um Litzmannstadt, Teile von Oberschlesien und das D˛abrowaer Industriegebiet. Nur wenige Wochen später folgte eine weitere Verhaftungswelle, die ab dem 15. Mai 1940 den Westen und ab dem 17. Mai 1940 den Osten der Provinz erfasste. Verschont bleiben sollte laut Anweisung aus dem Reichssicherheitshauptamt jedoch die »deutschstämmige« Bevölkerung. Zu diesem Zweck wurden die Umwanderungskarteien in den neu eingerichteten UWZ-Außenstellen um »Volksdeutschen«-Karteien ergänzt, die unter anderem mithilfe der Selektionsergebnisse der DVL-Kommissionen erstellt wurden. Anders als dort ging der SD jedoch weiter und erweiterte die Kriterien der zu schützenden Personen etwa um »deutsche Namen als hinweisenden Faktor« – schließlich sollten nicht nur »Volksdeutsche«, sondern auch »Deutschstämmige« verschont werden.71 Nicht deportiert werden durften außerdem Personen, deren Verwandte deutsche Staatsangehörige oder Soldaten in der Wehrmacht waren.72 Wie ernst es der Umwandererzentralstelle war, zeigte sich an dem kurz vorher verhängten generellen Verbot, Protestanten zu deportieren73 – und zwar auch dann, wenn sie zur politischen Opposition gerechnet wurden, wie etwa die Gefolgsleute des evangelischen Landesbischofs Juliusz Bursche.74 Danzig, S. 162–174, sowie Jansen/Weckbecker, Der »Volksdeutsche Selbstschutz«, S. 136. 70 Gestapo Posen an Landratsamt Jarotschin, 4. Mai 1940, BAL B 162/365h, Bl. 541–544. 71 Rapps Merkblatt über die technischen Vorbereitungen für die durchzuführenden Arbeiten im Rahmen der Wolhynienaktion an die UWZ-Außenstellen, 20. März 1940, AGK 68/145, Bl. 7–10. 72 Im ersten Fall galt dies für Verwandte ersten und zweiten, im zweiten nur für Verwandte ersten Grades, unsigniertes Dokument, betr. Planung der Arbeit der UWZ, 30. März 1940, BArch R 75/3b, Bl. 72–74. 73 Seidl, betr. Wolhynieneinsatzaktion-Konin, 18. März 1940, in: Rutherford, Race, Space, and the »Polish Question«, S. 241. Dieses Verbot wurde am 22. Juni 1940 von Koppe aufgehoben, Vermerk Krumey, 24. Juni 1940, APP 834/2, Bl. 2, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 84. Zu den Negativkriterien siehe auch Jastrz˛ebski, Hitlerowskie wysiedlenia, S. 114. 74 Rapp an UWZ-Außenstelle Gostynin, 5. April 1940, AGK 68/252, Bl. 1. Bursche war nicht nur dem Machtstreben der deutschen Organisationen in der Zwischenkriegszeit entschieden entgegengetreten, sondern auch erklärter Gegner der Nationalsozialisten und als solcher sofort nach dem Überfall verhaftet, in die Albrechtstraße verschleppt worden und schließ- 216 Die nun mit größerem Nachdruck betriebene Ausnahme »deutschstämmiger« Personen als rassische Kehrtwende in der Deportationspolitik zu werten, wäre freilich voreilig. So blieben nicht nur Juden gemäß der Absprache vom 30. Januar 1940 zunächst von der Deportation ins Generalgouvernement verschont.75 Auch ein Teil der polnischen Bevölkerung war so lange sicher, wie sich die Deutschen Vorteile davon versprachen. Ausgenommen waren zum einen in gewohnter Weise Facharbeitskräfte wie Eisenbahner,76 Ofensetzer, Dachdecker oder Schornsteinfeger,77 zum anderen aber auch diejenigen, von deren vergangenem Verhalten auf zukünftige Kollaborationsbereitschaft zu schließen war. Als der neue Chef des SD-Leitabschnitts Höppner ankündigte, auch die Polen nicht zu verschonen, die »Volksdeutschen« das Leben gerettet hätten, da es sich um eine »volkliche und rassische Säuberung« handle, wurde er nun ausgerechnet von Ehlich auf den Boden sicherheitspolitischer Logik zurückgeholt:78 »Bei der Auswahl der zu evakuierenden Polen sollen […] in erster Linie die politisch unzuverlässigen Elemente entfernt werden […] Polen, die nachweislich Volksdeutsche vom Tode gerettet bzw. anderweitig geschützt haben, sollten nach Möglichkeit doch von der Evakuierung ausgenommen werden, soweit ihre Handlungsweise auf eine deutschfreundliche Einstellung schließen läßt.«79 Auch wenn die konkreten Vorbereitungen für den zweiten Nahplan bereits mit der formellen Gründung der Umwandererzentralstelle Anfang April begonnen hatten, dauerte es bis zur Fortsetzung der Deportationen noch einen weiteren Monat. Im Rahmen der sogelich 1942 im Gefängnis Moabit verstorben, siehe Krebs, Nationale Identität. Über die Auseinandersetzungen zwischen Bursche und den deutschnational gesinnten Pastoren der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Pastoren innerhalb der Ev.-Augsb. Kirche in Polen (AdP) siehe Kossert, »Protestantismus in Lodz«, S. 88–93. 75 Frank jedenfalls rechnete mit der Wiederaufnahme der Deportation von Juden nicht vor August 1940, Eintragung im Diensttagebuch vom 5. April 1940, siehe Browning, Nazi Resettlement Policy, S. 508. 76 UWZ-Zweigstelle Litzmannstadt, gez. unleserlich, an UWZ-Außenstelle Ostrowo, 14. August 1940, AGK 358/259, Bl. 42–45. 77 Reichsstatthalterei, Abteilung Arbeit, gez. unleserlich, an Damzog, 16. Januar 1941, AGK 68/146, Bl. 22. Siehe auch unsigniertes Dokument, betr. Planung der Arbeit der UWZ, 30. März 1940, BArch R 75/3b, Bl. 72–74. 78 Höppner an Ehlich und Eichmann, 1. Juni 1940, AGK 68/158, Bl. 2f. 79 Ehlich an SD-LA Posen, 10. Juni 1940, AGK 68/158, Bl. 4. 217 nannten Wolhynienaktion verließ der erste Zug das Wartheland am 6. Mai 1940 und verschleppte 987 Personen nach Piotrków im Generalgouvernement.80 Bis zum Ende des zweiten Nahplans am 20. Januar 1941 sollten ihm noch 178 weitere mit insgesamt 133506 Menschen folgen, die neben dem Wartheland auch aus den Provinzen Schlesien, Ostpreußen und Danzig-Westpreußen stammten. Damit wurden erstmals im Rahmen eines Nahplans Deportationen nicht nur aus einer, sondern aus allen Provinzen koordiniert. Kompromissversuch: rassische Musterung von (Zwangs-)Arbeitern Die entscheidende Neuerung, die mit dem zweiten Nahplan durchgesetzt wurde, waren die rassischen Musterungen, die nun zum integralen Bestandteil des Deportationsprozesses avancierten. Da die nach wie vor geringe Zahl an Eignungsprüfern die Entsendung von sogenannten fliegenden Kommissionen in die einzelnen Sammellager verbot, hatte man sich für den Aufbau eines zentralen Lagerkomplexes in Litzmannstadt entschieden, den alle Deportierten in einem komplexen Selektionsprozess durchlaufen sollten und dessen Ergebnis über ihr weiteres Schicksal entscheiden würde. Nach Ankunft an einem der Litzmannstädter Bahnhöfe wurden sie über die städtische Entlausungsanstalt in der Dessauer Straße 6–11 in das »Durchschleusungslager« in der Wiesenstraße 4 verbracht.81 Hier erfolgte die »Grobauslese«82 durch RuSHA-Eignungsprüfer, die in einer Vorauswahl diejenigen Familien selektierten, die »auf Grund ihres Aussehens geeignet erscheinen, ins Altreich abtransportiert zu werden«.83 Nur diese wurden einer gesundheitlichen sowie einer politischen Überprüfung unterzogen. Während bei Ersterer die Einsatzfähigkeit der Betroffenen festgestellt wurde, befand man bei Zweiterer über ihre politische Zuverlässigkeit und schloss vermutete politische GegUnsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 81 Anweisung Krumeys an die UWZ-Lager in Litzmannstadt, AGK 69/144, Bl. 1–3. 82 Künzel an Hofmann, 23. Oktober 1940, AGK 369/13, Bl. 85f. 83 Anweisung Krumeys an die UWZ-Lager in Litzmannstadt, AGK 69/144, Bl. 1–3. 80 218 ner von einer Verschleppung ins Deutsche Reich aus84 – und zwar unabhängig davon, ob sie von den SS-Eignungsprüfern als »wiedereindeutschungsfähig« bezeichnet worden waren.85 Die endgültige Entscheidung fiel schließlich im Rahmen der sogenannten »Feinauslese«,86 die zunächst in den UWZ-Lagern und ab dem 1. November 1940 im Lager der neu errichteten RuSHA-Außenstelle in der Landsknechtstraße 73 durchgeführt wurde.87 Die Einrichtung des Lagers ging auf einen Vorschlag Ehlichs zurück und war offenbar notwendig geworden, um die »Streitigkeiten zwischen Angehörigen der übrigen Referate der UWZ und RuS auszuschalten«.88 Nach Einschätzung Isabel Heinemanns handelte es sich bei diesen rassischen Musterungen um das mehr oder minder gleiche SelekVermerk Krumey, betr. Arbeit der UWZ vom 1. 10. 40 bis heute, 8. September 1941, AGK 69/26, Bl. 1f. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 85 Barth an UWZ-Lagerinspektion und RuS-Stelle in Litzmannstadt, 25. Juli 1940, AGK 358/244, Bl. 2, RuS-Führer, gez. i. A. SS-Scharführer Gerhard Drabsch, an UWZ, 1. Oktober 1940, AGK 358/247, Bl. 29, sowie Krumey an Lager Flottwellstraße, 17. Oktober 1940, AGK 358/247, Bl. 34. 86 Anordnung Himmler, betr. Auslese der einzudeutschenden Polensippen, 30. Oktober 1940, AGK 69/1, Bl. 31. 87 Personalakte des Leiters der Gesundheitsstelle, SS-Hauptsturmführer Dr. Fähndrich, AGK 69/203, Barth an Höppner, 31. Juli 1940, AGK 68/194, Bl. 2, Vernehmung des ehemaligen RuSHA-Eignungsprüfers Johannes Preuß durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen am 23. Mai 1969, BArch 162/20047, Anordnung Himmler, betr. Auslese der einzudeutschenden Polensippen, 30. Oktober 1940, AGK 69/1, Bl. 31, Greifelt an HSSPF in den annektierten Ostgebieten, 5. Dezember 1940, APL 205/7, Bl. 12f. Zu einem knappen Überblick über den Selektionsprozess siehe Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 253f., er ist der ausführlichste, den ich in der Sekundärliteratur finden konnte. 88 Barth an Höppner, 31. Juli 1940, AGK 68/194, Bl. 2. Der Konflikt begann offensichtlich mit Klagen der RuSHA-Eignungsprüfer, die sich von den Ärzten der Gesundheitsstelle nicht ernst genommen sahen. Bald pochte das Rasse- und Siedlungshauptamt aber auch gegenüber dem SD auf mehr Eigenständigkeit. Dieser Konflikt wiederholte sich wenige Monate später bei der Einwandererzentralstelle, wo er durch die Weigerung des Chefs der RuSHA-Dienststelle bei der EWZ, Richard Kaaserer, ausgelöst wurde, im Briefkopf seiner Dienststelle die Unterordnung unter das Reichssicherheitshauptamt anzuerkennen. Nach Einigung Sandbergers mit Hofmann, musste er dies jedoch akzeptieren, Sandberger an Kaaserer, 12. November und 26. November 1940, AGK 369/1, Bl. 60 und AGK 369/1, Bl. 44–47; Klinger an Kaaserer, 2. Dezember 1940, AGK 369/1, 43v; Kaaserer an Hofmann, 4. Dezember 1940; AGK 369/1, Bl. 42f. 84 219 tionsverfahren, wie es für die Aufnahme von SS-Männern entwickelt und mit Beginn des Krieges auf die Selektionen im Rahmen der Einwandererzentralstelle übertragen worden war.89 Damit liegt Heinemann jedoch nur teilweise richtig. Um ihre Einschätzung zu belegen, zitiert sie aus einem Schreiben des Chefs des Rassenamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt, Otto Hofmann, vom 14. Oktober 1939, in dem dieser die Eignungsprüfer wissen ließ, dass bei den in Kürze anstehenden rassischen Musterungen bei der Einwandererzentralstelle »Auslesegrundsätze der SS maßgebend [sind]«.90 Hofmann meinte damit aber mitnichten eine exakte Kopie der Selektion der SS-Bewerber. Im weiteren Verlauf des Schreibens führt Hofmann im Gegenteil aus, dass die rassische Selektion der ethnischen Deutschen auf die Erhebung von Körper-, Kopf-, Nasen- und Haarform sowie Augen- und Haarfarbe beschränkt werden könne, weil dies angeblich die »wichtigsten Kennzeichen [seien], die in der rassischen Zusammensetzung des deutschen Volkes vorkommen«.91 Dieses Verfahren sollte jedoch bei der rassischen Musterung der polnischen Bevölkerung nochmals verändert werden. Zwar hatte sich in der Vorbereitung dieser Musterungen zunächst der designierte Leiter der neuen RuS-Stelle in Lodsch, SS-Obersturmbannführer Erwin Künzel, mit seinem Plädoyer durchsetzen können, die bereits bei der Einwandererzentralstelle angewandten – und also im Vergleich zum SS-Ausleseverfahren eingeschränkten – Selektionskriterien zu übernehmen. Wenig später erreichte ihn aber ein Schreiben Hofmanns, in dem ihn dieser – »[e]ntgegen der mündlich mit Ihnen getroffenen Vereinbarung« – anwies, die Selektionskriterien zu verschärfen und doch einen »fühlbaren Unterschied zwischen den Musterungen für die Volksdeutschen und den jetzigen« zu machen.92 Die SS-Eignungsprüfer wurden aufgefordert, bisherige »Rücksichten« aufzugeben und »bedeutend schärfere Maßstäbe anzulegen, als es bei den eigenen Volksgruppen notwendig war«.93 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 593f. Anweisung Hofmanns, betr. Anleitung zur Eignungsprüfung der Rückwanderer, vertraulich, 14. Oktober 1939, SMR 1372–6/26, Bl. 16–19; Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 234f. 91 Vertrauliche Anweisung Hofmanns, betr. Anleitung zur Eignungsprüfung der Rückwanderer, 14. Oktober 1939, SMR 1372–6/26, Bl. 16–19. 92 Hofmann an Künzel, 16. März 1940, AGK 167/1, Bl. 15. 93 Unsignierter und undatierter Entwurf des RuSHA betr. Richtlinien für die Auslese der polnischen Volksangehörigen in den neuen Ostgauen, erarbei89 90 220 Schließlich ginge es bei dieser »Auslesearbeit […] darum, die rassisch wertvollsten und politisch unbelasteten polnischen Volksteile für eine beabsichtigte Assimilierung auszusieben«.94 Es stimmt also, dass die SS bereits im Oktober 1939 begonnen hatte, die ethnischen Deutschen einem Selektionsprozess zu unterziehen, der sich – grob – an der Musterung von SS-Bewerbern orientierte. In der Praxis wurde aber sichergestellt, dass durch eine großzügige Auslegung möglichst viele Einwanderer als »Deutsche« anerkannt wurden. Diese Rücksichten wurden erst mit der Einführung der »Feinauslese« im RuSHA-Außenlager in Litzmannstadt teilweise aufgehoben. Ab diesem Zeitpunkt wurde also mit zweierlei Maß gemessen, um über die rassische Eignung von Betroffenen zu entscheiden: Während die ethnischen Deutschen aus Osteuropa mit einer nachsichtigen Behandlung rechnen durften, um möglichst viele als »Deutsche« anzuerkennen, galt die gleiche Rücksicht nicht für die »polnische« Bevölkerung der annektierten Ostgebiete. Die den Eignungsprüfern vorgeführten Personen wurden in drei Gruppen selektiert: Während eine Einstufung in die Kategorie »AR« (= Altreich) jenen vorbehalten blieb, die »in ihrem Gesamteindruck als rassisch wertvoll genug für ein späteres Aufgehen im deutschen Volkstum angesehen werden können«, wurde bei »rassisch untauglichen und asozialen, sowie politisch belasteten Personen« auf »GG« (= Generalgouvernement) befunden.95 Die Kategorie »WR« (= Wanderarbeiter) bezeichnete schließlich jene, die zwar rassisch »positiv« gemustert worden waren, aber einer Familie entstammten, die insgesamt als »polnisch« bezeichnet wurde.96 Sie waren »zwar zur Assimilierung unerwünscht […], aber als Saison- tet vermutlich vom SS-Hauptsturmführer Erwin Klinger im März 1940, AGK 167/1, Bl. 16–18. 94 Ebenda. 95 Anweisung Krumeys an die UWZ-Lager in Litzmannstadt, AGK 69/144, Bl. 1–3, Rapp an UWZ-Außenstellen, Koppe, Damzog, Döring, Ehlich und Eichmann, 1. April 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49, abgedruckt in: Biuletyn 21, Dok. 4, und Unsignierter und undatierter Entwurf des RuSHA betr. Richtlinien für die Auslese der polnischen Volksangehörigen in den neuen Ostgauen, erarbeitet vermutlich vom SS-Hauptsturmführer Erwin Klinger im März 1940, AGK 167/1, Bl. 16–18. 96 Anweisung Krumeys an die UWZ-Lager in Litzmannstadt, AGK 69/144, Bl. 1–3. 221 arbeiter brauchbar«.97 Nach erfolgter Selektion wurden die mit »AR« und »WR« Gemusterten in das Übergangslager in Konstantynow und die mit »GG« Gemusterten in das Übergangslager in der Luisenstraße 33 verlegt. Letztere stießen dort auf diejenigen, die bereits bei der sogenannten Selektion in der Wiesenstraße als »nichtwiedereindeutschungsfähig« selektiert worden waren.98 Vor jedem Transport ins Generalgouvernement unternahm das Landesarbeitsamt schließlich noch einen letzten Versuch, Arbeitskräfte zu rekrutieren, und bediente sich dabei unter anderem Einheimischer, die bereits im Deutschen Reich gearbeitet hatten. Das Arbeitsamt im Lager Louisenstraße 33 bemühte sich jedoch allein um sogenannte Einzelgänger, wie ledige Erwachsene im UWZ-Sprachgebrauch hießen. Doch bevor auch diese Menschen ins Deutsche Reich verschleppt wurden, mussten sie sich einer weiteren rassischen Musterung unterziehen, die aus der Sicht der Eignungsprüfer eine negative Selektion war, also nicht »Wiedereindeutschungsfähige« benennen, sondern diejenigen identifizieren sollte, die »krasse Abweichungen von der europäischen Norm« darstellten.99 Diese »Freiwilligen« wurden ebenso wie die vom Rasse- und Siedlungshauptamt als »AR« und »WR« selektierten Menschen in das Übergangslager in Konstantynow bei Litzmannstadt überstellt, wo sie ihren Abtransport ins Deutsche Reich abwarten mussten. Angesichts dieser Funktion des Lagers Konstantynow für die deutsche Wirtschaft überrascht es dann auch nicht weiter, dass die Umwandererzentralstelle zwar den Lagerkommandanten und die Bewachung stellte, das Lager aber ansonsten dem Landesarbeitsamt Posen untergeordnet war.100 Das Wiedereindeutschungsprogramm Rechtzeitig zum Beginn der Deportationen ging Himmler einen Schritt weiter und unterzeichnete in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums am 9. Mai 1940 die Unsignierter und undatierter Entwurf des RuSHA betr. Richtlinien für die Auslese der polnischen Volksangehörigen in den neuen Ostgauen, erarbeitet vermutlich vom SS-Hauptsturmführer Erwin Klinger im März 1940, AGK 167/1, Bl. 16–18. 98 Künzel an Hofmann, 23. Oktober 1940, AGK 369/13, Bl. 85f. 99 Barth, betr. Auswahl von Arbeitskräften im Rahmen der Aussiedlungsaktion, 1. April 1940, AGK 68/109, Bl. 16f., abgedruckt in: Biuletyn 21, Dok. 5. 100 Ebenda. 97 222 Anordnung 17/II, die die im Wartheland bereits begonnenen rassischen Musterungen als ein neues von der SS reklamiertes Handlungsfeld etablierte: das sogenannte Wiedereindeutschungsprogramm. Diese ideologisch aufgeladene Rhetorik bleibt unverstanden, wenn sie nicht mit der ökonomischen Logik in Verbindung gebracht wird, die die Genese und Zielrichtung dieses Programms wie auch die rassischen Selektionen von Arbeitskräften in Abschiebelagern bestimmte. Zweifellos war Himmler überzeugt, dass – wie es in der Anordnung hieß – in den annektierten Gebieten viele Personen lebten, »die auf Grund ihrer rassischen Eignung für eine Eindeutschung in Frage kommen«.101 Wirkmächtig wurde dieses rassische Denken aber vor allem deshalb, weil es mit herrschaftsrationalen Erfordernissen verbunden werden konnte und damit politisch funktional wurde. Himmler konnte mit der praktischen Realisierung dieses rassisch motivierten Projekts rechnen, weil es gleichzeitig eine Antwort auf reale, insbesondere wirtschaftliche Bedürfnisse lieferte und damit weitere Machtfraktionen im Deutschen Reich einband. Die restlichen Bestimmungen dieser und weiterer Anordnungen zum Wiedereindeutschungsprogramm etablierten schließlich auch eine neue Form der privilegierten Zwangsarbeit.102 Im Deutschen Reich angekommen, waren die »Wiedereindeutschungsfähigen« zwar in einer vergleichsweise vorteilhaften Situation, konnten sie doch einen in Litzmannstadt ausgestellten Fremdenpass mit dem Eintrag »Staatsangehörigkeit noch ungeklärt, Deutsch?« vorweisen, der ihnen – zumindest theoretisch – ein Anrecht auf gleichen Lohn oder Lebensmittelzuteilung wie den restlichen deutschen Arbeitern an ihrem neuen Arbeitsplatz zusicherte.103 Zwangsarbeiter waren sie Himmlers Anordnung 17/II, 9. Mai 1940, AGK 62/351, Bl. 2f. Greifelt an HSSPF, betr. Einsatz von eindeutschungsfähigen Polen, 3. Juli 1940, AGK 68/259, Bl. 11–13, und ein unsignierter Entwurf vermutlich der Berliner RKF-Dienststelle, betr. Richtlinien und Hinweise, 7. August 1940, BArch R 49/2602, ohne Seitenangabe. Für dieses Dokument danke ich Götz Aly. 103 Rapp an UWZ-Außenstellen, 1. April 1940, AGK 68/130, Bl. 43–49. Ab August 1941 wurde ihnen dieser Ausweis an ihrem neuen Arbeitsplatz ausgestellt, siehe RKF-Zentrale, gez. Fähndrich, an RSHA, 7. August 1940, NO-3095. Für dieses Dokument danke ich Götz Aly. Wahrscheinlich erfolgte diese Veränderung deshalb, weil sich immer wieder Personen geweigert hatten, diesen »privilegierten« Status zu akzeptieren, sich als Polen bezeichneten und den Fremdenpass nicht unterzeichnen wollten. Offensichtlich glaubte man, diesen Widerstand im Deutschen Reich schneller 101 102 223 dennoch.104 Ihre Anerkennung als »Deutsche« hing entscheidend von ihrer »Bewährung« am Arbeitsplatz ab. Zeigten sich der Betrieb und auch der zuständige Höhere SS- und Polizeiführer mit den Arbeitsleistungen unzufrieden, galt dies als Ausweis dafür, dass sie doch keine Deutsche, sondern Polen waren. Ihnen drohte dann die gleiche Behandlung wie den anderen aus Litzmannstadt verschleppten Personen, die als sogenannte P-Polen der diskriminierenden Sondergesetzgebung unterworfen wurden. Das Wiedereindeutschungsprogramm erschien aus SS-Perspektive als entscheidender Meilenstein, mit dem der eigene Einflussbereich ausgebaut und ideologisch abgesichert werden konnte. Durch die Kopplung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter an eine von SS-Eignungsprüfern durchzuführende rassische Musterung war es der SS nicht nur gelungen, in das immer wichtiger werdende Politikfeld der Arbeitskräftebewirtschaftung vorzustoßen, sie konnte gar darauf hoffen, es gleichsam handstreichartig zu übernehmen. Auch wenn dieses Projekt zunächst auf die annektierten polnischen Gebiete beschränkt blieb, umfasste es in seinem Anspruch doch alle besetzten und noch zu besetzenden Gebiete Osteuropas und hatte das Potential, die SS in eine wirtschaftliche Macht ersten Ranges im Deutschen Reich zu verwandeln. Dieser Anspruch musste aber zunächst gegen andere politische Akteure durchgesetzt werden. Relativ einfach war dies im Falle des Rassenpolitischen Amtes. Dessen von Heß unterstützte Anfrage, zur »praktischen Auslesearbeit im Osten hinzugezogen« zu werden, wurde von Pancke, dem Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, abgelehnt. In einem Schreiben an Himmler plädierte er am 25. Mai 1940 für eine »absolute Trennung der Arbeitsgebiete«.105 Während das Rassenpolitische Amt, dessen Mitarbeiter »einseitig wissenschaftlich ausgebildete Akademiker« seien, die »Schulung« der Bevölkerung übernehmen und bei Gesetzen mitarbeiten könnte, müsse die SS »allein zuständig für die praktische Auslese und Ausmerze« brechen und die Betroffenen dann auch schneller in Arbeit vermitteln zu können. 104 Und wurden wohl auch von der Bevölkerung als solche wahrgenommen. Die Bäckereiinhaberin Rosa Hummel, der die wieder einzudeutschende Wanda Jaskowska zugeteilt worden war, bezeichnete diese dann auch nicht etwa als »Deutsche«. Für Hummel blieb sie »Polin«, siehe eidesstattliche Aussage von Rosa Hummel, 5. November 1947, BArch 99 US 12/51490, Dok. 91. 105 Pancke an Himmler, 25. Mai 1940, AGK 167/1, Bl. 32f. 224 bleiben.106 Himmler billigte diese »Arbeitsteilung«, und Künzel wurde bald darauf informiert, dass eine weitere »selbständige Tätigkeit Professor Schnells […] nicht geduldet werden« könne.107 Wesentlich problematischer war es, den Widerstand der deutschen Wirtschaft und der Arbeitsämter zu überwinden. Höppner fiel es bereits schwer, das beanspruchte Vermittlungsmonopol der Umwandererzentralstelle gegen das Landesarbeitsamt Wartheland durchzusetzen. Als er erfuhr, dass einzelne Arbeitsämter um die Erlaubnis nachgesucht hatten, polnische Zwangsarbeiter deutschen Betrieben direkt zuweisen zu können, protestierte er sofort bei deren vorgesetzter Dienststelle, der Abteilung Wirtschaft und Arbeit in der Reichsstatthalterei, und erhob »schärfste Bedenken, da diese Familien rassisch nicht überprüft seien«.108 Und nur wenig später musste auch das Ansinnen des Arbeitsamtes in Litzmannstadt abgewehrt werden, das Lager in Konstantynow aufzulösen und die polnischen Arbeitskräfte ebenfalls direkt ins Deutsche Reich zu deportieren.109 Wenn es Höppner wohl auch nicht immer verhindern konnte, dass die Arbeitsämter an der Umwandererzentralstelle vorbei agierten, so scheint es ihm doch gelungen zu sein, ihre Aktivität in diesem Bereich deutlich einzuschränken.110 Bei seinen Manövern konnte sich Himmler auf eine Reihe wichtiger Verbündeter mit einer ideologischen Agenda stützen. Als entscheidender Akteur erwies sich hier die Partei, in der sich nun der über einen längeren Zeitraum anwachsende Unmut über die »Überfremdung« des Landes Luft verschaffte. So nahm der Gauleiter von Halle-Merseburg, Joachim Eggeling, eine Besprechung bei Heß zur Beschäftigung von Ausländern im Bergbau am 20. Juli 1940 zum Anlass, vor allem den Einsatz von polnischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft zu kritisieren, wies »auf die unerhört biologische Gefahr der gegenwärtigen Entwicklung« hin und warnte gar vor der »eigenen Volksvernichtung«.111 Ebenda. Unsignierter und undatierter Vermerk über eine Besprechung mit Seitz im RuSHA am 21. Juni 1940, AGK 167/1, Bl. 26f. 108 Höppner an Kendzia, 9. Mai 1940, AGK 68/146, Bl. 18. 109 Vermerk Höppners, 21. Mai 1940, AGK 68/190, Bl. 12. 110 Höppner an Müller, 27. März 1941, AGK 68/146, Bl. 42f. 111 Redemanuskript Joachim Eggelings bei der Besprechung bei Heß am 20. Juli 1940, streng vertraulich, 3. August 1940, AGK 62/346, Bl. 177–185. 106 107 225 Die Anwesenden griffen Eggelings Stoßrichtung auf und verständigten sich auf eine Obergrenze von im Deutschen Reich zur (Zwangs-)Arbeit eingesetzten Ausländern. Bezeichnenderweise konnte man sich nicht zu der Forderung durchringen, den bereits erreichten Umfang zu reduzieren. Die Begrenzung auf drei Millionen Personen stabilisierte lediglich den Status quo.112 Aber es zeigte doch, wie unerträglich die Öffnung der Grenzen für Millionen nichtdeutscher Menschen aus der Perspektive der Ideologen empfunden wurde. Mit den rassischen Musterungen hatte die SS ein Verfahren angeboten, das nichts weniger als die Quadratur des Kreises versprach. Es suggerierte die Vereinbarkeit von im Kern widersprüchlichen politischen Forderungen, die sich einerseits aus den rassischen Prämissen der nationalsozialistischen Ideologie und andererseits aus den herrschaftsfunktionalen Erfordernissen vor allem des Arbeitsmarktes ergaben. Himmlers Überraschungscoup stellte jedoch nur die praktischpolitische Vorhut einer neuen ideologischen Offensive des SS-Apparates dar. Kaum waren die zunächst auf die Umwandererzentralstelle beschränkten rassischen Musterungen durch den Wiedereindeutschungserlass aufgewertet und zu einem neuen Ziel der SS-Politik im besetzten Polen erklärt worden, legte Himmler am 15. Mai 1940 eine programmatische Denkschrift nach. Mit den »Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« skizzierte Himmler erstmals selbst seine Ziele als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Die rassischen Musterungen rückten dabei ins Zentrum, mutierten von einem Instrument zur Rekrutierung notwendiger Arbeitskräfte zum archimedischen Punkt, an dem die bisherige Ordnung aus den Angeln gehoben werden sollte, um der Dystopie vom »deutschen Lebensraum« Platz zu machen. In kruder Auslegung von divide et impera hatte Himmler vor, die polnische Bevölkerung in zahlreiche »Volkssplitter« zu spalten, um sie gegeneinander aufzuhetzen. Eine rudimentäre Ausbildung sollte sie dazu bringen, »den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich«.113 Die Spaltung 112 113 Herbert, Fremdarbeiter, S. 122–124. Himmlers Denkschrift »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten«, 15. Mai 1940, abgedruckt in: Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals, S. 653–655. Himmler hatte die Denkschrift zunächst allein Hitler vorgelegt, der sie – so Himmler – als »sehr gut und 226 der Bevölkerung sollte außerdem die Grundlage legen für »die rassische Siebung […], die das Fundament in unseren Erwägungen sein muss, die rassisch Wertvollen aus diesem Brei herauszufischen, nach Deutschland zu tun, um sie dort zu assimilieren«. Auf diesem Weg gedachte Himmler innerhalb von etwa vier bis fünf Jahren die kaschubische Identität vernichten zu können, während er hoffte, den »Begriff Jude […] durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen«. Der restliche nicht assimilierbare Teil der polnischen Bevölkerung würde aber ins Generalgouvernement abgeschoben werden, in die neue Heimat »einer verbleibenden minderwertigen Bevölkerung, die noch durch abgeschobene Bevölkerung […] all der Teile des deutschen Reiches, die dieselbe rassische und menschliche Art haben (Teile, z.B. der Sorben und Wenden)« ergänzt werden würde und dem Deutschen Reich »als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen« würde. Dieses Vorgehen möge im Einzelfall zwar »grausam und tragisch« sein, sei aber – so die Auffassung Himmlers noch zu diesem Zeitpunkt –, »wenn man die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich ablehnt, doch die mildeste und beste«.114 In einem wenige Tage später verfassten Schreiben an seine HSSPF in Polen führte Himmler einzelne Aspekte seiner Denkschrift weiter aus und unterstrich mit dem Verweis auf die nun auch praktisch unter Beweis gestellte rassenpolitische Kompetenz den Führungsanspruch der SS vor allem gegenüber der Partei. Eben weil die »Eingeborenen […] nicht dadurch eingedeutscht werden, dass die Partei sie in ihre Obhut nimmt und sie politisch schult«, müssten neue Wege gegangen werden: »Die Eindeutschung der Ostprovinzen kann nur gemäß rassischer Erkenntnis erfolgen, indem die Bevölkerung dieser Provinzen gesiebt wird. Die rassisch Wertvollen, die tatsächlich blutlich, ohne Schaden anzurichten – ein Teil sogar mit Nutzen für uns –, von uns in unseren Volkskörper aufgenommen werden können, richtig« befand. Damit konnte trefflich Politik gemacht werden. Himmler legte sie später Frank vor, um diesen unter Druck zu setzen, siehe Longerich, Politik der Vernichtung, S. 274, und Aly, »Endlösung«, S. 140f. 114 Himmlers Denkschrift »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten«, 15. Mai 1940, abgedruckt in: Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals, S. 653–655. 227 müssen als einzelne Familien nach Deutschland […] verpflanzt werden.«115 Die rassische Dystopie, die Behandlung der einheimischen Bevölkerung von einem individuellen »Rassewert« abhängig zu machen, eine fixe Idee aller SS-Deportationsplanungen, hatte mit der Einführung des Wiedereindeutschungsprogramms erstmals praktische Wirkmächtigkeit entfaltet. Es sollte – so zumindest die Vision Himmlers – nur den Anfang bilden. Madagaskar-Plan: dystopische Fluchten Himmlers Vision war ein ähnliches Schicksal beschieden wie denen, die in den vorangegangenen Monaten von verschiedenen SS-Stäben vorgelegt worden waren: Sie scheiterten an praktischen Problemen vor Ort. Ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung und allein auf Gewalt setzend, mussten die Besatzer bald erkennen, dass selbst ihre Gewaltmittel begrenzt und sie zu Kompromissen gezwungen waren. Am längsten dauerte dieser Prozess bei den Planern in Berlin. So glaubte Eichmann bei einem Zwischenstopp in Litzmannstadt am 16. Mai 1940, es sei bereits an der Zeit, bei der örtlichen Gestapo eine detaillierte Erhebung der demographischen und wirtschaftlichen Struktur der in das Ghetto gezwungenen jüdischen Bevölkerung anzufordern. Schließlich galt es die – in den Worten Heydrichs vom 30. Januar 1940 – dritte »Massenbewegung« vorzubereiten, also die Vertreibung der Juden, die »sofort im Anschluss an die Wolhynienaktion vor sich gehen [soll]«.116 War im Januar dafür noch kein Zeitrahmen angegeben worden, so ließ Eichmann die Umwandererzentralstelle am 5. Juni 1940 wissen, dass diese »mit dem 31. August 1940 durchgeführt sein« sollte.117 Im September sollten dann die bisher umfangreichsten Deportationen einsetzen, lebten doch allein im Ghetto in Litzmannstadt 158000 Menschen.118 Himmler an die HSSPF in den annektierten Gebieten, 20. Mai 1940, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 74. 116 Polizeipräsident Litzmannstadt, SS-Brigadeführer Johannes Schäfer, an Höppner, 16. Mai 1940, AGK 68/26, Bl. 11. 117 Eichmann an Seidl, 5. Juni 1940, zit. n. Aly, »Endlösung«, S. 101. 118 Wie der SD Litzmannstadt meldete, lebten danach mit 158000 Personen wesentlich weniger im Ghetto als die vorher angenommenen 200000 und 115 228 Die Praktiker vor Ort konnten mit Eichmanns Optimismus nur wenig anfangen. Dies lag zum einen am Kompetenzgerangel zwischen dem SS-Apparat und dem Reichsministerium für Ernährungsund Landwirtschaft.119 Eine weitere Verzögerung ergab sich aus dem Versuch, die Ansiedlung der ethnischen Deutschen mit einer Modernisierung der landwirtschaftlichen Struktur zu verbinden, was ein differenzierteres Steuerungsverfahren notwendig machte und die Zuweisung neuer Umsiedler erheblich verlangsamte.120 Schwierigkeiten gab es aber selbst bei der Ansiedlung dieser nur langsam anwachsenden Anzahl von ethnischen Deutschen, da die SS-Arbeitsstäbe zu wenig geeignete Höfe anbieten konnten. Dieses Problem war zunächst dadurch verursacht worden, dass die vorhandene Fläche künstlich verknappt worden war, da die RKF-Zentrale Ansiedlungen auf die Siedlungszone erster Ordnung beschränkt hatte. Es dauerte gerade einmal einen Monat, bis die RKF-Zweigstellen und SS-Ansiedlungsstäbe davon abwichen und die ethnischen Deutschen in Landkreisen anzusiedeln begannen, die außerhalb der Siedlungszone lagen121 – im September 1940 lag die Hälfte des Ansiedlungsgebiets außerhalb dieser Zone.122 Ein anderes Hindernis war nicht durch einen Federstrich zu überwinden: und zwar der anhaltende Widerstand des Generalgouvernements gegen weitere Deportationen. Selbst wenn es politisch vertretbar und polizeilich durchführbar gewesen wäre – den Verwaltungen in den annektierten Gebieten gelang es auch im Verbund mit der SS nicht, in Berlin genügend politischen Druck aufzubauen, um einen entscheidenden Durchbruch gegenüber Frank zu erreichen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die rassischen Musterungen ihre größte Wir300000 Personen, siehe Meldungen aus dem Abschnittsgebiet, 24. Juni 1940, AGK, 68/129, Bl. 3. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 119 Himmler an Greifelt, 10. Mai 1940, BArch R 75/3b, Bl. 70f. 120 Vermerk Einwandererzentralstelle, gez. i. V. SS-Obersturmbannführer Wagner, 30. Juli 1940, APL 205/6 I, Bl. 196f., Referat Hofzuweisung, gez. Richard Rupp, vermutlich RKF-Dienststelle Posen, 20. September 1940, BArch R 49 I/37, Bl. 5–16. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 121 Es handelte sich dabei um die Landkreise Krotoschin, Jarotschin und Wongrowitz, siehe Höppner an Ehlich und Eichmann, 12. Juli 1940, AGK 68/ 130, Bl. 89. 122 Vermerk Krumey, 13. September 1940, AGK 68/130, Bl. 102. Siehe auch Vermerk Referat Hofzuweisung der RKF-Dienststelle Posen, gez. Richard Rupp, 20. September 1940, BArch R 49 Anh. I/37, Bl. 5–16. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 229 kung nicht im Volkstumskampf oder auf dem deutschen Arbeitsmarkt entfalteten – dafür war ihre Zahl zu gering –, sondern in der Deportationspolitik selbst. Wie von Frank gehofft, erweiterten sie den Spielraum der Ethnokraten in den annektierten Gebieten, da die Freimachung von Wohnungen nun nicht mehr allein von der Aufnahmekapazität des Generalgouvernements abhing, sondern ein Teil der enteigneten Menschen als »Wiedereindeutschungsfähige« oder aber »Wanderarbeiter« ins Deutsche Reich deportiert werden konnte. Dennoch: Die geringe Zahl von 11912 Personen,123 die im Rahmen des zweiten Nahplans nach erfolgter »positiver« rassischer Musterung ins Deutsche Reich verschleppt wurden, stand in keinem Verhältnis zu den 292158 Einheimischen, die in allen annektierten westpolnischen Gebieten bis zum Ende des Jahres 1940 abgeschoben wurden.124 Den »Ausweg« aus diesem Dilemma eröffnete die wohl phantastischste Idee, die die nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik bis zu dem Zeitpunkt hervorgebracht hatte: der Madagaskar-Plan.125 Auch wenn Frank bereits in einer Denkschrift vom Januar 1940 Madagaskar als Deportationsziel mehrerer Millionen Juden erwähnt hatte126 und Himmler am 15. Mai 1940 in seinen »Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« von einer Deportation der Juden »nach Afrika oder sonst in eine Kolonie« halluzinierte,127 Im Einzelnen wurden 2399 Personen als »Wiedereindeutschungsfähige« und 9513 als »Wanderarbeiter« ins Deutsche Reich verschleppt, undatierte Übersicht, Anlage zum Abschlussbericht 2. Nahplan, AGK 68/228, Bl. 4f., abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 96f. 124 Unsignierte Übersicht der Hauptabteilung I der Berliner RKF-Dienststelle, betr. Ansiedlung und Evakuierung in den eingegliederten Ostgebieten, Stand vom 31. 12. 40 und Planung für 1940, 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. 125 Zur Rolle Madagaskars im Antisemitismus siehe Brechtken, »Madagaskar für die Juden«; zur Genesis der verschiedenen europäischen MadagaskarPläne siehe Jansen, Der Madagaskar-Plan. 126 Anonymus, Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik nach volkspolitischen Gesichtspunkten, Vorlage für den nationalitätenrechtlichen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht, Januar 1940. Hilberg und Browning vermuten Frank als Verfasser, siehe Schwaneberg, The Economic Exploitation, S. 69. 127 Himmlers Denkschrift »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten«, 15. Mai 1940, abgedruckt in: Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals, S. 653–655. 123 230 waren diese Bemerkungen damals noch eher Ausdruck etablierter antisemitischer Vertreibungsphantasien, die sich fast schon traditionell mit Madagaskar verbanden,128 und weniger Anzeichen einer neuen Politik. Mit der bevorstehenden Niederlage Frankreichs wurde diese Idee jedoch konkret und verbreitete sich mit »atemberaubender Geschwindigkeit«.129 Trotz aller praktischen und nicht zuletzt militärischen Widrigkeiten sollte dieses Projekt unmittelbare Konsequenzen für die antijüdische Politik zeitigen und unter anderem zur Aussetzung der vorgesehenen Abschiebung von Juden ins Generalgouvernement führen.130 Mit der Entscheidung für das Madagaskar-Projekt war gleichsam über Nacht eine neue Situation entstanden. Bereits am 30. Mai 1940 hatte Frank von einer grundlegenden Gesinnungsänderung Hitlers berichtet, der das erste Mal davon gesprochen habe, nach der Germanisierung der annektierten Ostprovinzen »auf weite Sicht die Germanisierung« auch des Generalgouvernements anzustreben. Eine ideologische Begründung für diese abrupte Wendung war schnell gefunden: Nachdem über Monate hinweg jede Grausamkeit gegenüber der einheimischen Bevölkerung mit deren rassischer Minderwertigkeit begründet worden war, erkannte Frank jetzt »einen absolut germanischen Rassekern in diesem Volkstum«, der »diesen Raum […] dem Deutschtum zuführen« werde.131 Aus Franks Sicht waren deshalb auch einschneidende Änderungen in der Deportationspolitik notwendig, schließlich konnte das Generalgouvernement nicht länger die bisherige Funktion als »Abschiebeterritorium« wahrnehmen. Seinen Abteilungsleitern berichtete er vier Tage später: »Sehr wichtig ist auch die Entscheidung des Führers, die er auf meinen Antrag gefällt hat, daß keine Judentransporte ins Generalgouvernement mehr stattfinden. Allgemein möchte ich dazu sagen, daß geplant ist, die ganze Judensippschaft […] in denkbar kürzester Zeit nach Friedensschluß in eine afrikanische oder amerikanische Kolonie zu transportieren. Man denkt an Madagaskar […] Ich habe mich bemüht, auch die Juden des GeneralgouverneBeispiele bei Longerich, Politik der Vernichtung, S. 273, sowie Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 131. 129 Browning, Die Entfesselung der Endlösung, S. 133. 130 Ebenda, S. 134. 131 Eintrag vom 30. Mai 1940, Präg/Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs, S. 210. 128 231 ments dieses Vorteils teilhaftig werden zu lassen […] Das wurde akzeptiert, so daß in absehbarer Zeit auch hier eine kolossale Entlastung gegeben sein wird.«132 Der plötzlich aufgetauchte Madagaskar-Plan sollte sich jedoch vor allem auf die Bevölkerungspolitik im Wartheland auswirken, da er insbesondere den dortigen SS-Ethnokraten als Ausweg aus der völlig festgefahrenen Deportationspolitik erschien. Er versprach nicht nur die endgültige Vertreibung der Juden, sondern auch die Möglichkeit, anstelle der Juden die Zahl der ins Generalgouvernement abzuschiebenden Polen zu erhöhen.133 So versuchte Greiser mit Himmlers Unterstützung, den zweiten Nahplan nachträglich auszuweiten und zusätzlich zu den Wolhyniern auch ca. 30000 »Volksdeutsche« aus Chełm im Generalgouvernement ins Wartheland umzusiedeln. Frank war zunächst dagegen und weigerte sich explizit, mehr als die 120000 Polen aufzunehmen, die alle im Rahmen der Ansiedlung der Wolhynier enteignet worden waren. Die SS konnte aber durchsetzen, nicht nur Personen für die Ansiedlung der Wolhynier, sondern auch für die der Chełmer abschieben zu dürfen.134 Ein weiterer Effekt des Madagaskar-Plans war, dass die Ansiedlungsorgane nun auch die letzten Rücksichten auf die aus Berlin vorgegebenen Siedlungszonen über Bord warfen. Spätestens mit der Ankunft der Chełmer lag die Hälfte des Ansiedlungsgebiets außerhalb der Siedlungszone, was – angesichts der Tatsache, dass die Siedlungszone erster Ordnung etwa 40 Prozent auch des Territoriums im Wartheland umfasste – nichts anderes bedeutete, als dass die Vorgabe der Siedlungszone bei der Zuweisung der »Volksdeutschen« faktisch irrelevant geworden war. Nachdem sich der SS-Ansiedlungsstab bereits bei den Wolhyniern gezwungen gesehen hatte, die Vorgaben der RKF-Zentrale zu ignorieren, wurden sie mit der Ansiedlung der Chełmer offensichtlich komplett ignoriert. Und nicht zuletzt sollten nun endlich auch die einheimischen »Volksdeutschen« stärker berücksichtigt werden. Deren anfängEintrag vom 12. Juli 1940, zit. n. ebenda, S. 252. Aly, »Endlösung«, S. 101f. 134 Undatierter Abschlussbericht Krumeys über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, vermutlich Ende Januar 1941, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–102, v.a. Anlage 3: Aufstellung der im Rahmen des 2. NP-Cholmer Aktion mit ausgesiedelten Polen von Litzmannstadt in das GG abgegangene Transportzüge. 132 133 232 liche Begeisterung über den deutschen Überfall war – zumindest in Teilen – einer gewissen Ernüchterung gewichen, waren sie doch der Ansicht, nicht im gehofften Umfang davon zu profitieren. Bereits bei der Besetzung der höheren Posten in Staat und Partei hatten die Organisationen der deutschen Minderheit kritisiert, übergangen worden zu sein. Und nun drohte die Ansiedlung ethnischer Deutscher aus anderen Teilen Osteuropas auch die Hoffnung zu enttäuschen, aus dem deutschen Überfall materiellen Gewinn zu schlagen. Unwillig, allein auf die Initiative der Besatzungsverwaltung zu vertrauen, wandten sich viele »Volksdeutsche« direkt an die SS-Arbeitsstäbe und UWZ-Außenstellen und verlangten die Enteignung ihrer polnischen Nachbarn. Im Wissen um die Relevanz »volksdeutscher« Unterstützung für die deutsche Herrschaft wies Krumey seine Außenstellen am 3. Juli 1940 erstmals an, solchen Forderungen entgegenzukommen und »verdiente« Volksdeutsche zu berücksichtigen.135 Politische Zuverlässigkeit – so die Botschaft – zahle sich aus. Natürlich markierte dieses Entgegenkommen keine grundsätzliche Änderung der Prioritätensetzung, wonach die Deportationen »in erster Linie« die Ansiedlung neuer »Volksdeutscher« zu ermöglichen habe.136 Der überwältigende Andrang der »Schnäppchenjäger« kam dann auch überraschend: Wie die SD-Außenstelle in Obornik meldete, machte sich unter den einheimischen »Volksdeutschen« »immer mehr die Jagd nach geeigneten polnischen Landwirtschaften breit«.137 Für die Umwandererzentralstelle ebenfalls problematisch war, dass SS-Arbeitsstäbe, Landräte, Kreislandwirte oder die Kreisbauernschaften begannen, sich diesem Druck von unten zu beugen und eigenmächtig Menschen von ihrem Besitz vertrieben, den sie anschließend rebellierenden »Volksdeutschen« zuwiesen. Diese »wilden« Vertreibungen umgingen das differenzierte UWZSelektionsverfahren und unterliefen die Kontrolle der Umwandererzentralstelle. Vor allem aber drohten sie den Deportationsprozess selbst und damit die Ansiedlung der Umsiedler zu gefährden, wurKrumey an UWZ-Außenstellen, 3. Juli 1940, AGK 68/98, Bl. 11. Undatierter und unleserlich signierter Vermerk UWZ, vermutlich Ende September/Anfang Oktober 1940, AGK 68/134, Bl. 9. Eine Bestätigung erhält Höppner am 17. Oktober 1940 von Eichmann, AGK 68/134, Bl. 15. 137 Unsignierter Bericht der SD-Hauptaußenstelle Obornik, 8. September 1940, AGK 68/134, Bl. 6. 135 136 233 den doch Personen ins Generalgouvernement abgeschoben, deren frei werdende Wohnungen nicht zur Ansiedlung von Umsiedlern genutzt, vom Generalgouvernement aber gleichwohl mit der dem Wartheland zustehenden Deportationsquote verrechnet wurden.138 Die Interventionen des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD in Posen, Ernst Damzog, und Höppners bei den vorgesetzten Dienststellen in Posen nutzten wenig. Als der UWZ-Außenstellenleiter in Schroda, SS-Obersturmführer Wilhelm Schmidtsiefen, dem Leiter des SS-Arbeitsstabes, SS-Obersturmbannführer Herbert Hübner, die geplanten Vertreibungen im Rahmen der »Besserstellung« von »Volksdeutschen« verbot, wurde er abgekanzelt. Wenn der SD ihm nicht helfen wolle, so Hübner, würde er alleine vorgehen. Schließlich hätten ähnliche Aktionen bereits in den benachbarten Kreisen stattgefunden, und er könne ohnehin »nicht verstehen, dass der SD in letzter Zeit so kleinlich geworden« sei.139 Selbst nachdem der Kriegsverlauf den Madagaskar-Plan scheitern ließ und so die Situation weiter zuspitzte, war die Umwandererzentralstelle nicht wesentlich erfolgreicher. Frank hatte den Protest der Wehrmacht gegen weitere Transporte und die Aufnahme aller weiteren abgelehnt. Sollten sie dennoch fortgesetzt werden, seien seine Beamten angewiesen, »alle […] anzuhalten und in das Reichsgebiet zurückzuschicken«.140 Höppner glaubte, dass diese Entwicklung seiner eigenen Forderung nach einer deutlichen Begrenzung oder gar Einstellung der im Rahmen der »Besserstellungen« durchgeführten Deportationen Nachdruck verleihen würde. Das sah Koppe allerdings ganz anders und brachte stattdessen eine weitere Variante der Vertreibungen ins Spiel: Wenn die Betroffenen nach ihrer Enteignung nicht mehr ins Generalgouvernement abgeschoben werden konnten, blieb schließlich immer noch ihre – im Jargon der Nationalsozialisten – Verdrängung innerhalb des Warthelandes.141 Undatierter und unleserlich signierter Vermerk UWZ, vermutlich Ende September/Anfang Oktober 1940, AGK 68/134, Bl. 9. 139 Schmidtsiefen an UWZ Posen, 30. Oktober 1940, AGK 68/134, Bl. 17. 140 Frank an Greiser, Geheim, 2. November 1940, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 113. Siehe auch Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 154f., sowie Höppner an Ehlich und Eichmann, 5. November 1940, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 113f. 141 Vermerk Höppner über die Besprechung am 4. November 1940, 6. November 1940, AGK NTN/36, Bl. 156f. 138 234 Dies war nun natürlich nicht die von der Umwandererzentralstelle erhoffte Lösung, sondern kam eher einer Legitimierung der Praxis einiger SS-Arbeitsstäbe gleich. Höppner erinnerte also auch gleich an die sicherheitspolizeilichen Gefahren, die eine größere Zahl von wohnungs- und mittellosen Personen darstellte, und drängte darauf, diese Verdrängungen einheitlich durch die Umwandererzentralstelle überwachen zu lassen. Mit Verweis auf den angespannten Arbeitsmarkt verwies Höppner darauf, dass nur so die Menschen nicht einfach aus ihren Häusern geworfen, sondern dorthin verschleppt werden könnten, wo ihre Arbeitskraft gebraucht wurde. Was die Vertreibungen im Rahmen von »Besserstellungen« betraf, scheint die Umwandererzentralstelle mit ihren Interventionen aber höchstens eine Beschränkung der Vertreibungen und nicht ihre vollständige Kontrolle erreicht zu haben. Während Damzog Greisers Stellvertreter, Dr. August Jäger, bat, den Landräten jede weitere Deportation außer für die Ansiedlung von Wolhyniern und Chełmern zu verbieten, blieben die Kompetenzkonflikte mit den SSArbeitsstäben akut.142 Wie Höppner Damzog mitteilte, erfolgte die »Besserstellung« nach wie vor »ohne jegliche Planung von einer Zentralstelle aus«. Zwar habe Koppe entschieden, die noch verfügbaren Transporte nur im Ausnahmefall mit Personen zu belegen, die der »Besserstellung« weichen mussten, wann dieser Fall gegeben sei, fiele jedoch in den Ermessensspielraum der einzelnen SS-Arbeitsstäbe.143 Die »Besserstellungen« markieren eine erneute Erweiterung des Aufgabenbereichs der Umwandererzentralstelle, die ihre Genese ausnahmsweise nicht den Aktivitäten einer Dienststelle der Besatzer verdankte, sondern dem Druck der einheimischen »Volksdeutschen«. Mit oftmals weniger tödlichen Konsequenzen, aber dennoch vergleichbar mit dem Agieren des Volksdeutschen Selbstschutzes oder den Forderungen mancher Umsiedler an die Polizei, bessere Wohnungen frei zu machen, waren es nicht zuletzt solche Initiativen, mit denen sich die »volksdeutsche« Bevölkerung aktiv in die deutsche Besatzung einschrieb und deren brutale Bevölkerungspolitik weiter radikalisierte. Wie viele Menschen diesen Maßnahmen zum Opfer fielen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die von Seidl 142 143 Damzog an Jäger, 6. November 1949, AGK 62/299, Bl. 42f. Vermerk Höppner an Damzog, 7. November 1940, AGK 69/182, Bl. 1f. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 235 am 9. November 1940 angegebenen 5114 Fälle sind sicherlich zu niedrig, da sie die von den verschiedenen Stellen in Eigenregie durchgeführten Enteignungen nicht berücksichtigen. Ausweitung der Deportationen im zweiten Nahplan Hatte die Germanisierung der annektierten westpolnischen Gebiete auch am 18. Oktober 1939 mit der Deportation von Kattowitzer Juden begonnen, hatte sich der Schwerpunkt der deutschen Deportationspolitik mit dem Abbruch der Nisko-Aktion doch innerhalb weniger Wochen zuerst nach Danzig-Westpreußen und schließlich ins Wartheland verlagert. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis sich die deutschen Ethnokraten wieder (Ober-)Schlesien und bald danach auch Danzig-Westpreußen zuwandten. Diese Unterbrechung war nicht vorgesehen. Wenn einer der zentralen Gründe für die Übertragung der Deportationsplanung von den Höheren SS- und Polizeiführern auf das Reichssicherheitshauptamt sich aus der Notwendigkeit ergeben hatte, die Deportationsströme zentral zu planen und aufeinander abzustimmen, so stand vor allem Letzteres eher für Berliner Wunschdenken. Die Realität sah von Anfang an anders aus. Wie gezeigt, war bereits die abrupte Schwerpunktverlagerung von Oberschlesien nach DanzigWestpreußen nicht geplant, sondern dem Umstand geschuldet, dass die Balten mit dem Schiff umgesiedelt und mehrheitlich in Danzig und Gotenhafen angelandet wurden. Als der Konflikt um ihre Ansiedlung zwischen dem SS-Apparat und der Verwaltung in Danzig-Westpreußen eskalierte, sah sich Himmler zu einem weiteren abrupten Strategiewechsel gezwungen und lenkte die meisten ins Wartheland um, wo ihnen im Rahmen des ersten Nahplans »angemessene« Unterkünfte und Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden sollten. Und als sich herausstellte, dass die Vertreibung von fast 90000 Menschen hierfür nicht ausreichte, schob das Reichssicherheitshauptamt den Zwischenplan ein, der naturgemäß ebenfalls auf diese Provinz beschränkt blieb. Oberschlesien: Siedlungen nur an der Peripherie Schlesien rückte erst verhältnismäßig spät ins Visier der Siedlungsplaner. Erste Vorüberlegungen fanden auf einer Sitzung der ostdeutschen Landesplaner in der Berliner RKF-Zentrale statt, auf der Meyer den Vertreter Schlesiens, Landesplaner Gerhard Ziegler, über 236 die Absicht informierte, 500 Familien aus Wolhynien im Regierungsbezirk Kattowitz anzusiedeln. Mit der Ansiedlung »volksdeutscher« Bauern war Ziegler einverstanden, zumal wenn diese im Beskidenvorland, also dem Kreis Saybusch, erfolgen sollte und so ein »Riegel« zur Isolierung der polnisch- von der tschechischsprachigen Bevölkerung entstehen könnte.144 Unzufrieden war er lediglich mit den Wolhyniern, bevorzugte man in Breslau doch Südtiroler. Diese Diskussion erledigte sich aber rasch, da die Bevölkerungsplaner um Meyer den Südtirolern nach der französischen Niederlage eine wichtigere Aufgabe zuwiesen: Mit ihrer Ansiedlung in Burgund sollte jetzt auch ein Teil des französischen Kernlandes germanisiert, der deutsche »Lebensraum« also auch in den Westen Europas ausgeweitet werden.145 Um die Ansiedlung in Oberschlesien zu koordinieren, richtete Greifelt in Kattowitz eine RKF-Zweigstelle ein, die – wie auch in den anderen Ostprovinzen – dem Höheren SS- und Polizeiführer in Breslau, Bach-Zelewski, angegliedert wurde. Offensichtlich auf Druck Wagners wurde zunächst ein Vertrauter, sein Verbindungsoffizier zur Luftwaffe Oberstleutnant Ernst Müller-Altenau, zum Leiter bestellt und schließlich im Juni mit den Vorarbeiten zur Ansiedlung von – so der Befehl Himmlers – 5000 Galiziern begonnen.146 Gerade auch im Vergleich zur RKF-Zweigstelle in Posen war Müller-Altenaus Dienststelle anfangs eine eher untergeordnete Rolle zugedacht, die die Tätigkeiten vor Ort nicht eigenen Außenstellen, sondern Einrichtungen der Zivilverwaltung übertrug – und hier vor allem der bereits erwähnten Schlesischen Landgesellschaft sowie dem Ansiedlungsstab beim Landrat in Saybusch, Eugen Hering.147 Vermerk Zieglers zu der Besprechung am 5. März 1940 in der Berliner RKF-Dienststelle, 9. März 1940, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 148f. 145 Aly, »Endlösung«, S. 147f. 146 Vernehmung Helmut Stutzkes, erster Leiter der Stabshauptabteilung der RKF-Dienststelle, am 12. März 1963, BAL B 162/2438, Bl. 61–72 sowie unsignierter Bericht über die Entwicklung und Tätigkeit der Abteilung Ansiedlung für die Zeit vom 10. Juli 1940 bis 31. Mai 1941, 7. Juni 1941, R 49 III/26, Bl. 120–131. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 147 Beauftragter RKF, gez. Bach-Zelewski, an OP Breslau, Regierungspräsident Kattowitz, Landrat Saybusch, Geheim, 5. August 1940, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 161–163. Zu den Ansiedlungen im Allgemeinen siehe Szefer, Przesied144 237 Dies änderte sich erst nach der Absetzung Wagners, der einem parteiinternen Machtkampf zum Opfer gefallen war. Wagner wurde am 27. April 1940 durch Fritz Bracht ersetzt, der nach der Teilung der Provinz in Nieder- und Oberschlesien im Januar 1941 auch formal Oberpräsident und Gauleiter in Oberschlesien wurde.148 Wagners Sturz machte auch die Position einer Reihe seiner Gefolgsleute unhaltbar, einer davon war Müller-Altenau, der durch den bisherigen Leiter der Gruppe Bevölkerungswesen und Fürsorge in der Regierung des Generalgouvernements, Dr. Fritz Arlt, ersetzt wurde.149 Bracht stärkte auch die Position der RKF-Dienststelle. Die Ansiedlungen waren in Zukunft allein von den neu aufzubauenden RKF-Außenstellen durchzuführen, die bisher dominierende innere Verwaltung sollte »nicht maßgeblich« beteiligt werden, sondern nur noch »unterstützend« zur Seite stehen.150 Diese Aufgaben wurden dem SS-Ansiedlungsstab unter SS-Obersturmbannführer Hans Butschek übertragen.151 Weshalb aber sollten die Deportationen ausgerechnet in Saybusch erfolgen? Als Grenzland hatte das Beskidenvorland immer schon eine besondere Rolle in den Phantasien deutscher Planer gespielt, und nicht nur im Reichsinnenministerium hatte man sich zuletzt noch einzureden versucht, dass es sich bei der dortigen Bevölkerung gar nicht um Polen handelte. Noch jüngeren Datums waren schließlich die Überlegungen Zieglers, der durch die deutsche Besiedlung der Beskiden die Schaffung eines »volkstumspolitischen Riegels« halluzinierte, der die »fremdvölkische« Bevölkerung der Region demoralisieren und die Germanisierung der restlichen Provinz erleichtern würde. Der Tätigkeitsbericht der RKF-Zweigstelle führt etwas prosaischere Gründe an, die Saybusch eher als Notlösung ausweisen, was wiederum charakteristisch für die gesamte natioleńcy niemieccy, sowie ders., »Die deutschen Umsiedler«. Zu Hering siehe Kaczmarek, Pod rz˛adami gauleiteròw, S. 75. 148 Lilla, Die Stellvertretenden Gauleiter, S. 19f. u. 25. 149 Zu Arlt siehe Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 126–129, und BDC SSO-Akte Fritz Arlt. 150 Undatierte Niederschrift des Regierungspräsidenten in Liegnitz, Friedrich Bachmann, über die Besprechung am 5. September 1940, APK 119/39, Bl. 165–171. 151 Unsignierter Bericht über die Entwicklung und Tätigkeit der Abteilung Ansiedlung für die Zeit vom 10. Juli 1940 bis 31. Mai 1941, 7. Juni 1941, R 49 III/26, Bl. 120–131. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 238 nalsozialistische Siedlungsplanung war. Volkstumspolitische Erwägungen spielten zwar eine gewisse Rolle, aber nur insofern, als man hier weniger »Volksdeutsche« als im Westen der Provinz vermutete und also eine irrtümliche Abschiebung von »Volksdeutschen« oder »Stammesdeutschen« am ehesten verhindern konnte. Für Saybusch sprach aber vor allem die relative wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit dieser Region. Im Vergleich zu allen anderen Landkreisen Ostoberschlesiens würden Deportationen hier keine Industriearbeiter treffen und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Deutschen Reiches in Mitleidenschaft ziehen. Weil eine »Aussiedlung […] dieser so wichtigen Arbeitskräfte […] mit Rücksicht auf die kriegsbedingte Produktion dieses Raumes nicht verantwortet werden« könne, blieb »zur Besiedlung fast nur der schmale oestliche Streifen des Gebietes« übrig.152 Konkrete Vorbereitungen der Deportationen begannen, als BachZelewski die Zivilverwaltung Anfang August 1940 über die Zuweisung von 800 bis 1000 »galiziendeutsche[n] Herdstellen (Familien)« informierte.153 Auf einer Besprechung bei Eichmann wenige Tage später bat der »Judenreferent« der Gestapo Kattowitz, SS-Hauptsturmführer Hans Dreier, Krumey »zwecks örtlicher Informationen bezw. Beratung« um die Entsendung eines Deportationsfachmanns aus Litzmannstadt.154 Dreiers Teilnahme an diesem Gespräch erklärt sich wahrscheinlich daraus, dass er die Ende Februar 1940 begonnenen Deportationsmaßnahmen schlesischer Juden nach Auschwitz koordiniert hatte, mithin der dortige Fachmann in diesem Feld war.155 Dazu passt, dass er bei den weiteren Deportationen der christlichen Polen keine weitere Rolle spielte. Sollte die Einbeziehung von Unsignierter Tätigkeitsbericht des Beauftragten RKF in Oberschlesien, September 1939 bis Januar 1943, 30. März 1943, BArch 186/42, ohne Seitenangabe, Auszug auch als NO-5640. Siehe auch undatierte Nachkriegsbefragung des Landrats Eugen Hering durch das Bundesarchiv, BABt OstDok. 8/765, Bl. 14–23. 153 Beauftragter RKF, gez. Bach-Zelewski, an OP Breslau, Regierungspräsident Kattowitz, Landrat Saybusch, Geheim, 5. August 1940, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 161–163. Siehe auch Vermerk Major der Schutzpolizei, Richard v. Coelln, 1. August 1940, APK 119/4086, Bl. 4. 154 Vermerk Eichmann, 7. August 1940, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 103–106. 155 Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 167. 152 239 Juden anfänglich noch erwogen worden sein, so wurde diesem Gedanken spätestens mit den am 9. August 1940 von Eichmanns Referat erarbeiteten Richtlinien endgültig eine Absage erteilt.156 Die – vorübergehende – Aussparung der jüdischen Saybuscher bedeutete aber keineswegs, dass das Reichssicherheitshauptamt nicht eine erneute Reideologisierung der Deportationsbestimmungen, das heißt, den Einschluss von Juden und Kongresspolen versuchte. Eichmanns Richtlinien sahen die Vertreibung von Kongresspolen vor und erlaubte Ausnahmen nur für den Fall, dass diese nicht in ausreichender Zahl erfasst werden könnten. Sie seien dann durch Mitglieder ausgesprochen deutschfeindlicher Organisationen zu ergänzen. Ausgenommen blieben nach wie vor sogenannte volks- und stammesdeutsche Personen, Partner in deutsch-polnischen Ehen, Ausländer, Angehörige anderer ethnischer Minderheiten, Transportunfähige und Juden. Explizit ausgenommen waren auch Personen, die für die »Leistungsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen und der Industrie« von Bedeutung waren.157 Anders als im Wartheland – und bald auch in Danzig-Westpreußen – sollten die bevorstehenden Deportationen anfänglich nicht von der Umwandererzentralstelle organisiert werden, die nun aber auch hier eingerichtet wurde.158 Zunächst war die »VorbereiUnsignierte und undatierte Richtlinien des RSHA-Referats IV D 4 zur Durchführung der Evakuierungsaktion im Kreis Saybusch, Regierungsbezirk Kattowitz, im Zuge der Ansiedlung der galiziendeutschen Bergbauern (Wolhynienaktion), vermutlich vom 9. August 1940, AGK, 69/1, Bl. 27–30. Zur Datierung siehe unsignierte Richtlinien der Gestapo Kattowitz zur Durchführung der Evakuierungsaktionen in Saybusch, 14. September 1940, APK 119/4086, Bl. 11–17, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 166–171. 157 Unsignierte und undatierte Richtlinien des RSHA-Referats IV D 4 zur Durchführung der Evakuierungsaktion im Kreis Saybusch, Regierungsbezirk Kattowitz, im Zuge der Ansiedlung der galiziendeutschen Bergbauern (Wolhynienaktion), vermutlich vom 9. August 1940, AGK, 69/1, Bl. 27–30. Zur Datierung siehe unsignierte Richtlinien der Gestapo Kattowitz zur Durchführung der Evakuierungsaktionen in Saybusch, 14. September 1940, APK 119/4086, Bl. 11–17, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 166–171. 158 Siehe unsignierter Tätigkeitsbericht des Beauftragten RKF in Oberschlesien mit Verweis auf die Einrichtung der Umwandererzentralstelle, September 1939 bis Januar 1943, 30. März 1943, BArch 186/42, ohne Seitenangabe, Auszug auch als NO-5640. Jastrz˛ebski, Nazi Deportations, S. 4, behauptet hingegen, dass Himmler auf die Einrichtung einer Umwanderer156 240 tung und Durchführung der Evakuierungen« vielmehr »ausschließlich Aufgabe der Staatspolizeistelle Kattowitz«, wo ein Stab unter Kriminalobersekretär Günther Wendland eingerichtet wurde, der am 3. September 1940 seine Tätigkeit in Saybusch aufnahm.159 Wie im Wartheland erfasste der SS-Arbeitsstab zunächst die zur Deportation vorgesehene Bevölkerung und reichte die Hofkarten an den Stab Wendlands weiter, der gemäß den Richtlinien des Reichsicherheitshauptamtes darüber entschied, ob die Betroffenen zur Deportation freigegeben wurden. Als Höchstgrenze wurden 20000 Menschen angegeben, da ansonsten die Vereinbarung mit dem Generalgouvernement verletzt worden wäre.160 Nachdem also die Vorbereitungen in Ostoberschlesien in vollem Gang waren und die Ansiedlung von einigen tausend Galiziern bevorstand, wandte man sich nun auch in der Berliner RKF-Zentrale wieder verstärkt dieser Region zu. In Meyers »Planungsgrundlagen« vom Januar 1940 mitsamt der hierin verzeichneten Siedlungszone erster Ordnung war Schlesien noch ausgespart worden, weil es sich hier »um ein weniger volkspolitisch exponiertes Gebiet handelt und die Frage der ländlichen Besiedlung im starken Maße von dem zu erwartenden Ausbau der hier vorherrschenden Industrie beeinflusst werden wird«.161 Nachdem genau deswegen der Landkreis Saybusch als Ansiedlungsschwerpunkt benannt worden war, wurde auch die RKF-Zentrale wieder aktiv.162 In einem für die nationalzentralstelle in Oberschlesien verzichtet hatte, da von hier ohnehin nur ein kleiner Teil der Bevölkerung deportiert werden sollte. Dies ist wohl nicht richtig, schließlich sollte auch hier die gesamte »polnische« Bevölkerung deportiert werden. Dass es schließlich nicht dazu kam, hatte andere Gründe, auf die ich noch eingehen werde. 159 Unsignierte Richtlinien der Gestapo Kattowitz zur Durchführung der Evakuierungsaktionen in Saybusch, 14. September 1940, APK 119/4086, Bl. 11–17, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 166–171. 160 Ebenda. Siehe auch Vermerk des Referenten Nissens, betr. Besprechung über die bevorstehenden Evakuierungsaktionen in Saybusch, 11. September 1940, APK 119/4086, Bl. 7–10, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 163–165. 161 Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete, abgedruckt in: Müller, Hitlers Ostkrieg, Januar/Februar 1940, S. 130–138. 162 Reichsinnenministerium, gez. i. A. Heydrich, an außerpreußische Landesregierungen, Reichsstatthalter in Posen und Danzig, 13. August 1940, BArch R 43 II/646, Bl. 83. 241 sozialistische Bevölkerungspolitik typischen Vorgang versuchte man in Berlin, die vorliegenden »Planungen« zumindest nachträglich der enteilenden Praxis vor Ort anzupassen und erklärte am 11. September schließlich das gesamte Gebiet südlich der Weichsel zur Siedlungszone erster Ordnung.163 Als der erste Transport am 23. September 1940 Saybusch verließ,164 dürften mit diesem – die Überlieferung ist lückenhaft – wie auch mit den bis zum 14. Dezember 1940 nachfolgenden 17 Transporten vor allem Personen abgeschoben worden sein, deren Höfe für die Ansiedlung besonders brauchbar erschienen. Die aus ihren Wohnungen vertriebenen und fast ihres gesamten Eigentums beraubten Menschen verbrachten die Besatzer zunächst in Durchgangslager in den Städten Saybusch, Rajcza und Sucha. Bevor sie nach Litzmannstadt weitergeleitet wurden, mussten sie sich vor einem von dort abgeordneten RuSHA-Kommando einer rassischen Musterung unterziehen – dieses Verfahren war damit zum ersten Mal über das Wartheland hinaus angewandt worden. In Oberschlesien war dafür Dienststellenleiter SS-Untersturmführer Kraus zuständig, dem mit den SS-Rottenführern Thien und Schneider gerade einmal zwei Eignungsprüfer zugeteilt worden waren, die zudem ständig zwischen den einzelnen Lagern pendeln mussten und dennoch innerhalb von elf Wochen annähernd 18000 Menschen einer – im wahrsten Sinne des Wortes – »Grobauslese« unterwarfen.165 Abhängig vom »Ergebnis« dieser rassischen Selektion, wurden die Betroffenen entweder in Personenwagen dem Rasse- und Siedlungshauptamt in Litzmannstadt überstellt oder – ebenfalls über Litzmannstadt – in einem Massentransport ins Generalgouvernement abgeschoben. Während die Anzahl der zur »Feinauslese« Bestimmten aus den Akten nicht hervorgeht, einige wenige hundert aber sicherlich nicht überschritten Unsignierter Vermerk für RKF-Dienststelle Berlin, Hauptabteilung II, über die Besprechung zwischen Himmler, Bracht, Bach-Zelewski und Greifelt, 11. September 1940, BArch R 49/2639. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 164 Und nicht im Oktober 1940 wie bei Aly, »Endlösung«, S. 153, siehe unsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 165 Künzel an Hofmann, 4. Oktober 1940, AGK 369/13, Bl. 74. 163 242 haben dürfte, wurden zwischen dem 23. September und dem 14. Dezember 1940 in 18 Transporten 17413 Menschen ins Generalgouvernement deportiert.166 Die Zahl der in diesen Wochen insgesamt vertriebenen Menschen dürfte demnach 18000 nicht überstiegen haben – und lag damit unter den zunächst veranschlagten 20000 Personen. Diese Differenz ist angesichts des Eifers bemerkenswert, den die SS-Ethnokraten bei der Erfüllung von Deportationsquoten bewiesen, und verweist auf die besonders schwierigen – aus Berlin gesetzten und in Schlesien vorgefundenen – Rahmenbedingungen, unter denen dieser erzwungene Bevölkerungsaustausch durchgeführt wurde. Der kleineren Anzahl der Deportierten entsprach dann auch eine deutlich reduzierte Anzahl von angesiedelten galizischen Familien. Anstelle der anfangs erhofften 800 bis 1000 konnten lediglich zwischen 650167 und 775168 Familien, also zwischen 2876 und 3709 Personen untergebracht werden.169 Ein Grund hierfür war die Bestimmung, einen Teil des Landes für »reichsdeutsche« Siedler aufzusparen – nach einer Anweisung Bach-Zelewskis betraf dies immerhin drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche.170 Da die Höfe in diesem GeUnsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. Die RKF-Zentrale nennt eine mit 16400 Personen etwas abweichende Zahl, siehe unsignierte Übersicht der Hauptabteilung I der Berliner RKF-Dienststelle, betr. Ansiedlung und Evakuierung in den eingegliederten Ostgebieten, Stand vom 31. 12. 40 und Planung für 1940, 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. 167 Unsignierter Vermerk, 21. November 1940, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 172f. 168 Unsignierter und undatierter Jahresbericht 1940 der Schlesischen Landgesellschaft, BArch R 2/19015, ohne Seitenangabe. 169 Die niedrigere Zahl findet sich in der unsignierten Übersicht der Hauptabteilung I der Berliner RKF-Dienststelle, betr. Ansiedlung und Evakuierung in den eingegliederten Ostgebieten, Stand vom 31. 12. 40 und Planung für 1940, 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe, während ein undatiertes Dokument mit Himmlers Paraphe über die Ansiedlung bis zum 1. Dezember 1940 vermutlich ebenfalls aus der RKF-Zentrale eine leicht abweichende Zahl von 2950 Personen angibt, BArch NS 19/3979, Bl. 11. Die deutlich höhere Zahl findet sich wiederum im Jahresbericht 1940 der Schlesischen Landgesellschaft, BArch R 2/19015, ohne Seitenangabe. 170 Beauftragter RKF, gez. Bach-Zelewski, an OP Breslau, Regierungspräsident Kattowitz, Landrat Saybusch, Geheim, 5. August 1940, abgedruckt in: 166 243 biet überwiegend klein waren, sodass durchschnittlich sieben bis acht Einheimische für die Ansiedlung von zwei galizischen Familien vertrieben werden mussten,171 wurden die zur Verfügung stehenden Ansiedlungsflächen bald knapp. Nicht völlig auszuschließen ist aber, dass sich diese Differenz auch aus der Enttäuschung erklärt, die sich bei den SS-Ethnokraten angesichts der zugewiesenen galizischen »Bergbauern« einstellte. Man hatte festgestellt, »daß der Begriff Bergbauer keinesfalls den Tatsachen entsprach und daß man scheinbar im Warthegau bewußt die leistungsschwachen Bauern aus ihrer Gegend abgeschoben hat« – ein Vorfall, der das Vertrauen zwischen den Ansiedlungsstäben im Wartheland und Schlesien auf längere Zeit erschüttern und zur Zentralisierung der Verhandlungen in Berlin führen sollte.172 Danzig-Westpreußen: rassistischer Diskurs und Arbeitskräftemangel Kurz vor Abschluss der Vertreibungen aus Schlesien begann mit dem Transport am 5. Dezember 1940 auch in Danzig-Westpreußen eine neue Abschiebewelle. Die Aussetzung der Deportationen über einen Zeitraum von immerhin einem Jahr ist bemerkenswert, hatte sich doch hier die neue Logik der nationalsozialistischen Deportationspolitik bei der Ankunft der Balten zuerst durchgesetzt. Der Grund für diese Unterbrechung wurde bereits angesprochen: die Kritik Forsters an der demographischen Struktur der Balten und – entscheidender – seine Unwilligkeit, dem SS-Apparat den Freiraum einzuräumen, den dieser in der Bevölkerungspolitik für sich in Anspruch nahm. Als Himmler dann notgedrungen zunächst den größten Teil der Balten ins Wartheland umleitete und Heydrich auf der Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 161–163, und unsignierter 1. Entwurf der Hauptabteilung I, RKF-Zentrale, betr. Richtlinien und Hinweise, 7. August 1940, BArch R 49/2602. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 171 Unsignierter Vermerk, 21. November 1940, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 172f. 172 Nach Aussage Arlts lag in Saybusch die Größe von 95 Prozent der Betriebe unter einem Hektar, Arlt an Bracht, 6. Juni 1941, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 187–192. Siehe auch unsignierten Bericht über die Entwicklung und Tätigkeit der Abteilung Ansiedlung für die Zeit vom 10. Juli 1940 bis 31. Mai 1941, 7. Juni 1941, R 49 III/26, Bl. 120–131. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 244 Konferenz am 30. Januar 1940 bekanntgab, auch die Wolhynier und Galizier vor allem dort anzusiedeln, erkannte Forster aber offensichtlich die Gefahr, sich durch den Konflikt mit Himmler ins Abseits der Bevölkerungsverschiebungen zu manövrieren. Im März 1940 ging Forster also in die Offensive und forderte eine forcierte Ansiedlung auch in Danzig-Westpreußen. Er wandte sich jedoch nicht etwa an die SS, sondern direkt an Hitler und Göring, um eine Zustimmung für die Deportation von 41000 Einheimischen einzuholen.173 Dieser Vorstoß Forsters erscheint mir äußerst bedeutsam. Zum einen bahnte er sich damit einen weiteren Kommunikationsweg, auf dem er die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik über Himmlers Kopf hinweg gestalten konnte. Göring wies am 4. Juni 1940 den SS-Apparat an, die Deportation von 40000 Menschen vorzubereiten, und Frank blieb nichts anders übrig, als sich am 11. Juni 1940 diesem neuen Sachverhalt zu beugen.174 Zum anderen unterstreicht Forsters Vorstoß erneut die aktive Rolle, die Göring in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik spielte. Anders als in der For- Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 480. Im Gegensatz zu Madajczyk glaube ich nicht, dass die Deportationen im April/Mai 1940 begannen, siehe Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 480. Zwar verließen am 12. und 14. Mai 1940 zwei Transporte mit zusammen 1519 Kongresspolen Thorn in Richtung Generalgouvernement. Diese waren aber wohl nicht Teil des zweiten Nahplans. Sie tauchen in keiner der überlieferten Statistiken auf, und zu diesem Zeitpunkt fanden in Danzig-Westpreußen auch keine Ansiedlungen statt, siehe etwa die Berichte des Polizeimeisters Otto Lojak, Schutzpolizei Thorn, 12. Mai 1940, AGK NTN/192, Bl. 32, und 19. Mai 1940, AGK NTN/192, Bl. 33. Vor allem entsprachen sie auch nicht dem mittlerweile durchgesetzten Prozedere, unterblieb doch sowohl eine rassische Musterung als auch die Abschiebung über Litzmannstadt. Es handelte sich also wohl eher um Angehörige der polnischen Elite, die zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der bereits angesprochenen erneuten landesweiten Säuberungsaktionen verhaftet worden waren. Vermutlich irrt Madajczyk auch mit seiner Behauptung, wonach dieser angeblichen ersten Deportationswelle eine zweite zwischen September und November 1940 folgte – diese setzte erst einen Monat später ein, siehe unsigniertes Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes an die Eisenbahnabteilung des Reichsverkehrsministeriums, 13. September 1940, AIZ 1/71, ohne Seitenangabe. 174 Unsigniertes Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes an die Eisenbahnabteilung des Reichsverkehrsministeriums, 13. September 1940, AIZ 1/71, ohne Seitenangabe. 173 245 schung dargestellt, beschränkte sich sein Eingreifen nicht auf die Beschneidung der hochfliegenden Deportationspläne Himmlers. Eine weitere Eskalation zwischen der Zivilverwaltung DanzigWestpreußens und dem SS-Apparat blieb aber vorerst aus. Nachdem Himmler Göring und Frank noch am 12. Februar 1940 in Karinhall zugesagt hatte, die Umsiedlung der Litauer, Bessarabier und Bukowinaer zu verschieben, hatte sich die Situation mit der Besetzung dieser Gebiete durch die Sowjetunion im Juni 1940 völlig verändert. Aus deutscher Sicht musste deren Überführung ins Deutsche Reich nun sofort in Angriff genommen werden. Neue Ansiedlungsbiete in Danzig-Westpreußen kamen da gerade recht, auch wenn sie der SS durch Forster nun geradezu aufgezwungen wurden. Und weil Greifelt vorschnell annahm, dass eine Vereinbarung mit der Sowjetunion zur Aussiedlung der »volksdeutschen« Litauer »in Kürze« bevorstehe, teilte er den Höheren SS- und Polizeiführern in Danzig und Königsberg bereits am 22. Juli mit, dass sie diese jeweils zur Hälfte aufzunehmen hätten, wobei sie in Danzig-Westpreußen »in Anlehnung an die Siedlungszone I« angesiedelt werden sollten.175 Weil diese hier jedoch – um eine Volkstumsbrücke zwischen Ostpreußen und dem Deutschen Reich zu schlagen176 – lediglich sechs Landkreise umfasste,177 erweiterte Himmler die Siedlungszone am 9. September 1940 kurzerhand um weitere drei Landkreise.178 Diese vor allem pragmatisch motivierte Entscheidung machte jedoch eine erste Präzisierung der ideologisch motivierten Selektionskriterien notwendig. Greifelt befürchtete, dass die geltenden Deportationsrichtlinien, die vor allem auf die Vertreibung der Kongresspolen zielten, missverstanden und auch die kaschubische Bevölkerung in ihrer Mehrheit erfasst werden würde. Da durch die Erweiterung der Siedlungszone I auch Landkreise hinzugekommen waren, in der viele Kaschuben lebten, sah sich Greifelt zur KlarstelGreifelt an HSSPF Königsberg und Danzig, 18. September 1940, PA AA R 100630. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 176 Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete, abgedruckt in: Müller, Hitlers Ostkrieg, Januar/Februar 1940, S. 130–138 u. 157. 177 Dies waren die Landkreise Berent, Zempelburg, Bromberg, Schwetz, Kulm, Graudenz, siehe RKF, Allgemeine Anordnung 3/I, gez. Himmler, 13. Juni 1940, BArch R 186/35, ohne Seitenangabe. 178 Dies waren die Landkreise Wirsitz, Neustadt, Dirschau, siehe RKF, Allgemeine Anordnung, gez. Himmler, 9. September 1940, BArch R 186/31, ohne Seitenangabe. 175 246 lung gezwungen. Am 18. September 1940 ordnete er an, diese nur dann zu deportieren, wenn sie entweder »nachweislich aktiv gegen das Deutschtum gekämpft« hatten oder auf Höfen lebten, die für eine Existenz als selbständiger Bauer zu klein war, und gleichzeitig für eine Assimilation infrage kamen.179 Mit dieser Intervention stieß Greifelt aber selbst bei seinen eigenen Dienststellen auf Kritik, hatte er damit doch die Handlungsfreiheit der SS-Ethnokraten vor Ort eingeschränkt und sie umso eindringlicher mit den Widersprüchen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik konfrontiert. In einem Schreiben vom 25. Oktober 1940 forderte der Leiter des mittlerweile auch in DanzigWestpreußen eingerichteten SS-Arbeitsstabes, SS-Standartenführer Theodor Henschel,180 dann auch eine radikale Kehrtwende. Da die zur Deportation freigegebenen Bevölkerungsgruppen, also die »kongresspolnischen Besitzer, sowie asoziale und kriminelle Elemente […] auf Höfen [wohnen], die für eine Besetzung mit Rückwanderern schon wegen ihres Zustandes gar nicht in Frage kommen«, während die guten Höfe »fast durchweg im Besitz der eingesessenen sogen. ›westpreußischen und kaschubischen‹ Bevölkerung« seien, war Greifelts Einschränkung kontraproduktiv.181 Wenn Letztere aber nur dann deportiert werden dürften, wenn ihnen eine »betont deutschfeindliche Haltung« nachgewiesen werde, müsse das negative Konsequenzen für die Ansiedlung der »volksdeutschen« Umsiedler haben, sei doch eben dieser Nachweis leider oft »unmöglich«. Da sich Henschel offensichtlich nicht anders zu helfen wusste, stellte er ihre Kategorisierung als Zwischenschicht und damit eine Grundannahme der bisherigen NS-Volkstumspolitik infrage. Diese Menschen seien »natürlich Polen und stellten nach übereinstimmender Ansicht aller Kenner der hiesigen Verhältnisse die gefährlichste Schicht für eine endgültige Deutschwerdung des Gaues dar. Während die Kongresspolen in ihrer Volkstumszugehörigkeit bekannt sind, ist diese sog. ›Zwischenschicht‹ je nach Bedarf polnisch, deutsch und dann wieder polnisch«.182 Greifelt an HSSPF Königsberg und Danzig, 18. September 1940, PA AA R 100630. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 180 Kurzbiographie siehe Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 618. 181 Unsigniertes Schreiben des Leiters des Ansiedlungsstabes Danzig-Westpreußen an die RKF-Zentrale, 25. Oktober 1940, APB 97/14, Bl. 1–5. 182 Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. 179 247 Henschel forderte stattdessen, entweder die Selektionskriterien zu verschärfen und nur Westpreußen und Kaschuben zu verschonen, die Verwandte im Deutschen Reich oder bei der Wehrmacht hatten – früheres politisches Wohlverhalten sollte hingegen keinen Ausnahmegrund mehr darstellen. Oder aber, und diese Option war aus Sicht Henschels vorteilhafter, die geltenden Ausnahmeregelungen würden gänzlich aufgehoben. Alle »einwandfrei als Polen geltenden Besitzer landwirtschaftlicher Grundstücke« sollten erfasst und zunächst in UWZ-Lager verschleppt werden. Dort würden sie nach einem differenzierten Verfahren, das in Anlehnung an das Verfahren in Litzmannstadt rassische, politische und ökonomische Kriterien verband, in vier Gruppen eingeteilt: Gruppe I sollte denjenigen vorbehalten bleiben, die für eine sofortige Assimilierung im Deutschen Reich geeignet erschienen. Konnte eine spätere Assimilierung nicht ausgeschlossen werden und waren die Personen gleichzeitig »zu wertvoll […], als daß man die Familien auseinanderreißt und die Arbeitsfähigen Arbeitskolonnen zuweist«, würden die Betroffenen in Gruppe II landen. War eine spätere Assimilierung hingegen ausgeschlossen und erschien eine Abschiebung ins Generalgouvernement nicht ratsam, so wären die Familien in Gruppe III zu selektieren, wo sie für »jeden Arbeitsdienst, auch kolonnenweise, bereitstehen« müssten. Allein die Angehörigen der Gruppe IV sollten ins Generalgouvernement abgeschoben werden. Im Wissen um die Bedeutung ökonomischer Faktoren bei der Gestaltung der Germanisierungspolitik versuchte Henschel seine Vorschläge gegen die erwartete Kritik des wirtschaftsnahen Flügels des Regimes abzusichern, indem er explizit darauf hinwies, dass mit diesem Vorgehen keine »Entblösung [sic!] von Arbeitskräften« zu befürchten war.183 Henschel versuchte, diesen Standpunkt bald darauf auch in der RKF-Zentrale in Berlin durchzusetzen, wo sich am 1. November 1940 unter anderem Vertreter der Deutschen Umsiedlungs-Treuhand Gesellschaft (DUT), der SS- und Polizeiführer des Bezirks Lublin Odilo Globocnik sowie Ehlich und Eichmann bei Fähndrich einfanden.184 Zunächst diskutierte man die kritische Situation im 183 184 Ebenda. Die Anwesenheit Globocniks erklärt sich aus der Tatsache, dass sowohl die Umsiedler aus der Weichselgegend als auch aus Chelm aus dem Distrikt Lublin kamen. Niederschrift der Besprechung vom 1. November 1940, gez. Dr. Kaumarms (DUT), BAP 1702/217. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 248 Wartheland, hatte doch der SS-Ansiedlungsstab Posen eben gemeldet, keine weiteren Personen mehr ansiedeln zu können und selbst 400 ursprünglich für dieses Gebiet vorgesehene Familien abweisen zu müssen. Henschel wusste diese Situation zu nutzen, war damit doch auch sein zentrales Anliegen angesprochen worden: Nach Darstellung der antizipierten Schwierigkeiten bei der Unterbringung der von Forster durchgesetzten Umsiedler bot er die Übernahme auch dieser 400 Familien an, wenn nur die dortigen Deportationsrichtlinien verschärft werden dürften. Und auch wenn sich die Anwesenden im Falle der Kaschuben nicht einigen konnten, schien Henschel doch zumindest einen partiellen Erfolg bei der Behandlung der übrigen sogenannten Zwischenschicht errungen zu haben. Diese Personen sollten nun in Lager verschleppt, dort von SD und Rasse- und Siedlungshauptamt selektiert, schließlich ins Deutsche Reich oder aber ins Generalgouvernement abgeschoben werden und so immerhin 20000 Höfe frei machen.185 Wie dieses Prozedere genau zu organisieren war, hielt Fähndrich drei Tage später in einer Eingabe an Himmler fest, die mit dem Reichssicherheitshauptamt und dem Rasse- und Siedlungshauptamt abgestimmt war.186 Nun könnte man Fähndrichs Eingabe, wie Isabel Heinemann dies etwa tut, als Ausweis dafür sehen, dass der »Frage der rassischen Auslese eine Schlüsselrolle« zukam.187 Ich glaube jedoch nicht, dass diese Einschätzung den Kern von Fähndrichs Schreiben trifft, unterstützte dieses doch weder Henschels Forderungen und schon gar nicht einen Selektionsvorgang, der vor allem auf rassischer Grundlage durchgeführt werden sollte. Selbst Henschel hatte keineswegs ausschließlich rassische Musterungen gefordert, sondern ein mehrstufiges Selektionsverfahren, das Betroffene erst nach »rassischer, gesundheitlicher und politischer Prüfung als zur Eindeutschung untauglich« aussonderte. Die zur Assimilation bestimmten Familien sollten deshalb – so Fähndrich – auch nicht nach ihrem Rassewert, sondern nach »ihrer bisherigen politischen Bewährung« entschädigt werden.188 Letztlich waren diese Korrekturen für den weiteren Verlauf aber ohnehin nebensächlich, da Fähndrich Henschels gesamter Ebenda. Fähndrich an Himmler, 4. November 1940, AGK 167/1, Bl. 52f. 187 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 250. 188 Fähndrich an Himmler, 4. November 1940, AGK 167/1, Bl. 52f. [Hervorhebung im Original, G.W.]. 185 186 249 Vorschlag missfiel. Aus seiner Sicht war »ein derartiger, etwas konstruiert erscheinender Plan gegenwärtig mit der rauhen Wirklichkeit nur sehr schlecht in Einklang zu bringen«. Allein schon aufgrund herrschaftsfunktionaler Interessen – hierbei in Übernahme der Kritik des SD, die sich aus den Marginalien zu Henschels Schreiben erschließt – glaubte Fähndrich, dass mit »der Zwischenschicht eben nicht so verfahren werden kann wie mit den Polen«. Eine solche »Gewaltlösung« sei kontraproduktiv, da sie nicht nur eine »Flut von Beschwerden« vonseiten der Verwandten im Deutschen Reich heraufbeschwören, sondern weitere Unruhe in die Provinz bringen und damit deren Germanisierung selbst gefährden würde. Fähndrichs Vorschlag war deutlich gemäßigter: Zunächst sollten Umsiedler nur auf Höfe angesiedelt werden, die »einwandfreien Polen« gehörten.189 Erst danach kam eine rassische Musterung in Betracht, die sowohl die wohlhabenden »rassisch schlechten« als auch die armen »rassisch guten« Angehörigen der »Zwischenschicht« benennen sollte, die – im ersten Fall – ins Generalgouvernement oder – im zweiten Fall – ins Deutsche Reich abgeschoben werden könnten. Erst danach war auch eine Erfassung der wohlhabenden »rassisch guten« Angehörigen der Zwischenschicht vorgesehen. Da diese generell für ihren materiellen Verlust zu entschädigen waren, ein Bauer aber wohl nur eine Wiedereinsetzung in einen Hof akzeptieren würde, müsste die Assimilierung dieser Gruppe von der Verfügbarkeit von Bauernhöfen im Deutschen Reich abhängig gemacht werden – und rückte damit in weite Ferne. Himmler ging aber selbst diese – gewissermaßen rassisch entschärfte – Version zu weit; er richtete stattdessen den Fokus wieder verschärft auf die sicherheitspolitische Funktion der Vertreibungen. Am 28. November 1940 hatte er in einem Schreiben an Hildebrandt »zugestimmt«, neben allen Polen lediglich die Angehörigen der »Zwischenschicht« zu deportieren, die sich – und zwar in dieser Reihenfolge – entweder »deutschfeindlich betätigt« oder »zweifellos […] zum polnischen Volkstum bekannt« hatten.190 Offen ließ er dabei, ob diese Gruppe auch einer rassischen Musterung zu unterziehen war. 189 190 Ebenda. Niederschrift der Besprechung am 7. Januar 1941 betr. Verfahren bei der Absiedlung der sog. Zwischenschicht in Danzig-Westpreußen, gez. Ehlich und Müller, 8. Januar 1941, BArch PL 170/67, Bl. 19–21. 250 Das Reichssicherheitshauptamt war jedoch selbst gegen diese Lösung. In einer Besprechung am 7. Januar 1941 mit Fähndrich und Henschel, an der auch weitere Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes und der RKF-Zentrale teilnahmen, das Rasse- und Siedlungshauptamt aber bezeichnenderweise erst gar nicht eingeladen worden war, machte Ehlich darauf aufmerksam, dass durch die Ausweitung der Deportationen auf die Angehörigen der Zwischenschicht auch Menschen erfasst würden, die »bei Einführung der Deutschen Volksliste unter die Gruppen 3 und 4 fallen würden«. Dass diese Personen nicht wie Polen behandelt würden, sei aber gegenwärtig nicht gewährleistet: »Bei dem bisherigen Verfahren würden nach Genehmigung der Absiedlung diese Familien durch die Lager der Umwandererzentralstelle gehen und dort der scharfen Auslese durch die Beauftragten des RuS unterworfen werden. Das hätte zur Folge, dass nach den bisherigen Erfahrungen eine Abschiebung von rund 70 Prozent der Familien der Gruppen 3 und 4 gerechnet werden müßte.« Für Ehlich war diese Quote bei weitem zu hoch, zumal dieses »Ergebnis […] dem eindeutigen RFSS-Befehl widerspricht, wonach deutschstämmige Familien nicht ins GG. verbracht werden dürfen«. Das Reichssicherheitshauptamt drängte also auf eine grundlegende Änderung. Zu entscheiden war, ob »diese deutschstämmigen Familien einer rassischen Untersuchung unterzogen werden sollen« und ob sie dann noch vor ihrer Verschleppung ins Deutsche Reich die UWZ-Lager durchlaufen müssten. Das Reichssicherheitshauptamt setzte sich durch: Bei diesen Familien »unterbleibt eine rassische Überprüfung« in Zukunft. Sie würden sofort von den anderen Deportierten getrennt und in Lager überführt, die der Höhere SS- und Polizeiführer eigens für diese Personengruppe einrichten würde.191 Und auch das Problem, wie diese Personen zu bestimmen seien, fand eine Lösung: »Mangels einer anderen Instanz« wurde diese Aufgabe dem Sonderreferat des SD-Leitabschnittes in Danzig übertragen. Damit war dem Rasse- und Siedlungshauptamt ein weiterer Schlag versetzt worden – mit der »Zwischenschicht« wurde nicht nur ein großer Teil der zur Deportation freigegebenen Bevölkerung dem Zugriff der Eignungsprüfer entzogen, sondern die rassischen Musterungen wurden als Selektionsverfahren zur Feststellung der Zugehörigkeit zur deutschen »Volksgemeinschaft« auch relativiert. 191 Ebenda. 251 Heinemann merkt in einem Zwischenfazit an, dass vonseiten der SS »immer ausgeklügeltere Methoden zur Platzbeschaffung projektiert wurden« – und dem ist zumindest insofern zuzustimmen, als dass knappes Siedlungsland diese Diskussion überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt und ihren Verlauf strukturiert hatte. Die Schlussfolgerung, dass diese Methoden »auf eine rassische Auslese immer weiterer Gruppen der polnischen und gemischtnationalen Ursprungsbevölkerung hinausliefen«, ist jedoch falsch – davon konnte, wie der Verlauf der Diskussion zeigte, keine Rede sein.192 Charakteristisch für die Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik hatte Henschel die rassischen Musterungen der einheimischen Bevölkerung zu dem Zeitpunkt ins Spiel gebracht, als ihm klargeworden war, dass er die ihm zugeteilten Umsiedler nicht würde unterbringen können. Die dafür notwendige Ausweitung der Deportationen musste aber auch ideologisch abgesichert werden, schließlich betraf sie mit der Zwischenschicht Personen, die nach der völkischen Lesart der Nationalsozialisten potentielle Mitglieder der hier herzustellenden deutschen »Volksgemeinschaft« waren. Dieses Dilemma glaubte Henschel auflösen zu können, indem er die rassische Musterung dieser Personen einforderte. Nach den bisherigen Selektionsquoten des Rasse- und Siedlungshauptamtes wäre damit die Freimachung von dringend benötigten Höfen gesichert gewesen. Im Reichssicherheitshauptamt stieß Henschels rassische Absicherung eines im Kern pragmatisch motivierten Verfahrensvorschlages aber auf – wiederum ideologisch begründete – Kritik, dürfte die Zwischenschicht in Danzig-Westpreußen doch nicht dem gleichen Selektionsverfahren unterzogen werden wie die »polnischen« Einheimischen im Wartheland. In diesem »Irrgarten der Rassenlogik« konnte das Reichssicherheitshauptamt die rassischen Musterungen mit einer rassischen Begründung zu Fall bringen.193 Sosehr diese Metapher auch auf den hier besprochenen Fall zutrifft, so wenig darf sie aber Schlusspunkt der Analyse sein. Es muss vielmehr die Frage gestellt werden, in welchem Verhältnis dieses Ergebnis zur Machtkonstellation der beteiligten Akteure stand und den von diesen definierten Bedürfnissen des kriegführenden Deutschen Reiches. Die Quellenlage ist zwar auch hier mangelhaft, doch 192 193 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 250. Essner, »Im ›Irrgarten‹ der Rassenlogik«. 252 ist nicht zu übersehen, dass Ehlichs Intervention nicht nur die eigene Position innerhalb des SS-Komplexes stärkte: Die Definitionsmacht über die Zugehörigkeit zur Zwischenschicht wurde den RuSHAEignungsprüfern entrissen und dem SD zugesprochen. Außerdem wurden der deutschen Kriegswirtschaft »deutsche« (Zwangs-)Arbeiter zugeführt. Fest steht, dass das Reichssicherheitshauptamt die Ausdehnung der rassischen Musterungen unterbunden hatte. Die ersten – und letzten – Deportationen im Rahmen des zweiten Nahplans wurden in Danzig-Westpreußen im Dezember 1940 durchgeführt. Organisation und Durchführung lagen in den Händen der Umwandererzentralstelle Danzig, die am 11. November 1940 als Einrichtung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD gegründet worden war.194 Anders als im Wartheland – und ähnlich wie später auch in Schlesien – wurde die formelle Leitung dem Chef der Staatspolizeileitstelle Danzig, SS-Sturmbannführer HansHelmut Wolff, übertragen.195 Faktischer Leiter der Umwandererzentralstelle wurde jedoch SS-Hauptsturmführer Franz Abromeit, der bereits seit Jahresbeginn Sachbearbeiter für Deportationen im Stab des Inspektors der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Standartenführer Helmuth Willich, war. Das Prozedere kopierte dabei im Wesentlichen den Ablauf im Wartheland und in Ostoberschlesien. Der SS-Ansiedlungsstab und die lokalen SS-Arbeitsstäbe erstellten eine Übersicht der für die Unterbringung von Umsiedlern geeigneten Höfe, erfassten die darin lebenden Familien und reichten die Ergebnisse an das Sonderreferat des SD-Leitabschnittes in Danzig weiter, das über die rechtmäßige Deportation entschied. Die Deportationslisten gingen anschließend an die Umwandererzentralstelle Danzig, die vermutlich am 21. November mit den Festnahmen der betroffenen Personen begann,196 diese zunächst in lokalen AuffangAbromeit an Höppner, 11. November 1940, AGK 68/120, Bl. 2, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 116. 195 Heydrich an Reichsstatthalter, HSSPF, IdS und Gestapo in Danzig, 23. Januar 1941, SMR 500-3/22, Bl. 88. 196 Dies ist zumindest der Termin, der dem Landesarbeitsamt, dem Landesbauernführer und der Industrie- und Handelskammer genannt wurde, um diese in die Lage zu versetzen, einen Teil der zu deportierenden Personen als Zwangsarbeiter zurückzuhalten Siehe Wolffs Niederschrift einer Besprechung am 9. November 1940, betr. Umsiedlung der Weichseldeutschen, Volksdeutschen aus Litauen und Bessarabien in Danzig-Westpreu194 253 lagern konzentrierte und dann in das neu eingerichtete UWZ-Lager in Thorn überstellte. Dort wurden sie von einem Eignungsprüfer der RuSHA-Außenstelle in Litzmannstadt einer »Grobauslese« unterzogen – damit hatte sich dieses Verfahren nun endgültig in den annektierten westpolnischen Gebieten als Standard durchgesetzt.197 Noch in diesen Lagern wurden sie schließlich auch Vertretern des Landesarbeitsamtes, des Landesbauernführers und der Industrieund Handelskammer vorgeführt, die wirtschaftlich unverzichtbare Arbeitskräfte direkt anforderten. Diese wurden – mit dem diskriminierenden »P« versehen – als Zwangsarbeiter in der Provinz eingesetzt.198 Der weitere Weg führte die übrigen Betroffenen wiederum über Litzmannstadt, wo die positiv Gemusterten in das Wiedereindeutschungslager des Rasse- und Siedlungshauptamtes überstellt wurden, während die überwiegende Mehrzahl nach einer letzten Verzeichnung durch die dortige UWZ-Dienststelle ins Generalgouvernement abgeschoben wurde. Insgesamt wurden zwischen dem 5. und 17. Dezember 1940 in zehn Transporten 9946 Personen ins Generalgouvernement deportiert – zuzüglich der als »Wiedereindeutschungsfähige« oder Zwangsarbeiter vertriebenen Personen.199 Wie bei den bisherigen Deportationen waren die meisten von ihnen deswegen selektiert worden, weil ihre Wohnungen oder Höfe für die Ansiedlung der »volksdeutschen« Umsiedler besonders geeignet erschienen. Dabei kann jedoch angesichts der Beschwerden des SS-Ansiedlungsstabs nicht ausgeschlossen werden, dass das SD-Sonderreferat nicht nur diejenigen ausnahm, die über Verwandte im Deutschen Reich oder in der Wehrmacht verfügten, sondern – die Regelung vom 7. Januar ßen, 9. November 1940, R 96/136, Bl. 55f. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 197 Abromeit an Höppner, 11. November 1940, AGK 68/120, Bl. 2, abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 116. 198 Wolffs Niederschrift einer Besprechung am 9. November 1940, betr. Umsiedlung der Weichseldeutschen, Volksdeutschen aus Litauen und Bessarabien in Danzig-Westpreußen, 9. November 1940, R 96/136, Bl. 55f. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 199 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, vermutlich Ende Januar 1941, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 254 1941 antizipierend – auch solche, die nach dortiger Einschätzung einen Anspruch auf Eintragung in die Gruppen 3 oder 4 der Deutschen Volksliste hätten geltend machen können. In jedem Fall eingeschlossen wurde hingegen eine kleinere Zahl von Angehörigen von bei Razzien aufgegriffenen und erschossenen Personen200 sowie vermutlich auch solche, »deren Verbleib eine Gefahr und Belastung für die Aufbauarbeit« bedeutete.201 Ungeklärt muss hingegen ein anderer Sachverhalt bleiben: Von den 9946 deportierten Personen waren 3259 Juden, dies war ein deutlich höherer Anteil als bei allen bisherigen Deportationen.202 Aber vielleicht war diese Kehrtwende auch bereits eine erste praktische Antwort auf den gescheiterten Madagaskar-Plan. Mit dem zweiten Nahplan hatte die seit Dezember 1939 im Reichssicherheitshauptamt ausgearbeitete Deportationsplanung zum ersten Mal neben dem Wartheland auch die restlichen Provinzen erfasst. Die Bilanz fiel aus Sicht der Ethnokraten in Berlin und den einzelnen Provinzhauptstädten dennoch gleich in doppelter Hinsicht ernüchternd aus: Zwar gelang es ihnen, bis Dezember 1940 290058 »Polen« aus den annektierten westpolnischen Gebieten zu vertreiben und sie durch 176442 »Volksdeutsche« zu ersetzen – eigentlich wollte man aber bereits bis Februar eine Million Menschen vertrieben und bis zum Jahresende die restliche Bevölkerung einer rassischen Musterung unterzogen haben.203 Diese Zahlen verblassen aber vor allem mit Blick auf die ethnographische Struktur dieser Provinzen: So konnte die Zahl der »Deutschen« zwar auf 831062 angehoben werden, die Polen stellten mit über acht Millionen aber immer noch über 90 Prozent der Bevölkerung. Nicht besser stand es Unsignierte Übersicht UWZ Danzig, 7. Dezember 1940, APB 97/14, Bl. 17. Roeder an den Reichsstatthalter, Regierungspräsidenten, Landräte, 9. Dezember 1940, BArch R 75/3b, Bl. 90–92. 202 Jastrz˛ ebski, Hitlerowski wysiedlenia, S. 81f., gibt für den Zeitraum abweichend 10504 Personen an, von denen lediglich 381 Juden gewesen sein sollen. 203 Ostpreußen ist in diesen Zahlen nicht enthalten, fällt aber auch nicht ins Gewicht. Zu diesem Zeitpunkt waren dort noch keine Umsiedler angesiedelt und ca. 15000 Einheimische ins Generalgouvernement vertrieben worden, siehe unsignierte Übersicht der Hauptabteilung I der Berliner RKFDienststelle, betr. Aufstellung über die Bevölkerung der eingegliederten Gebiete, 13. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. 200 201 255 um die Absicht, im zweiten Nahplan die Deportationen auch geographisch auszudehnen. Aus Oberschlesien wurden immerhin erstmals 17413 Menschen vertrieben, während diese Zahl in DanzigWestpreußen um fast 10000 auf 38059 anwuchs.204 Diese Zahlen machten aber dennoch nur ein Achtel der bis dahin insgesamt ausgewiesenen Personen aus, während die restlichen aus dem Wartheland stammten.205 Die geäußerte Hoffnung, dass sich dies in der Folgezeit ändern werde, erfüllte sich übrigens auch nicht. Wie sich bald herausstellen sollte, wurden die Deportationen aus diesen Provinzen faktisch eingestellt. Dritter Nahplan: vom Kriegsverlauf überrollt Wie bereits zu Beginn des Jahres 1940 lud Heydrich auch Anfang des Jahres 1941 nach Berlin, um mit Vertretern des Oberkommandos der Wehrmacht, der betroffenen SS-Hauptämter und der Zivilverwaltungen in den annektierten Ostgebieten und des Generalgouvernements die Deportations- und Umsiedlungszahlen für das kommende Jahr abzustimmen.206 Auffällig ist dabei vor allem, wie wenig sich die Verantwortlichen von den Schwierigkeiten der verUnsignierter und undatierter Abschlussbericht über die Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Wolhynien-, Galizien- und Cholmerdeutschen (zweiter Nahplan) im Reichsgau Wartheland mit Anlagen, vermutlich Ende Januar 1941, BArch R 75/6, Bl. 1–13, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 89–105. 205 Errechnet nach der unsignierten Übersicht der Hauptabteilung I der Berliner RKF-Dienststelle, betr. Ansiedlung und Evakuierung in den eingegliederten Ostgebieten, Stand vom 31. 12. 40 und Planung für 1940, 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. 206 Vermerk Alexander Dolezalek über die Konferenz am 8. Januar 1941, 10. Januar 1941, BArch R 49 Anh. I/34, Bl. 7f. Siehe auch die vorbereitenden Treffen am 17. Dezember 1940 im Reichssicherheitshauptamt (Eichmann an die Gestapo und SD-Dienststellen in den annektierten Ostgebieten, 12. Dezember 1940, BArch R 75/9a, Bl. 97) und am 7. Januar 1941 in der RKF-Zentrale (Vermerk Butschek vom Ansiedlungsstab Süd Schlesien, 10. Januar 1941, BArch R 49 Anh. III/26, ohne Seitenangabe, für diese Akte danke ich Götz Aly). Die auf dieser Besprechung genannten Zahlen unterscheiden sich nur unwesentlich von denen, die schließlich einen Tag später vereinbart wurden. Ebenfalls weitgehende Übereinstimmung zeigt eine unsignierte Aufstellung der RKF-Zentrale vom 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. Zur Konferenz siehe auch Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 415f. 204 256 gangenen Deportationen entmutigen ließen und sich schließlich darauf einigten, im Rahmen des dritten Nahplans 831000 Menschen aus den annektierten Ostprovinzen ins Generalgouvernement zu deportieren und dort noch einmal 340000 Menschen innerhalb dieses Gebietes aus ihren Wohnungen zu vertreiben.207 Diese geradezu exorbitante Zahl ist jedoch auch Ergebnis der Interessen verschiedener Gruppen, die alle zufriedengestellt werden wollten. So machten die Deportationen von Polen zur Unterbringung von ethnischen Deutschen nun erstmals nicht mehr den alles entscheidenden Anteil aus, sondern erreichten mit 438000 Personen nicht einmal die Hälfte der Gesamtzahl. Sie sollten 150000 ethnischen Deutschen, vor allem aus Bessarabien und der Bukowina, Platz machen. Fast die gleiche Anzahl, nämlich 437000, beanspruchte die Wehrmacht, die große Truppenübungsplätze einrichten wollte, während dem Ausbau des Industriegebiets Auschwitz 55000 sowie der »Besserstellung« einheimischer »Volksdeutscher« weitere 50000 Menschen weichen sollten. Und schließlich mussten über ein Jahr nach Scheitern der Nisko-Aktion auch die Wünsche des Reichsstatthalters und Gauleiters von Wien, Baldur von Schirach, erfüllt werden, der – unter anderem, um die Wohnungsnot zu lindern – 60000 Juden aus der Stadt vertreiben wollte. Die Vertreter des Generalgouvernements, bisher nicht eben kleinlaut in ihrer Kritik solcher Abschiebungspläne, verhielten sich zurückhaltend.208 Frank war nur wenige Wochen vorher von Hitler selbst angewiesen worden, nach dem Scheitern des Madagaskar-Plans einen Teil der jüdischen Bevölkerung des Deutschen Reiches sofort aufzunehmen wie auch das Generalgouvernement für weitere Polen aus den annektierten Gebieten zu öffnen.209 Aus der Perspektive der Zivilverwaltungen in den Ostprovinzen waren die vereinbarten Deportationsziffern ein deutlicher Erfolg, versprachen sie doch, die Germanisierung der Provinzen in schnelVermerk Alexander Dolezalek über die Konferenz am 8. Januar 1941, 10. Januar 1941, BArch R 49 Anh. I/34, Bl. 7f. 208 Ebenda. 209 Besprechung zwischen Hitler, Frank, Schirach, Koch, Bormann am 2. Oktober 1940, abgedruckt in: Seeber, Zwangsarbeiter in der faschistischen Kriegswirtschaft, S. 264–267, Besprechung zwischen Hitler und Frank am 4. November 1940 und Sitzung unter Frank in Krakau am 6. November 1940, abgedruckt in: Präg/Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs, S. 302. 207 257 len Schritten voranzubringen. Und dennoch war den örtlichen Experten klar, dass die Einhaltung der Deportationszahlen nicht ausreichen würde, um die geplante Ansiedlung sicherzustellen. Bei den Detailplanungen im Anschluss an die Konferenz in Berlin stellte sich folglich in allen Provinzen sogleich Ernüchterung ein: Es fehlten ausreichend große Bauernhöfe, Handwerksbetriebe und Stadtwohnungen. Wie ernst die Situation war, zeigen die Maßnahmen, die vonseiten der SS ergriffen wurden: Nur zwei Wochen nach der Besprechung bei Heydrich scheinen zumindest vorläufig die Deportationen zur »Besserstellung« von einheimischen »Volksdeutschen« wie wohl auch die für die Einrichtung von Truppenübungsplätzen zunächst ausgesetzt worden zu sein.210 Damit halbierte sich die Anzahl der zu Deportierenden, und man konnte sich auf die Evakuierungen zur Unterbringung der Umsiedler konzentrieren. Tatsächlich wurden auf der ersten Fahrplankonferenz Mitte Januar 1941 nur für diese Kontingente Züge bereitgestellt.211 Darüber hinaus mussten die verfügbaren Siedlungsflächen erweitert werden. Wie ein Vertreter der RKF-Zentrale in einem Gespräch mit dem Leiter der Zweigstelle in Posen, Döring, erfuhr, waren von den ursprünglich zur Besiedlung ausgewiesenen 68000 Höfen bereits 60000 besetzt und momentan nicht mehr als 2000 verfügbar.212 Die dem Wartheland für 1941 zugeteilten 57000 Umsiedler konnten unter diesen Bedingungen jedenfalls nicht angesetzt werden.213 Nachdem die Ansiedlungen wie gezeigt bereits im vorangegangenen Sommer eigenmächtig auf Landkreise ausgeweitet worden waren, die nicht zur Siedlungszone erster Ordnung gehörten, verabschiedeten sich die Siedlungsplaner nun endgültig von den Vorgaben der RKF-Zentrale und gaben die Besiedlung der gesamten Provinz frei.214 OberschleHöppner an Döring, 20. Januar 1941, AGK 69/182, Bl. 5–7. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 211 Höppner an Krumey, BAL B 162/365b, Bl. 69. 212 Vermerk Schröder über die Unterredung mit Döring, 10. April 1941, BArch R 49/2639, ohne Seitenangabe. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 213 Diese Zahl wurde auf der Konferenz vom 8. Januar 1941 genannt, Vermerk Dolezalek, 10. Januar 1941, BArch R 49 I/34, Bl. 7f. 214 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht, betr. Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Bessarabiendeutschen (3. NP) vom 21. 1. 1941 bis 20. 1. 42 im Wartheland, AGK NTN/13, Bl. 99–106, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 106–110. 210 258 sien folgte kurze Zeit später, als Himmler am 16. Januar 1941 ganz Oberschlesien zur Siedlungszone erster Ordnung erklärte.215 In Berlin war der Beginn der Deportationen im Rahmen des dritten Nahplans auf den 1. Februar, lediglich für Schlesien auf den 1. März 1941 festgesetzt worden.216 Auch in Danzig und in Kattowitz waren nun UWZ-Dienststellen eingerichtet worden,217 die der Dienstaufsicht des regionalen Inspekteurs der Sicherheitspolizei unterstanden, anders als im Wartheland jedoch nicht an den jeweiligen SD-Leitabschnitt, sondern an die Gestapo angebunden und lediglich für die Organisation der Deportationen, nicht aber für die Freigabe der zu Deportierenden zuständig waren. Die Selektion verblieb in den Händen des regionalen SD, der hierfür jeweils ein Sonderreferat III BS einrichtete.218 Die Sonderreferate hatten für die Einhaltung der Selektionskriterien zu sorgen. Wie gewohnt kam es dabei zu einem Interessenkonflikt: Das Reichssicherheitshauptamt mahnte zum wiederholten Mal die Einhaltung rassischer Kriterien an und ordnete die Deportation von »zunächst nur Kongresspolen« an. Davon durfte nur abgewichen werden, wenn ihre Zahl nicht ausreichte, um das zugewiesene Kontingent zu erfüllen – und auch dann nur mit den Mitgliedern »ausgesprochen deutschfeindliche[r] Organisationen«.219 Die Dienststellen der Zivilverwaltung und die lokalen RKF-Stäbe hatten aber andere Sorgen und außerdem das Vorschlagsrecht für die zu deportierenden Personen. So wurden in Danzig-Westpreußen grundsätzlich alle zur Deportation freigegeben, »die sich zum polnischen Volkstum bekannt haben«, sprich: politisch in Erscheinung getreten Anordnung 10/II, gez. Himmler als RKF, 16. Januar 1941, BArch R 186/31, ohne Seitenangabe. 216 Vermerk Dolezalek, 10. Januar 1941, BArch R 49 I/34, Bl. 7f. 217 In Danzig-Westpreußen Ende Januar 1941, siehe Heydrich an Reichsstatthalterei und HSSPF in Danzig, 23. Januar 1941, SMR 500-3/22, Bl. 88. In Oberschlesien Mitte Februar 1942, siehe Reichssicherheitshauptamt, gez. i. A. Dr. Rudolf Bilfinger, an Oberpräsidenten und HSSPF in Breslau, 14. Februar 1941, BA DH 890 A2, 622A, Bl. 1–51. Für dieses Dokument danke ich Götz Aly. 218 Für Danzig siehe Leiter SD-LA Danzig an RSHA, IV B 4, 28. Februar 1941, APB 97/14, Bl. 51. Für Schlesien siehe undatiertes Schreiben der UWZ-Kattowitz, vermutlich Februar 1941, APK 119/4088, Bl. 1–3. 219 Siehe etwa undatierte Richtlinien Eichmanns, vermutlich knapp vor dem 1. Februar 1941, AGK 69/1, Bl. 38–41. 215 259 waren,220 während in Schlesien vor allem die ins Visier gerieten, die »nicht im Produktionsprozeß erforderlich sind«.221 Bei der Auswahl der Ansiedlungsstäbe ist zudem unverkennbar, dass sie vor allem auf die Deportation von Personen drängten, deren Wohnungen für die Ansiedlung von ethnischen Deutschen gebraucht wurden, und die Bürgermeister setzten alles daran, »Unruhestifter« und Fürsorgeempfänger loszuwerden. Die Umwandererzentralstelle beziehungsweise die Sonderreferate traten erst in Aktion, als es um die Überprüfung der Listen ging, die ihnen aus den Kreisen eingereicht wurden. Sie konnten also lediglich Personen streichen, die von Deportationen ausgenommen waren – wenn sich die Verantwortlichen vor Ort nicht ohnehin über das Votum aus der Gauhauptstadt hinwegsetzten und die Betroffenen eigenmächtig aus ihren Wohnungen jagten. Einig war man sich aber in allen drei Provinzen darin, dass die erfassten Personen vor ihrer Deportation noch einen Selektionsprozess durchlaufen mussten, in dem das Rasse- und Siedlungshauptamt und das Arbeitsamt die für die Zwangsarbeit im Deutschen Reich geeigneten Personen aussuchte.222 Diese Verfahrensweise währte nicht lange, die Vorbereitungen auf den Überfall auf die Sowjetunion hatten begonnen. Günther teilte den UWZ-Dienststellen bereits am 21. Februar 1941 mit, dass die Reichsbahn »aus naheliegenden militärischen Gründen« in den kommenden Wochen wohl nur zwei Züge pro Woche stellen könnte – 17 wären notwendig gewesen.223 Am 11. März informierte Greifelt die Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung Unsignierte Übersicht UWZ Danzig, 3. Februar 1941, BArch PL 170/46, Bl. 1–6. 221 Allgemeine Anordnung 4/41 Brachts als Beauftragter RKF, 4. Februar 1941, APK 119/4088, Bl. 13–17, abgedruckt in: Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. 181–185. 222 Unsignierte Übersicht UWZ Danzig, 3. Februar 1941, BArch PL 170/46, Bl. 1–6 und undatierte und unsignierte Übersicht der UWZ Kattowitz zum Aufbau der Dienststelle, vermutlich vom Februar 1941, APK 119/4088, Bl. 1–3. 223 RSHA IV D 4, gez. Günther, an UWZ-Dienststellen in den annektierten Ostprovinzen, 21. Februar 1941, AGK 68/122, Bl. 35f. Eine Woche später teilte Eichmann mit, dass jetzt zumindest für die erste Märzwoche wohl doch zwei Züge täglich bereitstünden, Eichmann an die UWZ-Dienststellen in den annektierten Ostprovinzen, 27. Februar 1941, AGK, 68/122, Bl. 41, für das Dokument danke ich Götz Aly. Diese Zusage sollte sich jedoch als voreilig herausstellen. 220 260 deutschen Volkstums über den baldigen Deportationsstopp.224 Als die Deportationen am 15. März 1941 eingestellt werden mussten, war der dritte Nahplan gescheitert, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Im Wartheland waren bis zu diesem Zeitpunkt nicht 230000, sondern »lediglich« 19000 Menschen ins Generalgouvernement abgeschoben worden,225 in Danzig-Westpreußen statt der 167000 Einheimischen wohl nicht mehr als 11000,226 und für Schlesien, wo ebenfalls mindestens 230000 Einheimische abgeschoben werden sollten, lässt sich bis Mitte März nicht ein einziger Deportationszug nachweisen. Die Wehrmacht musste die Planungen für die neu anzulegenden Truppenübungsplätze ebenso verschieben wie auch die einheimischen »Volksdeutschen« den Raub benachbarter Grundstücke. Anstatt eine Million Menschen bis zum Jahresende konnten gerade einmal 30000 Personen abgeschoben werden.227 In den Auffanglagern der Volksdeutschen Mittelstelle mussten 256257 Personen weiter vertröstet werden.228 Die Sicht auf dieses »Fiasko« ist in der Literatur etwas einseitig,229 wird der Deportationsstopp doch vor allem auf die Proteste der Wehrmacht zurückgeführt, die alle Transportkapazitäten für sich reklamierte und sich zudem über die sicherheitspolitischen Auswirkungen der Deportationen auf das Aufmarschgebiet Generalgouvernement besorgt zeigte, oder aber auf das Unvermögen seiner Greifelt an Beauftragten RKF in den annektierten Ostprovinzen, 11. März 1941, R 69/388, Bl. 247–249. Siehe auch Abromeit an HSSPF, IdS, SD-Leitabschnitt Danzig, 11. März 1941, APB 97/14, Bl. 47. 225 Undatierte Übersicht der UWZ über die im dritten Nahplan deportierten und verdrängten Personen, vermutlich Ende Januar 1942, AGK 62/76, Bl. 4. Siehe auch Aufstellung der RKF-Zentrale vom 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe. 226 Jastrz˛ ebski, Potulice, S. 9–12. 227 Aly gibt die Zahl mit 25000 an, ders., »Endlösung«, S. 229. Auch wenn die genaue Anzahl nicht zweifelsfrei festzustellen ist, scheinen doch aus Danzig-Westpreußen 11123 (Jastrz˛ebski, Potulice, S. 22) und aus dem Wartheland 19226 (Unsignierter und undatierter Abschlussbericht, betr. Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Bessarabiendeutschen (3. NP) vom 21. 1. 1941 bis 20. 1. 42 im Wartheland, AGK NTN/13, Bl. 99–106, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 106–110). Offensichtlich ist jedoch die Differenz zu den selbstgesteckten Zielen. 228 Aly, »Endlösung«, S. 229. 229 Ebenda. 224 261 Planer im Reichssicherheitshauptamt und der RKF-Zentrale, die divergierenden Interessen zwischen den Berliner Zentralstellen und den regionalen Zivilverwaltungen auszugleichen.230 Was hier aus meiner Sicht fehlt oder zu kurz kommt, ist der rasant wachsende Bedarf an Arbeitskräften sowohl in den annektierten Gebieten als auch im Deutschen Reich. Es war vor allem dieser Arbeitskräftemangel, der – so glaube ich – den dritten Nahplan zum Scheitern verurteilte, bevor die Überlastung des Schienennetzes ihn auch praktisch beendete. Die Umdeutung der polnischen Bevölkerung von gefährlichen oder zumindest unerwünschten »Fremdvölkischen« zu notwendigen Arbeitskräften hatte sich bereits während der ersten Deportationen angekündigt. Mit dem bevorstehenden Überfall auf die Sowjetunion, das heißt einer weiteren Verlängerung des Krieges, erhielt dieser Aspekt jedoch eine neue Dringlichkeit. Zur Mobilisierung aller wirtschaftlichen Ressourcen hatte Göring auf einer Besprechung am 29. Januar die Anweisung gegeben, dass »ausländische Arbeiter in weitest möglichem Umfange hereingenommen werden sollen. Der Herr Reichsmarschall hat erneut festgestellt, dass bevölkerungs- und rassenpolitische Bedenken zur Zeit in den Hintergrund zu treten haben. Weiter hat er an den Reichsarbeitsminister Weisung gegeben, an die verantwortlichen deutschen Stellen in die besetzten Gebieten erneut und nachdrücklich in diese Richtung heranzutreten«.231 Kurze Zeit später wurden die Zivilverwaltungen in Polen auch explizit angewiesen, der Kriegswirtschaft ohne Verzug neue Zwangsarbeiter zur Verfügung zu stellen.232 Auf einer eilends einberufenen Besprechung unterrichtete der Leiter des Arbeitsamts in Litzmannstadt, Dr. Storch, die Teilnehmer, dass Göring die kurzfristige Bereitstellung von 250000 polnischen Landarbeitern angeordnet habe.233 Auch wenn diese Anzahl von den Zivilverwaltungen aller polnischen Gebiete, also nicht allein vom Siehe etwa Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 158, oder Aly, »Endlösung«, S. 228–236. 231 Reichsinnenministerium, gez. i. A. Jacobi, an RSHA, LAB B Rep. 057–01/ 448, A 26 (2). Siehe auch Adam, Judenpolitik, S. 290, sowie Herbert, »Arbeit und Vernichtung«, S. 393. 232 Höppner an RSHA III B, 13. März 1941, BAK R 75/3b, Bl. 94f., abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 136f. 233 Krumey an UWZ Posen und Ehlich, 25. Februar 1941, AGK 68/146, Bl. 23. 230 262 Wartheland aufzubringen war, wurde doch sofort klar, dass diese Größenordnung den bisherigen Ablauf der Deportationen über den Haufen warf. Dies betraf vor allem die von der SS mit dem zweiten Nahplan eingeführte rassische Musterung, die die Selektion von Arbeitskräften an ein außerökonomisches Kriterium knüpfte und damit künstlich verknappte. Die SS hatte dieses Projekt so lange verfolgen können, wie die negativen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt überschaubar blieben. Auch wenn ich auf die Konsequenzen noch im Detail eingehen werde, sei hier doch so viel gesagt, dass die SS die rassische Musterung sofort einstellen musste, als deutlich wurde, dass sie die Konzentration aller wirtschaftlichen Kräfte für den Überfall auf die Sowjetunion gefährdete. Wie der SS-Komplex bald feststellen musste, reichten die Auswirkungen des sich zuspitzenden Arbeitskräftemangels noch weitaus tiefer. Zur Disposition stand nicht allein der Ablauf der Deportationen, sondern die Deportationen selbst. Der Leiter der Planungsabteilung der Ansiedlungsstäbe Posen und Litzmannstadt, Alexander Dolezalek, stellte dies bereits im Februar 1941 fest. In einer Besprechung mit Greiser und seinem persönlichen Adjutanten Harry Siegmund drang er darauf, die Umsiedler auf zu parzellierenden Großgütern unterzubringen und nicht auf zusammenzulegenden Kleinbetrieben, wofür Greiser plädierte. Während Dolezalek argumentierte, dass Großgüter die Germanisierung der Provinz verzögern würden, da sie nur mit (polnischen) Landarbeitern zu bestellen seien und die Zusammenlegung von Kleinbetrieben die Deportation von deutlich mehr Personen erfordere und also bei der unbeständigen Transportlage nicht zu garantieren sei, erinnerte ihn Greiser daran, dass er von Hitler und Göring mit der »Produktion von Getreide, Getreide und nochmals Getreide« beauftragt worden sei – und in dieser Hinsicht seien Großbetriebe schlicht wirtschaftlicher.234 Was Aly allerdings nicht eigens herausstellt, obwohl es aus meiner Sicht einen noch gravierenderen Einschnitt darstellt, war die Ankündigung Greisers, in Zukunft zumindest einen Teil der für die Unterbringung der ethnischen Deutschen zu enteignenden Polen nicht mehr länger abschieben zu wollen. In ihrer Funktion als wertvolle Arbeitskräfte könne das Wartheland nicht auf sie verzichten. 234 Aly »Endlösung«, S. 231. Siehe auch Vermerk Dolezalek, 12. Februar 1941, BArch R 49 I/34, Bl. 43–47. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 263 Natürlich war die Zivilverwaltung stets darauf bedacht gewesen, den Verlust von Facharbeitern zu vermeiden. Allerdings war dies bisher eine überschaubare Aufgabe gewesen, hielten sich doch sowohl die Deportationen ins Generalgouvernement wie auch die Abgabe von Arbeitskräften ins Deutsche Reich in Grenzen. Der dritte Nahplan versprach – oder aus dieser Perspektive: drohte – all dies zu ändern und eine vielfache Anzahl von Menschen zu erfassen. Der Schaden, den diese Entwicklung für die Leistungsfähigkeit der annektierten Provinzen potentiell bedeutete, wurde in den jeweiligen Hauptstädten erkannt und hatte in Posen Greiser veranlasst, zumindest einen Teil der durch die Umsiedlungen enteigneten Personen in der Provinz zu belassen. Wie ernst Greiser diese Situation bewertete, zeigte sich schließlich Anfang März, als er nun selbst die Deportation von Juden generell verbot und stattdessen ihre Einweisung in das Ghetto in Litzmannstadt anordnete, das zum Produktionsstandort ausgebaut wurde.235 Als sich im Reichssicherheitshauptamt die Anzeichen verdichteten, dass der Zeitplan für den dritten Nahplan wegen des Aufmarsches der Wehrmacht im Generalgouvernement nicht einzuhalten war, hatte in den Provinzen also bereits ein Umdenken eingesetzt, der die aktuelle Deportationsplanung aus ganz anderen Gründen ebenfalls infrage stellte. Der dritte Nahplan reihte sich damit in die immer länger werdende Reihe von hypertrophen bevölkerungspolitischen Unternehmungen ein, die abrupt kollabiert waren. Und dennoch unterscheidet sich sein Ende in einem signifikanten Aspekt von den vorherigen Projekten, die vor allem an der noch nicht abgeschlossenen Erfassung der einheimischen Bevölkerung sowie den zum Teil noch immer unter den Kriegsfolgen leidenden Transportwegen gescheitert waren. Zwar war es auch diesmal die überlastete Infrastruktur der Reichsbahn, die die Deportationen auch praktisch beendete. In der Forschung hat dies jedoch eine durch den Überfall auf die Sowjetunion erzwungene Reevaluierung aufseiten der Zivilverwaltungen verdeckt, die zentrale Prämissen der Deportationsplanung im Reichssicherheitshauptamt und der RKF-Zentrale infrage stellte. Was der Zivilverwaltung in Oberschlesien bereits von Beginn an bewusst war, drang jetzt auch in Posen und Danzig zunehmend in die Köpfe: Sosehr das langfristige Ziel der Germanisierung der Provin235 Vermerk Höppner für Koppe, Ehlich, Krumey über Besprechung unter anderem mit Kendzia am 4. März 1941, 7. März 1941, AGK 68/146, Bl. 26f. 264 zen nur durch die Entfernung der als »polnisch« deklarierten Bevölkerung zu erreichen war, so unentbehrlich erwiesen sich diese Personen kurzfristig für ihr wirtschaftliches Überleben. Vor die Wahl zwischen rassischer Dystopie und Herrschaftsrationalität gestellt, entschieden sich die Gauleiter auch in diesem Aspekt für Letzteres. In der Gefahr, neben der geplanten Steigerung der Deportationszahlen auch noch eine zunehmende Anzahl von Arbeitskräften an das Deutsche Reich abgeben zu müssen, sahen sich die Zivilverwaltungen zu einer radikalen Kehrtwende gezwungen. Zumindest der arbeitsfähige Teil der einheimischen Bevölkerung verwandelte sich gleichsam über Nacht von unerwünschten »Fremdvölkischen« in wertvolle Arbeitskräfte. Dolezalek merkte dies in seinem Gespräch mit Greiser und Siegmund nur allzu deutlich: Hätten tatsächlich alle deportierten Polen sofort durch gleich qualifizierte Deutsche aus Osteuropa oder dem Deutschen Reich ersetzt werden können, wäre das Wartheland nicht im derzeitigen Dilemma gewesen. Aber – so Siegmund – »Sie wissen ja selbst, was ist aus all den grossen Plänen des Reichsführers geworden?«236 236 Vermerk Dolezalek, 12. Februar 1941, BArch R 49 I/34, Bl. 43–47. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 265 »Rasse« oder »Volk«? Konkurrierende Entwürfe für eine »deutsche Volksgemeinschaft« Die zunehmende Abhängigkeit von der einheimischen Bevölkerung hatte spätestens Anfang 1941 eine radikale Wende in der Deportationspolitik erzwungen. Das volle Ausmaß dieser Abhängigkeit zeigt sich jedoch in der Selektion der Personen, die die deutschen Besatzer für die Aufnahme in die deutsche »Volksgemeinschaft« als geeignet erschienen. Die Intervention des Reichsinnenministeriums durch Fricks Erlass über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vom 25. November 1939 war zunächst in allen drei Provinzen auf heftige Kritik gestoßen. Die dortigen Gauleiter hatten sehr dezidierte Vorstellungen, welche Vorgehensweise bei der Selektion der »Volksdeutschen« in ihrer Provinz jeweils angebracht waren und die sie auch im Konfliktfall gegen Widerstände in Berlin durchzusetzen bereit waren. Provinzielle Alleingänge Wartheland: »Keinerlei völkisch zweifelhaften Elemente« Der entschiedenste Protest gegen Fricks Erlass kam aus dem Wartheland. Die Ethnokraten in Posen sahen dadurch die eigene, mit der Deutschen Volksliste eben erst installierte Selektionspolitik infrage gestellt, mit der der größte Teil der einheimischen Bevölkerung eben nicht als »Deutsche« in den Staatsverband aufgenommen, sondern als »Polen« vertrieben werden sollte. Die Kritik Coulons und seiner Mitarbeiter konzentrierte sich folglich auf die sehr vage Bestimmung der deutschen Volkszugehörigkeit und des Begriffs des »erwünschten Bevölkerungszuwachses«. Coulons Forderungen waren dafür umso genauer: »Im völkischen Kampfraum dürfen keinerlei völkisch zweifelhafte Elemente verbleiben, die nicht die Gewähr geben, künftigen Belastungen ihres Volksbewußtseins gewachsen zu sein.«237 Mit der Aufgabe konfrontiert, eine Besatzungs- und Germanisie237 Bericht Coulons über Verlauf und Abschluss des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. 266 rungspolitik in einer Provinz durchzusetzen, in der die deutschen Besatzer mitsamt den einheimischen Volksdeutschen eine kleine Minderheit darstellten, beharrte Coulon also auf der Auffassung, dass Deutscher in erster Linie derjenige sei, der durch sein bisheriges Verhalten bewiesen hatte, dass auf ihn bei der Durchsetzung der Besatzungspolitik zurückgegriffen werden könne – eine Radikalität, die man sich anfangs glaubte leisten zu können, hatte Himmler doch versprochen, deportierte Polen durch ethnische Deutsche zu ersetzen. Es dauerte einige Wochen, bis die durch den Erlass des Reichsinnenministeriums unerlässlichen Veränderungen des Selektionsverfahrens durchgeführt worden waren und die Erfassung beginnen konnte. Neben der Auswahl des geeigneten Personals war es vor allem ein gesonderter Fragebogen, der für diese Verzögerung verantwortlich war. Um die »völkisch zweifelhaften Elemente« identifizieren zu können, reichten den Ethnokraten der Deutschen Volksliste die Informationen nicht aus, die der aus Berlin vorgegebene Fragebogen erhob. Wie Egon Leuschner, der ehemalige Beauftragte für Bevölkerungs- und Rassenpolitik bei der Gauleitung Schlesien und Hauptstellenleiter im Rassenpolitischen Amt der NSDAP, an Uebelhoer schrieb, »war dieser Fragebogen in seiner Einseitigkeit, abgestellt auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, nicht geeignet in verantwortlicher Weise die deutsche Volkszugehörigkeit ermitteln zu lassen«.238 Leuschner erarbeitete also einen zweiten und setzte diesen über Uebelhoer beim Reichsinnenministerium durch. Er wurde als sogenannter Ergänzungsfragebogen – wohlgemerkt nur im Wartheland – dem Fragebogen des Reichsinnenministeriums beigegeben (siehe Abb. S. 268/269). Mit dem Fragebogen aus der Berliner Reichsdruckerei erreichte die Zweigstellen auch das zwölfseitige – wie es im internen Verkehr bezeichnet wurde – »grüne Heft« mit detaillierten Anweisungen über Organisation und Verfahren der Deutschen Volksliste. Danach bestand die Deutsche Volksliste nun aus drei Instanzen: der an die Reichsstatthalterei angebundene Zentralstelle, den Bezirksstellen bei den Regierungspräsidien und schließlich den Zweigstellen bei den Landratsämtern. Der Zweigstelle gehörten der Landrat als Leiter sowie der Bürgermeister der Kreisstadt und ein oder zwei »Volksdeutsche« an, wobei Letztere jeweils von der Zentralstelle 238 Undatiertes Schreiben Leuschners an Uebelhoer, abgezeichnet am 6. April 1940, APP 406/1108, Bl. 54–61. 267 Ergänzungsgfragebogen, der zunächst ausschließlich im Wartheland dem Fragebogen des Reichsinnenministeriums beigegeben wurde, um die »völkische Zuverlässigkeit« der Antragsteller überprüfen zu können. Archiwum Państwowe w Poznaniu (APP), DVL-Wollstein 427 268 269 und dem örtlichen SD-Vertreter bestätigt werden mussten. Die Antragsteller hatten bei der Zweigstelle um die Ausgabe der Fragebögen nachzusuchen und wurden dabei einer ersten Selektion unterzogen, um diejenigen auszuschließen, denen von vornherein jede Chance abgesprochen wurde, in die Deutsche Volksliste aufgenommen zu werden. Bei Rückgabe der Fragebögen, die im Übrigen für jedes Familienmitglied, also auch für die Kinder, auszufüllen waren, wurden diese von den Prüfungsausschüssen bei den Zweigstellen beurteilt, die als »beratende Organe« dem Landrat zur Seite standen und deren Mitglieder wiederum von Coulon bestätigt werden mussten.239 Im Unterschied zum anfänglichen Verfahren konnten die Zweigstellen über die Anträge jedoch nicht länger rechtskräftig entscheiden, sondern diese lediglich mit einem sogenannten Vorentscheid versehen und den neu eingerichteten Bezirksstellen zuleiten. Die Bezirksstellen wurden bei den Regierungspräsidenten eingerichtet. Ihnen gehörten neben dem Leiter und zwei »Volksdeutschen«, die vom Regierungspräsidenten vorgeschlagen und von der Zentralstelle bestätigt werden mussten, die Dezernenten für Volkstumsfragen und Staatsangehörigkeitsangelegenheiten des Regierungspräsidiums an. Neben der Koordinierung der Zweigstellen bestand die Aufgabe der Bezirksstelle vor allem im endgültigen Entscheid über die aus den Zweigstellen zugehenden Anträge und der damit verbundenen Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit, falls die Antragsteller in die Gruppen A (die sogenannten Bekenntnisdeutschen) oder B (die sogenannten Stammesdeutschen) selektiert worden waren. War dem Aufnahmegesuch stattgegeben worden, erhielt der Landrat einen Ausweis zugesandt, der dem Antragsteller auszuhändigen war. Abgelehnte Antragsteller waren schriftlich zu benachrichtigen. Darüber hinaus richtete die Bezirksstelle jedoch auch eine Kartei ein, die alle – also auch die abgelehnten – »Deutschen« registrierte und nach volkstumspolitischen Kriterien sortierte. Biethnische Ehen wurden nach der Muttersprache der Kinder ebenso gesondert verzeichnet wie auch Ehen mit einem jüdischen Partner.240 Für die Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, nur für den Dienstgebrauch, vermutlich Ende Januar 1940, APP 406/1106. 240 Die Kartei sollte nach den folgenden sechs Kriterien geordnet werden, »I. Beide Eltern deutsch, II. Eltern deutsch, Ehefrau polnisch, a) Kinder deutsch nach Erziehung und Haussprache, b) Kinder polnisch nach Erzie239 270 Behörden war damit die Grundlage einer weitergehenden Differenzierung der Bevölkerungspolitik bereitet. Die größte Aufmerksamkeit war im »grünen Heft« jedoch den Selektionskriterien gewidmet. Dabei galt: »Grundsätzliche Voraussetzung für die deutsche Volkszugehörigkeit ist: Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum in der Zeit der völkischen Fremdherrschaft«.241 In der Regel war dies an die Mitgliedschaft in einer »volksdeutschen« Organisation gebunden. Dieser Personenkreis wurde in Gruppe A aufgenommen, mit ihm wurde auch die Partei im Wartheland aufgebaut. Wie bereits bei der Erfassung in Posen vorexerziert, sollte neben diesen »Bekenntnisdeutschen« aber zumindest noch ein Teil der »Stammesdeutschen« aufgenommen werden, also Personen, die »von deutschen Eltern abstammen«. Freilich reichte dies allein nicht aus. Vielmehr sei auch bei diesen Personen das politische Verhalten zu erheben, also zwischen denjenigen zu unterscheiden, die – obwohl »deutschstämmig« – sich »entweder zum Polentum bekannt oder […] gleichgültig geblieben sind. Bei denen, die sich zum Polentum bekannten, ist die Entscheidung einfach« – sie wurden abgelehnt. Wurden sie aber als »deutschstämmig« eingestuft und den »gleichgültigen« [sic!] zugerechnet, oder aber denen, die sich »unter dem Druck der Polen nicht zum Deutschtum zu bekennen wagten«, müsse sorgsam geprüft werden, ob der Einzelne nach dem »Gesamtbild seiner Persönlichkeit und seines Verhaltens […] als Deutscher anerkannt« und in Gruppe B sortiert werden könne.242 Włodzimierz Jastrz˛ebskis Einschätzung, wonach die deutschen Behörden die Zugehörigkeit zur Gruppe B »sehr breit interpretiert« hatten, kann ich mich nicht anschließen.243 Die Selektion dieser hung und Haussprache, III. Ehemann polnisch, Ehefrau deutsch, a) Kinder deutsch nach Erziehung und Haussprache, b) Kinder polnisch nach Erziehung und Haussprache, IV. Deutsche aus dem Generalgouvernement, V. Ehemann deutsch, Ehefrau fremdblütig, VI. Ehemann fremdblütig, Ehefrau deutsch«, Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, nur für den Dienstgebrauch, vermutlich Ende Januar 1940, APP 406/1106. 241 Undatierte Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, nur für den Dienstgebrauch, vermutlich Ende Januar 1940, APP 406/1106 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 242 Ebenda. 243 Jastrz˛ ebski, Hitlerowskie wysiedlenia, S. 113. 271 Gruppe bereitete den Besatzern besondere Schwierigkeiten, die bereits bei der Feststellung der »deutschen« Abstammung begannen. Denn das Problem bestand gerade darin, eine Definition zu formulieren, wer unabhängig vom eigenen Selbstverständnis »deutsch« war und wer »polnisch« – und natürlich musste das Scheitern der deutschen Besatzer, »deutsch« als Summe sozialer Praxen zu naturalisieren, auch alle Versuche affizieren, wer denn nun »deutscher« oder »polnischer« Abstammung war. Andererseits hatte die deutsche Rechtsprechung mit solchen Widersprüchen bereits einige praktische Erfahrung gesammelt, nicht zuletzt bei der Selektion der jüdischen Deutschen, die von der Religionszugehörigkeit der Großeltern abhängig gemacht wurde. Im Wartheland entschied man sich für eine ähnliche Hilfskonstruktion und schloss von den (Familien-) Namen der Antragsteller und ihrer Vorfahren auf ihre Volkstumszugehörigkeit. Die Schwierigkeiten, die den Ethnokraten bei der Feststellung der »deutschen« Abstammung der Antragsteller begegnete, wiederholte sich naturgemäß bei der Frage, ob ihre unterbliebene Agitation in »volksdeutschen« Verbänden allein auf den Druck der polnischen Behörden zurückzuführen war. Den Prüfungskommissionen wurden weitere Selektionskriterien an die Hand gegeben, die wiederum die zentrale Bedeutung des Verhaltens des Antragstellers herausstellten. Kriterien waren etwa die Religion, wobei grosso modo evangelisch mit deutsch und katholisch mit polnisch gleichgesetzt wurde. Ebenfalls wichtig waren Dokumente des polnischen Staates, in denen der Betreffende »deutsch« als ethnische Zugehörigkeit oder Muttersprache hatte registrieren lassen. »Wer auf dieser Eintragung bestanden hat, hat damit ein Bekenntnis zum Deutschtum abgelegt.«244 Ausschlaggebend waren aber Sprache und Name der Antragsteller. Die Behörden interessierten sich für die Sprache, die zu Hause gesprochen wurde, und waren aufgefordert, in Zweifelsfällen auch die Kinder vorzuladen, da sich vor allem an ihren Sprachkenntnissen entschied, welches die »Haussprache« war. Erhoben wurde aber auch die Unterrichtssprache der Schule, die Eltern für ihre Kinder ausgesucht hatten. Dabei wurde die Wahl »polnischer Schulen sehr oft als Bekenntnis zum Polentum« angesehen, während um244 Undatierte Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, nur für den Dienstgebrauch, vermutlich von Ende Januar 1940, APP 406/1106. 272 gekehrt der Besuch einer deutschsprachigen Schule bei biethnischen Ehen als Ausweis dafür gewertet wurde, »daß sich der deutsche Teil der Ehe durchgesetzt hat«. Bei den Namen wurde jede polnische Schreibweise negativ vermerkt, und vor allem wurden die Vornamen überprüft. »Wer seine Kinder Mieceslaw, Jadwiga oder Wojciech nennt, ist in der Regel kein Deutscher. Auch wenn dem ›Karl‹, geboren im Jahre 1920, ein ›Ceslaw‹ [sic!], geboren im Jahre 1934, gefolgt ist, kann man auf polnische Einstellung der Eltern schließen.«245 Diese deutliche Schwerpunktsetzung auf die vergangene und zu erwartende soziale Praxis und hier insbesondere das politische Verhalten der Antragsteller mag erstaunen, wird das nationalsozialistische Deutschland doch vor allem als »Rassestaat« begriffen, in dem biologische Selektionskriterien durchgesetzt werden sollten – zuerst innerhalb des Landes gegen die jüdischen Deutschen und schließlich im besetzten Europa gegen den Rest der unterdrückten Bevölkerung. Die Ethnokraten im Wartheland gingen jedoch offensichtlich andere Wege und setzten auf »deutsche Gesinnung«. So umfasste der Kriterienkatalog im »grünen Heft« zwar ein Rubrum »Rassemerkmale«. Relevanz wurde diesem aber nur bei »rassischen Mischehefällen im Sinne der Nürnberger Gesetze« zugesprochen, die zunächst zurückzustellen waren. Bezogen auf christliche Polen wurde »Rasse« als Selektionskriterium aber explizit ausgeschlossen: »Bestimmte Rassenmerkmale sind zwar häufig der Beweis dafür, dass sich unter den Voreltern des Antragstellers Deutsche befanden. Als sichere Beurteilungsgrundlage für die deutsche Volkszugehörigkeit können die Rassenmerkmale nach den Verhältnissen im Reichsgau aber nicht herangezogen werden. Im Gegenteil ist häufig die Beobachtung zu machen, dass besonders in der Gegend der Stadt Posen das nordische Element unter dem Polentum, das politisch aktiv war, besonders stark zu finden ist. Diese politisch aktiven Menschen neigen am seltensten dazu, eine unklare Stellung im Volkstumskampf einzunehmen. Man kann sich nicht der Hoffnung hingeben, gerade dieses nordisch bestimmte Polentum zu gewinnen, indem man ihm entgegenkommt.«246 Ebenda. Zu den Problemen, die eine Orientierung an den Nachnamen der Betroffenen mit sich brachte, siehe auch Dzieciński, Łódż, S. 19. 246 Undatierte Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste, undatiertes Exemplar der Zentralstelle, nur für 245 273 Nach der Unterbrechung durch das Einschreiten des Reichsinnenministeriums sollten auf Anweisung der Zentralstelle die DVLDienststellen ihre Tätigkeit bis zum 15. Februar 1940 aufnehmen und bereits ab April mit der Ausgabe der Ausweise beginnen. Im Regierungsbezirk Posen verlief alles nach Plan.247 Als Erste hatte die direkt der Zentralstelle unterstehende Zweigstelle der Stadt Posen den Betrieb fortsetzen können. Nachdem der größte Teil der Fragebögen im November ausgehändigt worden war, fand die erste Sitzung dort bereits am 1. Februar 1940 statt. Ausweis Nr. 1 ging bezeichnenderweise an Heinrich W.,248 Apotheker und führender Vertreter der ethnisch-deutschen Minderheit, der mit allen gewünschten Attributen aufwarten konnte: So war er nicht nur Mitglied der Jungdeutschen Partei für Polen (JdP) und anderer »volksdeutscher« Vereine gewesen, sondern konnte sich auch der Strafverfolgung durch polnische Behörden rühmen: »1927 Ausschluß aus der Lieferung für die Krankenkasse für meine Apotheke, Nichterteilung der Apothekerkonzession des Vaters, ab 1. 8. 39 arbeitslos, Haussuchungen, ständige Überwachung durch poln. Kripo, Verhaftung am 1. Kriegstage zur ›Internierung‹ in Bereza Kartuska.«249 Er wurde in die Gruppe A eingetragen und avancierte als »volksdeutsches« Mitglied der Zentralstelle zu einem wichtigen Helfer der deutschen Besatzer bei der Selektion der einheimischen Bevölkerung. Anlaufschwierigkeiten gab es hingegen im Regierungsbezirk Hohensalza. Bei einer Inspektionsreise am 26. Februar 1940 stellte Coulon fest, dass die meisten Zweigstellen ihre Erfassung noch nicht aufgenommen und der Dezernent für Volkstumsfragen im Regierungspräsidium, Regierungsrat Rudolf Schmidt-Berger, noch gar nicht mit dem Aufbau der Bezirksstelle begonnen250 und sich stattdessen »wortklauberische Kritik« an den Anweisungen aus Posen geleistet hatte.251 Die Zentralstelle setzte den »ehemaligen führenden Jungdeutschen Hermann Brose« als Leiter der Bezirksstelle ein, dem den Dienstgebrauch, vermutlich von Ende Januar 1940, APP 406/1106 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 247 Unsignierter Bericht über den Stand des Verfahrens der Bezirksstelle Posen an Coulons Referat, 25. April 1940, APP 406/1109, Bl. 226–228. 248 Name anonymisiert. 249 Fragebogen Heinrich W., APP VD Posen-Stadt/12126. 250 Vermerk Coulon, 26. Februar 1940, APP 406/1113, Bl. 162f. 251 W. Geske an Coulon, 7. November 1940, APP 406/1113, Bl. 189–191. 274 für die Anfangszeit mit W. Geske auch noch ein Mitarbeiter Coulons aus Posen an die Seite gestellt wurde.252 Im Vergleich zum Regierungsbezirk Kalisch schienen jedoch selbst diese Schwierigkeiten marginal. Die Koordination der dortigen Bezirksstelle und auch den Vorsitz der mit Abstand wichtigsten Zweigstelle in Litzmannstadt-Stadt hatte Egon Leuschner übernommen.253 Im Gegensatz zu dem Verfahren in der restlichen Provinz hatte Leuschner einen differenzierteren Kriterienkatalog durchgesetzt, der eine »völkische Wertung«, mit einer »politische[n] Wertung« verband und die Bevölkerung nicht in zwei, sondern gleich in fünf Gruppen von A bis E selektierte. Die ersten beiden Gruppen waren jenen Personen vorbehalten, die – in ihrer »völkischen Wertung« – »in jeder Hinsicht deutsch geblieben sind«, die jedoch – in ihrer politischen Wertung – noch einmal in »aktive Kämpfer« oder »biedere Bürger« unterteilt werden müssten. Personen, die bereits »in den Strom der Umvolkung geraten sind«, deren »Bindungen zum Deutschtum [aber] nur leicht angebröckelt« seien und bei denen es lediglich eines »geringen Anstoßes bedürfte, um ihn der dünnen polnischen Tünche zu entledigen«, gehörten in Gruppe C. Die bereits »verpolten Deutschen« sowie jene, »die den Umvolkungsprozeß bereits hinter sich haben und volkstumsmäßig zu Polen geworden sind […] ohne jedoch gegen das Deutschtum gekämpft zu haben«, wurden in Gruppe D sortiert, während »aktiv und national verpolte Personen«, denen »[d]eutschfeindliche Betätigung mit polnischem Nationalbewußtsein« nachgewiesen werden konnte, als »Renegaten« der Gruppe E zugewiesen wurden.254 Auch wenn diese Änderungen von Uebelhoer gegen die Zentralstelle durchgesetzt werden mussten, konnte sich auch Coulon nicht der Einsicht entziehen, dass sie durch die »[verschiedene] politische Schichtung des Deutschtums« in dieser Region wohl nicht zu vermeiden waren: Während Posen »immer völkischer Kampfraum« gewesen und die dortigen ethnischen Deutschen zu ca. 20 Prozent organisiert waren, »lagen in Kongreßpolen die Dinge anders«. Die dortigen »Volksdeutschen« hatten »niemals Bericht Coulons über Verlauf und Abschluss des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. 253 Coulon an Uebelhoer, 5. Dezember 1939, APP 406/1113, Bl. 224. 254 Undatierter und unsignierter Vermerk zu dem Litzmannstädter Volkslistensystem, voraussichtlich von Leuschner Mitte 1940 verfasst, APL 897/53, Bl. 1–4 [Hervorhebungen im Original, G.W.]. 252 275 die Hoffnung, zum Reich zu kommen«, waren nur zu 3 Prozent organisiert und deshalb insgesamt »der langsamen, unkriegerischen Polonisierung, dem Versickern im völkischen Fremdboden viel mehr ausgesetzt«.255 Die deutschen Besatzer hätten sich bei einer ähnlich strikten Regelung wie in Posen um die Personen beraubt, die zum Aufbau einer »deutschen Volksgemeinschaft« und der Absicherung ihrer Herrschaft notwendig waren. Die unterschiedlichen Selektionskriterien schufen natürlich auch mit unterschiedlichen Rechten ausgestattete Personengruppen. Während im Westen des Warthelands alle in der Deutschen Volksliste erfassten Personen als »Deutsche« galten, waren dies in Kalisch nur die Angehörigen der Gruppen A bis C. Und beschränkte sich die Unterscheidung zwischen den Gruppen A und B im Westen faktisch darauf, Personen für den Partei- und Staatsapparat zu benennen, war in Kalisch vorgesehen, nur »A und B […] bedenkenlos die Reichsbürgerschaft zu verleihen«, während die Angehörigen der Gruppe C »vorläufig nur die deutsche Staatsangehörigkeit« erhielten.256 Manche dieser Unterschiede relativieren sich jedoch bei näherer Betrachtung – und dies nicht nur, weil die Unterscheidung zwischen Reichs- und Staatsbürgerschaft in den annektierten Gebieten ohnehin keine Konsequenzen hatte. So erfassten die Bezirksstellen in Posen und Hohensalza nicht nur diejenigen, die auch in die Deutsche Volksliste aufgenommen wurden, sondern darüber hinaus biethnische Ehen, in denen die Kinder polnisch sprachen und deshalb die Familie als Ganzes ausgeschlossen wurde, während sie in Kalisch unter Umständen noch in die Gruppe D aufgenommen worden wären. Und selbst die potentiellen Angehörigen der Gruppe E blieben im Westen nicht verschont – allerdings wurden sie zunächst nicht von DVL-Zweigstellen, sondern von Gestapo und SD erfasst. Als das Verfahren Mitte 1940 vereinheitlicht und dabei die differenziertere Litzmannstädter Methode auf die gesamte Provinz übertragen wurde, war dies deshalb auch ohne größere Umstellungen möglich. Einen Ausweis über ihre Zugehörigkeit zur Deutschen Volksliste Bericht Coulons über den Verlauf und Abschluß des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. 256 Undatierter und unsignierter Vermerk zu dem Litzmannstädter Volkslistensystem, voraussichtlich von Leuschner Mitte 1940 verfasst, APL 897/53, Bl. 1–4. 255 276 erhielten allerdings nur die »volksdeutschen« Angehörigen, also die Mitglieder der Gruppen A und B. Oberschlesien: »Begriff ›volksdeutsch‹ […] nicht eng auslegen« Auch in Schlesien stieß Fricks Staatsangehörigkeitserlass auf Kritik. Anders als im Wartheland empfand man hier die Regelung jedoch als zu restriktiv. Der Regierungspräsident in Kattowitz, Springorum, wandte sich zur Vermittlung an Stuckart und fand in diesem einen starken Bündnispartner, der seinen Wunsch nach einem möglichst inklusiven Selektionsverfahren unterstützte. Unmittelbar nach Fricks Erlass erlaubte Stuckart der Zivilverwaltung in Schlesien, nach den »örtlichen Verhältnissen« zu entscheiden, ob vor allem »die sog. Wasserpolen, Schlonsaken, Masuren […] als deutsche Volksangehörige angesehen werden können«.257 Springorums Durchführungsverordnung vom 19. Dezember 1939 wies die Behörden dann auch zu einer möglichst großzügigen Auslegung an.258 Stuckart verteidigte diesen Kurs auch in Berlin, als er am 4. Januar 1940 dem Reichspropagandaministerium auseinandersetzte, dass bei »der Frage der Prüfung und Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit […] weder die politische Zuverlässigkeit […] noch die Vorstrafen eine Rolle spielen« könnten und ansonsten »im deutschen Interesse möglichst großzügig verfahren werden [solle], so daß auch ein größerer Teil der national indifferenten Zwischenschicht, insbesondere in Ostoberschlesien und Ostschlesien, erfaßt« werde.259 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt die endgültigen Ergebnisse der Volkszählung noch nicht vorlagen, also noch gar nicht genau absehbar war, wie viele Bewohner der annektierten Gebiete sich als »Deutsche« erklären würden, waren das Reichsinnenministerium und die Zivilverwaltung für eine möglichst »großzügige« Bearbeitung eingetreten. Als das Ergebnis der Volkszählung feststand, Stuckart an Wagner, 26. November 1939, APK 119/10700, Bl. 10. Springorum an Polizeipräsidenten in Kattowitz und Landräte, 19. Dezember 1939, APK 119/10701, Bl. 1–4. 259 Stuckart an Reichspropagandaministerium, 4. Januar 1940, APK 119/ 10695, Bl. 31. Faktisch avancierte die politische Zuverlässigkeit dennoch zu einem positiven Selektionskriterium, wie im Wartheland, oder einem negativen, wie in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien, wo zumindest anfangs von den Personen, die als Deutsche anerkannt wurden, erwartet wurde, dass sie sich in der Vergangenheit nicht in politischen polnischen Organisationen engagiert hatten. 257 258 277 dürfte es dennoch allerorten für Überraschung gesorgt haben: Während sich im Osten der Polizeigrenze nur 0,6 Prozent der Bevölkerung als »deutsch« bezeichnet hatten, waren es im Westen über 95 Prozent.260 Sybille Steinbacher liegt sicherlich richtig, wenn sie in diesem Zusammenhang auf ein Schreiben des Polizeipräsidenten in Kattowitz, Wilhelm Metz, verweist, für den die Erklärung auf der Hand lag: »Polen bezeichnen sich aus Angst vor Evakuierungen als ›Volksdeutsche‹ […] Dadurch sind jetzt Statistiken mit Vorsicht zu bewerten.«261 Die deutschen Besatzer hatten schließlich wiederholt ihre Absicht erklärt, die Gebiete zu germanisieren, und bereits mit lokalen wie auch zentral von Eichmann organisierten Deportationen begonnen, die aber – und dies ist bemerkt worden – ausschließlich aus den ehemaligen deutschen und österreichischen Teilen Schlesiens erfolgten.262 Steinbachers Hinweis muss aber ergänzt werden. Zu einfach wäre die Annahme, die an der objektiven Feststellung der »Nationalitätenstruktur Ostoberschlesiens« interessierten deutschen Beamten wären durch das taktische Verhalten der einheimischen Bevölkerung ausgebremst worden.263 Im Erlass zur Volkszählung war zwar festgehalten worden, »dass für die Frage der Volkszugehörigkeit die Willenserklärung des Betroffenen im Wesentlichen entscheidend« sei, aber natürlich waren die Besatzer nicht bereit, diese Frage allein in den Ermessensspielraum der Betroffenen zu legen. Die Beamten wurden folglich zur Überprüfung verpflichtet, ob die behauptete »Volkszugehörigkeit« auch durch »bestimmte Tatsachen wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt werde[n]« und »nicht im Gegensatz zu dem bisherigen Verhalten stehen«.264 Wenn statistische Erhebungen »Möglichkeiten schufen, bestimmte gesellschaftliche Visionen durchzusetzen«, so trifft dies auch auf Volkszählungen zu; sie waren Teil eines politischen Prozesses und von dessen Logik affiziert.265 Sroková, Narodnosti politice, S. 283; Dziurok, Oberschlesier, S. 224. Für eine nach den ehemaligen Teilungsgebieten getrennte Übersicht siehe Kaczmarek, »Niemiecka polityka narodowościowa«, S. 118. 261 Metz an Springorum, 7. März 1940; Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 117f. 262 Ebenda. 263 Ebenda, S. 117. 264 Erläuterungen zu Fragebogen in der Anlage zu Dalueges Schreiben, 25. November 1939, APK 117/826, Bl. 90–95. 265 Zit. n. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 99 [Übers. G.W.]. 260 278 Sorgte das Ergebnis also auch in seiner konkreten Form für Überraschung, kann doch kein Zweifel bestehen, dass sich der eklatante Unterschied zwischen den Gebieten westlich und östlich der Polizeigrenze der unterschiedlichen Erwartungshaltung und politischen Zielsetzung der Besatzer verdankte. In der Zivilverwaltung war offensichtlich übereinstimmend die Meinung vorherrschend, dass die ehemaligen deutschen und österreichischen Gebiete und ihre Bevölkerung zum Deutschen Reich gehörten, während der »Oststreifen« als »fremdartig« und insgesamt als eine Bedrohung für den Germanisierungserfolg der gesamten Provinz empfunden wurde. Als die ersten Stichproben das Regierungspräsidium in Kattowitz erreichten, bestärkten sie Springorum in seiner Kritik an dem durch Fricks Erlass vorgegebenen zeitaufwendigen Verfahren. In einem Schreiben an Wagner schilderte er die Befürchtung, dass die »Fülle der zu erwartenden Anträge« westlich der Polizeigrenze doch »recht erhebliche Schwierigkeiten« verursachen werde.266 Allein der Landrat in Pleß rechne mit etwa 160000 Antragstellern, sehe sich aber außerstande, mehr als 100 Fragebögen pro Tag auszuhändigen, ganz abgesehen von der noch wesentlich zeitaufwendigeren Überprüfung im Landratsamt und Regierungspräsidium. Auch Springorum sah seine Behörde mit den erwarteten 1,5 Millionen Anträgen aus dem gesamten Regierungsbezirk völlig überfordert, würde ihre Bearbeitung doch nur nach »langjähriger Verwaltungsarbeit zu einem Abschluß« zu bringen sein.267 Als Lösung schlug Springorum vor, die Erfassung zunächst auf jene Personen zu beschränken, die entweder den »volksdeutschen« Kampfverbänden der Jungdeutschen Partei für Polen und dem Deutschen Volksbund (VB) angehört hatten oder jetzt im Dienst von Staat und Partei standen – also sofort für den Aufbau des Besatzungsverwaltung gebraucht wurden. Für den Fall, dass das Reichsinnenministerium seinem Vorschlag nicht folgen wolle, müsse rechtzeitig die notwendige Unterstützung für ein möglichst inklusives Verfahren gewährleistet werden. Dabei sei »von entscheidender Bedeutung, unter welchen Gesichtspunkten die volkstumsmäßige Eingliederung der zahlenmäßig außerordentlich starken Schicht derjenigen Oberschlesier vorgenommen werden soll, die in den letzten 20 Jahren aus den verschiedensten 266 267 Springorum an Wagner, 21. Januar 1940, APK 119/10702, Bl. 17–19. Ebenda. 279 Gründen eine unentschiedene und neutrale Haltung gegenüber dem Deutschtum eingenommen hat und daher oft als labile Schwemmschicht zu bezeichnen sein wird«.268 Für Springorum lag die Antwort auf der Hand. Mit Verweis auf die Passage des Staatsangehörigkeitserlasses, der in Zweifelsfällen bei »erwünschtem Bevölkerungszuwachs« Großzügigkeit anmahnte, erklärte er, dass seiner Meinung nach »bei dem weitaus überwiegenden Teil der gebürtigen Oberschlesier nach diesen hier angegebenen Gesichtspunkten verfahren werden müßte«.269 Damit hatte Springorum faktisch die Behandlung der restlichen Bevölkerung angesprochen, deren Schicksal aus Sicht des Reichsinnenministeriums einer späteren Regelung vorbehalten bleiben sollte. Das Reichsinnenministerium billigte dann zunächst auch nur Springorums Vorschlag zur weiteren Eingrenzung der Selektion.270 Es war schließlich der Bedarf an Soldaten für die Wehrmacht, die Springorums Bestreben nach einer Ausweitung der Selektionskriterien zum Erfolg führen sollte. Springorum nutzte dafür die vom Reichsinnenministerium am 7. März 1940 versandten »Richtlinien für das Erfassungsverfahren in den eingegliederten Ostgebieten«, die die Musterung der deutschen Staatsangehörigen der Jahrgänge 1913 bis 1920 bis zum 30. April 1940 anordneten.271 Während die Behörden im Wartheland und in Danzig-Westpreußen auf diesen Erlass restriktiv reagierten und nur den sehr kleinen Teil der einheimischen Bevölkerung zur Musterung einbestellten, dem bereits die Staatsangehörigkeit verliehen worden war, entschieden sich die Behörden in Schlesien für das genaue Gegenteil. Springorum erkannte offensichtlich sofort das politische Druckpotential, das ihm mit dieser Anordnung zugewachsen war, und spielte es in seiner Auseinandersetzung mit dem Reichsinnenministerium aus. Sein Stellvertreter, Erich Keßler, forderte die untergeordneten Dienststellen am 26. März 1940 auf, bei der Durchführung des Erlasses des Reichsinnenministeriums auch die »hier ansässigen und beheimaSpringorum an Wagner, 21. Januar 1940, APK 119/10702, Bl. 17–19. Ebenda. 270 Reichsinnenministerium, gez. i. A. Ministerialdirektor Hermann Hering, an Regierungspräsidium, 19. Februar 1940, APK 119/10701, Bl. 13. 271 Regierungsvizepräsident Keßler an Landräte und Polizeipräsident in Kattowitz, 26. März 1940, APK 119/10695, Bl. 55–60. 268 269 280 teten Volksdeutschen« vorzuladen. Sie hätten schließlich – so die etwas eigenwillige Interpretation – ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, auch wenn darüber noch nicht im Einzelnen befunden worden sei. Es gelte also, »als Volksdeutsche nicht nur diejenigen anzusehen, die […] sich offen zum Deutschtum durch ihre Tätigkeit und Mitgliedschaft in den deutschen politischen und kulturellen Verbänden wie Vereinen bekannt haben, sondern auch diejenigen, die sich jetzt zum deutschen Volkstum bekennen und sich zur polnischen Zeit nicht feindlich gegen das Deutschtum betätigt haben. Der Begriff ›volksdeutsch‹ ist daher nicht eng auszulegen; denn das volkstumspolitische Ziel in Ansehung der oberschlesischen Mischbevölkerung ist deren vollständige Eindeutschung. Die Slonsaken, die sich bei der Volkszählung des Reichsführers-SS als Schlesier, Deutsch-Schlesier oder Slonsaken bezeichnet haben, sind genauso zu behandeln.«272 Da der Aufruf im Wortlaut zur Erfassung und Musterung aller »männlichen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen« auffordern werde, würde der Betroffene mit seinem »Erscheinen allein« bereits zu erkennen geben, dass er sich »zum Deutschtum zugehörig fühlt«. Zu überprüfen sei dann lediglich noch, ob er etwa einen Nachweis für seine deutsche Volkszugehörigkeit beibringen könne – etwa die Bescheinigung einer deutschen Stelle, »sofern in ihr nur das Wort ›Volksdeutscher‹ nicht fehlt«. Ansonsten müsse kontrolliert werden, ob er bei der Volkszählung »Deutscher, Schlesier, Deutsch-Schlesier oder Slonsak« angegeben habe. Und selbst wenn dies nicht der Fall war, führe es noch keineswegs zum Ausschluss, sofern er nun – und dies war ansonsten nicht gestattet – »glaubhaft« versichern konnte, sich »irrtümlich als Pole bezeichnet zu haben«.273 Schließlich müsse er eidesstattlich versichern, weder vorbestraft zu sein noch einer der radikaleren polnisch-nationalistischen Vereinigung angehört zu haben.274 Die Fragebögen zur Feststellung der Staatsangehörigkeit könnten dann sofort ausgefüllt werden und seien noch vor Ort vom Bürgermeister Ebenda. Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. 274 Genannt waren hier Aufständischenverband, Schützenverband und Westmarkenverein, Regierungsvizepräsident Keßler an Landräte und Polizeipräsident in Kattowitz, 26. März 1940, APK 119/10695, Bl. 55–60. 272 273 281 und dem ebenfalls anwesenden Ortsgruppenleiter mit einem Entscheidungsvorschlag zu versehen. Damit war die Vorentscheidung wiederum um eine Verwaltungsebene nach unten, also vom Landrat auf die Bürgermeister, verlagert und gleichzeitig die gleichberechtigte Teilnahme der Partei sichergestellt worden.275 Die endgültige Entscheidung traf wiederum der Regierungspräsident und – dies war ebenfalls neu – im Polizeibezirk Kattowitz der Polizeipräsident. Unterstützung erhielt Springorum von seiner vorgesetzten Dienststelle in Breslau. Vizepräsident Schulenburg ordnete ebenfalls an, bei »der Entscheidung der Frage, wer als volksdeutscher Bewohner anzusehen ist, […] großzügig zu verfahren« und lediglich jene auszuschließen, die »sich nachweislich zum Polentum bekannt und dementsprechend aktiv betätigt haben«.276 Als »Volkstumsbekenntnis« müsse dabei die Volkszählung zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus wies Schulenburg alle anderen Dienststellen westlich der Polizeigrenze an, die in Kattowitz praktizierte Schnelleinbürgerung der Rekruten ebenfalls einzuführen. Springorum gab diese Anweisungen am 19. April 1940 an die untergeordneten Dienststellen weiter. Nach wie vor – so hieß es – gehe es vor allem um die Erfassung von organisierten »Volksdeutschen« und solchen im Dienst von Staat und Partei. Allerdings dürfe diese »Beschränkung […] nicht aus[schließen], daß besonders dringende Einzelfälle daneben laufend bearbeitet werden. […] Besonders vordringlich ist die Erfassung der männlichen deutschen Staatsangehörigen der Geburtsjahre 1913 bis 1921. Ich verweise dabei auf meine Rd.Verfg. vom 26. 3. 1940.«277 Von »Einzelfällen« konnte freilich keine Rede sein. Der Polizeipräsident von Kattowitz, der immerhin für ein Drittel der Bevölkerung im Regierungsbezirk zuständig war, meldete, dass auf der Grund- Zur Rolle der Partei siehe Vermerk Schröders, 3. März 1940, APK 119/ 10701, Bl. 23. Bei Zweifelsfällen war auch der Kreisleiter hinzuzuziehen, Regierungsvizepräsident Keßler an Kreispolizeibehörden, 1. April 1940, APK 119/10695, Bl. 62f., und Vermerk Schröders, 3. Juli 1940, APK 119/10701, Bl. 87. 276 Schulenburg an Regierungspräsidenten, 5. April 1940, APK 119/10700, Bl. 11f. [Hervorhebungen im Original, G.W.]. 277 Springorum an Landräte und Polizeipräsident in Kattowitz, 19. April 1940, APK 119/10702, Bl. 25–28. 275 282 lage dieses Erlasses »der Durchschnittsschlesier […] hiernach im allgemeinen als deutscher Volkszugehöriger anzusehen sein [wird]«.278 Und auch der Landrat von Pleß, Bernhard von Derschau, wies das Regierungspräsidium auf die große Anzahl von Personen hin, die nach dieser Regelung als »Deutsche« anzuerkennen waren, sowie auf den enorm steigenden Verwaltungsaufwand, der eine Änderung des bisherigen Verfahrens erforderte. Von den im Landkreis zu erwartenden 160000 Antragstellern seien bereits 21000 erfasst worden, davon allein 9000 während der Musterung der Jahrgänge 1913 bis 1921. Weitere 37000 bis 39000 Antragsteller müssten in Kürze ebenfalls erfasst werden, und auch hier würden wiederum die 15000 bis 17000 potentielle Rekruten der als nächstes zu musternden Jahrgänge 1900 bis 1912 fast die Hälfte ausmachen.279 Bei dieser großen Zahl müsse auch das bereits mehrfach geänderte Selektionsverfahren noch einmal überdacht und den Landräten mehr Entscheidungsspielraum zugestanden werden. Diese sollten in Zukunft »klare Fälle« selbst entscheiden und nicht mehr an den Regierungsoder Polizeipräsidenten weiterreichen müssen. Tatsächlich erlaubte Springorum Derschau, zumindest einen Teil dieser Anträge nicht vorzulegen, sondern vor Ort zu entscheiden: und zwar die der Rekruten.280 In Pleß und anderswo reichten die Kapazitäten jedoch nicht einmal hierfür. Der Verstärkung der Wehrmacht wurde eine solche Priorität beigemessen, dass viele Angehörige der einschlägigen Jahrgänge bei ihrer Musterung nicht einmal einen Fragebogen erhielten und stattdessen sofort eingezogen wurden – wohlgemerkt, bevor eine Entscheidung getroffen worden war, die oft überhaupt ausblieb. Dieses stillschweigende Einverständnis zwischen Zivilverwaltung und Wehrmacht flog erst auf, als sich die SS im Bemühen um eine radikalere Exklusionspolitik auf die Suche nach »Verfehlungen« in der bisherigen Germanisierungspolitik machte. Am 4. Februar 1943 fragte das Stabshauptamt beim Oberpräsidenten der Provinz Niederschlesien an, warum in den Jahren 1940 und Polizeipräsident in Kattowitz, gez. unleserlich, an Regierungspräsidium, 30. Mai 1940, APK 119/10701, Bl. 52–54. 279 Derschau an Regierungspräsidium, 28. Juni 1940, APK 119/10701, Bl. 79, siehe auch Derschau an Regierungspräsidium, 8. Juli 1940, APK 119/10686, Bl. 126. 280 Derschau an Regierungspräsidium, 8. Juli 1940, APK 119/10686, Bl. 126. 278 283 1941 immerhin 40000 Männer zur Wehrmacht eingezogen werden konnten, ohne vorher über deren »Volkszugehörigkeit« entschieden zu haben.281 Danzig-Westpreußen: zum Deutschen erzogen In Danzig-Westpreußen sah die Situation nicht anders aus, hatte sich das Reichsinnenministerium – so das Urteil aus der Partei – doch damit abfinden müssen, dass es nicht gelungen war, eine »zu starke Machtposition Forsters abzuwehren«.282 Fricks Staatsangehörigkeitserlass stieß hier vor allem deshalb auf Widerstand, weil das Reichsinnenministerium die Selektion der »Volksdeutschen« auf die Regierungspräsidenten übertragen hatte, was Forster als Eingriff in seine von Hitler erteilten Vollmachten zur Germanisierung der annektierten Gebiete auffasste.283 Wie Greiser hatte auch Forster die Partei mit der Selektion beauftragt und damit die Regierungspräsidenten marginalisiert. Im Gegensatz zu Greiser war Forster aber offensichtlich noch weniger gewillt, daran etwas zu ändern. Die Zivilverwaltungen wurden angewiesen, Fragebögen nur an Personen auszugeben, die bereits von den Kreisleitungen der Partei als »Volksdeutsche« anerkannt und den grünen Volkstumsausweis erhalten hatten. Diese waren von den Antragstellern innerhalb von zwei Wochen zurückzugeben, vom Landrat oder Polizeipräsidenten mit einer von der Partei bereits getroffenen Vorentscheidung zu versehen und anschließend im Regierungspräsidium zu bestätigen.284 Die entscheidende Rolle der Partei in diesem Selektionsprozess wird vollends deutlich, wenn man berücksichtigt, dass auf Druck Forsters die Positionen der Kreisleiter und Landräte in fast allen Landkreisen in Personalunion an Danziger Vertrauensleute vergeben worden waren. In Preußisch Stargard beispielsweise entschied Walter Hillmann zuerst als Kreisleiter über die Zuerkennung der Volkstumsausweise, um anschließend als Landrat dafür zu sorgen, dass nur Der stellvertretende Chef des Stabshauptamtes, Rudolf Creutz, an die Zentralstelle Deutsche Volksliste in Kattowitz, 2. April 1943, SMR 1232/20, Bl. 67. 282 Vermerk Storr, 9. Februar 1940, BArch NS 25/202, siehe Levine, »Local Authority and the SS State«, S. 337. 283 Heukenkamp an RKF-Zentrale, 25. Juni 1940, BArch R 49/61, Bl. 83–87. 284 Der Volkstumsreferent am Regierungspräsidium in Danzig, Dr. Meyer, an Landräte und Polizeipräsidenten, 27. April 1940, APB 12/114, Bl. 3–5. 281 284 diese Personen auch einen Fragebogen erhielten, den er anschließend mit einem Vorentscheid versah und an das Regierungspräsidium sandte, um von dort den Staatsangehörigkeitsausweis zu erhalten und an die Antragsteller auszuhändigen. Mit den Bestimmungen in Fricks Staatsangehörigkeitserlass, wonach der Regierungspräsident über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit entschied, hatte dieses Verfahren nichts gemeinsam. Forster gelang es, dieses Verfahren in den Regierungsbezirken Marienwerder und Danzig durchzusetzen. Nur der Regierungspräsident in Bromberg, Dr. Günther Palten, war weder gewillt, willentlich gegen Fricks Erlass zu verstoßen, noch seine Kompetenzen von Forster einschränken zu lassen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Regierungsbezirken wurden in Bromberg deshalb – und hier zitierte Palten wörtlich die Formulierung, die aus dem Reichsbürgergesetz Eingang in Hitlers Annexionserlass gefunden hatte – alle »Bewohner deutschen oder artverwandten Blutes und deutscher Volkszugehörigkeit« zur Antragstellung aufgerufen.285 Den Bürgermeistern und Amtskommissaren wurde explizit verboten, die Aushändigung von Fragebögen zu verweigern – und zwar selbst dann, wenn der Antragsteller »einen polnischen Namen [habe] oder […] katholischer Religion« sei.286 Ausgewertet wurden die Fragebögen jedoch überall nach den gleichen – an den Kriterien des Reichsinnenministeriums orientierten – Maßstäben, und zwar vor allem am Verhalten der Antragsteller. Hervorgehoben wurde die Bedeutung eines deutschen Schulbesuchs – ein Beispiel für die inklusive Auslegung dieser Kriterien, Aufruf Paltens, 8. Januar 1940, im Landkreis Bromberg von Landrat Nethe bekannt gemacht am 10. Januar 1940, APB 9/2, Bl. 3. Paltens Renitenz führte schließlich dazu, dass Forster seine Abberufung durch das Reichsinnenministerium durchsetzte. Er wurde noch im Juni 1940 durch Dr. Johannes Kurt Schimmel ersetzt, siehe unsignierter Vermerk Reichsinnenministerium, 13. August 1940, SMR 720–5/8949, Bl. 133f. Ähnliches widerfuhr etwas später auch dem Regierungsvizepräsidenten, Dr. Hubertus Schönberg, nachdem er ebenfalls die Volkstumspolitik Forsters kritisiert hatte. Er wurde schließlich nach Troppau versetzt, siehe unsigniertes Schreiben des Reichsinnenministeriums an Schönberg, 17. September 1941, SMR 720–5/8949, Bl. 170. 286 Unsigniertes Schreiben Walter Nethes an die Bürgermeister und Amtskommissare, 25. April 1940, mit Verweis auf die Rundschreiben des Regierungspräsidiums vom 12. und 16. April 1940, AGK NTN/198, Bl. 30–33. 285 285 da selbst die Zeit vor 1918 einbezogen wurde, was den Einschluss fast aller ehemaligen deutschen Staatsbürger ermöglichte. »Der Schulbesuch eines Bewerbers zur deutschen Zeit kann für ihn, wenn auch nicht ausschlaggebend ins Gewicht fallen. Er stelle einen nicht zu unterschätzenden Erziehungsfaktor dar.«287 Zum Angehörigen des deutschen »Volkes« konnte man also auch erzogen werden. Die inklusive Selektionspolitik in Danzig-Westpreußen lässt sich gut an der Praxis im Landkreis Neustadt nachweisen, für den die Quellenlage besonders reichhaltig ist. So waren zwar in der Volkszählung im Dezember 1939 von den 92943 Einheimischen nur 9473 als »einwandfreie Volksdeutsche« (Abteilung I) anerkannt worden, dafür aber immerhin 73447 als »nicht einwandfreie Volksdeutsche, gutwillige Polen, Kaschuben« (Abteilung II), die zunächst ebenfalls bleiben durften.288 Die Zahl der zu deportierenden Personen fiel im Vergleich deutlich kleiner aus: 8894 Personen waren als »Kongreßpolen u. andere, die nicht einwandfrei waren« (Abteilung III), und 482 als »Asoziale, Juden, Verbrecher u. sonstige« (Abteilung IV) bezeichnet289 und die jüdische Bevölkerung bereits im Oktober 1939290 vertrieben worden. Diese Zahlen dienten den Parteidienststellen ganz offensichtlich auch als Richtschnur für die erste Selektionsrunde. So gingen bei der Kreisleitung 20500 bis 23500 Anträge um die Ausstellung eines Volkstumsausweises ein, von denen 5500 positiv beschieden wurden291 – was ungefähr dem Anteil der erwachsenen »Volksdeutschen« entsprach.292 Exemplarisch lässt sich die inklusive Selektionspolitik in der Schulpolitik zeigen. Bei der Volkszählung hatten lediglich 10120 MenEbenda. Nethes Personalakte des Reichsinnenministeriums unter SMR 720-5/6930 u. SMR 720-5/6931. 288 Unsignierte und undatierte Übersicht über die Ergebnisse der Volkszählung vom 3.–6. Dezember 1939, AGK NTN/191, Bl. 7–56. 289 Ebenda. 290 Rechenschaftsbericht des Bürgermeisters von Neustadt, 16. September 1940, APG 37/2, Bl. 143–153. 291 Jahresbericht des Kreisleiters und Landrats in Neustadt, Heinz Lorenz, 18. September 1940, APG 37/2, Bl. 259–319. 292 Von den 9473 von den Behörden als »volksdeutsch« anerkannten Personen waren lediglich 7017 über 14 Jahre alt, Ausweise wurden jedoch nur an Volljährige ausgegeben, undatierte und unsignierte Übersicht betr. Gesamtergebnis der Volkszählung vom 3.–6. Dezember 1939 des Kreises Neustadt, aufgeteilt auf die Gemeinden nach dem Stand vom 1. Januar 1940, APG 37/469, Bl. 49–57. 287 286 schen Deutsch als Muttersprache angegeben,293 und die Zahl der als »Volksdeutscher« anerkannten Personen war sogar noch etwas kleiner. Die nun in großer Zahl neu eingerichteten deutschsprachigen Schulen nahmen aber keineswegs nur die 1317 »volksdeutschen« Schüler auf, sondern – und dies wiederum im Unterschied zum Wartheland – auch die 15350 »Kinder der einheimischen Bevölkerung«,294 deren Eltern also in Abteilung II selektiert worden waren. Natürlich waren – wie der Bürgermeister von Neustadt klagte – »die meisten Kinder der deutschen Sprache nicht mächtig«,295 sodass die Schulen »als erste Arbeit die Übermittlung des deutschen Sprachgutes in Angriff« nehmen mussten. Dass Himmler in seinen »Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« die einheimische Bevölkerung faktisch von jeder Schulbildung ausschließen und etwa den Erwerb der deutschen Sprache auf das Verständnis der Anordnungen der Besatzer beschränken wollte, kümmerte die Zivilverwaltung in Danzig-Westpreußen wenig. Wie dem Bericht des Schulrats zu entnehmen ist, wurde im Gegenteil »besonderer Wert […] in allen Schulen darauf gelegt, daß den Schülern die polnische Klangfarbe und Betonung beim Sprechen abgewöhnt wird, denn sie sollen im Laufe der Zeit dahin gebracht werden, daß sie die deutsche Sprache nicht nur grammatisch richtig, sondern auch klangreich sprechen können. Selbstverständlich geht damit auch die Erlernung der deutschen Schrift Hand in Hand«.296 Nach nur einem Jahr wusste der Bürgermeister von erstaunlichen Erfolgen zu berichten: »Heute beherrschen bereits sämtliche Kinder perfekt die deutsche Sprache.«297 Wie lernwillig sich die betroffenen Unsignierte und undatierte Übersicht über die Ergebnisse der Volkszählung vom 3.–6. Dezember 1939, AGK NTN/191, Bl. 7–56. 294 Undatiertes Schreiben Heinz Lorenz an Forster betr. Gauleiterbesuch am 20. Januar 1941, APG 37/2, Bl. 327–349. 295 Rechenschaftsbericht des Bürgermeisters von Neustadt, 16. September 1940, APG 37/2, Bl. 143–153. 296 Undatierter Jahresbericht des Schulrates über die vom 11. September 1939 bis zum 11. September 1940 geleistete Aufbauarbeit im Schulwesen des Kreises Neustadt, gez. unleserlich, APG 37/2, Bl. 229–239. 297 Rechenschaftsbericht des Bürgermeisters von Neustadt, 16. September 1940, APG 37/2, Bl. 143–153. Eine ähnliche Politik versuchten die deutschen Besatzer auch in der Tschechischen Republik. Ob die dortigen Beamten ehrlicher waren oder auf mehr Widerstand stießen, lässt sich den Zahlen 293 287 Kinder auch tatsächlich gezeigt haben – diese auf breiter Front und für fast alle Kinder durchgesetzte sprachliche Germanisierungspolitik war für die weitere Selektionspolitik natürlich entscheidend. Anfang 1941 stand schließlich die »systematische Eindeutschung der Zwischenschicht« an, bei der gerade Deutschkenntnisse eine wesentliche Rolle spielten. Während diese bei der erwachsenen Bevölkerung in der Regel vorhanden waren, da der überwiegende Teil noch preußische Schulen besucht hatte, organisierte die Zivilverwaltung nun für deren Kinder einen Schnellkursus und bereitete damit das gewünschte Ergebnis der bald beginnenden zweiten Selektionsphase vor. SS kontra Reichsinnenministerium Die großen Unterschiede zwischen den Selektionsverfahren der einzelnen Provinzen stießen vor allem im Reichsinnenministerium und bei Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums auf heftige Kritik. Die sich abzeichnenden Bestrebungen der Gauleiter in Schlesien und Danzig-Westpreußen, einen relevanten Teil der einheimischen Bevölkerung wenn schon nicht als »Volksdeutsche« anzuerkennen, so doch nicht als Polen vor einer späteren Aufnahme in die »deutsche Volksgemeinschaft« auszuschließen, traf aber vor allem die SS-Planungen ins Mark. Wie bereits deutlich geworden ist, waren die Umwandererzentralstellen längst dazu übergegangen, nicht mehr nur reale oder vermeintliche politische Gegner zu deportieren, sondern zunehmend all jene, die der Ansiedlung der ethnischen Deutschen aus Osteuropa im Wege standen – oft genug auch von angeblich »stammesdeutschen« Personen, was auf breiten Widerstand gestoßen war. Dieser Personenkreis – da waren sich Himmler und die Zivilverwaltungen ausnahmsweise einig – waren in der Regel von den Deportationen auszunehmen. Allein schon um eine möglichst schnelle und reibungslose Ansiedlung der ethnischen Deutschen zu gewährleisten, musste der SS-Apparat also an einer schnellen, umfassenden und exklusiven Selektion der einheimischen Bevölkerung interessiert sein. Weder das Selektionsverfahren in Schlesien noch das in Danzig-Westpreußen erfüllte auch nur eines dieser Kriterien: Die zwar nicht entnehmen, die dortige »Erfolgsquote« war jedoch deutlich niedriger, siehe Zahra, Kidnapped Souls, S. 193. 288 dortigen Selektionen hielten mit dem Tempo der Deportationen nicht Schritt, verliefen uneinheitlich und legten die ohnehin inklusiven Selektionskriterien von Fricks Staatsangehörigkeitserlass noch einmal großzügig aus. In Danzig-Westpreußen wurde dies zu einem zentralen Problem für den SS-Apparat, spielte diese Provinz doch in den dortigen Ansiedlungsplänen nach dem Wartheland eine wichtige Rolle. »Entscheidendes Kriterium […] muss Rasse sein«: der SS-Gegenentwurf Als Ausweg kam Hildebrandt schließlich auf die Idee, bei der Ordnungspolizei eine zentrale Beschwerdekommission einzurichten, die für alle Beschwerden gegen die unrechtmäßige Deportation von vermeintlichen »Volksdeutschen« zuständig sein sollte.298 In der RKF-Zentrale scheint diese Initiative auf viel Zustimmung gestoßen zu sein, denn Greifelt wies die RKF-Zweigstellen kurz darauf am 9. April 1940 an, diesem Beispiel zu folgen und in Anlehnung an die Hauptabteilung III (Ausgleich von Schadensfällen) der RKF-Zentrale eine Dienststelle für die Anhörung von »Beschwerden gegen die Verweigerung der Anerkennung als Volksdeutsche« und über »angeblich zu Unrecht evakuierter Volksdeutscher« einzurichten.299 Die politische Funktionalität einer solchen unter Kontrolle des RKF-Apparats operierenden Kommission war offensichtlich: Die von Betroffenen oder deren Angehörigen aus dem Deutschen Reich eingelegten Beschwerden drohten die Deportationen zu verlangsamen – vor allem dann, wenn sie von der Zivilverwaltung entschieden werden sollten. Das galt es zu verhindern. Darüber hinaus ging es Greifelt wohl auch um den Versuch, seinen Zweigstellen vor Ort stärkeres Gewicht zu verleihen. Obwohl vor über einem halben Jahr ins Leben gerufen, um die Aufgaben Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums zu koordinieren, war deren vorläufige Bilanz nicht eben beeindruckend. So konnte man zwar auf die Tätigkeit der Bodenämter verweisen, die bereits einen Hildebrandt an BdS Danzig, vertraulich, 27. Februar 1940, AGK NTN/ 199, Bl. 3; siehe auch Forster an Hildebrandt, 21. März 1940, BArch R 70 Polen/93, Bl. 52f. 299 Schreiben Greifelts ohne Adressaten, hier aus dem Bestand des Regierungspräsidiums in Kattowitz, ging aber sehr wahrscheinlich an alle RKFZweigstellen in den annektierten Gebieten, 9. April 1940, APK 119/10701, Bl. 48f. 298 289 großen Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche für das Deutsche Reich geraubt hatten. In der Volkstumspolitik gaben aber andere Institutionen den Ton an, etwa die Volksdeutsche Mittelstelle und das Reichssicherheitshauptamt. Und auch wenn sich dies mit der Einrichtung von SS-Ansiedlungsstäben etwas geändert hatte, beschränkte sich deren Aufgabenfeld doch auf die Ansiedlung der ethnischen Deutschen. Gar nicht beteiligt waren die RKF-Zweigstellen an der Selektion der einheimischen Bevölkerung – die Beschwerdekommissionen versprachen das zu ändern. Die Gauleiter waren von diesem Vorstoß wenig erfreut. Forster hatte bereits Hildebrandt wissen lassen, dass die Klärung der Volkstumszugehörigkeit nicht Sache der Polizei, sondern allein die von Staat und Partei sei und angekündigt, selbst »Kommissionen zur Nachprüfung von Beschwerden über zu Unrecht erfolgte Evakuierungen und über nicht erfolgte Anerkennung als Volksdeutscher« einzurichten.300 Die Selektionskriterien, die diesen Beschwerdekommissionen zugingen, bestätigten denn auch alle Befürchtungen im SS-Komplex. Ohne weiteres zur Deportation freigegeben waren danach lediglich Personen, die aus politischen oder sozialen Gründen unerwünscht waren sowie Juden und Kongresspolen. Für den verbleibenden Teil der Bevölkerung galten strenge Auflagen. Vor allem »Angehörige[n] der Zwischenschicht« durften nur dann erfasst werden, wenn zugleich »Tatsachen vorliegen, aus denen sich ihre deutschfeindliche Haltung einwandfrei ergibt«.301 Das Problem für den SS-Komplex war, dass »Zwischenschicht« in Danzig-Westpreußen mittlerweile zu einem eher expansiven Begriff geworden war. Während das Reichssicherheitshauptamt sich noch darüber empörte, dass dieser Begriff in Danzig-Westpreußen faktisch die gesamte Bevölkerung meinte, die vor 1918 auf dem früheren Territo- Forster an Hildebrandt, 21. März 1940, BArch R 70 Polen/93, Bl. 52f.; Richtlinien der Reichsstatthalterei für die Kommissionen zur Nachprüfung von Beschwerden über zu Unrecht erfolgte Evakuierungen und über nicht erfolgte Anerkennung als Volksdeutscher, gez. i. A. Löbsack, 31. Mai 1940, AGK NTN/199, Bl. 36–40. Siehe auch Forster an Palten, 26. März 1940, AGK NTN/199, Bl. 5. 301 Richtlinien der Reichsstatthalterei für die Kommissionen zur Nachprüfung von Beschwerden über zu Unrecht erfolgte Evakuierungen und über nicht erfolgte Anerkennung als Volksdeutscher, gez. i. A. Löbsack, 31. Mai 1940, AGK NTN/199, Bl. 36–40 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 300 290 rium des Deutschen Reiches geboren war,302 war Löbsack noch einen Schritt weitergegangen und schloss nun auch die dortigen Ukrainer ein, sofern sie nur im »Deutschtum aufgehen« wollten.303 Faktisch war damit der größte Teil der einheimischen Bevölkerung dem Zugriff der SS entzogen. Es ist unklar, ob Forsters Beschwerdekommissionen zusammentraten – oder überhaupt zusammentreten mussten. Der Leiter der Danziger RKF-Zweigstelle, Standartenführer Heukenkamp, hörte jedenfalls nicht auf, über das in seiner Sicht »unglaubliche Durcheinander im Reichsgau Danzig-Westpreußen« zu klagen und hier insbesondere über die Bedeutung, die dem politischen Wohlverhalten beigemessen wurde, schließlich »[bestimmen] nicht die frühere politische Gesinnung oder die Zugehörigkeit zu einer Partei […] die deutsche Volkszugehörigkeit, sondern die blutsmässige Zugehörigkeit«. Die Anordnung Greifelts konnte Heukenkamp jedenfalls gegen den Widerstand der Zivilverwaltung nicht durchsetzen, da die dortige Situation nur die Behauptung des Status quo zulasse, für weitergehende Maßnahmen erbete man Schützenhilfe aus Berlin.304 Nicht mehr Glück hatte Greifelt auch im Wartheland, wo es mit dem DVL-Verfahren bereits einen sehr ausdifferenzierten Selektionsmechanismus gab, an dem zwar der SD, aber eben nicht die RKF-Zweigstelle beteiligt war. Dies zu ändern war Absicht ihres Leiters in Posen, Oberführer Hans Döring. Dieser versuchte zunächst, Coulon in seine Dienststelle zu zitieren, um über die Tätigkeit der Deutschen Volksliste und eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen, was dieser mit dem Verweis ablehnte, dass die Selektionen Sache der Zivilverwaltung seien. Wenig Erfolg hatte Döring auch bei Coulons Vorgesetztem, dem Leiter der Abteilung I, Herbert Mehlhorn. Offensichtlich wurde jetzt auch die eigene Forderung deutlicher formuliert: eine »maßgebliche Beteiligung an allen Volkstumsfragen«.305 Auch Mehlhorn wies dieses Ansinnen ab. Als daraufhin ein Mitarbeiter Dörings, SS-Obersturmführer Wilhelm Ohlendorf an Himmler, betr. Klärung der Volkszugehörigkeit in den neuen Ostgebieten, 24. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 70–77. 303 Bericht des Vertreters des Regierungspräsidenten in Bromberg, 18. Mai 1940, AGK NTN/199, Bl. 27–29. 304 Heukenkamp an RKF-Zentrale, 25. Juni 1940, BArch R 49/61, Bl. 83–87. 305 Vermerk Coulons, 25. Juli 1940, APP 406/1109, Bl. 221–224. 302 291 Laforce, Coulon aufsuchte, kam es zu einer »sehr lebhaften Auseinandersetzung«, in der auch dieser akzeptieren musste, dass der SS-Apparat Fragen zu und Beschwerden gegen Entscheidungen der DVL-Dienststellen über den jeweiligen SD-Vertreter einzubringen habe.306 Döring stellte dieses Ergebnis nicht zufrieden, und er begann, wie Coulon von einem Vertrauensmann erfuhr, Material über ihn anzulegen.307 »Dieser kleine Vorfall«, so Coulon in einem Vermerk, »bestätigt den Eindruck einer unkameradschaftlichen, unsachlichen Einstellung der Dienststelle Döring.«308 Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass Döring begann, eigenmächtig Volkslistenfälle zu sammeln, angeblich bereits Unterlagen zu 18000 Personen zusammengetragen hatte und damit den zuständigen Behörden wichtiges Material vorenthielt;309 eine Beschwerde, die Mehlhorn wenig später auch bei der RKF-Zentrale »verschnupft« vorbrachte.310 Coulon erbat ein Machtwort Greisers und regte an, dessen baldige Ernennung zum Beauftragten Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums zu nutzen, um Döring diese Aktivitäten schlicht zu untersagen.311 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Döring aber schon die Vergeblichkeit seines Unterfangens eingestanden und die Anweisung gegeben, die »Bearbeitung von Volkstumsfragen vorläufig einzustellen«.312 Nicht weniger kläglich scheiterte auch die RKF-Zweigstelle in Kattowitz. Kaum hatte Bach-Zelewski die Regierungspräsidenten von Greifelts Anweisung in Kenntnis gesetzt, hielt der Regierungspräsident in Oppeln, Dr. Johann Rüdiger, fest, dass die Entscheidung über die Volkszugehörigkeit der einheimischen Bevölkerung durch den Staatsangehörigkeitserlass Fricks vom 25. November 1939 allein den Regierungspräsidenten zustand313 – und diese sei Ebenda. Vermerk Coulon, 16. August 1940, APP 406/1109, Bl. 214. Der damit beauftragte Mitarbeiter war Dr. Heinrich Bosse, Leiter des Presse- und Bildarchivs beim HSSPF. 308 Vermerk Coulon, 16. August 1940, APP 406/1109, Bl. 214. 309 Coulon an Abteilung I, 15. August 1940, APP 406/1109, Bl. 212f. 310 Vermerk der RKF-Zentrale, Hauptabteilung I, gez. unleserlich, 31. August 1940, BArch R 49/62, Bl. 42f. 311 Coulon an Abteilung I, 15. August 1940, APP 406/1109, Bl. 212f. 312 HSSPF Posen, gez. Laforce, an RKF-Zentrale, 16. August 1940, BArch R 49/62, Bl. 38. 313 Rüdiger an Oberpräsidium, 5. Mai 1940, APK 119/10701, Bl. 37f. 306 307 292 auch für die SS »in allen denjenigen Fällen bindend […], in denen die deutsche Volkszugehörigkeit für Verwaltungsmaßnahmen von Bedeutung ist«.314 Wie Springorum Bach-Zelewski am 21. Mai 1940 auseinandersetzte, spreche er der SS zwar nicht grundsätzlich jede Berechtigung zur Bearbeitung von Beschwerden ab, diese wären jedoch auf dort bereits anhängige Verfahren beschränkt und müssten überdies »im Benehmen mit den für die endgültige Staatsangehörigkeitsfeststellung zuständigen Verwaltungsbehörden« entschieden werden.315 Daraufhin stellte offensichtlich auch die RKF-Zweigstelle ihre Tätigkeit in dieser Frage ein. Dies legen zumindest die Schreiben der Zentrale aus Berlin nahe, die sich darüber beschwerte, dass in Kattowitz Nachfragen hierzu nur noch kursorisch beantwortet und ohnehin in jedem Fall die bereits getroffenen Entscheidungen der Zivilverwaltung bestätigt werden würden.316 Greifelt scheint jedoch nicht aufgegeben, sondern sich nach Verbündeten umgesehen zu haben. Fündig wurde er im Reichssicherheitshauptamt, das allein schon durch die eigene Beteiligung im Deportationsprozess ein Interesse daran hatte, einen größeren Einfluss auf den Selektionsprozess zu nehmen. Einig waren sich die beiden SS-Dienststellen vor allem in zwei Kritikpunkten, die Dr. Walter von der RKF-Zentrale in einer Bestandsaufnahme vom 20. Mai 1940 kurz zusammenfasste: Erstens sei es noch immer nicht gelungen, ein einheitliches Selektionsverfahren zu etablieren. Die Erlasse des Reichsinnenministeriums würden von den Zivilverwaltungen in den annektierten Provinzen »nur teilweise […] beachtet« oder als »undurchführbar stillschweigend übergangen«.317 Zweitens würden die vom Reichsinnenministerium vorgegebenen Selektionskriterien eben nicht, wie von Himmler gefordert, als »das erste Merkmal für die deutsche Volkszugehörigkeit die positive Feststellung der rassischen Zugehörigkeit« zur Bedingung machen,318 sondern »lediglich auf das Bekenntnis abstellen«.319 Die SS müsse also auf die reichsweite Einführung eines Verfahrens drängen, das sich an die DeutVermerk Schröder für den Dezernenten für Polizeiangelegenheiten, Prof. Dr. Arnold Köttgen, 9. Mai 1940, APK 119/10701, Bl. 40f. 315 Springorum an Bach-Zelewski, 21. Mai 1940. 316 Übersicht der RKF-Zentrale, gez. Amsberg, 21. März 1941, BArch R 49/62, Bl. 118f. 317 Vermerk Dr. Walter, 20. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 47f. 318 Ebenda. 319 Ohlendorf an Himmler, 24. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 70–77. 314 293 sche Volksliste im Wartheland anlehne und sich »sehr gut bewährt« habe.320 Bei einer gemeinsamen Sitzung von Vertretern der RKF-Zentrale und des Reichssicherheitshauptamtes am 22. Mai 1940 kam es dennoch zum Konflikt, weil die Anwesenden bei der Frage, wie ein einheitliches, an der Deutschen Volksliste im Wartheland orientiertes und an rassischen Kriterien ausgerichtetes Selektionsverfahren durchzusetzen wäre, jeweils der eigenen Dienststelle die Gestaltungskompetenz zuwiesen. So forderte die RKF-Zentrale für ihren Vertreter eine besonders herausgehobene Stellung, um sich in den Kommissionen »in jedem Fall durchsetzen [zu können]«. Sollte aber die innere Verwaltung nicht bereit sein, dieses Prärogativ aufzugeben, wäre ihm zumindest die Funktion eines »Kommissar[s] des öffentlichen Interesses« zuzusprechen, um »Einzelfälle stichprobenartig« oder generell die »Fälle[n] zur endgültigen Entscheidung an sich heranzuziehen, in denen […] die […] Richtlinien des Reichsführers-SS als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums nicht beachtet worden sind«.321 Diese Forderungen waren wenig realistisch, weil sie die reale Machtverteilung in diesem Politikfeld ignorierten und nicht nur die Marginalisierung des Reichssicherheitshauptamtes, sondern auch die Ausschaltung der Zivilverwaltung bedeutet hätten. Das Reichssicherheitshauptamt konterte dementsprechend mit einem Gegenentwurf, den Dr. Justus Beyer verfasst hatte und Ohlendorf am 24. Mai 1940 an Himmler weiterleitete. Der Entwurf unterstrich noch einmal die »große Unverträglichkeit« des bestehenden Selektionsverfahrens, das die »rassischen Gesichtspunkte vernachlässigen« und überhaupt überall anders gehandhabt werden würde.322 Zwar sei man mit der Deutschen Volksliste im Wartheland durchaus einverstanden, in Danzig-Westpreußen zeigten sich jedoch die mit den Selektionen beauftragten Kreisleiter in der »Grenzziehung dem Polentum gegenüber sehr unsicher« und beabsichtigten nun sogar, »Hunderttausende des ›bodenständigen Polentums‹ einzudeutVermerk Dr. Walter, 20. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 47f. Unsignierter Vermerk der RKF-Zentrale, HA III, 22. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 68f. 322 Ohlendorf an Himmler, 24. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 70–77. Beyer arbeitete im Amt III und war zugleich Verbindungsführer des RSHA zur Parteikanzlei, siehe Wildt, Generation des Unbedingten, S. 75, sowie Madajczyk, Generalplan Ost, S. 91. 320 321 294 schen«, während die Verwaltung in Oberschlesien entschlossen sei, die »Gesamtbevölkerung der Provinz als Volksdeutsche anzusehen […], mit Ausnahme derjenigen, die sich […] aktiv in polnischem Sinne betätigt haben«. Was nötig wäre, sei ein Verfahren, das nach der bereits erfolgten Selektion der »Volksdeutschen die »passiv oder aktiv verpolten Deutschstämmigen« registriere, um schließlich die »Frage der wirklichen Zwischenschicht« anzugehen. Das Reichssicherheitshauptamt plädierte für die allgemeine Einführung einer Deutschen Volksliste. Sie sollte aus vier Abteilungen bestehen, deren Selektionskriterien im Großen und Ganzen denen im Wartheland folgten: »Deutschstämmige, die sich aktiv zum Deutschtum bekannt haben«, würden in Abteilung A und diejenigen, »die sich nicht aktiv für das Deutschtum betätigt haben, an deren deutscher Gesinnung jedoch kein Zweifel besteht«, in B sortiert. In Abteilung C oder D kämen schließlich »passiv« respektive »aktiv verpolte Deutschstämmige«, also Polen, die nicht in polnischen Verbänden (Abteilung C) organisiert waren, oder solche, denen die Deutschen ebendies nachweisen konnten (Abteilung D). Die Angehörigen der Abteilungen A bis C würden die »deutsche Staatsangehörigkeit« erhalten, die Angehörigen der Gruppen A und B zusätzlich noch das »Reichsbürgerrecht«. Die staatsrechtliche Stellung der übrigen Bevölkerung würde schließlich in einem letzten Selektionsvorgang entschieden werden. Während die »Wiedereindeutschung« und anschließende Einbürgerung der »Renegaten« der Abteilung D nur nach ihrer Verschleppung ins Deutsche Reich erfolgen könne und von ihrem politischen Wohlverhalten abhängig zu machen sei, gelte es, die verbliebenen »Nichtdeutschstämmigen« noch einmal zu unterteilen. Eine erste Gruppe dürfe zunächst noch in den annektierten Gebieten verbleiben und erhalte dann entweder »in Anbetracht ihres Verhaltens die deutsche Staatsangehörigkeit« oder werde wie die zweite Gruppe ins Generalgouvernement vertrieben. Die Angehörigen der ersten Gruppe würden in diesem »Übergangsstadium« zu »Schutzbefohlene[n] des Großdeutschen Reiches« – nach der Aufspaltung der Staatsangehörigkeit in Reichs- und Staatsbürger hätte die völkisch-rassische Differenzierungsdynamik damit einen weiteren staatsrechtlichen Status geschaffen.323 Um auch die Selektionspraxis der Kontrolle durch den SS-Apparat zu unterwerfen, sollten die DVL-Dienststellen in »engstem 323 Ohlendorf an Himmler, 24. Mai 1940, BArch R 49/61, Bl. 70–77. 295 Einvernehmen« mit den regionalen RKF-Zweigstellen und der Sicherheitspolizei und des SD arbeiten. Als letzte Beschwerdeinstanz sollte zudem ein Oberster Prüfungshof für Volkszugehörigkeit eingerichtet werden, dem Himmler vorstand.324 Die Ermächtigung Himmlers durch den Erlass Hitlers vom 7. Oktober 1939 deckte diesen weitgespannten Anspruch keinesfalls. Darin war Himmlers Zugriff auf zwei Personengruppen beschränkt worden, nämlich die Selektion der ethnischen Deutschen aus Osteuropa und die Beseitigung von potentiellen Gegnern der deutschen Besatzung. Die Initiative des Reichssicherheitshauptamtes zielte folglich wohl auch weniger auf die Selektion der Angehörigen der Abteilungen A und B. Zum einen fielen diese als »Volksdeutsche« in den Kompetenzbereich der Dienststellen von Zivilverwaltung und Partei. Zum anderen war ihre Erfassung ohnehin bereits mehr oder minder abgeschlossen, und zwar im Rahmen von Fricks Staatsangehörigkeitserlass. Anders sah es hingegen bei den Angehörigen der Abteilungen C und D aus. Eindeutig erschien die Sachlage aus Sicht des SS-Apparats bei den Angehörigen der Abteilung D. Hier handelte es sich um politische Gegner, die ohnehin in den Kompetenzbereich des Reichssicherheitshauptamtes fielen. Eine größere legitimatorische Anstrengung war im Zugriff auf Abteilung C nötig. Dies gelang mit dem Verweis auf die sogenannte Zwischenschicht. Nach Auffassung des Reichssicherheitshauptamtes werde dieser Begriff entweder falsch verwandt oder verweise auf eine komplexe bevölkerungspolitische Situation. In beiden Fällen sei der Eingriff der SS erforderlich. »Rein künstlich« sei der Begriff in Danzig-Westpreußen, bezeichne die Zivilverwaltung damit doch ausnahmslos alle, die vor 1918 in dem Gebiet geboren waren. Und wo, wie in Oberschlesien, eine »wirkliche ›Zwischenschicht‹ vorhanden ist, die in ihrer rassischen Substanz auf Mischung beruhe[n] und gesinnungsmässig ein schwebendes Volkstum darstelle[n]«, müsse zunächst Klarheit bei der Definition dieser Gruppe geschaffen werden. Dabei sei davon auszugehen, dass der »von der Sprachwissenschaft her gebildete Begriff des Slawentums die Tatsache verdeckt, daß das Slawentum rassenkundlich gesehen, keine Einheit darstellt, sondern aus rassisch sehr verschiedenen Gruppen besteht. Das entscheidende Kriterium für 324 Ebenda. 296 die Unterscheidung muß deshalb die Rasse sein, nicht das Kulturbewußtsein oder die Sprache«.325 Diese Definition entsprach nicht nur dem vom SS-Apparat eingeforderten rassischen Primat, sondern erwies sich für dessen Machtambitionen als im höchsten Grade funktional. Zum einen konnte damit die Kontrolle auf einen weiteren, nicht unerheblichen Teil der einheimischen Bevölkerung begründet werden. Zum anderen ließ sich damit aber auch der Eingriff in die bisherige Selektionstätigkeit der Deutschen Volksliste begründen. Daher forderte das Reichssicherheitshauptamt, die »rassische Auslese« der einheimischen Bevölkerung, wie sie bereits am 8. November 1939 in Krakau formuliert worden war, den »Umwanderungszentralen« und Eignungsprüfern des Rasse- und Siedlungshauptamtes zu übertragen. Das Reichssicherheitshauptamt war jedoch nicht gewillt, diese Entscheidung völlig an das Rasse- und Siedlungshauptamt zu delegieren – die Musterungen sollten stattdessen im Rahmen der Umwanderungszentralen und damit unter der Ägide des Reichssicherheitshauptamtes stattfinden. Im Wissen um die sehr exklusiven Selektionskriterien der RuSHA-Eignungsprüfer, die bereits mehrmals zu Auseinandersetzungen nicht nur mit dem SD geführt hatten, vergaß das Reichssicherheitshauptamt aber nicht, grundlegende herrschaftsfunktionale Überlegungen einzubeziehen. So sollten etwa die Masuren, Kaschuben, Oberschlesier und Schlonsaken, die »erweislich zur deutschen Seite gehalten haben«, grundsätzlich dem Zugriff der RuSHa-Eignungsprüfer entzogen bleiben. Ihnen sei vielmehr »die Möglichkeit [zu] gegeben, die Anerkennung als Deutsche zu finden, auch dann, wenn ihr Rassenbild nicht ganz den Ansprüchen entspricht, die grundsätzlich im Osten zu stellen sind«. Empfänglich zeigte man sich im Reichssicherheitshauptamt auch für wirtschaftliche Überlegungen: In Bezug auf die »Wasserpolen« müsste den »bevölkerungspolitischen und wirtschaftlichen Bedenken des Oberpräsidenten in Schlesien im Hinblick auf die Gefahr einer Entvölkerung einzelner Gebiete dadurch Rechnung getragen werden, dass bei der rassischen [Musterung] der Oberschlesier etwas großzügiger verfahren wird«. Bevor Ohlendorf das Memorandum weiterreichte, kontaktierte er das Rasse- und Siedlungshauptamt sowie die Volksdeutsche Mit325 Ebenda. 297 telstelle und den Stab des Stellvertreters des Führers. Erst nachdem diese ihre – so Ohlendorf – »völlige Übereinstimmung« signalisiert hatten, wurde es auch Himmler vorgelegt – und zwar »mit der Bitte um Kenntnisnahme und Entscheidung […], ob auf der Grundlage dieses Vorschlages, die weiter notwendigen Verhandlungen mit dem Reichsminister des Innern geführt werden können«.326 Die hier festgelegten Positionen bildeten jedenfalls die Grundlage sowohl für die zentralen Eingriffe Himmlers als auch für das Auftreten der SSInstitutionen in den Verhandlungen der folgenden Monate. Das Reichssicherheitshauptamt hatte damit erneut den Anspruch unterstrichen, in der Volkstumspolitik die entscheidende Kraft innerhalb des SS-Komplexes zu sein. Wie gezeigt, stand der SS-Apparat mit seiner Kritik an der Selektionspraxis vor Ort nicht allein. Nachdem das Reichsinnenministerium feststellen musste, dass es eben nicht gelungen war, mit dem Staatsangehörigkeitserlass vom November 1939 ein einheitliches Verfahren durchzusetzen, arbeitete man im Sommer auch dort mit Hochdruck an einem neuen Erlasspaket. Auch wenn ein schließlich am 3. Juli 1940 vorgestellter Neuentwurf über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit in den annektierten Gebieten faktisch folgenlos blieb, da er keine Unterstützung von den Gauleitern erhielt und schließlich von Himmler torpediert wurde, möchte ich seine Grundsätze doch kurz vorstellen, da gerade auch in der Gegenüberstellung zu den Überlegungen im Reichssicherheitshauptamt noch einmal exemplarisch deutlich wird, wie weit die zuständigen Institutionen im Deutschen Reich in einer so entscheidenden Frage auseinanderlagen. Im Gegensatz zum SS-Komplex dachte das Reichsinnenministerium nicht daran, das bisherige Verfahren grundlegend zu ändern, und plädierte nach wie vor für ein zweistufiges Verfahren, in dem zunächst die »Volksdeutschen« zu ermitteln und erst danach über die restliche einheimische Bevölkerung zu entscheiden war. Diese erste Phase war aber noch nicht abgeschlossen, zumal die bisherige Selektionspraxis gezeigt habe, dass »vielfach nicht mein Runderlaß v. 29. 3. 39 […] zugrundegelegt, sondern nach ganz uneinheitlichen Gesichtspunkten verfahren« worden sei und die Selektionskriterien 326 Ebenda. 298 »teils zu eng, teils zu weit gezogen« worden seien.327 Die weiteren Bestimmungen machten dann aber sehr deutlich, dass das Reichsinnenministerium vor allem Ersteres kritisierte und bestimmte, dass bei der »Anerkennung der deutschen Volkszugehörigen […] großzügig verfahren werden [muß]«.328 Um dies angesichts der bisherigen heterogenen Auslegung sicherzustellen, wurden nun detailliertere Anweisungen nachgereicht. Die Zielrichtung blieb freilich unverändert: Nach wie vor stand vor allem das Verhalten der Antragsteller im Vordergrund und nach wie vor ging es vor allem um die Assimilation derjenigen, deren kulturelle Kompetenz dies aussichtsreich erscheinen ließ. Ausgeschlossen waren demnach in erster Linie politische Gegner, während eine »deutsche« Abstammung nicht besonders wichtig schien: »Die Abstammung von deutschen Vorfahren ist für die Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Der Begriff ›deutscher Volkszugehöriger‹ deckt sich nicht mit dem Begriff ›deutschstämmig‹. Deutschstämmig ist, wer von Vorfahren deutschen Stammes abstammt. Die deutsche Volkszugehörigkeit setzt indes nicht volle oder überwiegende Deutschstämmigkeit voraus.«329 Konsequenterweise war danach eine Person »deutscher Abstammung« auszuschließen, wenn sie »in einem fremden Volkstum aufgegangen« sei, während umgekehrt bei Vorliegen der restlichen Kriterien selbst derjenige »als deutscher Volkszugehöriger […] betrachtet werden [könne], wer teilweise oder auch ganz anderen Stammes, z.B. polnischen […] Stammes« sei. Wie das Reichsinnenministerium den Beamten an einigen Beispielen verdeutlichen wollte, war die Volkszugehörigkeit in erster Linie eine Frage der sozialen Praxis. So galten Mitglieder von Organisationen der deutschen Minderheiten »regelmäßig« als »Volksdeutsche«, wie auch die Mitgliedschaft in einer »polnischen« Partei oder politischen Vereinigung durchweg als Ausschlussgrund gewertet wurde. Entsprechend der inklusiven Ausrichtung der bisherigen Politik sollte umgekehrt die Mitgliedschaft in einer kulturellen Entwurf des Reichsinnenministeriums betr. Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, 3. Juli 1940, BArch R 49/61, Bl. 8–41. 328 Ebenda. 329 Ebenda. 327 299 »polnischen« Vereinigung nicht automatisch zu einer Ablehnung als »Volksdeutscher« führen. Generell gelte vielmehr: »Aktive Betätigung für das Deutschtum ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger. Auch ein gleichgültiger oder gar ein schlechter Deutscher bleibt Deutscher, und es muß verhütet werden, ihn gegen seinen Willen in das nichtdeutsche Lager abzudrängen und diesem dadurch germanisches Blut zuzuführen […]. Volkszugehörigkeit und politische Zuverlässigkeit sind etwas Verschiedenes.«330 Das Reichsinnenministerium reichte also weitere Kriterien nach, die auch die Anerkennung von Personen als »Volksdeutsche« ermöglichen sollte, die nicht aktiv am kulturellen oder politischen Leben der deutschen Minderheiten teilgenommen hatten. Zentrale Bedeutung kam dabei dem Gebrauch der deutschen Sprache als eines der »wesentlichsten äußeren Merkmale für die Volkszugehörigkeit« zu. Wer diese »nicht versteht, kann regelmässig als deutscher Volkszugehöriger nicht anerkannt werden« – wobei es sicherlich kein Zufall war, dass man nur den passiven, nicht aber den aktiven Gebrauch der Sprache für ausreichend hielt. Dementsprechend wurde die Aufmerksamkeit etwa auf den Namen des Antragstellers gelenkt. Hatte dieser ihn in der Zwischenkriegszeit polonisiert, so spreche dies »regelmäßig für seine polnische Volkstumszugehörigkeit«. Und hatten Eltern für ihre Kinder Namen gewählt, für die es keine Entsprechung im Deutschen gab, so könne daraus ebenso auf eine »polnische Orientierung der Eltern« geschlossen werden wie auch beim Besuch polnischer Schulen, wenn eine deutsche Schule vorhanden war. Gleichfalls als Zusammenfassung führt der Entwurf auch »kulturelle Bindungen« auf, die die Anerkennung eines Teils der einheimischen Bevölkerung als »Volksdeutsche« gerechtfertigt erscheinen ließen. Hier lässt sich die inklusive Zielrichtung des Entwurfs besonders deutlich erkennen. Nach Auffassung des Reichsinnenministeriums gäbe es »in den früher preußischen Teilen die meisten Bewohner polnischer Abstammung, die auf Grund ihres Aufwachsens unter deutschen Verhältnissen […] starke Berührungspunkte mit der deutschen Kultur gehabt haben. In Zweifelsfragen ist daher in ers- 330 Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. 300 ter Linie bei den alteingesessenen Bewohnern der ehemals preußischen Gebiete eine wohlwollende Entscheidung am Platze«.331 Deutliche Differenzen zeigten sich auch in den Ausführungen zu »Rasse« als Selektionskriterium. Zwar enthält der Entwurf einen Passus, der zunächst als eine Annäherung an die Position des SS-Apparates gewertet werden könnte: Bei der Anerkennung als »deutscher Volkszugehöriger« komme »neben den politischen und gesundheitlichen Voraussetzungen seiner rassischen Beurteilung besondere Bedeutung« zu. In den Ausführungsbestimmungen heißt es dann aber: »Der rassischen Eignung kommt insofern besondere Bedeutung zu, als Fremdblütige keine deutschen Volkszugehörigen sind. Vollfremdblütige (Juden, Zigeuner, Angehörige außereuropäischer Rassen) können niemals als deutsche Volkszugehörige angesehen werden.«332 Rasse diente also wie bisher vor allem zur Ausschließung von Juden. Das Reichsinnenministerium war sogar bereit, Ausnahmen für »Mischlinge« zu machen, solange diese sich »unter besonderen Opfern für die deutsche Sache eingesetzt« hatten. Als besonders verlässlichen politischen Verbündeten stand also selbst »jüdischen Mischlingen« der Weg in die »deutsche Volksgemeinschaft« offen, politische Zuverlässigkeit ging sogar hier vor. Abgesehen von der Ausgrenzung von Juden wurde Rasse als Selektionskriterium jedoch keine besondere Bedeutung beigemessen. »Abgesehen von dem Falle eines fremden Blutseinschlags, der […] die Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger ausschließt, stellt die rassische Bewertung allein grundsätzlich keinen geeigneten Anhaltspunkt für die Einordnung als deutscher oder fremder Volkszugehöriger dar.«333 Um sicherzustellen, daß die SS diesen inklusiven Kurs nicht gefährdete, wurde sie aus dem Verfahren faktisch ausgeschlossen. Im Gegensatz zum Staatsangehörigkeitserlass war zwar vorgesehen, dass der SD einen Vertreter in die bei den Regierungspräsidenten und Landräten zur Beratung einzurichtenden »Gutachterausschüsse« entsenden konnte. Die Ausschüsse sollten aber nur bei »zweifelhaften Fällen« zusammentreten, und bindend war ihre Entscheidung ohnehin nicht. Während in der RKF-Zentrale also noch von der Ebenda. Ebenda. 333 Ebenda. 331 332 301 Übernahme des gesamten Selektionsverfahrens phantasiert und im Reichssicherheitshauptamt zumindest eine direkte Kontrolle angestrebt wurde, war das Reichsinnenministerium darauf bedacht, es beim bisherigen Ausschluss des SS-Apparats zu belassen. Am größten waren die Differenzen jedoch in der Frage, was mit der restlichen Bevölkerung zu geschehen habe. Auch wenn das Reichsinnenministerium darauf bestand, dass zunächst die Erfassung der »Volksdeutschen« beendet werden müsse, bevor Richtlinien zur Selektion der verbleibenden Bevölkerung herausgegeben werden könnten, bot der Entwurf doch einen Ausblick auf das favorisierte Verfahren. Die Richtung gab er mit dem Bezug auf Hitlers Annexionserlass vor, wonach grundsätzlich Personen »artverwandten Blutes« zumindest Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Im Entwurf hieß es dazu, dass grundsätzlich all »diejenigen Angehörigen fremder Völker, die einen erwünschten Bevölkerungszuwachs darstellen, deutsche Staatsangehörige werden und daß ihnen damit die Möglichkeit völliger Eindeutschung geboten wird; ist diese vor sich gegangen, so werden sie nunmehr als deutsche Volkszugehörige auch das Reichsbürgerrecht erlangen können«.334 Eine Alternative zu diesem inklusiven Verfahren gebe es ohnehin nicht, da es gar »nicht möglich sein wird, alle Angehörigen fremder Völker aus den eingegliederten Ostgebieten zu entfernen«.335 Himmlers Erfolg: der Erlass zur Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung Spätestens mit dem Versand dieses Entwurfs war offensichtlich geworden, dass die deutsche Volkstumspolitik einem Trümmerfeld glich. Von einer einheitlichen nationalsozialistischen Germanisierungspolitik konnte fast ein Jahr nach dem Überfall auf Polen jedenfalls keine Rede sein. Sosehr das Schlagwort von der Eroberung »deutschen Lebensraums« die nationalsozialistische Ideologie und spätestens ab Kriegsbeginn auch Propaganda bestimmte, so war es doch nicht gelungen, zu einem wie auch immer vagen Konsens zu gelangen, was unter diesem Schlagwort zu verstehen sei. Die zentralen Akteure stimmten nur darin überein, daß Selektionen notwendig seien und nicht die gesamte dortige Bevölkerung zu deutschen Staats334 335 Ebenda. Ebenda. 302 bürgern erklärt werden sollte. Welche Kriterien dabei anzulegen waren, in welchem Verfahren diese durchzuführen und nicht zuletzt, wer damit zu beauftragen war – darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Auch wenn die Quellenlage keine Auskunft gibt, wie diese Differenzen im Zentrum, also zwischen Frick und Himmler, überwunden wurden, ist doch eines klar: Als im September wieder Bewegung aufkam, war es das Reichsinnenministerium, das nachgegeben hatte. Besiegelt worden war die Unterwerfung unter die Forderungen Himmlers vermutlich am 11. September 1940 während einer Besprechung, um die Stuckart nachgesucht hatte.336 Damit wäre auch geklärt, wie es Himmler möglich war, nur einen Tag später den grundlegenden Erlass über die »Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten« zu unterzeichnen, der die zentralen Richtlinien der Denkschrift des Reichssicherheitshauptamtes vom Mai 1940 übernahm: An die Stelle der bisher vom Reichsinnenministerium propagierten schrittweisen und inklusiven Selektion der einheimischen Bevölkerung trat nun ein Verfahren, das auf die sofortige Selektion der gesamten Bevölkerung zielte, von der nur ein kleiner Teil in die »deutsche Volksgemeinschaft« aufgenommen werden und deren Selektion sich zudem an rassischen Kriterien orientieren sollte. In diesem Erlass hielt Himmler an der Idee fest, zunächst einen Teil der einheimischen Bevölkerung in »Volksdeutsche« oder »Deutschstämmige« aufzuspalten und sie in vier mit abgestuften Rechten ausgestattete Abteilungen einer Deutschen Volksliste zu selektieren, die nun in allen annektierten Provinzen einzuführen war. Bevor die verbleibende Bevölkerung vertrieben werden sollte, galt es noch jene, »bei denen eine klare völkische Zuordnung nicht möglich ist«, und andere »wertvolle Fremdvölkische« auszusondern. Als »völkisch schwer einzuordnen« galten Masuren, Kaschuben, Schlonsaken und Oberschlesier.337 Wohl um eine Germanisierungspolitik wie in Danzig-Westpreußen auszuschließen, wo Forster wie Unsigniertes Memorandum der RKF-Zentrale, vermutlich für Himmler, 11. September 1940, BArch R 49/61, Bl. 2–7, und Himmler an Frick, 16. September 1940, in dem Himmler auf die Unterredung mit Stuckart verweist, APP 406/1109, Bl. 2f. 337 Erlass Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), 12. September 1940, BArch NS 19/3979, Bl. 29–33, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 114–118. 336 303 dargelegt einen Teil der einheimischen Bevölkerung zur »Zwischenschicht« erklärt hatte, um seine Assimilation zu rechtfertigen, nannte Himmler nun erstmals auch Zahlen: Danach durften in DanzigWestpreußen 100000 Kaschuben in die Deutsche Volksliste aufgenommen werden sowie weitere »100000 frühere Polen, die infolge von Mischehen und kultureller Beeinflussung zum Deutschtum neigen«.338 Warum es diese letzte Gruppe nur in Danzig-Westpreußen geben sollte, wird in dem Erlass nicht weiter begründet und sollte wohl auch eher Forster gegenüber Kompromissbereitschaft signalisieren. Die Zahl der Mitglieder der »Zwischenschicht« wurde auch in Schlesien eingeschränkt, wo sich die Zivilverwaltung ebenfalls für eine – aus Sicht der SS – zu pragmatische Germanisierungspolitik entschieden hatte.339 Angeblich lebten hier nicht mehr als 120000 Schlonsaken und 400000 bis 500000 »Oberschlesier (Wasserpolen)«, den DVL-Dienststellen wurden also auch hier Obergrenzen gesetzt.340 Die Gruppe der »wertvollen Fremdvölkischen« umfasste die Personen, die durch das im Mai 1940 von Himmler eingeführte Wiedereindeutschungsprogramm zur Assimilation bestimmt wurden. Diese Selektionen hatte die SS bereits erfolgreich monopolisiert: Sie wurden durch die Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungshauptamtes durchgeführt und fanden im Rahmen der Umwandererzentralstelle statt. Entsprechend den Empfehlungen des Reichssicherheitshauptamtes und in Anlehnung an das Vorbild im Wartheland sollte die Deutsche Volksliste also »Volksdeutsche« und »Stammesdeutsche« erfassen und in vier Abteilungen sortieren. »Volksdeutsche« waren in dieser Diktion grundsätzlich nur jene, die »sich bis zum 1. 9. 1939 nachweislich zum deutschen Volkstum bekannt« hatten, indem sie sich entweder »aktiv im Volkstumskampf eingesetzt« oder zumindest »nachweislich ihr Deutschtum bewahrt hatten«. Sie waren in die Abteilungen 1 respektive 2 einzutragen. Diejenigen aber, die sich »nicht bis zum 1. 9. 1939 nachweislich zum Deutschtum bekannt Ebenda. Ebenda. 340 Darüber hinaus wurden noch 5000 Masuren erwähnt, die allerdings nur für die Germanisierungspolitik in Ostpreußen von Belang waren, Erlass Himmler als RKF, 12. September 1940, BArch NS 19/3979, Bl. 29–33, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 114–118. 338 339 304 hatten, später aber ein entsprechendes Bekenntnis abgelegt hatten«, waren in Abteilung 3 einzutragen. Dies galt in erster Linie für Personen, die zwar deutscher Abstammung, also »Stammesdeutsche« waren, den deutschen Besatzern aber dennoch als »fremdvölkisch« galten. Sie waren »Bindungen zum Polentum eingegangen […], [trugen] aber auf Grund ihres Verhaltens die Voraussetzung dafür in sich […], vollwertige Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft zu werden«.341 Abteilung 3 umfasste jedoch noch zwei weitere Gruppen von »Fremdvölkischen«: zum einen »Personen nichtdeutscher Abstammung […] in völkischer Mischehe«, in der sich »der deutsche Teil […] durchgesetzt hat«. Diese wörtliche Übernahme der wartheländischen Bestimmung war auch insofern entscheidend, als Himmler damit seine Absicht bekräftigte, mit der patrilinearen Tradition im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht zu brechen: War eine »deutsche« Frau mit einem »polnischen« Mann verheiratet, sollte nun nicht mehr die gesamte Familie der deutschen »Volksgemeinschaft« verlorengehen, sondern dann ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wenn die Kinder »deutsch« erzogen worden waren. Der Abteilung 3 wurden zudem auch diejenigen zugeordnet, bei denen eine »klare völkische Zuordnung« nicht möglich schien, also die Masuren, Kaschuben, Schlonsaken und Oberschlesier. Sollten sich Angehörige dieser Personengruppen bereits vor dem deutschen Überfall »nachweislich zum deutschen Volkstum bekannt haben«, so sollten sie mindestens in die Abteilung 3 der Deutschen Volksliste aufgenommen werden, auch wenn »ihre Haussprache nicht die deutsche ist«. In Abteilung 4 waren schließlich diejenigen Personen einzutragen, die auch »politisch im Polentum aufgegangen sind«, also die sogenannten Renegaten. Die Eintragung in die Abteilungen 3 oder 4 schützte die Personen allerdings nicht vor Vertreibungen. Nach Ansicht Himmlers versprach ihre »Wiedereindeutschung« nur dann Aussicht auf Erfolg zu haben, wenn sie einer deutschen Umwelt ausgesetzt, also in das Deutsche Reich verschleppt werden würden. Ein wesentliches Ziel des SS-Apparats schien damit erreicht: die Abschiebung der überwiegenden Mehrheit der einheimischen Bevölkerung. Himmler hatte jedoch nicht nur an einer differenzierten und exklusiven Selektion festgehalten, sondern wies auch dem Kriterium »Rasse« bei den Selektionen der Deutschen Volksliste eine zentrale 341 Ebenda. 305 Bedeutung zu. Sein Erlass enthielt keine detaillierten Vorgaben für die Entscheidung von Anträgen, da er zunächst grundsätzlich auf die Einführung der deutschen Volksliste zielte. Außerdem war die Selektion eines Teils der Bevölkerung ohnehin bereits im Rahmen von Fricks Staatsangehörigkeitserlass erfolgt, und es waren auch Staatsangehörigkeitsausweise ausgegeben worden. Diese Entwicklung zu annullieren, wäre wohl ein realitätsfernes Unterfangen gewesen, hätte Himmler damit doch nicht nur das Reichsinnenministerium, sondern ausnahmslos alle Gauleiter gegen sich aufgebracht. Durchaus realistisch war aber die Einflussnahme auf die Selektion der Personen in den Abteilungen 3 und 4, die nur im Wartheland bereits begonnen hatte. Nur für diesen Fall enthielt der Erlass eine Vorgabe, an der die Entscheidungen auszurichten waren: Das auch von den Angehörigen der Abteilung 3 zu fordernde »Bekenntnis zum Deutschtum« sei nur dann zu akzeptieren, »wenn dieses Bekenntnis durch Tatsachen, wie Abstammung, Rasse, Erziehung und Kultur bestätigt wird. Im Zweifelsfalle ist entscheidend, ob der Betreffende rassisch einen wertvollen Bevölkerungszuwachs darstellt«.342 In Anlehnung an die bisherigen Formulierungen des Reichsinnenministeriums hatte Himmler deren Inhalt doch völlig verändert, indem er sie rassisch auflud. Wenn schon auf die Selektion der Personen in die Abteilungen 1 und 2 kein Einfluss mehr zu nehmen war, dann sollten doch zumindest die der verbliebenen Bevölkerung an deren »rassischer Eignung« ausgerichtet werden. Dennoch sah sich auch Himmler zu herrschaftsfunktionalen Kompromissen gezwungen. So galten etwa die Kaschuben als »fremdvölkisch«, ohne dass dies ihre Assimilation in die »deutsche Volksgemeinschaft« grundsätzlich ausschloss, da sie angeblich »blutsmäßig verwandt [sind und] rassisch einen wertvollen Bevölkerungszuwachs für das deutsche Volk darstellen«. Folgerichtig handelte es sich bei diesem Schritt dann auch nicht um Assimilation, sondern um »Wiedereindeutschung, d.h. um eine Rückgewinnung verloren gegangenen deutschen Blutes«.343 Wie beim Wiedereindeutschungsprogramm hatte sich der von der SS vertretene Rassismus also in einem gewissen Rahmen als politisch anpassungsfähig gezeigt. Politisch funktional war diese 342 343 Ebenda. Ebenda. 306 Position, weil sie die politisch notwendige Integration eines Teils der polnischen Bevölkerung ermöglichte, ohne auf die vom Reichsinnenministerium und anderen Akteuren vertretene und an völkischen Kriterien ausgerichtete Assimilationspolitik zurückgeworfen zu werden. Wenn ein striktes Verbot jeder Assimilationspolitik eindeutig dysfunktional war, andererseits aber auch nicht von dem ideologischen Grundsatz abgerückt werden sollte, wonach nur Boden germanisierbar war, drängte sich Himmlers Lösung geradezu auf: Die Selektion von Polen durch das Wiedereindeutschungsprogramm oder gar deren Aufnahme in die Deutsche Volksliste erschien dann nicht mehr als Assimilation, sondern wurde als »Rückgewinnung verloren gegangenen deutschen Blutes« nahtlos in das rassische Narrativ eingebunden. Auch für die Abteilung 4 sollte die rassische Aufladung der Selektionskriterien Konsequenzen haben. Nachdem Himmler also bereits durchgesetzt hatte, »deutschstämmige« Bewohner von den Deportationen auch dann auszunehmen, wenn sie als politische Gegner aufgefallen waren, erging nun die Anweisung, sie in die Abteilung 4 der Deutschen Volksliste einzutragen. Dem Beharren auf der Erfassung auch dieser Personen lag ein originär rassisches Moment zugrunde, der Grundsatz, »dass kein deutsches Blut fremdem Volkstum nutzbar gemacht wird«.344 Wie ernst Himmler diese Gefahr einschätzte, zeigten die Konsequenzen, die diesen Personen im Falle einer Weigerung drohten: »Bei denjenigen, die eine Wiedereindeutschung ablehnen, sind sicherheitspolizeiliche Massnahmen zu ergreifen. Die Kinder, die für die Haltung ihrer Eltern nicht verantwortlich gemacht werden können, sollen unter der Schuld der Eltern nicht zu leiden haben. Für ihre Erziehung tritt das Deutsche Reich ein.«345 Eine noch entscheidendere Rolle sollten die rassischen Selektionen nach diesem Erlass schließlich bei der Selektion der restlichen Bevölkerung spielen. Im Rückgriff auf das erwähnte, im November 1939 von den Höheren SS- und Polizeiführern in Krakau gefasste Vorhaben, das seitdem immer wieder von diversen SS-Stellen erörtert worden war, sollte eine »Durchprüfung der polnischen Bevölkerung« und die Erfassung derjenigen »wertvollen Fremdvölkischen« begonnen werden, die ebenfalls »zur Eindeutschung in Frage 344 345 Ebenda. Ebenda. 307 kommen«.346 Nachdem die Umwandererzentralstelle die Selektion der zu Deportierenden abgeschlossen und diese ins Generalgouvernement abgeschoben hatte, sollte sie die gesamte restliche Bevölkerung, die nicht für die Eintragung in die Deutsche Volksliste infrage kam, nach »rassischen, gesundheitlichen und polizeilichen Gesichtspunkten« überprüfen.347 Damit hatte Himmler an das mit der Anordnung vom 9. Mai 1940 in Gang gesetzte Wiedereindeutschungsprojekt angeknüpft. Kennzeichnend für den Ad-hoc-Charakter der deutschen Germanisierungspolitik war dieses damals als kurzfristige Problemlösung entstanden, um zwei akute Schwierigkeiten zu überwinden: den Widerstand des Generalgouvernements gegen weitere Deportationen und vor allem den wachsenden Arbeitskräftebedarf im Deutschen Reich. Mit diesem letzten, nur wenige Zeilen umfassenden Abschnitt hatte Himmler nicht nur das bereits existierende Wiedereindeutschungsprogramm in einen umfassenderen bevölkerungspolitischen Kontext eingebunden, sondern auch der Umwandererzentralstelle eine Aufgabe zugewiesen, die selbst die Erfassungen der Deutschen Volksliste in den Schatten stellte. Wann und nach welchen Kriterien dieser letzte und größte Selektionsvorgang durchzuführen war, ließ er jedoch offen: »nähere Durchführungsrichtlinien« werde er zu gegebener Zeit erlassen.348 Die Selektion der einheimischen Bevölkerung sollte schließlich auch staatsrechtliche Konsequenzen haben: Die Mitglieder der Gruppen 1 und 2 erhielten als deutsche Volkszugehörige die deutsche Staatsangehörigkeit und das Reichsbürgerrecht und wurden damit – zumindest formal – den deutschen Besatzern gleichgestellt. Deutlich schlechter traf es die Angehörigen der Abteilungen 3 und 4: Als »wertvolle Fremdvölkische« sollten sie in der Regel ins Deutsche Reich verschleppt und dort »wiedereingedeutscht« werden. Bis dahin wurde ihnen das Reichsbürgerrecht verweigert. Während den Angehörigen der Abteilung 3 aber die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen wurde, erhielten die Angehörigen der Abteilung 4 diese nur auf Widerruf, sie konnte also von den Behörden jederzeit zurückgezogen werden. Damit hatte Himmler auf einen Vorschlag zurückgegriffen, der zunächst in Wetzel und Hechts Denkschrift Ebenda. Ebenda. 348 Ebenda. 346 347 308 vom 25. November 1939 ins Spiel gebracht worden war. Die vierte und mit Abstand größte Gruppe wurde schließlich aus der verbleibenden Bevölkerung gebildet: Als unerwünschte »Fremdvölkische« wurden die Betroffenen – wie es zynisch hieß – zu »Schutzangehörige[n] des Deutschen Reiches mit beschränkten Inländerrechten«, also faktisch rechtlos gestellt.349 Der Glaube an die unbedingte Ungleichheit der Menschen und der daraus resultierende Drang nach ihrer Differenzierung hatte bereits in Nürnberg zur Einführung einer rassischen Selektion der deutschen Bevölkerung geführt und die Juden endgültig zu Menschen minderen Rechts gemacht. In Polen wollte Himmler einen Schritt weiter gehen. Hier sollte die gesamte Bevölkerung in den annektierten Gebieten einem komplexen Selektionsvorgang unterworfen werden, der nun auch die nichtjüdische Bevölkerung nach völkischen und rassischen Kriterien sortierte. Um diesem Selektionsvorgang auch rechtlich Geltung zu verleihen, musste die deutsche Staatsangehörigkeit ein weiteres Mal erweitert werden: Dies geschah mit der Institution des Staatsangehörigen auf Widerruf. Und da die meisten doch vertrieben werden sollten, wurde ein weiterer Rechtsstatus eingeführt, der wohl nicht zufällig Anklänge an die Kolonialgesetzgebung wachrief: der Schutzangehörige.350 Himmler hatte der SS-Bevölkerungspolitik mit seinem Erlass erstmals eine gewisse Kohärenz verliehen – freilich, und dies wird in der Forschung in der Regel übersehen, bei weitgehender Übernahme einer bereits im Wartheland vorexerzierten Praxis. Wäre es ihm gelungen, ihn auch durchzusetzen, hätte sich sowohl die Selektion derjenigen, die zu deportieren waren, wie auch derjenigen, die in die Deutsche Volksliste eingetragen werden wollten, nach vergleichbaren, eben rassischen Kriterien ausrichten müssen. Himmlers Erlass kündigte natürlich auch eine direkte Einflussnahme auf die Kräfteverhältnisse vor Ort an. Das war zumindest die Überlegung Greifelts, der es an der Zeit für einen erneuten Versuch 349 350 Ebenda. Die Schutzangehörigkeit wurde formal am 25. April 1943 eingeführt, siehe RGBl. 1943, Teil I, S. 271f. Zur Schutzangehörigkeit siehe Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 413–420, wobei Gosewinkel jedoch aus meiner Sicht die Bedeutung originär rassischer Selektionskriterien stark überschätzt. 309 fand, seiner Dienststelle auch vor Ort mehr Gewicht zu verschaffen. Als besonderes Ärgernis scheint er die Abschottung des DVL-Verfahrens empfunden zu haben, das mit der Selektion der Bevölkerung am weitesten fortgeschritten war und gleichzeitig Himmler als Referenzmodell gedient hatte. Eine Mitarbeit an oder gar eine Kontrolle dieses Verfahrens versprach deshalb auch, Konsequenzen über das Wartheland hinaus zu zeitigen. In die Offensive ging Greifelt am 15. November 1940, als er Greiser in einem erstaunlich direkten Schreiben von seiner Absicht in Kenntnis setzte, das Verfahren der Deutschen Volksliste gleich in Eigenregie übernehmen zu wollen. Schließlich sei es von »ausschlaggebender Bedeutung in völkischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht« und berühre damit sein Arbeitsfeld. Dies habe im Übrigen so schnell wie möglich zu geschehen: Da Himmlers Erlass die Kompetenzverteilung in diesem Politikfeld ohnehin ändern und die RKF-Dienststellen »unmittelbar« einbinden werde, könne er dann auch am besten den bisherigen »Klagen« über die Tätigkeit der »alten Deutschen Volksliste« nachgehen, von denen er einige exemplarisch nenne und von »denen Sie bitte Kenntnis nehmen wollen«.351 Greifelt kritisierte einerseits die zu restriktiven Selektionskriterien, die angeblich »nicht den Grundsätzen entsprechen, die in Ausführung des Volkstumserlasses des RFSS generell in den Ostgebieten angewandt werden sollen« sowie den harten Tonfall, in dem abgelehnte Antragsteller »abgespeist« oder selbst »deutschstämmige Menschen so eingeschüchtert« würden, dass sie es überhaupt nicht mehr wagten, ihre Interessen zu vertreten. Vor allem aber monierte er die Ablehnungsbescheide, die den Antragstellern vortäuschten, dass Einspruch nicht möglich sei. Dies sei gleich in doppelter Hinsicht falsch, könnte doch bereits jetzt beim Reichsstatthalter selbst Beschwerde eingelegt werden und bald auch beim neu einzurichtenden Obersten Prüfungshof für Volkstumsfragen. Die Kritik kulminierte in einem Generalangriff auf die Deutsche Volksliste. Greiser wurde aufgefordert, »die Versendung solcher […] Fragebogen schon jetzt einzustellen. Die neue Volksliste muss ohnehin mit anders formulierten Fragen an die Antragsteller […] herantreten«. Die bisher gefällten Entscheidungen stellte Greifelt unter den Vorbehalt einer Bestätigung durch die jeweilige RKF-Zweigstelle. Angesichts der bisher aufgetretenen Mängel müsse 351 Greifelt an Greiser, 15. November 1940, APP 406/1112, Bl. 28–34. 310 »ein Teil der bis jetzt erteilten Genehmigungen der Deutschen Volksliste […] zunächst bestritten werden, und zwar so lange, bis die Möglichkeit geschaffen ist, die einzelnen Fälle einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Diese Möglichkeit war bis jetzt noch nicht gegeben«.352 Für das »Zwischenstadium« bis zur »Konstituierung der neuen reichsrechtlichen Regelung« hatte Greifelt sehr klare Vorstellungen über die Zusammenarbeit der beiden Dienststellen: Sollte die RKFZentrale auch in Zukunft Beschwerden gegen Ablehnungen durch DVL-Dienststellen erhalten, würde sie diese an die RKF-Zweigstelle in Posen zur Bearbeitung abgeben. Diese werde ihr Ergebnis schließlich an die DVL-Dienststellen weiterreichen, die Greiser doch dann anweisen solle, auf dieser neuen Grundlage ihre »frühere Entscheidung nochmals zu prüfen«.353 Greisers Antwort fiel deutlich aus. Zwar stimme er durchaus zu, dass die Selektion der einheimischen Bevölkerung den »Auftrag zur Festigung deutschen Volkstums in den Ostgebieten aufs engste berührt«. Dies heiße aber mitnichten, dass auch ihre Durchführung der RKF-Zentrale zugeordnet werden müsse.354 Ob diese »Durchführung […] auf die Dienststellen Ihres Auftrages ausgedehnt werden soll, bedarf einer generellen Regelung. Da sie bisher regional von meinen eigenen Dienststellen der Partei und des Staates durchgeführt und zwar bewährt durchgeführt worden ist, sehe ich keinerlei Grund zu einer Änderung oder Verlagerung der bisherigen Arbeitsweise. Diese Änderung ist schon deshalb nicht nötig, weil die gesamte Menschenführung in den Händen der Partei liegt und diese ja in meinem Gaugebiet durch mich und nicht durch den Reichskommissar repräsentiert wird. Ausserdem obliegt es meiner Zuständigkeit im Sinne meiner Beauftragung durch den Reichskommissar, inwieweit ich die einzelnen Dienststellen meines Gaugebiets für die Erledigung der Aufgaben des Reichskommissars einsetzen […] will. Ich beabsichtige, an der bisherigen bewährten Arbeitsweise nichts zu ändern, sondern lediglich nach dem Volkstumserlass vom 12. September 1940 die Beschwerdefälle dem Obersten Prüfungshof zur Entscheidung zu unterbreiten.«355 Ebenda. Ebenda. 354 Greiser an Greifelt, 24. November 1940, APP 406/1112, Bl. 35–39. 355 Ebenda. 352 353 311 Die von Greifelt im Einzelnen vorgebrachte Kritik lehnte Greiser ebenso rundweg ab wie die Kernforderung nach einer Überprüfung aller an ihn herangetragenen Beschwerden. Er war zudem fest entschlossen, Greifelts Dienststellen auch für die Zukunft vom Selektionsverfahren der Deutschen Volksliste fernzuhalten: »Bezüglich der […] angeregten Zusammenarbeit der Dienststellen teile ich mit, dass ich nicht in der Lage bin, Ihren Gedankengängen zu folgen. Nicht der Höhere SS- und Polizeiführer ist die Dienststelle Ihres Beauftragten, sondern ich selbst bin das. Es bleibt einzig und allein meiner Zuständigkeit überlassen, wen ich mit der Durchführung innerhalb meines Gaues beauftrage. Ich habe nicht die Absicht, das Volkstumsverfahren mit den Dienststellen der Polizei und SS zu lösen, sondern einzig und allein mit den Dienststellen der Partei und des Staates. Hiernach bedarf es auch keiner von Ihnen gewünschten Zusammenarbeit der einzelnen Dienststellen, sondern diese Zusammenarbeit wird in der Form von mir ins Leben gerufen, wie ich sie […] für wünschenswert halte. Um in Zukunft unnötigen Papierkrieg in allen solchen Fragen zu vermeiden, halte ich es für richtig, dass Sie mit Ihrer Dienststelle in Berlin eine reine Führungsbehörde bleiben […]. Eine andere Zusammenarbeit kann ich und will ich mir nicht denken.«356 Der letzte Hinweis Greisers entsprach durchaus der Wahrheit. Himmlers Entscheidung, die Gauleiter und Verwaltungschefs zu seinen Beauftragten zu machen, lässt sich wohl am besten als Anerkennung ihrer Machtposition verstehen, konnte Himmler doch nicht hoffen, eine kohärente Germanisierungspolitik gegen sie durchzusetzen. Die strategisch gebotene Einbindung von mächtigen Funktionsträgern sollte Reibungen zwischen dem SS-Apparat auf der einen und Dienststellen von Staat und Partei auf der anderen Seite vermeiden. Für diese These spricht auch, dass Himmler einen Gauleiter ausnahm: Mit Forster waren die Auseinandersetzungen in den letzten Monaten zu sehr eskaliert. Die anderen aber nahmen dieses Angebot dankbar an, stellte es doch einen Machtzuwachs in Aussicht, der nur mit der Gegenleistung einer künftigen guten Zusammenarbeit erkauft worden war. Die Einsetzung als Himmlers Beauftragte eröffnete ihnen einen direkten Zugriff auf die RKFZweigstellen. Greifelt hatte dem wenig entgegenzusetzen. 356 Ebenda. 312 Himmler ließ nur wenige Tage verstreichen, bevor er Frick am 16. September 1940 um die »beschleunigte Bearbeitung der notwendigen Durchführungsverordnungen« bat, sodass die Deutsche Volksliste auch tatsächlich in allen annektierten Ostprovinzen eingerichtet werden konnte.357 Das Entwurfspaket, das das Reichsinnenministerium Ende Oktober zirkulieren ließ und das neben dem Erlass über den »Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige« auch die dazugehörigen Durchführungsbestimmungen enthielt und den Staatsangehörigkeitserlass vom 25. November 1939 ersetzen sollte, beseitigte jeden Zweifel, dass es Himmler war, der sich in dieser nun fast ein Jahr andauernden Auseinandersetzung durchgesetzt hatte. Das Reichsinnenministerium hatte nachgegeben und die drei Kernforderungen Himmlers akzeptiert: eine sofortige, exklusive und an rassischen Kriterien orientierte Selektion der gesamten einheimischen Bevölkerung, wie sie bereits im Wartheland praktiziert wurde. Was die erste Kernforderung betraf, machte sich nun auch das Reichsinnenministerium die Absicht zu eigen, sofort die gesamte Bevölkerung zu selektieren und dabei die »große Masse der polnischen Bevölkerung« zu Schutzangehörigen zu erklären und also zur Vertreibung vorzusehen.358 Die restliche Bevölkerung sollte nicht mehr ohne weiteres die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, sondern in die mit unterschiedlichen Rechten verbundenen Abteilungen einer Deutschen Volksliste selektiert werden, deren Einrichtung das Reichsinnenministerium nun selbst anwies. Das Reichsinnenministerium unterwarf sich aber nicht vollständig den Forderungen Himmlers. Zwar war es dem SS-Komplex zweifellos gelungen, im Sinne einer möglichst exklusiven Selektionspolitik, die mit der angeblichen »rassischen« Differenz der polnischen Bevölkerung begründet wurde, den Rassediskurs in einem Politikfeld zu verallgemeinern, in dem der Rekurs auf »Rasse« bislang lediglich zur Ausgrenzung von Juden, nicht aber Polen, verwandt worden war. Wie hegemonial dieser rassische Diskurs bald 357 358 Himmler an Frick, 16. September 1940, APP 406/1109, Bl. 2f. Entwurf über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige, Reichsinnenministerium an SdF, RFSS, Auswärtiges Amt, Verwaltungschefs in den annektierten Gebieten und im Generalgouvernement etc., 31. Oktober 1940, APP 406/1109, Bl. 20–35. 313 wurde, zeigt die Reaktion des Reichsinnenministeriums, das sich zwar gezwungen sah, diese Forderung zu übernehmen, dabei aber gleichzeitig versuchte, die rassische Terminologie des SS-Komplexes zu kapern, um das Gegenteil durchzusetzen. So heißt es gleich in der Einleitung zu den Durchführungsbestimmungen, dass für die »Eintragung in die Deutsche Volksliste […] wesentlich [ist], dass kein deutsches Blut verlorengehen und fremdem Volkstum nutzbar gemacht werden kann. […] Auch ein gleichgültiger oder ein schlechter Deutscher bleibt Deutscher«.359 Mit dem im Vergleich zum Juli-Entwurf neu hinzugekommenen ersten Satz blieb das Reichsinnenministerium also der bisherigen Strategie treu, die von den Vorreitern eines exklusiven Verfahrens ins Spiel gebrachten Selektionskriterien aufzunehmen und deren Widersprüche gegeneinander auszuspielen. Während der Verweis auf »Rasse« für den SS-Komplex in der Regel die Forderung zu einem exklusiven Selektionsverfahren begründete, versuchte das Reichsinnenministerium nun das genaue Gegenteil. Auch bei der Sortierung in die vier Gruppen wurden die im Wartheland bereits exerzierten und in Himmlers Volkstumserlass aufgegriffenen Bestimmungen extensiv ausgelegt. So sollten nach dem Willen des Reichsinnenministeriums in Abteilung 1 grundsätzlich die Mitglieder aller Organisationen der deutschen Minderheiten eingetragen werden – auch wenn diese »katholisch oder marxistisch eingestellt waren«. Der »ständige Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit« reichte aber auch.360 Und auch bei den Selektionen in Abteilung 2 erinnerte das Reichsinnenministerium daran, dass sich für Selbständige, aber auch für Beamte oder Angestellte eine exponierte politische Positionierung von selbst verboten habe. Hier könne also nicht bereits der Besuch einer polnischen Schule negativ gewertet werden, in solchen Fällen müsse vielmehr in Erfahrung gebracht werden, welche Sprache zu Hause vorherrsche. Während das gewünschte Bekenntnis also Zugang in die Abteilungen 1 oder 2 sicherte, setzte eine Eintragung in die Abteilungen 3 oder 4 in der Regel eine »deutsche« Abstammung voraus, dürfte doch die Aufnahme »fremdstämmiger Personen in die deutsche Volksgemeinschaft […] nur mit größter Vorsicht erfolgen. Würde sich nämlich in größe359 360 Ebenda. Ebenda. 314 ren Ausmaßen fremdes Blut mit dem deutschen Blut vermischen, so würde das Volk, das dabei entstünde, zwar die deutsche Sprache sprechen, aber nach seiner rassischen Zusammensetzung nicht mehr das jetzige deutsche Volk sein«.361 In Abteilung 3 waren die Menschen dabei – analog zu Himmlers Volkstumserlass – in drei Gruppen zu selektieren: erstens »die deutschstämmigen Personen, die im Laufe der Jahre Bindungen zum Polentum eingegangen sind, nach deren Verhalten aber die Voraussetzung gegeben erscheint, dass sie wieder vollwertige Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft werden« – eine wörtliche Übernahme der Bestimmungen im Wartheland; zweitens »die Personen nichtdeutscher Abstammung, die in völkischer Mischehe mit einem deutschen Volkszugehörigen leben, in denen sich der deutsche Teil durchgesetzt hat« – also die »polnischen« Ehepartner; und schließlich drittens »die Angehörigen der völkisch nicht klar einzuordnenden, blutsmäßig und kulturell zum Deutschtum hinneigenden Bevölkerungsgruppen mit slawischer Haussprache«. Auch hier wurden Ausnahmen gemacht, die sich am politischen Verhalten der Antragsteller orientierten. So wurden Personen, die sich »schon vor dem 1. September 1939 zum Deutschtum bekannt haben«, in die Abteilungen 1 oder 2 eingetragen – auch wenn ihre Muttersprache Polnisch war. Dementsprechend wurde den Angehörigen dieser sogenannten Zwischenschicht die Eintragung gänzlich verweigert, falls sie als politische Gegner galten – sie wurden dann nicht etwa in Abteilung 4 eingetragen, sondern gänzlich ausgeschlossen. Abteilung 4 war ausnahmslos für solche politischen Gegner vorgesehen, die als »deutschstämmige Personen […] politisch im Polentum aufgegangen« waren.362 Konnte ein Antragsteller seine »deutsche Abstammung« urkundlich nachweisen, so wurde damit auch seine »rassische Eignung« unterstellt. War dies jedoch nicht der Fall oder konnten Personen mit »nur geringem deutschen Blutsanteil« aufwarten, durften sie nur dann aufgenommen werden, »wenn keine Bedenken in rassischer Hinsicht bestehen. Die rassische Eignung ist hier von ausschlaggebender Bedeutung«. Im Vergleich zum eigenen Entwurf vom Juli 1940 fällt nun nicht allein diese nachgesetzte Hervorhebung auf, sondern vor allem die Ausweitung auf weitere Personengruppen. 361 362 Ebenda. Ebenda. 315 Damit hatte das Reichsinnenministerium eine Kehrtwende vollzogen und erklärte nun ganz allgemein: »Der Versuch einer Eindeutschung rassisch nicht erwünschter Elemente würde schon allein daran scheitern, dass ihre echte Eindeutschung gar nicht möglich ist. Dies gilt sowohl für Fremdstämmige (Polen usw.) wie für Fremdblütige (Juden, Zigeuner, Angehörige außereuropäischer Rassen). Fremdblütige besitzen regelmäßig die erforderliche rassische Eignung nicht. Vollfremdblütige können niemals als deutsche Volkszugehörige anerkannt werden.«363 Erstmals sollten nun mit dem Hinweis auf »Rasse« nicht nur Juden, sondern auch christliche Polen ausgeschlossen werden können. Trotz der restriktiveren Bedingungen bemühte sich das Reichsinnenministerium auch bei der Selektion in die Abteilung 3 um eine möglichst inklusive Auslegung. Erst unter diesem Aspekt fällt eine Leerstelle auf: Obwohl Himmler dies mehrmals eingefordert hatte, beschränkte das Reichsinnenministerium die Zahl der »wiedereindeutschungsfähigen« Personen nicht auf eine Million. Da klar war, dass unter dem gegebenen Selektionsregime die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Deutschen Volksliste auf die Abteilung 3 entfallen würde, ließ sich das Reichsinnenministerium mit der Weigerung, diese Anzahl zu begrenzen, eine Hintertür für eine inklusive Selektionspraxis offen. Und tatsächlich sollten die Provinzfürsten in Danzig-Westpreußen und Schlesien sehr zur Verärgerung des SS-Komplexes genau von dieser Option Gebrauch machen. Erklärungsbedürftig bleibt hingegen die Regelung der Staatsangehörigkeit. Im Vergleich zum Juli-Erlass des Reichsinnenministeriums, der noch der überwiegenden Mehrheit der einheimischen Bevölkerung zumindest die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen wollte, war bereits mit Himmlers Volkstumserlass eine deutliche Einschränkung verbunden. Analog zu dem dort vorgegebenen exklusiven Selektionsverfahren sollte nur ein geringerer Prozentsatz überhaupt in den Genuss der deutschen Staatsangehörigkeit kommen und die Betroffenen wiederum in Reichsbürger, Staatsangehörige und Staatsangehörige auf Widerruf unterteilt werden. Im zweiten Entwurf des Reichsinnenministeriums wurde diese Differenzierung hingegen noch verschärft: Die Angehörigen der Abteilung 3 sollten nicht mehr summarisch, sondern lediglich auf dem 363 Ebenda. 316 Weg der Einzeleinbürgerung zu deutschen Staatsangehörigen werden. Warum oder auf wessen Druck sich das Reichsinnenministerium für diese Regelung entschied, ist den Quellen nicht zu entnehmen.364 Auch wenn das Reichsinnenministerium von den vorher vertretenen Positionen abrückte und sich insgesamt an den Vorgaben Himmlers orientierte, so gab es doch einen Bereich, den es nicht aus der Hand zu geben bereit war: die Selektionspraxis. Analog zum Vorbild Wartheland sah auch der Entwurf des Reichsinnenministeriums vom Oktober 1940 einen dreistufigen Aufbau mit Zweig-, Bezirks- und Zentralstellen vor, die an die jeweiligen Ebenen der zivilen Verwaltung angebunden waren. Zur einheitlichen Ausrichtung und als letzte Beschwerdeinstanz wurde darüber hinaus – wie in Himmler Volkstumserlass gefordert – ein Oberster Prüfungshof für Volkstumsfragen eingerichtet. Zentrales Selektionsorgan sollten die in den Landkreisen operierenden Zweigstellen sein, die über die Aufnahme eines Antragstellers entscheiden würden. Die dominierende Position der Stellen von Staat und Partei wurde durch die personelle Besetzung der Dienststellen der Deutschen Volksliste sichergestellt: Ihr sollten der Landrat als Vorsitzender, der Kreisleiter, je ein hochrangiger Vertreter des Landratsamtes und der Kreisleitung sowie ein einheimischer »Volksdeutscher« angehören. Der SS-Apparat war in diesem für die Deutsche Volksliste wichtigsten Gremium überhaupt nicht vertreten. Nicht viel anders sah es bei den beiden anderen als Beschwerdeinstanzen fungierenden Dienststellen aus. Zwar entsandte die SS in das jeweils sieben Mitglieder umfassende Gremium im Falle der Bezirksstelle einen Repräsentanten (einen Vertreter des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD) und in die Zentralstelle je einen (den Höheren SS- und Polizeiführer und den Inspektor der Sicherheitspolizei und des SD), die restlichen Mitglieder aus Staat und Partei unterstanden aber – etwa im Falle der Zentralstelle – dem Pro364 Die Neuregelung enthielt aber auch eine Erleichterung für die Einwohner Danzigs. Im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung sollte ihnen grundsätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen werden. Anstelle von Zweigstellen sollte hier nur eine Bezirksstelle eingerichtet werden, um – umgekehrt – in einer Negativselektion diejenigen zu benennen, die die Kriterien für die Abteilungen 1 oder 2 nicht erfüllten und deshalb von dieser summarischen Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit ausgenommen bleiben sollten. 317 Grüner Ausweis der Abteilung 3. Archiwum Państwowe w Poznaniu (APP), DVL-Wollstein 427 vinzchef in seiner Doppelrolle als Leiter von Verwaltung und Partei, der auch die Sitzung leitete.365 Marginalisiert wurden die SS-Vertreter vor allem durch die aus dem Juli-Entwurf übernommene Regelung, wonach ein Aufnahmeantrag oder eine Beschwerde zwar vom Gremium beraten, die Entscheidung jedoch allein vom Vorsitzenden gefällt wurde. Den SS-Vertretern wurde nicht einmal ein Beschwerderecht eingeräumt, mit dem sie wichtige Verfahren in die nächsthöhere Instanz und schließlich an den von der SS kontrollierten Obersten Prüfungshof für Volkstumsfragen hätten verweisen können. 365 Im Prinzip trifft dies auch für die Bezirksstellen zu. Entweder direkt, weil – wie im Wartheland – der Regierungspräsident als Gauinspekteur auch Chef der dortigen Parteistellen war, oder aber indirekt, weil natürlich alle Mitglieder der staatlichen Verwaltung und des Parteigaues letztlich dem jeweiligen Provinzchef unterstanden. 318 Im Bemühen um ein möglichst inklusives Selektionsverfahren verließ sich das Reichsinnenministerium aber nicht allein auf die faktische Ausschaltung des SS-Apparates. Es ordnete überdies einen Bestandsschutz für die bisherigen, im Rahmen von Fricks Staatsangehörigkeitserlass erfolgten Selektionen an, die dort vorgegebenen Fragebögen sollten weiterverwendet werden. Neu war, dass nun alle in die Deutsche Volksliste eingetragenen Personen einen Ausweis erhalten sollten: einen blauen für die Angehörigen der Abteilungen 1 und 2, einen grünen für 3 und einen roten für 4.366 366 Die Farbgebung erinnert an die Entscheidung eines frühen, vom Ostmarkenverband initiierten Versuches, die ausländischen Landarbeiter durch die neue Feldarbeiter-Centralstelle zu kontrollieren und ihren Aufenthalt im Deutschen Reich zu begrenzen, also die wirtschaftlichen Erfordernisse mit der Angst vor einer Polonisierung in Einklang zu bringen. Die von ihr zur Arbeit notwendigen Legitimationskarten wiesen jeder Nationalität eine unterschiedliche Farbe zu. Polnische Saisonarbeiter erhielten rote Karten, siehe Conrad, Globalisierung, S. 162. 319 Die endgültige Fassung des Entwurfs sollte auf einer Besprechung im Reichsinnenministerium am 13. November verabschiedet werden, zu der auch die Volkstumsreferenten aus den annektierten Provinzen geladen waren. Coulon ergriff diese Möglichkeit, um ein weiteres Mal auf die stärkere Berücksichtigung des individuellen Verhaltens zu drängen. Zwar hatte das Reichsinnenministerium eine Kehrtwende vollzogen, die Posener Ethnokraten in Zivilverwaltung und SD kritisierten sie jedoch als halbherzig, würde der Entwurf doch die im Wartheland geltenden Kriterien verwässern und vor allem dem Volkstumskampf zu wenig Bedeutung beimessen.367 Besonders aufschlussreich ist auch die einvernehmliche Kritik an der Einführung von Rasse als Selektionskriterium – eine Kritik also, die indirekt Himmler und nicht dem Reichsinnenministerium galt. So lehnte etwa Strickner, der Volkstumsreferent des Posener SD, die Forderung ab, die Aufnahme derjenigen, deren »deutsche« Abstammung nicht sicher nachweisbar sei, von einer rassischen Selektion abhängig zu machen, wenn gleichzeitig feststehe, dass sie sich bereits vor dem deutschen Überfall aufseiten der deutschen Minderheiten engagiert hatten. Diese Personen seien in jedem Fall als »Volksdeutsche« anzuerkennen.368 Coulon fasste diese Kritik wiederum am klarsten zusammen: Er bezweifle nicht, dass die »Erhaltung deutschen Blutes […] notwendig« sei, diese Bestimmung aber an den Anfang des Durchführungserlasses zu setzen, sei dennoch verfehlt, da dadurch »hinter dieser rein biologischen Forderung, die Forderung der politischen Gegenwart vollkommen zurück[tritt]. Es führt zu einer politisch untragbaren Belastung des inneren Lebens der neueingegliederten Ostgebiete, wenn die beiden Aufgaben, Trennung von Deutschtum und Polentum, also Bilanz aus dem volkstumspolitischen Kampf der Vergangenheit einerseits und Aussonderung des rassisch wertvollen Blutes andererseits, nicht scharf voneinander geschieden werden. Es entsteht in der Volksgruppe der Eindruck, als ob der Einsatz im volkspolitischen Kampf der Vergangenheit nur gering gewertet wird und als ob im Endergebnis ein rassisch günstig beurteilter Pole besser beurteilt würde als ein zwar bewährter, aber rassisch nicht so günstig erscheinender Vermerk Coulon, 7. November 1940, APP 406/1109, Bl. 44. Siehe auch die Stellungnahme Hesse, 10. November 1940, APP 406/1109, Bl. 67–73. 368 Undatierte Stellungnahme Strickner, APP 406/1109, Bl. 74–81. 367 320 Volksdeutscher. Es sind aber für die politische und auch sonstige Aufbauarbeit im Osten die Erhaltung des politischen Kampfmoments und die rassische Aussonderung gleich wichtig und daher beide zu berücksichtigen. Grundlage der Beurteilung muss also in erster Linie die Haltung des Einzelnen im Volkstumskampf sein.«369 Dem Problem, dass »Rasse« und politisches Verhalten als Selektionskriterien verschiedenen Logiken folgten und sich deshalb nicht widerspruchsfrei verbinden ließen, waren die Verantwortlichen in der Zivilverwaltung des Warthelandes bisher dadurch begegnet, dass sie »Rasse« als Selektionskriterium schlicht ausgeschlossen hatten. Politisch war dieser Schritt umso leichter gefallen, als er sogar vom Posener SD-Leitabschnitt mitgetragen wurde. Die besondere Bedeutung, die Himmlers Volkstumserlass und neuerdings auch das Reichsinnenministerium der rassischen Selektion zugewiesen hatten, zwangen jedoch auch Coulon zu einem taktischeren Umgang mit diesem Thema. Er war zwar nach wie vor nicht bereit, von der Forderung abzulassen, wonach »in erster Linie diejenigen zu bevorzugen sind, die sich im Volkstumskampf bewährt haben«. Im Gegensatz zu seiner früheren Einschätzung versuchte er nun jedoch, der herrschaftsrationalen Stoßrichtung dieser Selektionskriterien eine der Position Himmlers eher entsprechende rassische Auslegung zu verleihen. Schwer fiel das nicht: »Kampfzeiten« – so Coulon – seien schließlich auch »stets Zeiten, in denen ein Auslesevorgang stattfindet. Ein Auslesevorgang hinsichtlich der charakterlichen Eignung ist aber stets gleichzeitig ein Vorgang rassischer Auslese«.370 In welche Richtung dieser Widerspruch zwischen politischem Verhalten und »rassischer Eignung« aufzulösen war, stand für Coulon also außer Zweifel. Sein Formulierungsvorschlag lautete denn auch: »Während der Kampfzeit werden sich zum deutschen Volkstum nur solche Menschen bekannt haben, die charakterlich und damit auch rassisch einwandfrei sind. Der Haltung in der Kampfzeit ist damit ausschlaggebende Bedeutung beizumessen.«371 Auf der Sitzung im Reichsinnenministerium am 13. November 1940 verhallten diese Forderungen nicht ungehört. Wie eine spätere VerStellungnahme Coulon, 12. November 1940, APP 406/1109, Bl. 45–58. Zusammenfassende Stellungnahme Coulons, 13. November 1940, APP 406/1109, Bl. 143–145. 371 Ebenda. 369 370 321 sion des Entwurfs vom 19. Dezember 1941 zeigt, wurde entschieden, Angehörige der »Zwischenschicht«, die sich aufseiten der deutschen Minderheiten exponiert hatten, in jedem Fall in Abteilung 1 oder 2 einzuordnen und selbst dann von einer rassischen Selektion auszunehmen, wenn ihre Abstammung ungeklärt war.372 Coulon konnte zudem den Ergänzungsfragebogen durchsetzen, den die Behörden im Wartheland bereits unmittelbar nach der Verabschiedung von Fricks Staatsangehörigkeitserlass vom 25. November 1939 für ihre Provinz entworfen hatten. Nun sollte er in allen anderen Ostprovinzen zur Pflicht werden. Damit war sichergestellt, dass die Aufmerksamkeit der DVL-Dienststellen auf das Verhalten der Antragsteller fokussiert blieb, das in diesem Ergänzungsfragebogen vor allem abgefragt wurde. Auch wenn anhaltende Meinungsverschiedenheiten in Berlin die Herausgabe des Erlasses bis März 1941 verzögerten, ist Coulon dennoch recht zu geben: »Im ganzen kann festgestellt werden, dass die nunmehr erfolgte Reichsregelung ohne die Vorarbeit und die Erfahrung im Wartheland nicht erfolgt und auch nicht denkbar gewesen wäre.«373 Die Macht der Gauleiter Auch wenn das Reichsinnenministerium und der SS-Komplex in den dargestellten Auseinandersetzungen meist konträre Positionen bezogen, so waren sie sich doch darin einig, dass eine Regelung dringend notwendig und zudem so schnell wie möglich herbeizuführen sei, da die Verfahren der einzelnen Provinzen ansonsten noch weiter auseinanderdriften würden. Die Vermutung läge nun nahe, dass die weitgehende Annäherung des Reichsinnenministeriums an die Positionen des SS-Komplexes auch Auswirkungen auf die Provinzen hatte und deren Spielraum für abweichende Entwürfe einengte. Damit würde man jedoch die politische Machtposition der Gauleiter unterschätzen. Zwar lässt sich nachweisen, dass einzelne Aspekte oder sogar Formulierungen der kursierenden Entwürfe auch Eingang in die Selektionspolitiken der jeweiligen Provinzen fanden. Doch in allen drei Provinzen kam es zu einer weiteren Differenzierung der bereits etablierten Verfahren. Berlin – so scheint es – war Version vom 19. Dezember 1940, Frick an SdF, BArch R 1501/5402, Bl. 305–335. 373 Vermerk Coulon, 18. November 1940, APP 406/1109, Bl. 141f. 372 322 weit weg, und solange kein Erlass vorlag, schufen die einzelnen Gauleiter Fakten, hinter die auch eine reichseinheitliche Regelung nicht mehr zurückkonnte. Abschluss der Deutschen Volksliste im Wartheland Im Wartheland war die Erfassung der Bevölkerung bereits weit fortgeschritten und die Zivilverwaltung diskutierte seit Monaten über mögliche Schließungstermine für die einzelnen DVL-Dienststellen. Eine reichseinheitliche Regelung käme für den Selektionsvorgang zu spät. Sie würde allein die Folgen bestimmen, die sich für die Betroffenen aus dieser Sortierung ergaben. Die weitere Verzögerung dieser Regelung sollte dennoch nicht ohne Konsequenzen bleiben, schließlich war auch über die rechtlichen Konsequenzen der Selektion zu entscheiden. Greiser ließ das Reichsinnenministerium wissen, dass er nicht bereit sei, länger zu warten, und bereits einen Erlassentwurf ausgearbeitet habe. Der zentrale Unterschied zu den Entwürfen des Reichsinnenministeriums bestand darin, dass Greiser nicht nur die staatsrechtliche Stellung der Betroffenen, sondern sehr viel umfassender auch ihre allgemeine gesellschaftliche Stellung definierte. Bei den Angehörigen der Gruppen A und B, die jeweils deutsche Staatsangehörige werden würden, war auch ihr Verhältnis zur Partei und ihre Stellung im Wirtschaftsleben vorgegeben. Lediglich die Angehörigen der Gruppe A durften sofort der Partei, ihren Verbänden und Gliederungen beitreten und wie auch im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft alle Positionen bekleiden. Die Angehörigen der Gruppe B konnten der Partei – wie im Übrigen auch die Mehrheit der Bevölkerung im Deutschen Reich – nur nach einer längeren Anwartschaft beitreten und durften weder Hochschullehrer noch »Lehrer in Weltanschauungsfragen« werden.374 Eine wesentlich stärkere Diskriminierung mussten die »Stammesdeutschen« erdulden. Die Angehörigen der Gruppe C wurden vor allem wirtschaftlich schlechtergestellt. Ihnen war es verwehrt, als Beamte oder leitende Angestellte in den öffentlichen Dienst übernommen zu werden, sie durften grundsätzlich keine Lehrer oder Betriebsführer 374 Geheimes Schreiben Greisers an Gauamtsleiter, Führer der Gliederungen der Partei, Regierungspräsidenten etc., betr. Auswirkung des Verfahrens der Deutschen Volksliste für Staat, Partei, Wirtschaft, 15. Februar 1941, APP 406/1130, Bl. 402–406. 323 sein, und ihr Eigentum konnte – gegen Entschädigung – beschlagnahmt werden. Die Angehörigen der Gruppe D wurden zusätzlich gesellschaftlich stärker ausgegrenzt. Sie hatten zwar wie alle Angehörigen der Deutschen Volksliste Anspruch auf die gleichen Lohnund Rentenbezüge sowie Lebensmittelzuteilungen, durften aber keine selbständigen Gewerbetreibende sein, weder einer Parteigliederung noch der Deutschen Arbeitsfront beitreten und waren gegen eine »beschränkte Abfindung soweit zum Aufbau einer bescheidenen Existenz im Altreich unbedingt notwendig« zu enteignen. Dorthin sollten sie nämlich so schnell wie möglich verschleppt werden. »Sie müssen« – so Greiser – »aus der Kampfzone heraus!« Ausgehend von den Entwürfen des Reichsinnenministeriums präzisierte Greiser nun erstmals auch den Konnex zwischen »rassischer Eignung« und der Verleihung der Staatsangehörigkeit und gab damit einen Ausblick darauf, wie diese Personen nach ihrer Abschiebung aus dem Wartheland zu behandeln waren. Zwar wich Greiser nicht von dem Standpunkt ab, dass »Rasse« bei der Selektion der Bevölkerung in die Deutsche Volksliste weiterhin keine Rolle spielen sollte. Wenn aber über die staatsrechtliche Stellung der Angehörigen von Gruppe C und D zu entscheiden war, die nach dem neuesten Entwurf des Reichsinnenministeriums auf dem Weg der Einzeleinbürgerung zu erfolgen hatte, dann sollte diese auch an rassische Kriterien geknüpft werden. Allerdings ist auch hier wieder das Bemühen erkennbar, die Konsequenzen der rassischen Musterungen für die Betroffenen dadurch einzuhegen, dass sie in Abhängigkeit zu ihrem bisherigen Verhalten zu bewerten waren. So sollte für Angehörige der Gruppe C lediglich eine Negativselektion infrage kommen, bei der es um die »Ausscheidung der rassisch ausgesprochen minderwertigen [ging], nicht Spitzenauslese wie bei fremden Volkszugehörigen«. Angehörige der Gruppe D waren hingegen einer »schärfere[n] Auslese« zu unterwerfen, »die aber weniger scharf ist, als bei polenstämmigen Personen«.375 Greiser fiel diese Differenzierung umso leichter, als sich die Betroffenen zum Zeitpunkt dieser erneuten Selektion nicht mehr im Wartheland, sondern bereits im Deutschen Reich aufhalten würden. Mit den zu erwartenden Protesten würden sich also Dienststellen im Deutschen Reich abgeben müssen. 375 Ebenda. 324 Aus Sicht des Reichsinnenministeriums stellte Greisers Erlass eine weitere Einzelaktion dar, die zu verhindern eines der zentralen Anliegen der reichseinheitlichen Regelung war. Stuckart ließ sich jedoch nicht unter Druck setzen, informierte Greiser, dass die Erlasse bereits »zur Entscheidung dem Führer« unterbreitet worden waren, und drohte, dass dieser bei weiteren Einzelgängen die bisherigen Erfassungen wiederholen müsste, weiche die in Berlin beschlossene Regelung doch »in einer Anzahl von Punkten von den Richtlinien, die Sie für die Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger aufgestellt haben, ab. Es wird daher auch im Warthegau notwendig sein, an Hand der neuen Richtlinien eine nicht unbeträchtliche Zahl früherer Entscheidungen zu überprüfen«.376 Gegen die explizite Anordnung Stuckarts den Erlass herauszugeben, davor scheute Greiser nun doch zurück. Er wollte ihn aber auch nicht einfach in der Versenkung verschwinden lassen. Seine Veröffentlichung sei vielmehr – so Coulon – »unter allen Umständen unbedingt erforderlich«.377 Greiser ließ ihn also als Denkschrift an die Spitzen von Staat und Partei zustellen – als »geheim« deklariert und über persönliche Boten. Damit war sichergestellt, dass die zentralen Entscheidungsträger im Wartheland eine genaue Vorstellung von der in der Reichsstatthalterei gewünschten Politik erhielten. Die politische Entwicklung im Wartheland Ende 1940 ist aber auch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Die dortige Zivilverwaltung hatte das radikalste Germanisierungsprojekt entworfen und exklusive Selektionen im Rahmen der Deutschen Volksliste mit der Werbung um die Ansiedlung von ethnischen Deutschen aus Osteuropa und umfassenden Deportationen zu verbinden gesucht. Was nun die Erfassung der »deutschen« Bevölkerung betraf, hatte Greiser nicht nur radikalere Vorstellungen als die anderen Provinzchefs; er hatte sie auch früher zu einer konsistenten Politik synthetisiert, mit größerem Nachdruck verfolgt und konnte deshalb auch als Erster Vollzug melden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die Zivilverwaltung aber auch endgültig von den Widersprüchen eingeholt, die der Germanisierungspolitik von Beginn an eingeschrieben waren. 376 377 Stuckart an Greiser, 8. Februar 1941, AGK 62/49, Bl. 83. Bericht Coulons über den Stand der Arbeit des Volkstumsreferats am 1. Februar 1941 und Fortgang der Arbeit für die nächsten Monate, 4. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 305–311. 325 Mit Abschluss der Deutschen Volksliste war nicht nur die Erfassung der »volksdeutschen« und »stammesdeutschen« Minderheit erfolgt, sondern auch die »polnische« Mehrheit bezeichnet, also die Grundlage für eine umfassende Deportationspolitik geschaffen worden. Genau diese stieß jedoch auf neue Vorbehalte. Die Entscheidung, Einheimische aus politischen, völkischen und anderen Gründen aus der Provinz vertreiben zu wollen, war von Beginn an der Schwachpunkt nicht nur der wartheländischen Germanisierungspolitik gewesen, konnte sie doch zwei Fragen nicht schlüssig beantworten: Wie und wohin sollen diese Personen deportiert werden? Die Reichsbahn operierte in dieser Region ständig an ihren Kapazitätsgrenzen, während der Widerstand im Generalgouvernement, weitere Deportierte aufzunehmen, stetig zunahm. Bald stellte man jedoch auch in Posen fest, dass ein Festhalten am bisherigen Kurs dysfunktional war. Die Denkschrift Coulons vom 4. Februar 1941 markiert den Abschluss dieser Kehrtwende und verweist gleichzeitig auf ihre Ursachen. Coulon setzte sich hier für die Fortsetzung der Germanisierungspolitik ein und befürwortete auch die Abschiebung der Angehörigen der Gruppen C und D. Den Ernst der Lage berücksichtigend sollte dies aber nur dann gelten, wenn die dadurch entstehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt durch Zuzug aus dem Deutschen Reich ausgeglichen würden. Die Ethnokraten hatten sich zu der Erkenntnis durchringen müssen, dass die zur Deportation freigegebene Bevölkerung nicht bloß unerwünschte »Fremdvölkische«, sondern notwendige Arbeitskräfte waren, auf die mittelfristig nicht verzichtet werden konnte. Wenn aber das »Endziel, [die] Beseitigung der gesamten polnischen Bevölkerung aus dem Wartheland«, zumindest vorübergehend von der Tagesordnung genommen werden musste, dann waren Regelungen für eine Übergangszeit gefragt.378 War eine baldige Abschiebung der Polen nicht möglich, müsse umso dringender eine »restlose Verlagerung der Volkstumsarbeit auf die Abwehr gegenüber dem völkischen Gegner« erfolgen,379 um bisher errungene volkstumspolitische »Fortschritte« zu behaupten und die bereits bestehenden Ansätze zu einer völkisch hierarchisierten Ge378 379 Ebenda. Bericht Coulons über Verlauf und Abschluss des Verfahrens der Deutschen Volksliste im Reichsgau Wartheland, 5. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 320–332. 326 sellschaft zu verfestigen. Die erzwungene Einsicht, dass die Dystopie von einem »deutschen Wartheland« so bald nicht Realität werden und man sich auf ein längeres Nebeneinander mit der verhassten polnischen Bevölkerung würde einstellen müssen, setzte Gewaltphantasien in Gang. Der Drang nach einer Erweiterung der Diskriminierungsmaßnahmen verstärkte sich, galt es doch eine segregierte Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Aus Coulons Sicht stand nun also vor allem zweierlei an: die Klärung des »Verhältnisses des Deutschtums zum Polentum« sowie die »Behandlung des Polentums«.380 Was den ersten Punkt betraf, hatten sich die Besatzer im Wartheland erfinderisch gezeigt. Neben radikalen gesetzlichen Maßnahmen aus Berlin wie der Polenstrafrechtsverordnung vom 6. Juni 1940381 waren Polen hier zudem verpflichtet, jeden deutschen Uniformträger zu grüßen, und mussten die Demütigungen eines zunehmend segregierten öffentlichen Raums ertragen, vom öffentlichen Personennahverkehr bis zur Gastronomie. Aber auch der »deutschen« Bevölkerung wurden klare Verhaltensregeln vorgegeben. Noch am 25. September 1940 hatte Greiser die Maßnahmen durch eine weitere Verordnung verschärft – an dem Tag also, an dem die Erfassungen der Deutschen Volksliste ursprünglich hätten beendet, eine »klare Trennungslinie« also endlich hätte gezogen werden können. Die Polizei wurde angewiesen, Deutsche in Schutzhaft zu nehmen oder auch ins Konzentrationslager zu deportieren, wenn sie es an dem gebotenen Abstand zu Polen vermissen ließen oder gar an einem »freundschaftlichen Verkehr« festhielten.382 Geschlechtsverkehr wurde für den deutschen Mann ebenfalls mit Schutzhaft bestraft, während der polnischen Frau die Zwangseinweisung in ein Bordell drohte.383 Gerade dieser Aspekt produzierte absurde AngstBericht Coulons über den Stand der Arbeit des Volkstumsreferats am 1. Februar 1941 und Fortgang der Arbeit für die nächsten Monate, 4. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 305–311. 381 RGBl. 1940, Teil 1, S. 844–846. 382 Verordnung Greiser, 25. September 1940, abgedruckt in: Łuczak: Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 180–182. 383 Und tatsächlich ordnete Greiser die Gestapo an, vier Personen aus diesem Grund ins Konzentrationslager einzuliefern und zwei polnische Frauen in ein »öffentliches Haus zu überführen«, Rundbrief des stellvertretenden Gauleiters Kurt Schmalz, 19. April 1941, APP 834/2, Bl. 23. Im Januar 1942 plädierte Damzog schließlich für eine weitere Verschärfung für Polinnen, denen Geschlechtsverkehr mit Deutschen vorgeworfen wurde. Angeblich 380 327 phantasien.384 Wenn Coulon von bald 3000 Kindern von Wehrmachtssoldaten und Polinnen allein im Kreis Konitz ausging, so sagte das wenig über die reale Situation, aber viel über die ideologische Verfasstheit ihres Autors aus.385 Was den zweiten Punkt betraf, also die Behandlung des endgültig als »polnisch« deklarierten Teils der einheimischen Bevölkerung, sah sich Coulon vor dem gleichen Dilemma wie Greiser. Vorausgesetzt, dass die Trennung von der deutschen Bevölkerung sichergestellt sei, müsse sich die Behandlung der Polen allein von der Abhängigkeit von der polnischen Arbeitskraft bestimmen lassen. Dies erfordere eine Perpetuierung der Terrorpolitik, da für die »Ausnutzung der polnischen Arbeitskräfte […] immer die Frage der Aufsicht und der Zwang zur Arbeit entscheidend sein« werde.386 Die Genugtuung über den zügigen Abschluss des DVL-Verfahrens war im Wartheland also schnell der Ernüchterung gewichen. Die Dystopie von einer deutschen Volksgemeinschaft wurde von einem Provisorium einer völkisch hierarchisierten Gesellschaft ersetzt, in dem die Privilegierung der kleinen »deutschen« Minderheit gegenüber der »polnischen« Mehrheit ständig überwacht und aufs Neue durchgesetzt werden musste. Wenn ein herrschaftsfunktionaler Aspekt von Germanisierungspolitik darin bestand, Besatzungspolitik überflüssig zu machen, da die verbleibende und zu »Deutschen« erklärte Bevölkerung die nationalsozialistische Präsenz nicht mehr als Besatzung erleben würde, so sah sich die Zivilverwaltung im Wartheland diesbezüglich gezwungen, diese Perspektive um – wie Coulon notierte – »vielleicht eine Generation oder mehr« zu vertagen.387 suchten sie den sexuellen Kontakt deshalb, weil sie im Wissen um die Härte der Bestrafung für Deutsche deren Leben damit zerstören konnten. Derart zum Instrument im Volkstumskampf erklärt, konnten auch längere Haftstrafen gefordert werden. Siehe Damzog an RSHA, 17. Januar 1942, AGK 167/15, Bl. 5–9. 384 Übrigens nicht nur in Polen, siehe dazu Mühlhäuser, Eroberungen. 385 Bericht Coulons über den Stand der Arbeit des Volkstumsreferats am 1. Februar 1941 und Fortgang der Arbeit für die nächsten Monate, 4. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 305–311. Siehe auch Verordnung Greiser, 25. September 1940, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 180–182. 386 Bericht Coulons über den Stand der Arbeit des Volkstumsreferats am 1. Februar 1941 und Fortgang der Arbeit für die nächsten Monate, 4. Februar 1941, APP 406/1109, Bl. 305–311. 387 Ebenda. 328 »Deutschstämmigenaktion« in Danzig-Westpreußen Noch deutlich ausgeprägter als bei Greiser war die Bereitschaft zum Alleingang bei Forster. Zwar konnte er nicht auf ein besonders weit fortgeschrittenes Verfahren verweisen. Als das Reichsinnenministerium seine Entwürfe Ende Oktober 1940 zirkulieren ließ, war in Danzig-Westpreußen lediglich die Selektion im Rahmen von Fricks Staatsangehörigkeitserlass vom 25. November 1939, also die Erfassung der »Volksdeutschen«, erfolgt. Forster hatte aber dennoch genaue Vorstellungen, wie es weitergehen sollte. Einen ersten Einblick hatten die Volkstumsdezernenten der Regierungspräsidenten bereits am 17. Mai 1940 von Forsters Volkstumsreferenten Wilhelm Löbsack erhalten. Nach der Erfassung der durch den Staatsangehörigkeitserlass des Reichsinnenministeriums vom November 1939 angeordneten »volksdeutschen« Bevölkerung würde am 1. Januar 1941 die »systematische Eindeutschung der Zwischenschicht«, das heißt die Assimilierung der »deutschstämmigen« Bewohner Danzig-Westpreußens, beginnen.388 Forster scheint es wenig gekümmert zu haben, dass diese reichseinheitlich zu regeln das erklärte Ziel des Erlasspakets des Reichsinnenministeriums war, das – so musste Forster jedenfalls annehmen – kurz vor seiner Verabschiedung stand. Vor diesem Hintergrund schien sich die Ankündigung eines völlig neuen Selektionsverfahrens von selbst zu verbieten. Es ist ein erneuter Beweis für die Macht der Provinzchefs, dass Forster sich dennoch nicht davon abhalten ließ, am 14. Dezember 1940 die »Wiedereindeutschungsaktion« anzuordnen.389 Allein diese Wortwahl Forsters ist interessant, erlaubt sie doch einen Einblick in das taktische Agieren der Reichsstatthalterei. Während der ständigen Querelen mit dem SS-Komplex um die angeblich zu inklusive Selektionspolitik hatte Forster erleben müssen, wie auch das Reichsinnenministerium zunächst graduell auf Himmlers rassischen Kurs einschwenkte. Sollte also die bisherige Politik beibehalten und ein deutlich größerer Teil der einheimischen Bevölkerung als »Deutsche« anerkannt werden, als dies etwa im Wartheland der Fall war, dann galt es, sie stärker als bisher ideologisch abBericht des Vertreters des Regierungspräsidenten in Bromberg, 18. Mai 1940, AGK NTN/199, Bl. 27–29. 389 Erlass Forster zur Wiedereindeutschungsaktion, 14. Dezember 1940, BArch R 49/76, Bl. 2–29. Siehe dazu auch Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands, S. 483f. 388 329 zusichern. Es spricht für Forsters taktische Raffinesse, sich in dieser Situation an den bekanntesten nationalsozialistischen »Rasseexperten«, Professor Hans F. K. Günther in Freiburg, gewandt zu haben: »Gauleiter Forster« – so die Einladung an Günther – würde »für den bluts- und siedlungsmäßigen Neuaufbau des Reichsgaus DanzigWestpreußen den größten Wert auf Ihr fachmännisches Urteil« legen.390 Günther enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Wie Forster später gegenüber dem Reichsinnenministerium und Hitler behaupten konnte, habe dieser nach einer zehntägigen »Forschungsreise« im September 1940 festgestellt, dass zwar die dortige Bevölkerung ein »unentwirrbares Rassengemisch« darstelle, die entscheidende Frage jedoch sei, ob ihre »Nachkommen einen willkommenen Zuwachs zur deutschen Bevölkerung« bilden könnten. Günther beantwortete diese Frage positiv und erklärte, »daß etwa 4/5 der dortigen polnischen Bevölkerung rassisch dem Deutschtum Ostmitteldeutschlands nicht fernsteht«.391 Forsters inklusive Politik hatte damit auch rassentheoretische Weihen erfahren. Um gleich von vornherein den Verdacht zu entkräften, es gehe ihm um eine Assimilierung von »Polen«, leitete Forster seinen Wiedereindeutschungserlass mit der Behauptung ein, dass die geplanten Maßnahmen sich strikt auf die Erfassung derjenigen Personen beschränken würden, die »in unser Volk- und Rassengefüge hineinpassen, da nur diese völlig und ohne Schaden für unsere völkische Substanz eingeschmolzen werden können«. Da aber lediglich »verschüttetes deutsches Volkstum […] freigelegt, untergegangenes zurückgewonnen« und dessen »geistig-seelische Einschmelzung« durchgeführt werden solle, handle es sich bei den »im nächsten Jahr durchzuführenden Eindeutschungen […] im Wesentlichen um eine Rück- beziehungsweise Wiedereindeutschung«.392 Diese Formulierungen waren allerdings eher ein Zugeständnis an den zunehmend rassischen Diskurs in Berlin und kein Ausdruck einer restriktiveren Selektionspolitik. Forster nahm zwar erstmals die Forderung auf, die Betroffenen einer »rassische[n] Beurteilung« zu Stabsamt des Reichsbauernführers an Günther, 9. September 1940, zit. n. Weisenburger, »Der ›Rassepapst‹«, S. 193. 391 Undatiertes Schreiben Forster an Pfundtner, zit. n. Spittler, Das höhere Schulwesen, S. 185. Siehe auch Eintragung für den 12. Mai 1942, Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 286. 392 Erlass Forster zur Wiedereindeutschungsaktion, 14. Dezember 1940, BArch R 49/76, Bl. 2–29 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 390 330 unterziehen. Gemeint war damit aber allein die Ausschließung von »Personen mit mongolisch, asiatischem Blutseinschlag«, also von Personen mit »artfremdem« und nicht etwa »artverwandtem Blut«, von »Fremdblütigen« und nicht etwa »Fremdvölkischen«. Nach Forster kamen zwei Gruppen für die »Rückdeutschung« infrage: die »untergegangenen Deutschtumssplitter des 19. Jahrhunderts und früherer Zeitabschnitte« sowie die »ehemals deutschen Familien, die in den letzten 30–40 Jahren Bindungen zum Polentum eingegangen sind oder ihm völlig verfielen«. Zumindest im jetzigen Verfahren sollte »in erster Linie« die zweite Gruppe erfasst werden. Die Kriterien, nach denen eine ehemals deutsche Familie zu erkennen war, blieben natürlich überaus vage. So sollte sich die Erfassung auf die Personen beschränken, deren Eltern oder Großeltern hier geboren waren, also auf die »einheimische Bevölkerung Westpreußens«. Nicht wirklich weiterführend war diesbezüglich auch der Verweis auf die Familiennamen. So hieß es zwar im Erlass, dass deutsche Familiennamen immerhin einen »Anhaltspunkt« für eine deutsche Abstammung lieferten – der Rückkehrschluss wurde aber explizit ausgeschlossen.393 Schließlich hätten auch »Träger polnischer Familiennamen […] vielfach vor Jahren deutsche Familiennamen« gehabt. Konkreter wurde der Erlass bezeichnenderweise dort, wo die »Wiedereindeutschungsfähigkeit« an die politische Zuverlässigkeit geknüpft wurde. Den Kommissionen wurde eingeschärft, dass vor allem der »charakterlichen und völkischen Haltung und Gesinnung […] im Rahmen der Gesamtbeurteilung besondere Bedeutung« zukomme, wie sie etwa an der Unterrichtssprache oder den Namen der Kinder abgelesen werden könne. Auch auf die Mitgliedschaft in polnischen politischen Organisationen wurde wieder hingewiesen. Im Gegensatz zu den früheren Selektionen glaubten sich die deutschen Besatzer in Danzig-Westpreußen nun jedoch einen etwas großzügigeren Umgang erlauben zu können. Ausgeschlossen blieben zwar nach wie vor diejenigen, die nach dem deutschen Überfall wegen »Verbrechen gegen das deutsche Volk und das Deutsche Reich« verurteilt worden waren. Eine Mitgliedschaft etwa im radikalnationalistischen Westmarkenverband war jedoch nicht länger ein unüberwindliches Hindernis, sondern lediglich ein »belastender Umstand«, der die Kommissionen nicht von »der Verpflichtung [entband], den Einzelfall mit seinen besonderen Umstän393 Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. 331 den zu prüfen und gegebenenfalls die Eindeutschung ausnahmsweise vorzunehmen«.394 Diese neue Nachsicht gegenüber Personen, die vor wenigen Monaten noch als politische Gegner verfolgt worden waren, gibt Auskunft darüber, wie sicher sich die deutschen Besatzer mittlerweile fühlten. Sie verweist jedoch auch auf ein drittes Selektionskriterium. Neben »deutscher« Abstammung und politischer Zuverlässigkeit zielte die Wiedereindeutschungsaktion auf die Erfassung der Personen, ohne die die Provinz wirtschaftlich zusammenbrechen würde. Wie sehr diese Frage nach einem Jahr deutscher Herrschaft in den Vordergrund gerückt war, zeigten bereits die Vorgänge im Wartheland. Dass dieser Gesichtspunkt die Germanisierungspolitik zu dominieren begann, wird an Forsters Wiedereindeutschungserlass noch deutlicher sichtbar. Der Mangel an geeigneten Arbeitskräften war in Danzig-Westpreußen mittlerweile zu einem so ernsten Problem geworden, dass er die Logik der Wiedereindeutschungsaktion überformte und sie geradezu in eine Rekrutierungsmaßnahme für die einheimische Wirtschaft übersetzte, wenn Forster anordnete, »im allgemeinen die Eindeutschungsaktion zunächst auf Land- und Fabrikarbeiter, Handwerker und Kleinbauern [zu] begrenzen«. Erwiesene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit war auch geeignet, »Defizite« in anderer Hinsicht auszugleichen, wie etwa den fehlenden Nachweis einer »deutschen« Abstammung. Schließlich werde man aus den »in der ganzen Sippe auftretenden typisch deutschen Fähigkeiten und Begabungen mittelbar auch auf das Vorhandensein eines deutschen Bluteinflusses innerhalb der Familie schließen können (z.B. technische Begabung, Gefühl für Pflege und Ordnung technischer Hilfsmittel im Haus und Hof)«.395 Während Himmler durchgesetzt hatte, dass die vom Reichsinnenministerium vorgegebene Leerformel vom »erwünschten Bevölkerungszuwachs« rassisch spezifiziert worden war,396 erhielt sie in Danzig-Westpreußen eine deutlich pragmatischere Ausprägung – hier war es das »Vorhandensein einer fachlichen und leistungsmäßigen Bewährung«, das »vielfach die Antwort auf die Frage geben Ebenda. Ebenda. 396 Siehe die entsprechende Bestimmung in Himmlers Volkstumserlass vom 12. September 1940 und die Übernahme in den Entwurf des Reichsinnenministeriums vom 31. Oktober 1940. 394 395 332 [werde], ob ein erwünschter Bevölkerungszuwachs vorliegt oder nicht«.397 Vor diesem Hintergrund werden dann auch die Kriterien verständlich, die in jedem Fall eine Anerkennung als »Deutschstämmiger« ausschlossen – wenn sie als »Asoziale«, »Erbkranke« oder »Gewohnheitsverbrecher« in sozioökonomischer Hinsicht als unerwünscht oder überflüssig galten. Bereits die Selektionskriterien ließen erkennen, dass sich Forster von dem mittlerweile erreichten Kompromiss zwischen Reichsinnenministerium und SS-Komplex wenig beeindrucken ließ. Die Durchführungsbestimmungen müssen in Berlin jedoch geradezu als Affront wahrgenommen worden sein. Ungeachtet der Auseinandersetzungen um den Regierungspräsidenten in Bromberg und im klaren Verstoß gegen alle in Berlin diskutierten Entwürfe, legte Forster die Durchführung der Wiedereindeutschungsaktion wieder in die Hände der Partei – und nicht in die der staatlichen Verwaltung, wie im neuesten Entwurf des Reichsinnenministeriums vorgesehen. Die Blockleiter wurden angewiesen, in einer ersten »Groberfassung« die Personen zu registrieren, die für die Wiedereindeutschung infrage kamen. Mit einem Erfassungsbogen (siehe Abb. S. 334), auf dem neben den Personaldaten auch der Beruf einzutragen war, wurde die Familie zunächst nach ihrer »deutschen« Abstammung befragt – welches Familienmitglied »früher dem Deutschtum an[gehörte]«, wann und warum »die Polonisierung ein[setzte]« und welche Vorfahren »bluts- oder bekenntnismäßig« »Deutsche« waren, wobei auch »ein nur geringer Bluteinschlag […] zur Vorerfassung genügen [muß]«. Zudem hatten sie eine Reihe von Fragen erhalten, die alle auf das (politische) Verhalten der Familie abzielten und schließlich in die Frage nach der »Einstellung zum deutschen Volk und Staat« mündeten«.398 Die Blockleiter mussten schließlich ihren Eindruck in der Rubrik »Allgemeine charakterliche Bewertung« zusammenfassen, den Erfassungsbogen unterzeichnen und ihn zur Gegenzeichnung an den Zellen-, Ortsgruppen- und Kreisleiter weiterleiten. Die Entscheidung über die Aufnahme in das Wiedereindeutschungsverfahren sollte auf Kreisebene gefällt werden – jedoch nicht vom Landrat, wie es der Entwurf des Reichsinnenministeriums vorsah. Zwar ordnete Forster an, bei den Landräten »Kreisbüros Erlass Forster zur Wiedereindeutschungsaktion, 14. Dezember 1940, BArch R 49/76, Bl. 2–29 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 398 Ebenda. 397 333 Fragebogen im Rahmen der Deutschstämmigenaktion in Danzig-Westpreußen vor der Einführung der Deutschen Volksliste in den annektierten Ostgebieten. 334 Archiwum Glównej Komisji Badania Zbrodni przeciwko Narodow Polskiemu im Instytut Pami˛eci Narodowej Warschau (AGK) NTN 196/201 335 (Zweigstellen der Deutschen Volksliste)« einzurichten, antizipierte also deren baldige Einführung. Formell bedeutete dies die Stärkung der Landräte, da die Leitung der Kommission jedoch bei den Kreisleitern lag, war diese Bestimmung in ihren praktischen Auswirkungen zu vernachlässigen, waren doch diese Ämter in fast allen Kreisen in Personalunion besetzt worden.399 Die Kommissionen sollten sich zunächst diejenigen vornehmen, die bereits von der Partei in der »Groberfassung« benannt worden waren. Neben der Überprüfung der bereits ausgefüllten Fragebögen konnten zwar auch Gutachten über die »rassische Eignung der einzudeutschenden Familie« in Auftrag gegeben werden – aber nicht beim Rasse- und Siedlungshauptamt, sondern beim Rassenpolitischen Amt der NSDAP. In der Hauptsache sollten die weiteren Nachforschungen aber sicherstellen, dass die betroffenen Personen keine politische Gefahr und einen Gewinn für die imaginierte Leistungsgemeinschaft darstellten. Dabei wurden das Strafregister und die Dateien der Sicherheitspolizei ausgewertet, das Gesundheitsamt um ein Gesundheitszeugnis angefragt und schließlich die »fachliche Eignung und Leistungsfähigkeit der Familie« beim betreffenden Berufsstand erfragt. Selbst das Verhalten der Kinder wurde nicht vergessen: Die Kommissionen wurden aufgefordert, bei der Schulleitung ein Gutachten anzufordern, das »auf Charakter, Leistung und Haltung des Kindes genau einzugehen« hatte. Bis zum Rücklauf dieser Informationen und der Entscheidung, die betroffene Familie vorzuladen, konnte diese faktisch keinen Einfluss auf den Selektionsprozess nehmen. Im Gegensatz etwa zu den Erfassungen im Wartheland, wo sich interessierte Personen einen Antrag aushändigen lassen und sich um die Eintragung in die Deutsche Volksliste bewerben mussten, lag die Initiative in Danzig-Westpreußen ganz aufseiten der Besatzer. Auch in dieser Hinsicht stand das dortige Verfahren in klarem Gegensatz zu den Richtlinien des Reichsinnenministeriums. Während dieses eine freiwillige Meldung voraussetzte, wurde hier die Bereitschaft der Betroffenen, in das Wiedereindeutschungsverfahren aufgenommen zu werden, auf den 399 Den Kommissionen gehörten noch der Landrat, jeweils ein von ihnen benannter Sachbearbeiter für Volkstumsfragen, ein Beauftragter des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, ein Vertreter des Berufsstands des Betroffenen und schließlich ein Arzt des Gaugesundheitsführers an, siehe ebenda. 336 letztmöglichen Moment, nämlich ihr Erscheinen vor der Kommission, verschoben. Vor der Kommission mussten die Familien eine »objektive« und eine »subjektive Prüfung« über sich ergehen lassen, also Personalunterlagen vorlegen und eine Reihe von Fragen beantworten, die Forster in einer Anlage zu seinem Erlass ebenfalls vorgegeben hatte und die sich wiederum ausschließlich auf das Verhalten der Betroffenen bezogen. Die endgültige Entscheidung sollte unter Auswertung aller Unterlagen, also der Erfassung durch die Blockleiter, den schriftlichen Rückfragen und dem Verhör durch die Kommission, getroffen werden. Dabei gab Forster durchaus zu, dass »sich keine genau berechnete Formel angeben [läßt], ob eine Familie eingedeutscht werden kann oder nicht«. In Zweifelsfällen sei »die Wiedereindeutschung vorzunehmen, wenn alle Umstände auf einen erwünschten Bevölkerungszuwachs schließen lassen«. Dabei galt auch hier: »Bei fehlender Übereinstimmung trifft der Kreisleiter die Entscheidung.« Diese Entscheidung war endgültig. Auf den Aufbau eines Beschwerdeverfahrens wurde verzichtet, und nur in »Zweifelsfragen grundsätzlicher Natur« sollte ein bereits getroffenes Urteil Forster vorgelegt werden. Forster gab schließlich auch das Ergebnis der Wiedereindeutschungsaktion vor. Wie die Kreisleitungen erfuhren, würde Forsters Volkstumsreferent Wilhelm Löbsack unter Zuarbeit der »politischen Wissenschaft in unserem Gau«, in diesem Fall Dr. Detlev Krannhals und Professor Dr. Erich Keyser, ihnen Gebiete ausweisen, in denen diese »verlorengegangenes Deutschtum finden« könnten, und »Quoten« nennen. Das Verfahren sollte als abgeschlossen gelten, wenn die angestrebte Zahl von 30000 wiedereindeutschungsfähigen Familien registriert und die deutsche Herrschaft auf eine breitere Grundlage gestellt worden war. Allein in der Definition der rechtlichen Stellung dieser Personen näherte sich Forster wieder den Planungen des Reichsinnenministeriums an. In Antizipation der bald zu erwartenden reichseinheitlichen Regelung sollten die in der Wiedereindeutschungsaktion erfassten Familien in die Abteilung 3 der Deutschen Volksliste überführt werden. Dies bedeutete zum einen, dass diese Personen »keine Gleichstellung mit den Volksdeutschen« erwarten und keine Führungspositionen in Politik und Wirtschaft bekleiden durften. Ebenso wenig konnten sie mit der Rückgabe von beschlagnahmtem Vermögen rechnen, um auszuschließen, dass sie »die Siedlungsplanung 337 […] behindern«. Zum anderen bedeutete dies, dass sich ihre staatsrechtliche Stellung an den im Entwurf des Reichsinnenministeriums festgehaltenen Bestimmungen orientierte, also auf Einzelverfahren setzte, und die Verleihung des Reichsbürgerrechts ausschloss. Deutlicher als dies im Reichsinnenministerium diskutiert wurde, stellte Forster die nach wie vor prekäre rechtliche Stellung dieser Personen heraus, die selbst nach der Anerkennung als Wiedereindeutschungsfähige und der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft keineswegs von den Zwangsmaßnahmen der deutschen Besatzer befreit sein würden. In einer Formulierung, die an die deutschen Kolonialverwaltungen erinnerte, wurden den Betroffenen in aller Offenheit die Alternativen verdeutlicht: »Wer sich bewähre, werde das große Glück haben, sich Deutscher nennen zu dürfen und am Aufstieg des Deutschen Volkes und Reiches teilzuhaben. Wem es dagegen nicht ernst sei mit seinem Willen zum Deutschtum, den werde das mächtige Deutsche Reich zu vernichten wissen, auch wenn er sich im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeitsurkunde sicher glaubt.«400 Forster hatte bereits im Mai 1940 seine Absicht erklärt, nach der Erfassung der »volksdeutschen« Bevölkerung in einer zweiten Phase 1941 die »stammesdeutschen« Einwohner der Provinz zu registrieren. Dass er diese Ankündigung mit dem Wiedereindeutschungserlass vom 14. Dezember 1940 tatsächlich umsetzte, erscheint auf den ersten Blick dennoch bemerkenswert, denn die Bestrebungen von Reichsinnenministerium und SS-Komplex, eine reichseinheitliche Regelung für die weitere Germanisierungspolitik auszuarbeiten, waren weit vorangeschritten und bereits im Oktober 1940 in ein Erlasspaket gemündet, an dessen Beratung nicht zuletzt auch die betreffenden Beamten Forsters beteiligt worden waren. Vielleicht war es aber gerade dieses Wissen um den Verhandlungsprozess in Berlin, das Forster erneut vorpreschen ließ. Aus seiner Sicht war diese Entwicklung schließlich keineswegs positiv, hatte das Reichsinnenministerium doch nicht nur die Prärogative der Dienststellen des Staates gegenüber denen der Partei festgeschrieben und damit den Kurs in der Auseinandersetzung um den Regierungspräsidenten in Bromberg bestätigt, sondern sich auch mit einer von Himmler geforderten exklusiveren Selektionspolitik einverstanden 400 Ebenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. 338 erklärt, die vor allem auch rassische Kriterien stärker als bisher berücksichtigte. Mit Forsters eigenen Vorstellungen hatte dies nicht mehr viel zu tun: nämlich einem von den Parteidienststellen durchgeführten und vor allem an pragmatischen Kriterien ausgerichteten Selektionsprozess. Mit seinem Konfrontationskurs und der beabsichtigten Aufnahme von 30000 Familien hoffte er, frühzeitig Tatsachen zu schaffen, hinter die auch die zu erwartende reichseinheitliche Regelung nicht mehr zurückkonnte. »Polenliste« in Oberschlesien Angesichts der fortgesetzten eigenmächtigen Aktionen der Provinzchefs Forster und Greiser läge die Vermutung nahe, dass der SSKomplex und vor allem das Reichsinnenministerium weiter unter Druck gerieten, die reichseinheitliche Regelung so schnell wie möglich zu verabschieden. Die Herausgabe verzögerte sich jedoch weiter – zum einen, weil sich die Partei mit ihren Forderungen nicht ausreichend berücksichtigt fühlte, zum anderen aber auch, weil das Reichsinnenministerium die Regelung der Staatsangehörigkeit in den annektierten Gebieten in eine allgemeine Neuregelung der deutschen Staatsangehörigkeit einbetten wollte. Im Gegensatz zu Forster und Greiser hatte sich Bracht mit eigenmächtigen Aktionen zunächst noch zurückgehalten. Im Januar 1941 war es dann auch mit seiner Geduld vorbei. In einem Schreiben an die Spitzen von Staat und Partei der Provinz wies er auf die Missstände hin, die sich daraus ergeben hätten, dass eine »gründliche, eindeutige Aussonderung und Klärung der Bevölkerungsverhältnisse […] bisher nicht erfolgt« sei. So komme es »nach wie vor bei der […] Entscheidung zahlloser Fälle hinsichtlich der Volkstumszugehörigkeit zu Fehlentscheidungen«, die für die Betroffenen fatale Konsequenzen in allen Lebensbereichen hätten, von der »Zuerkennung von Kinderbeihilfen« bis zur »Beschlagnahme«.401 Ein »beson401 Undatiertes Schreiben Brachts an HSSPF und Oberpräsidenten in Breslau, Regierungspräsidenten, Gauleitung etc., APK 119/10702, Bl. 74–76. Das Schreiben begleitete die beiliegende Allgemeine Anordnung 1/41 des Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums in Schlesien, musste also aus dem Jahre 1941 stammen. Da Bracht aber noch als stellvertretender Gauleiter zeichnete, Ende Januar 1941 nach der offiziellen Teilung der Provinz aber auch offiziell Gauleiter und Oberpräsident von Oberschlesien wurde, muss das Schreiben noch im Januar 1941 versandt worden sein. 339 deres Ausleseverfahren« sollte zumindest bis zur Veröffentlichung des Entwurfs durch das Reichsinnenministerium Abhilfe schaffen.402 Diese Aufgeschlossenheit für die Leiden der einheimischen Bevölkerung hatte natürlich pragmatische Gründe. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung um die Beschäftigten der Reichsbahn, die die Reichsbahndirektion in Oppeln angestoßen hatte. Wie der Regierungspräsident in Liegnitz, Friedrich Bachmann, der in Breslau kommissarisch die Geschäfte des Oberpräsidenten wahrnahm, dem Reichsinnenministerium am 29. Januar 1941 berichtete, habe die Reichsbahn in Oppeln 20000 Eisenbahner übernommen, von denen bisher nur 69 die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen worden seien. Alle anderen waren seither gezwungen, unabhängig von ihrer Stellung für den Lohn eines Hilfsarbeiters zu arbeiten – die Stimmung war dementsprechend »schlecht«.403 Nachdem die Reichsbahndirektion in Oppeln bereits zwei Tage vorher 17 Beschäftigte genannt hatte, über deren Volkstumszugehörigkeit vordringlich entschieden werden sollte,404 wurden nun weitere 605 Personen nachgereicht. Bachmann war freilich klar, dass damit das grundsätzliche Problem nicht behoben war, und bat deshalb zum wiederholten Mal um den »Erlaß der Richtlinien über den Erwerb der Volks- und Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten«.405 Wollte Bracht nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Provinz infrage und die Bereitschaft zumindest des wirtschaftlich notwendigen Teils ihrer Bewohner zur Integration in die deutsche Besatzungsherrschaft weiter auf die Probe stellen, durfte er die immer wieder hinausgezögerte Entscheidung des Reichsinnenministeriums nicht länger abwarten. Dem bisherigen Verfahren entsprechend, das bekanntlich eine Differenz zwischen der Bevölkerung östlich und westlich der Polizeigrenze behauptete, entschied sich die Zivilverwaltung im Westen nicht etwa für die Einrichtung einer Deutschen Volksliste, sondern für ein deutlich zeitsparenderes VerUndatiertes Schreiben Brachts an HSSPF und Oberpräsidenten in Breslau, Regierungspräsidenten, Gauleitung etc., vermutlich Januar 1941, APK 119/10702, Bl. 74–76. 403 Bachmann an Reichsinnenministerium, 29. Januar 1941, APK 119/10687, Bl. 14. 404 Reichsbahndirektion Oppeln an Regierungspräsidium in Kattowitz, 27. Januar 1941, APK 119/10687, Bl. 12. 405 Bachmann an Reichsinnenministerium, 29. Januar 1941, APK 119/10687, Bl. 14. 402 340 fahren: Da die Bewohner im Westen ohnehin in der Mehrzahl als Deutsche galten, sollten hier lediglich die Nichtdeutschen in einer sogenannten Polenliste erfasst werden, während umgekehrt im Osten eine Deutschenliste einzurichten war. Schlechtergestellt als alle anderen blieben wiederum lediglich die Juden, für die im Grenzstreifen SS-Oberführer Albrecht Schmelt als Beauftragter Himmlers für den fremdvölkischen Arbeitseinsatz zuständig war.406 Überliefert sind nur die Selektionskriterien zur Polenliste, an deren Zielrichtung Bracht in den Durchführungsbestimmungen keinen Zweifel ließ: »Bis zur Einführung der Deutschen Volksliste ist eine Aussonderung der Bevölkerung der eingegliederten Gebiete Schlesiens notwendig, um eine Gleichstellung aller Einwohner, soweit sie nicht Polen oder Fremdstämmige sind, mit den Reichsbürgern des deutschen Reiches in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu erreichen.«407 Diese herrschaftsrationale Motivation dominierte dann auch die Kriterien. Von »rassischer Eignung« war hier ebenso wenig die Rede wie – und dies war selbst für bekennende Pragmatiker in der Volkstumspolitik ein Novum – von »deutscher Abstammung«. Positive Kriterien wurden überhaupt nicht genannt, »Polen« war in diesem Verständnis schlicht jene, die nicht als Einheimische und als politisch unzuverlässig oder sozioökonomisch unerwünscht galten, sich bei der Volkszählung als Polen bezeichnet, höhere Funktionen in polnischen wirtschaftlichen oder politischen Verbänden und Parteien bekleidet hatten oder aber »Kriminelle und Asoziale aus der volkstumsmäßig noch nicht geklärten Schicht der Bevölkerung« waren.408 Wie Forster übertrug auch Bracht das Verfahren der Partei: Die Ortsgruppenleiter hatten an alle aus ihrer Sicht geeigneten PersoZu der in dem besetzten Polen einzigartigen Dienststelle Schmelts siehe Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, S. 138–153. 407 Undatierte allgemeine Anordnung 1/41 Brachts, vermutlich Ende Januar, APK 117/116, Bl. 104–106. Bemerkenswert ist, dass Bracht diese Anordnung in seiner Funktion als RKF-Beauftragter unterzeichnete. Dies könnte daran gelegen haben, dass er zu diesem Zeitpunkt formell noch immer lediglich stellvertretender Gauleiter war, also keine Alternative hatte, auf seine bereits vor einigen Monaten erfolgte Beauftragung durch Himmler zurückzugreifen. 408 Ebenda. 406 341 nen – und zwar »ohne Rücksicht auf den Besitz eines Staatsangehörigkeitsausweises oder eines Wehrpasses« – Fragebögen auszugeben, auszuwerten und auf dieser Grundlage ein »politisches Führungszeugnis mit eingehender Begründung« zu verfassen. Die Unterlagen waren schließlich einem Prüfungsausschuss auf Kreisebene zuzuleiten, der unter Vorsitz des Kreisleiters tagte. Der Abstimmungsmodus war in Oberschlesien kompliziert, da er einerseits eine »Stimmenmehrheit« forderte, andererseits aber jeden Fall, in dem keine Einstimmigkeit erreicht werden konnte, automatisch zur »Bestätigung oder Abänderung dem Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums« zuwies. Dort sollte ein Beschwerdeausschuss eingerichtet werden, dem unter Vorsitz von Himmlers Beauftragtem, also Bracht selbst, oder aber des Leiters der RKF-Zweigstelle Fritz Arlt noch jeweils ein Vertreter der Gauleitung und des Regierungspräsidenten, die Leiter der Gestapo in Kattowitz und der Abteilung Menschenerfassung bei der RKFZweigstelle angehörten. Die Entscheidung fiel wiederum »mit Stimmenmehrheit und abschließend«.409 Erstaunlich ist die Abweichung vom »Führerprinzip«. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass dem SS-Komplex damit erstmals ein Einbruch in diese bisher von den Dienststellen von Partei und Staat dominierten Selektionsprozesse gelungen war, der weit über die vom Reichsinnenministerium eingeräumten Beteiligungsmöglichkeiten hinausging. Während Greifelt nur wenige Monate vorher mit ähnlichen Planungen bereits in Ansätzen an Greisers entschiedenem Widerstand gescheitert war, konnten sie Bracht gegenüber ohne größere Auseinandersetzungen durchgesetzt werden. Offensichtlich war dies der Preis, den der noch nicht fest im neuen Amt sitzende Bracht durch seine Anlehnung an Himmler zu entrichten hatte. Die Freude aufseiten des SS-Komplexes sollte aber nicht lange währen: Wahrscheinlich noch bevor die Erfassungen begannen, versandte Frick die reichseinheitlichen Regelungen und machte damit die Polenliste überflüssig.410 Ebenda. Dem Prüfungsausschuss gehörten unter anderem noch der Landrat an, je ein Vertreter der lokalen RKF-Außenstelle und des SD sowie zwei lokale »Volksdeutsche«. Mit Ausnahme des Vertreters der RKF-Außenstelle hatte sich Bracht hier am Entwurf des Reichsinnenministeriums orientiert. 410 Springorum an Landräte, Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten, 10. April 1941, APK 117/116, Bl. 102. 409 342 Arbeitseinsatz: Bevölkerungspolitik als Ausbeutungs- und Assimilationspolitik Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich Der Überfall auf die Sowjetunion markierte den entscheidenden Bruch in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die rasche Mobilisierung auch der letzten personellen und materiellen Reserven des Deutschen Reiches sollte alle Politikfelder in Mitleidenschaft ziehen und zunehmend der Logik dieses Krieges unterwerfen. Ich werde im Folgenden zeigen, dass dies auch für die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik in Polen galt. Hatten bereits die Kriegsvorbereitungen den dritten Nahplan faktisch kollabieren lassen, führte die Belegung der Schienenwege durch die Wehrmacht ab März 1941 auch das praktische Ende der Deportationen ins Generalgouvernement herbei. Den Verantwortlichen erschien der Deportationsstopp zunächst lediglich als ein – weiterer – Engpass, keinesfalls aber als Anfang vom Ende der bisherigen Deportationspolitik, war diese doch neben der Ansiedlung ethnischer Deutscher und der Assimilation von Teilen der einheimischen Bevölkerung der zentrale Pfeiler der Germanisierungspolitik. Um die Jahreswende 1941/42 war klar, dass diese Einschätzung falsch war. Die herrschaftsfunktionalen Erfordernisse des Krieges gegen die Sowjetunion führten sehr bald zu einer radikalen Neuausrichtung auch dieses Politikfeldes und verwandelten die Deportationen von einem Instrument der Germanisierungs- in ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Die deutschen Besatzer hörten nicht auf, Polen aus ihrer Heimat zu vertreiben – allerdings nicht mehr ostwärts, ins Generalgouvernement, sondern westwärts, zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich. Diese Konstellation sollte sich bis zur deutschen Kapitulation nicht ändern. Die Germanisierungs- und allgemeiner noch die Bevölkerungspolitik in den annektierten Provinzen blieb eine abhängige Variable der unmittelbaren Erfordernisse, die der Krieg an das Deutsche Reich stellte. 343 Scheitern der rassischen Musterungen Die Vorbereitungen auf den Überfall auf die Sowjetunion zwangen die Umwandererzentralstellen auch ein Pilotprojekt einzustellen, das nicht nur den Einfluss des SS-Apparats auf ein weiteres Politikfeld ausgedehnt hatte, sondern auch die Praxistauglichkeit einer an rassischen Dystopievorstellungen ausgerichteten Politik zu beweisen schien: die rassische Selektion der ins Deutsche Reich zu verschleppenden Arbeitskräfte. Wie gezeigt, hatte die Umwandererzentralstelle mit Einsetzen des zweiten Nahplans versucht, die Vermittlung der Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich mit dem Argument zu monopolisieren, dass nur solche Personen infrage kämen, die entweder als »Wiedereindeutschungsfähige« dort auf Dauer angesiedelt würden oder aber als »rassisch unbedenkliche«, ledige »Wanderarbeiter« vorübergehend zum Einsatz kämen. Da die SS-Eignungsprüfer aber in der Regel nicht mehr als 10 Prozent für die Zwangsarbeit im Reich freigaben, schränkten sie den Zugriff auf die dringend benötigten Arbeitskräfte künstlich ein. Görings Anweisung vom 29. Januar 1941, bei der Arbeitsmarktpolitik künftig »bevölkerungs- und rassenpolitische Bedenken […] in den Hintergrund« zu rücken1 und die kurz darauf ergangene Anforderung an die Besatzungsverwaltungen in den annektierten Gebieten, dem Deutschen Reich binnen kurzer Zeit weitere 250000 Landarbeiter zur Verfügung zu stellen,2 ließ auch das rassische Selektionsverfahren kollabieren. Krumey räumte am 25. September 1941 Ehlich gegenüber ein, dass die bisherige Praxis gescheitert sei. Als Alternative schlug er vor, entweder die rassischen Musterungen aufzugeben und in Zukunft auch ganze Familien ins Deutsche Reich zu verschleppen, die eigentlich für das Generalgouvernement bestimmt waren. Oder es würde mit der Verschleppung der bereits in die Abteilungen C und D der Deutschen Volksliste aufgenommenen Personen, also der sogenannten polonisierten Deutschen und ReneReichsinnenministerium, gez. i. A. Jacobi, an RSHA, LAB B Rep. 057–01/ 448, A 26 (2). Heydrich stand auch ein Jahr später auf verlorenem Posten, als er in der Diskussion um den massenhaften Zwangseinsatz auch sowjetischer Bürger mahnte, allen Versuchen entgegenzutreten, »die rassische und Volkstumsfrage für die Nachkriegszeit zurückzustellen«, zit. n. Herbert, »Arbeit und Vernichtung«, S. 398. 2 Höppner an RSHA III B, 13. März 1941, BAK R 75/3b, Bl. 94f., abgedruckt in: Datner u.a., Wysiedlanie ludności, S. 136f. 1 344 gaten, begonnen. Zwar hatte Himmler genau das im Volkstumserlass vom September 1941 gefordert, durchsetzbar war dies jedoch nicht. In der Vergangenheit hatten die Gauleiter noch jedes Mal, wenn die Planungen dazu etwas konkreter zu werden drohten, auf die große Unruhe verwiesen, die eine solche Aktion unter der einheimischen Bevölkerung auslösen müsste, und außerdem ihre Zusage explizit an die Bedingung geknüpft, dass diese Verschleppung nur in Form eines Bevölkerungsaustauschs infrage käme.3 Für die Umwandererzentralstelle in Posen trat der Ernstfall schließlich mit einer kurz darauf aus dem Reicharbeitsministerium eingehenden Anforderung ein, kurzfristig 4000 Arbeitskräfte zu rekrutieren. Als Höppner den Leiter der Abteilung Arbeit in der Reichsstatthalterei, Kendzia, wissen ließ, dass »polnische Familien als P-Polen zum Arbeitseinsatz nur über Litzmannstadt gehen dürfen«, und von diesem erfuhr, dass das Reichsarbeitsministerium von dieser Regelung angeblich gar nichts wisse,4 gab er Ehlichs Mitarbeiter Bruno Müller zu verstehen, dass dieser Standpunkt wohl nicht länger durchzuhalten sei.5 Einzelne Arbeitsämter hätten bereits damit begonnen, Zwangsarbeiter direkt ins Deutsche Reich zu vermitteln, während die Umwandererzentralstelle nicht in der Lage sei, die geforderten 4000 Zwangsarbeiter zu stellen. Ende März äußerte sich das Reichssicherheitshauptamt eindeutig und wies Höppner an, in Zukunft auch Verschleppungen durch die Arbeitsämter zuzulassen.6 Allerdings solle die Umwandererzentralstelle zumindest darauf drängen, eine Übersicht über diese Menschen zu erhalten, sodass diese erfasst und nach Beendigung ihres Arbeitseinsatzes ins Generalgouvernement abgeschoben werden könnten. Höppner übernahm es auch, den wartheländischen SS-Apparat auf diesen Kurs einzuschwören. Notwendig schien dies vor allem bei der Außen- Da sich genau dies aber nicht abzeichnete, hatten die Zivilverwaltungen in einer Besprechung im Reichsinnenministerium am 16./17. Mai 1941 einen neuen Kurs durchgesetzt. Wegen der vorgebrachten Einwände sei »abgegangen [worden] von der bisherigen Entscheidung des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, wonach die Verpflanzung dieses Personenkreises ins Altreich erfolgen soll« (Bracht an die DVL-Bezirksstellen, 26. Mai 1941, APL 176/387, Bl. 118f. 4 Vermerk Höppner, 28. März 1941, AGK 68/146, Bl. 47. 5 Höppner an Müller, 27. März 1941, AGK 68/146, Bl. 42f. 6 Müller an Höppner, 31. März 1941, AGK 68/146, Bl. 50. 3 345 stelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Litzmannstadt.7 Eben noch selbst ein Verfechter der rassischen Musterungen, mahnte er nun die Einhaltung der neuen Regelung an. Diese möge »von jedem aus rassischen und Volkstums-Gründen bedauert werden«, müsse aber »bei der jetzigen Notlage des Reiches hinsichtlich des Mangels an Arbeitskräften einfach hingenommen werden«.8 Die Zwangsarbeiteranforderungen des Deutschen Reiches wurden dann auch auf anderem Wege erfüllt. In einer eiligst angeordneten sogenannten Auskämm-Aktion forderte Kendzia die Kreisbauernschaften auf, zunächst die angeblich überflüssigen polnischen Arbeitskräfte auf allen Bauernhöfen über 25 Hektar anzugeben. Sie sollten im April 1941 verhaftet werden. Anschließend würden auch alle kleineren Betriebe durchforstet. Erstmalig sollten dabei nicht mehr nur Ledige, sondern auch »brauchbare Familien« zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt werden – wobei sich »brauchbar« hier nicht mehr auf die »rassische Eignung«, sondern allein auf die Arbeitstauglichkeit der Betroffenen bezog.9 Damit war ein Projekt fehlgeschlagen, dem der SS-Apparat eine Signalwirkung zugeschrieben hatte. Verheerend war dabei nicht allein, dass damit der Versuch gescheitert war, den eigenen Einfluss auf ein so wichtiges Feld wie die Arbeitskräftevermittlung auszudehnen. Es war auch nicht gelungen, die Tauglichkeit einer »Lebensraum«-Planung unter Beweis zu stellen, die mit rassischen Kriterien operierte. Am Anfang hatte die Erkenntnis gestanden, dass die aus kriegswirtschaftlichen Gründen notwendig gewordene systematische Verschleppung von ausländischen Zwangsarbeitern die politischen Akteure in einen eklatanten Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie bringen würde. Und tatsächlich kam es in den folgenden Monaten vor allem in der Partei zu wiederholten Protesten. Rassische Musterungen mussten dem SS-Apparat deshalb als Allheilmittel erscheinen, versprachen sie doch, die sich immer weiter öffnende Kluft zwischen ideologischer Programmatik und politischer Praxis zu schließen und gleichzeitig den politischen AktionsSo etwa der SS-Arbeitsstab Gräz, siehe Höppner an den Chef des Ansiedlungsstabes Posen, SS-Sturmbannführer Dr. Peter Carsten, 4. April 1941, AGK 68/259, Bl. 44f. 8 Höppner an RuSHA-Außenstelle, 30. Mai 1941, AGK 68/146, Bl. 59f. 9 Kendzia an Landesbauernführer und Ostland, 2. April 1941, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 243f. 7 346 radius auszudehnen. Der deutschen Wirtschaft verhieß die Einführung der rassischen Musterungen eine wie auch immer eingeschränkte Fortsetzung der Rekrutierungspolitik, während sie gleichzeitig den lautstark verkündeten ideologischen Bedenken nationalsozialistischer Hardliner Rechnung trug. Natürlich hegte auch das Reichssicherheitshauptamt weitgespannte Erwartungen: Mit den rassischen Selektionen glaubte man zum einen, das mit der Deportation einer großen Anzahl von Zwangsarbeitern notwendigerweise entstehende Sicherheitsproblem im Deutschen Reich entschärfen zu können, weil rassisch positiv gemusterte Personen angeblich ein geringeres Gefährdungspotential darstellten. Zum anderen könne damit – so die Formulierung Ehlichs im Fernplan – eine »Schwächung des Polentums« vorangetrieben werden, da der Bevölkerung doch »in erster Linie […] rassisch gute[n] Polen« entzogen würden.10 Die erzwungene Aufgabe der rassischen Musterungen stellte vor diesem Hintergrund eine schwere Niederlage dar und drohte die propagierte Vorstellung von einer rassischen »Lebensraum«-Politik als Ganzes zu affizieren. Wie gezeigt, war die SS bereits unmittelbar nach dem Sieg über Polen damit gescheitert, die Forderung nach einer baldigen rassischen Musterung der gesamten polnischen Bevölkerung durchzusetzen. Stattdessen hatte man sich mit dem Minimalprogramm der rassischen Selektion der in das Deutsche Reich zu deportierenden Personen begnügen müssen. Und nach nicht einmal einem Jahr brachte der von der nationalsozialistischen Führungsspitze immer weiter radikalisierte Krieg den SS-Komplex sogar um diesen Teilerfolg. Für den weiteren Verlauf der SS-Germanisierungspolitik in den annektierten Ostgebieten sollte sich diese Niederlage als richtungsweisend herausstellen; sie wiederholte sich auf benachbarten Politikfeldern, etwa beim Versuch, die Angehörigen der Deutschen Volksliste einer rassischen Musterung zu unterwerfen. Auch hier sollten sich die Vertreter eines pragmatischeren Kurses durchsetzen. Die Umsetzung rassisch begründeter Dystopieentwürfe in politische Praxis stieß – das mussten die SS-Ethnokraten erkennen – immer dann auf zähen politischen Widerstand, wenn sie sich für das Herrschaftssystem als dysfunktional erwiesen, also die Funktionsweise von für das Regime überlebenswichtigen Politikfeldern bedrohten. 10 »Fernplan der Umsiedlung in den Ostprovinzen«, wahrscheinlich von Ende November 1939, BArch R 69/1146, Bl. 1–13. 347 Dritter Nahplan, zweiter Teil: Kompromissversuche Der erzwungene Deportationsstopp hatte den Vertreibungen nicht generell ein Ende gesetzt, waren doch zunächst lediglich die Deportationen in Richtung Osten verboten worden. Die Verschleppung von polnischen Zwangsarbeitern ging mit der sogenannten Auskämm-Aktion vom April sogar in verstärktem Maße weiter – nur wurden diese Menschen westwärts ins Deutsche Reich verschleppt. Der kausale Nexus zwischen Bevölkerungspolitik und Germanisierungspolitik zerriss, die Bevölkerungspolitik musste sich der wirtschaftlichen Logik eines Landes im Krieg unterordnen. Wie unter diesen Bedingungen die weitere Ansiedlung der ethnischen Deutschen aus Osteuropa zu gewährleisten war, sollte auf einer Konferenz am 19. März 1941 entschieden werden, zu der Greifelt eilends nach Berlin geladen hatte. Nach wie vor galt es vor allem, die ethnischen Deutschen aus den Umsiedlerlagern heraus- und in eigene Wohnungen hineinzubringen – dabei waren jedoch verstärkt die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft im Blick zu behalten. Im Kern legte Greifelt die Teilnehmer auf zwei Strategien fest. Erstens galt es die Anzahl derjenigen ethnischen Deutschen zu reduzieren, die sich noch in Lagern im Deutschen Reich befanden, aber für die annektierten Ostprovinzen bestimmt waren. Momentan war ihr Transport dorthin ohnehin nicht möglich, da das Reichsverkehrsministerium der SS auch dafür das Zugmaterial gesperrt hatte. Deshalb sollten jetzt nicht mehr nur die Personen im Deutschen Reich in Arbeit vermittelt werden, die von der Einwandererzentralstelle einen A-Bescheid erhalten hatten und also für die Ansiedlung in den Ostgebieten als untauglich galten. Das Gleiche sollte nun auch für die Personen gelten, die einen O-Bescheid erhalten, also eigentlich in den annektierten Gebieten angesiedelt werden sollten – Wirtschaftspolitik ging vor Germanisierungspolitik.11 Zweitens versuchte Greifelt die noch bestehenden Bestimmungen, die die Ansiedlung der ethnischen Deutschen in den Ostprovinzen einschränkten, zu lockern oder ganz abzuschaffen. Nachdem bereits in allen Provinzen 11 Unsignierter Aktenvermerk des SS-Ansiedlungsstabes Süd in Oberschlesien, 21. März 1941, BAB R 49 II/26, Bl. 108. Für das Dokument danke ich Götz Aly. Einen Tag später ordnete Himmler dann auch die Arbeitspflicht für alle in den Lagern im Deutschen Reich einsitzenden ethnischen Deutschen bis zum Zeitpunkt ihrer Überführung in die annektierten Ostprovinzen an, 20. März 1941, APL 205/2, Bl. 39–41. 348 die Siedlungszone erster Ordnung für nichtig erklärt worden war, wurde nun die Regelung gelockert, wonach 60 Prozent der vorhandenen Siedlungsfläche für die Ansiedlung von Soldaten nach dem Sieg zu reservieren sei. Zudem sollten die Umsiedler deutlich weniger Land erhalten, sodass die noch verfügbaren Flächen für eine größere Anzahl von Ansiedlern ausreichen würden. Die alles beherrschende Frage war aber eine andere: Was passierte mit der zu vertreibenden polnischen Bevölkerung? Auch dafür hatte Greifelt Antworten parat: Diese Menschen sollten entweder zu anderen Polen innerhalb der Provinz – so der neue Terminus – »verdrängt«, in »Polenlagern« inhaftiert oder aber als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt werden.12 In den Provinzen wurde Greifelts Schwerpunktsetzung unterstützt. In Oberschlesien war man einige Tage vor der Besprechung in Berlin zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Arlt plädierte zwar für die Entfernung von »Juden und nicht arbeitsfähigen Ballastexistenzen«, war aber darauf bedacht, durch deren Vertreibung nicht auch den Zugriff auf unentbehrliche Arbeitskräfte zu verlieren. Zu diesem Zweck schlug er überall dort die Einrichtung von »fremdvölkische[n] Reservate[n] […] im Umkreis der geplanten IndustrieStandorte« vor, wo momentan noch nicht auf polnische Arbeiter verzichtet werden konnte.13 Dies galt in besonderem Maße für das Gebiet um Auschwitz, das die Besatzer zu einem industriellen Zentrum ausbauten.14 Die beiden anderen Provinzen zogen mit ähnlichen Überlegungen nach. Der Höhere SS- und Polizeiführer in Posen hatte am 27. März 1941 ebenfalls befohlen, die Ansiedlung der ethnischen Deutschen unter allen Umständen fortzusetzen. Arbeitsfähige Polen waren sofort ins Deutsche Reich abzuschieben, während alle anderen in die Lager der Umwandererzentralstelle zu überstellen waren.15 Einen weitaus größeren Organisationsaufwand bedeutete Greifelt betr. Besprechung am 19. März 1941 an die Beauftragten RKF in den annektierten Ostprovinzen, 26. März 1941, BArch R 75/2, Bl. 12–14. 13 Vermerk Arlt an SS-Ansiedlungsstab Süd, 14. März 1941, BArch R 49/26, Bl. 78–81. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 14 Vermerk Lagerkommandant Auschwitz, 13. März 1941, BStU PA/770, Bl. 152–156, sowie Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, insbesondere S. 178–194 u. 205–252. 15 Anordnung Krumeys an die UWZ-Dienststellen, 31. März 1941, APP 834/2, Bl. 10. 12 349 die Umstellung hingegen für die Deportationsbehörden in DanzigWestpreußen. Während enteignete Bauern entweder als Knechte »deutschen« Bauernhöfen zugeteilt oder als Deputanten auf Güter in den vormals ostpreußischen Gebieten der Provinz verschleppt wurden, drohte den enteigneten Familien in den Städten die gewaltsame Trennung. Da die Umwandererzentralstelle in Danzig-Westpreußen über kein ähnlich ausgedehntes Lagersystem wie das Wartheland verfügte, sollten die Familien auseinandergerissen, Frauen und Kinder in die Wohnungen anderer polnischer Familien einquartiert und die arbeitsfähigen Männer im Arbeitslager Thorn inhaftiert werden. Der größte Teil des ohnehin geringen Lohnes sollte dabei nicht ihnen, sondern direkt ihren Familien ausgezahlt werden, sodass diese nicht der deutschen Fürsorge zur Last fielen.16 Die Vertreibungen – oder im Jargon der Täter: Verdrängungen – zur Unterbringung der ethnischen Deutschen aus der Bukowina und Bessarabien setzten in allen Provinzen Ende Mai 1941 ein. Im Wartheland war es vorher noch zu einer Auseinandersetzung zwischen Greiser und den zuständigen SS-Dienststellen gekommen, die symptomatisch für den Entwicklungsstand der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik in Polen war. Nach Abschluss der Auskämm-Aktion vom April 1941 war Greiser offensichtlich entschlossen, unter keinen Umständen zusätzliche polnische Arbeitskräfte zu verlieren, und verbot am 10. Mai 1941 jede weitere Entfernung von arbeitsfähigen Polen aus dem Wartheland.17 Die Zivilverwaltung des Warthelandes, also der Provinz, die bis zu diesem Zeitpunkt den Schwerpunkt der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik darstellte, hatte damit eine paradigmatische Wende vollzogen: Im Dilemma, sich zwischen beschleunigter Germanisierung und Sicherung der einheimischen Wirtschaftskraft entscheiden zu müssen, hatte Greiser für Letzteres votiert. Für den SS-Apparat bedeutete dies die Komplikation einer ohnehin schwierigen Situation. Hatte man noch gehofft, einen Teil der von ihrem Besitz vertriebenen Personen nach dem Stopp der Deportationen ins Generalgouvernement zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppen zu können, erzwang Greiser ein Umdenken. Die SS-Arbeitsstäbe konnten sich fortan nicht mehr darauf beNiederschrift Abromeit über Besprechung beim HSSPF am 21. März 1941, 22. März 1941, BArch R 75/13, ohne Seitenangabe. 17 Siegmund an Koppe, Geheim, 10. Mai 1941, APP 834/2, Bl. 36. 16 350 schränken, Listen mit den Familien an die Umwandererzentralstelle zu übergeben, deren Unterkünfte für die Ansiedlung der ethnischen Deutschen gebraucht wurden. Nach Greisers Verbot nahm die Umwandererzentralstelle diese Listen erst dann an, wenn die SS-Arbeitsstäbe auch gleichzeitig für jede Familie eine Ausweichmöglichkeit in der näheren Umgebung genannt hatte, damit die Arbeitskraft der einheimischen Wirtschaft erhalten blieb. Erst dann konnte die Umwandererzentralstelle überprüfen, ob die betreffenden Familien überhaupt vertrieben werden durften, und die Vertreibungen organisieren. Die angewandten Kriterien hatten sich im Vergleich zu den Deportationen im Februar und März desselben Jahres nicht grundlegend verändert und zielten nach wie vor auf Personen, deren Wohnungen oder Bauernhöfe für die ethnischen Deutschen gebraucht werden konnten, sofern sie nicht Verwandte im Deutschen Reich oder bei der Wehrmacht hatten, »deutschstämmig« oder aber wirtschaftlich unersetzbar waren.18 Die Kriterien scheinen sich aber auch hier gelockert zu haben: Unter dem stetig wachsenden Druck, die in den Lagern einsitzenden ethnischen Deutschen unterzubringen, forderten die SS-Arbeitsstäbe die erneute Überprüfung von Familien, deren Deportation bereits abgelehnt worden war. Schließlich würden damit – so der Leiter der UWZ-Außenstelle Kolmar, NSKK-Oberscharführer Heinz Hochland19 – mehr Höfe für die Ansiedlung von ethnischen Deutschen aus Bessarabien »freikommen«.20 Neben der Genehmigung der eingereichten Vertreibungslisten oblag der Umwandererzentralstelle aber nach wie vor die Organisation des gesamten Ablaufs, also die Anforderung des Polizeiaufgebots, der notwendigen Transportmittel und auch die Ermöglichung der Selektion durch das Rasse- und Siedlungshauptamt und das Arbeitsamt. Die SS-Eignungsprüfer hatten sich jetzt jedoch auf die sogenannte Grobauslese der »Wiedereindeutschungsfähigen« zu beschränken. Für die Auswahl der Arbeitsfähigen (und zwar auch für jene, die ins Deutsche Reich zu verschleppen waren) waren nun ausschließlich die Vertreter des Arbeitsamtes zuständig. Siehe die undatierte Richtlinien Eichmanns, vermutlich knapp vor dem 1. Februar 1941, AGK 69/1, Bl. 38–41. 19 UWZ-Personalakte unter AGK 358/31. 20 Hochland an UWZ Litzmannstadt, 20. Oktober 1941, APP 834/2, Bl. 184. 18 351 Wie bereits angesprochen, hatte das Verbot von Deportationen auch Auswirkungen auf die Selektionskriterien der Umwandererzentralstellen. Durch den mit jeder weiteren Ansiedlungswelle wachsenden Mangel an Unterkünften wurden plötzlich auch Personen von den Vertreibungen erfasst, die bei früheren Überprüfungen unter anderem als »Deutschstämmige« ausgenommen worden waren. Eine mögliche Lösung hatte Krumey bereits im März 1941 vorgeschlagen, als er die Einrichtung eines riesigen »Polenreservates« ansprach, das als alternativer Abschiebeort zum Generalgouvernement dienen sollte.21 Im Mai erinnerte man sich in der Reichsstatthalterei an diesen Vorschlag und forderte die SS-Ansiedlungsstäbe auf, ein geschlossenes Gebiet zur »Schaffung von sogenannten Polenreservaten« ausfindig zu machen.22 In Bezug auf die christlichen Polen wurde diese Diskussion dann jedoch am 12. Mai 1941 mit der Favorisierung von Zwangseinquartierungen bei anderen polnischen Familien vorerst beendet. Sie ist jedoch aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Zum einen, weil sie – da der Deportationsstopp bis zum Kriegsende nicht aufgehoben wurde – im folgenden Jahr wieder aufgegriffen wurde und tatsächlich zur Einrichtung von »Polenreservaten« führte. Zum anderen aber, weil im Rahmen dieser Diskussion auch die Schaffung eines riesigen »Judenreservates« für 300000 jüdische Polen erörtert worden war. Höppners berüchtigtes Schreiben an Eichmann vom 16. Juli 1941, in dem er diesen über die in der Reichsstatthalterei erwogene Möglichkeit informierte, als »humanste Lösung« zumindest einen Teil der jüdischen Bevölkerung vor Wintereinbruch »durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen«, steht in diesem Zusammenhang.23 Die SS-Arbeitsstäbe entschieden sich angesichts des Deportationsverbots oftmals für eine andere Lösung und vertrieben unerwünschte Personen in »wilden Aktionen« einfach aus ihren Häusern.24 Dies sorgte für einen permanenten Konflikt zwischen den beteiligten deutschen Stellen, zumal immer wieder der Vorwurf erhoben wurde, dass auch »Deutschstämmige« erfasst worden seien. Vermerk Krumey, 21. März 1941, AGK 68/146, Bl. 40f. Unsigniertes Schreiben der Reichsstatthalterei an die SS-Arbeitsstäbe mit der Aufforderung, ein geeignetes Gebiet für ein »Polenreservat« ausfindig zu machen, 2. Mai 1941, APP 834/2, Bl. 25. 23 Höppner an Eichmann, 16. Juli 1941, AGK NTN/36, Bl. 29–31. 24 Beispielhaft dazu Krumeys geheimer Lagebericht über den Zeitraum vom 6. Mai bis zum 30. Juni 1942, 30. Juni 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe. 21 22 352 Dieser Konflikt blieb keineswegs auf das Wartheland beschränkt. Zu ersten Auseinandersetzungen war es in Danzig-Westpreußen gekommen, wo sich der Landrat des Kreises Briesen beim vorgesetzten Regierungspräsidenten in Bromberg darüber beschwerte, dass die SS Personen verschleppt hatte, die er als Deutsche ansehe und in die Deutsche Volksliste eintragen wollte. Der Regierungspräsident fordert dann auch eine stärkere Mitbeteiligung und ein Vetorecht der Landräte bei der Erstellung der Deportationslisten.25 In Oberschlesien mündeten ähnliche Auseinandersetzungen in einen offenen Schlagabtausch, als die Landräte der Kreise Saybusch und Bilietz, also dem Schwerpunkt der Ansiedlungen, den zuständigen Organen der RKF-Zweigstelle »völlige[s] Versagen« vorwarfen. Dabei war die Lage offensichtlich so eskaliert, dass sich Brachts Stellvertreter, Vizeoberpräsident Dr. Hans Karl Faust, zum Eingreifen genötigt sah und vor Ort nach einer für beide Seiten akzeptable Arbeitsteilung rang.26 Im Wartheland wuchsen sich jedoch die Auseinandersetzungen zu einer täglichen Begleiterscheinung der Vertreibungen aus. Unter anderem für die Einhaltung der Selektionskriterien bei der Vertreibung der einheimischen Bevölkerung zuständig, sah sich die Umwandererzentralstelle auf lokaler Ebene oft mit einem Bündnis von SS-Arbeitsstäben und lokalen Machthabern konfrontiert, das mit durchaus unterschiedlichen Motiven die Vertreibung von einzelnen Familien betrieb.27 Ein erwartetes Veto, etwa weil befürchtet wurde, dass die betroffene Familie von der Umwandererzentralstelle als »deutschstämmig« betrachtet wurde, führte nicht selten zu einer eigenmächtigen Vertreibung. Die Chance, der Kontrolle der zuständigen UWZ-Außenstellen zu entgehen, war dabei äußerst groß, schließlich waren diese im Durchschnitt mit drei Mann besetzt und in der Regel für drei oder vier Kreise zuständig.28 Jastrz˛ebski, Potulice, S. 21f. Undatierter und unsignierter Vermerk des Volkstumsreferats über die Inspektionsreise am 12. November 1941, APK 117/140, Bl. 184f. 27 Unsignierter und undatierter Abschlussbericht, betr. Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Bessarabiendeutschen (3. NP) vom 21. 1. 1941 bis 20. 1. 42 im Wartheland, AGK NTN/13, Bl. 99–106, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 106–110. 28 Siehe UWZ Litzmannstadt, gez. i. A. SS-Oberscharführer Rudolf Bilharz, an den Leiter der UWZ-Außenstelle Gräz, SS-Hauptsturmbannführer Fritz Jobski, 8. Juli 1941, UWZ-Personalakte Jobski AGK 69/206. 25 26 353 Da sich Konflikte dieser Art mehrten, wurden sie auf die Tagesordnung einer Konferenz gesetzt, an der unter Koppes Leitung am 14. August 1941 in Schrimm der SS-Ansiedlungsstab Posen, seine Arbeitsstäbe sowie die Umwandererzentralstelle teilnahmen. Eine besondere Bedeutung kommt dieser Konferenz vor allem deshalb zu, weil die versammelten SS-Deportationsexperten hier auch über weitergehende Zielsetzungen der deutschen Bevölkerungspolitik informiert wurden. Der Leiter der UWZ-Außenstelle in Kolmar, Heinz Hochland, hielt die aktuellste Ausformung Berliner Planungseuphorie handschriftlich fest: Überschrieben mit »zukünftige Aufgaben«, wurde hier die Abschiebung der Polen aus dem Wartheland erwähnt, darüber hinaus jedoch auch die »Aussiedlung d. Polen aus Gen.Gouv., Nachsiedlung d. Deutschen« und die »Lösung der Judenfrage in Europa – UWZ, SS-Gruf. Heydrich« genannt.29 Damit waren die Versammelten auf dem neuesten Stand, hatte Heydrich sich doch erst am 31. Juli 1941 von Göring ermächtigen lassen, die »Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer […] Lösung zuzuführen« und in diesem Rahmen »alle erforderlichen Vorbereitungen […] für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa« zu treffen.30 Dass dies in Berlin tatsächlich als – wie Browning behauptet – »›Freibrief‹ für […] eine ›Machbarkeitsstudie‹ über den Massenmord an den europäischen Juden« betrachtet wurde, ist in der Tat nicht auszuschließen.31 Wahrscheinlicher ist aber, dass auch in Berlin die Begriffe »Auswanderung« und »Evakuierung« noch nicht zu Chiffren für den Massenmord mutiert waren. Hochland verstand diesen Passus jedenfalls eher als Ankündigung einer weiteren Deportationswelle, die auf seine Dienststelle zukam. Angesichts dieser megalomanischen Zielplanungen wundert es wenig, wenn Höppner und Krumey mit ihrem eigentlichen Anliegen, die SS-Arbeitsstäbe auf die Einhaltung der geltenden Richtlinien festzulegen, nicht wirklich erfolgreich waren. Koppe plagten Unsignierte und undatierte Notiz Hochlands, APP 834/2, Bl. 146. Göring an Heydrich, 31. Juli 1941, zit. n. Longerich, Politik der Vernichtung, S. 421. Eichmann bestätigte nach dem Krieg, dass das Schreiben im Reichssicherheitshauptamt verfasst worden war, siehe Longerich, Politik der Vernichtung, S. 696. 31 Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 456f. 29 30 354 sichtlich andere Sorgen. In seiner Perspektive lautete die alles entscheidende Frage wohl nicht, wie ungerechtfertigte Vertreibungen zu vermeiden waren, sondern wie diese überhaupt wieder aufgenommen werden konnten, um das bevölkerungspolitische Programm nicht völlig irreal erscheinen zu lassen. Die SS-Ansiedlungsstäbe dienten ihm hierbei als Druckmittel. Für Bestimmungen, die deren Tätigkeit einschränkten, hatte er wenig Verständnis. Dies umso weniger, als sich die Situation aus seiner Perspektive im September/Oktober 1941 dramatisch verschlechterte: Neben der Unterbringung der ca. 30000 ethnischen Deutschen aus Bessarabien und der Bukowina, die noch immer in Lagern einsaßen, entschied Hitler, nicht mehr auf das Kriegsende zu warten, sondern bereits jetzt einen Teil der Juden aus dem Deutschen Reich zu deportieren; 20000 sollten in das Ghetto in Litzmannstadt kommen. Und auch wenn ich, anders als Götz Aly, nicht glaube, dass die Deportation von jüdischen Deutschen und Österreichern unmittelbare Auswirkungen auf die Ansiedlungspolitik hatte, da sie ja im Ghetto keinen kostbaren Wohnraum beanspruchen würden, radikalisierte dieser – hier würde ich Aly zustimmen – »selbstgeschaffene[n] Druck« zweifellos direkt die regionale antijüdische Politik und führte zur Einrichtung des ersten deutschen Vernichtungslagers bei Kulmhof.32 Aus Koppes Sicht war vor diesem Hintergrund den SS-Ansiedlungsstäben ein möglichst weiter Spielraum einzuräumen: Auf einer Konferenz zur Ansiedlung der ethnischen Deutschen forderte er die versammelten Mitglieder der SS-Arbeitsstäbe auf, »wie der Hecht im Karpfenteich das ewig unruhige Element« zu sein und »alle Stellen, die mit der Ansiedlung zu tun haben, unter Druck [zu] halten«.33 Die mit der Ansiedlung der ethnischen Deutschen vor Ort betrauten RKF-Zweigstellen wussten sich also durchaus zu helfen, wenn sie sich im Wartheland mit stillschweigender Deckung Koppes über die rassischen Selektionskriterien der Umwandererzentralstelle hinwegsetzten oder in Danzig-Westpreußen Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben, die von den örtlichen Parteidienststellen eigentlich für die Aufnahme in die Deutsche Volksliste vorgesehen waren. Dass dies jedoch nur Pyrrhussiege sein konnten, darüber 32 33 Aly, »Endlösung«, S. 353. Krumey an UWZ-Außenstellen über Arbeitstagung der SS-Ansiedlungsstäbe am 2. Oktober 1942, 7. Oktober 1942, APP 834/2, Bl. 169–174. 355 schien man sich in der vorgesetzten Dienststelle in Berlin, die mittlerweile zum Stabshauptamt umgewandelt worden war, im Klaren zu sein.34 Dieses ständig wachsendes Konfliktpotential produzierende Verfahren versprach allenfalls kurzfristig Abhilfe, ohne das zentrale Dilemma, den zunehmenden Mangel an brauchbaren Unterkünften, grundsätzlich zu lösen. Am 2. September 1941 schilderte Greifelt Heydrich die katastrophale Lage: Die weitere »Zusammendrängung« der polnischen Bevölkerungen stoße auf Schwierigkeiten und behindere damit die weitere Ansiedlung der ethnischen Deutschen, da diese zunehmend in die Industrie vermittelt würden, selbst wenn es sich um Bauern handelte. Weil dem Germanisierungsprojekt damit das Personal ausgehe, bat Greifelt, »die Möglichkeiten der Wiederaufnahme von Polen-Evakuierungen in den eingegliederten Ostgebieten zu überprüfen«.35 Die aufschlussreiche Antwort kam einige Wochen später von Eichmann. Er ließ das Stabshauptamt wissen, dass mit der Wiederaufnahme der Deportationen von Polen und Juden momentan nicht zu rechnen sei, da noch immer keine »Aufnahmemöglichkeiten« zur Verfügung stünden. In diesem Zusammenhang wies er jedoch auf seine »Bestrebungen [hin], ein anderes Territorium für die Aufnahme von Räumungskontingenten als vorläufige Ausweichmöglichkeit zu finden, wobei an die besetzten sowjetrussischen Gebiete gedacht wurde«. Aber auch hier müsse »eine bessere Transportlage abgewartet werden«.36 Eichmanns Antwort verweist noch einmal auf die Sackgasse, in die sich die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik in der Zwischenzeit manövriert hatte. Unwillig, die megalomanischen Planungen im Grundsatz aufzugeben, hatte man auch in der Germanisierungspolitik alles auf eine Karte, das heißt auf einen baldigen Sieg über die Sowjetunion, gesetzt. Sie verdeutlicht aber auch, dass das Reichssicherheitshauptamt nach dem Madagaskar-Plan endgültig wieder zu einer gleichsam integralen Deportationspolitik zurückgekehrt war, die keinen Unterschied machte zwischen der Verschleppung von Juden und Polen – eine Zur Einrichtung des Stabshauptamtes siehe Anordnung Himmlers, 11. Juni 1941, NO-4057. 35 Greifelt an Heydrich, 2. September 1941, NO-5011. 36 Eichmann an StHA, 29. September 1941, AGK 69/1, Bl. 110. Für das Dokument danke ich Götz Aly. 34 356 Verbindung, die vor allem in den Studien zur Shoah oftmals verlorengeht.37 Im Reichssicherheitshauptamt wähnte man sich im August 1941 so unmittelbar vor dem Zusammenbruch der Roten Armee, dass Eichmann Höppner den Auftrag erteilte, Vorschläge für die Reorganisation der Umwandererzentralstellen vorzulegen, um mit den immer wieder aufgeschobenen Massenvertreibungen in großem Stil beginnen zu können. Oder in den Worten Höppners: »Nach Schluß des Krieges wird in den verschiedenen, neu zu Deutschland gekommenen Gebietsteilen im starken Maße eine Aussiedlung von für das Großdeutsche Reich unerwünschten Bevölkerungsteilen stattfinden müssen. Es handelt sich dabei nicht nur um die endgültige Lösung der Judenfrage, die außer dem Großdeutschen Reich alle unter deutschem Einfluß stehenden Staaten erfassen wird, sondern vor allem um die Aussiedlung von rassisch nicht rückdeutschungsfähigen Angehörigen vor allem der Ost- und Südost-Völker aus dem deutschen Siedlungsraum.«38 Höppner sah einen massiven Ausbau des Vertreibungsapparates vor, der einerseits die Umwandererzentralstelle als eigene Amtsgruppe direkt in das Amt IV im Reichssicherheitshauptamt eingliedern und Außenstellen nicht nur in den »Abgabegebieten«, sondern auch den »Aufnahmegebieten« einrichten müsste. Letztere scheinen Höppners Phantasie besonders angeregt zu haben, imaginierte er sie doch Siehe etwa Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 455–475. In diesem Abschnitt über den Entscheidungsprozess in der zweiten Jahreshälfte 1942 erwähnt Browning zwar das Memorandum Höppners vom 2. September 1941, stellt die Deportation von Polen und anderen unerwünschten »Fremdvölkischen« allerdings eher als eine Perspektive Posens dar, während man sich in Berlin angeblich vor allem um die Deportation der Juden Gedanken gemacht habe. Vor diesem – wie ich glaube falschen – Hintergrund kann Browning auch schlussfolgern, dass ab Ende Oktober die Vorgehensweise »eindeutig« war: »Die Juden mußten in ihrer Gesamtheit sterben« (ebenda, S. 460). In Longerichs entsprechendem Kapitel wird die Bevölkerungspolitik in Polen gar nicht erwähnt, Longerich, Politik der Vernichtung, S. 427–434. Und Aly, der die Antwort Eichmanns ausführlich diskutiert, stellt sie nur vermittelt in den Zusammenhang mit den Deportationen und hebt stattdessen – der Generalthese der Studie folgend – die Verbindung zu den Ansiedlungen heraus, die aber in dem Schreiben nicht eigens erwähnt werden, Aly, »Endlösung«, S. 347–357. 38 Höppner an Ehlich und Eichmann, 2. September 1941, BAL B 162/339, Bl. 63–79. 37 357 als »große Räume im jetzigen Sowjet-Rußland […], die vollständig der Verwaltung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, zumindest aber der des Reichsführers SS […] unterstehen«.39 Zu klären wäre lediglich noch die Zielrichtung der Politik: »Wesentlich ist dabei im übrigen, daß von Anfang an völlige Klarheit darüber herrscht, was nun mit diesen ausgesiedelten, für die großdeutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteile endgültig geschehen soll, ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen.«40 Diese Erwägungen Höppners sind Ausweis für den ganz besonderen Größenwahn der deutschen Ethnokraten, die durch die vergangenen Fehlschläge nur noch in ihrer Überzeugung bekräftigt worden waren, allein mit Gewalt die selbstgesetzten Ziele erreichen zu können, und deren Gewaltbereitschaft in dem Maße zunahm, wie das deutsche »Lebensraum«-Projekt mit dem deutschen Vormarsch entgrenzt wurde. Höppner war bereits in der Vergangenheit mit besonders monströsen Vorschlägen hervorgetreten, etwa der massenhaften Ermordung eines Teils der wartheländischen Juden. Jetzt brachte er die Ermordung aller anderen »unerwünschten Volksteile« in die Diskussion ein. Wie Marczewski zu Recht feststellte, hatte Höppner hier die Vernichtung auch der polnischen Bevölkerung zur Disposition gestellt.41 Die Rote Armee beendete diese Euphorie im Verlauf der folgenden zwei Monate.42 Ende 1941 mussten die Ethnokraten wiederum eine enttäuschende Bilanz ihrer Vertreibungspolitik ziehen. GemesEbenda [Hervorhebung im Original, G.W.]. Ebenda. 41 Marczewski, »The Nazi Nationality Policy«, S. 41. Dieser Zusammenhang wird gerade auch in der Holocaust-Forschung so nicht gesehen. So zitiert etwa Browning ebenfalls diese Passage, kommt aber wiederum zu der einseitigen Schlussfolgerung: »Ende August, Anfang September, so scheint es, plante man sowohl in Posen als auch in Berlin eine neue Phase der Judenpolitik, wobei auch offen über die ›völlige Ausmerzung‹ der Juden diskutiert wurde«, Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 466. 42 Heydrich folgte dann in seiner Anweisung über die Restrukturierung der Ein- und Umwandererzentralstellen vom 31. Oktober 1941 nicht Höppners weitreichenden Vorschlägen, sondern beließ es bei kleineren Veränderungen, Vorschrift des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD über den Aufbau und die Verwaltung der Ein- und Umwandererzentralstellen, 31. Oktober 1941, APL 206-1/1, Bl. 246–255. 39 40 358 sen an den Zielen, die auf der Konferenz am 8. Januar 1941 unter Heydrich verabredet worden waren, war der dritte Nahplan Ende 1941 noch deutlicher gescheitert als alle vorherigen. Statt der ca. 150000 anzusiedelnden ethnischen Deutschen konnten lediglich ca. 90000 aus den Lagern in neue Wohnungen eingewiesen werden.43 Das ganze Ausmaß des Scheiterns macht aber erst ein Blick auf die Deportationen sichtbar: Während zu Beginn des Jahres noch die Deportation von 831000 Menschen aus den annektierten Ostgebieten angestrebt worden war, konnte die verschiedenen UWZ-Dienststellen zum Jahresende »lediglich« die Vertreibung von 177758 Menschen melden.44 Davon waren aber 119816 nicht über die Grenzen abgeschoben, sondern innerhalb der Provinz »verdrängt« und weitere 17223 nicht in den Osten, sondern als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt worden. Die verbliebenen 35096 dürften die deutschen »Lebensraum«-Planer wohl kaum zufriedengestellt haben, sollte das Generalgouvernement doch nun ebenfalls germanisiert werden. Bei der Konferenz bei Heydrich wurde die Ansiedlung von 149450 ethnischen Deutschen beschlossen, BArch R 49 Anh. I/34, Bl. 7f. Tatsächlich wurden in Danzig-Westpreußen statt der 53350 Personen lediglich 22698 angesiedelt, im Wartheland statt der 57100 nur 54052 und in Oberschlesien statt der 39000 nur 12255 (errechnete Anzahl aus den Angaben der unsignierten Berichte des Stabshauptamtes vom 30. April 1943, BArch R 49/14, Bl. 1–33, und 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe). 44 Diese Zahl ergibt sich aus der Addition der für die einzelnen Provinzen vorgelegten Angaben, wobei für Oberschlesien lediglich Zahlen von Ende August 1941 vorliegen. Aus Danzig-Westpreußen wurden danach 25676 Personen aus ihren Häusern vertrieben (unsignierte und undatierte Übersicht der UWZ Danzig, betr. Umsiedlungen 1941, BArch PL 170/39, Bl. 29), aus dem Wartheland 130826 (unsignierter und undatierter Abschlussbericht, betr. Aussiedlungen im Rahmen der Ansetzung der Bessarabiendeutschen [3. NP] vom 21. 1. 1941 bis 20. 1. 42 im Wartheland, AGK NTN/13, Bl. 99–106, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 106–110) und aus Oberschlesien 21256 (unsignierte Aufstellung der RKF-Zentrale vom 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe, und Butschek an HA Statistik beim RFSS, 28. August 1941, BArch R 49/317, ohne Seitenangabe). Scheinbar exakt sind diese Angaben nicht nur deshalb, weil die von den Zentralstellen in Berlin publizierten sich oftmals von denen der Behörden vor Ort unterschieden, sondern auch weil durch die »wilden Vertreibungen« eine unbekannte Anzahl an der Umwandererzentralstelle vorbei vertrieben oder deportiert wurde. Es ist also davon auszugehen, dass die genannten Deportationszahlen die untere Grenze angeben. 43 359 Erweiterter dritter Nahplan: endgültiger Kollaps des Umsiedlungskreislaufs Wie Adam Tooze überzeugend darlegt, war der Überfall auf die Sowjetunion von vornherein ein Vabanquespiel, hatte die Wehrmachtsführung doch alles auf eine frühzeitige und vollständige Zerschlagung der Roten Armee gesetzt. Sollte die Sowjetunion jedoch unter diesem ersten Ansturm nicht kollabieren, würde das Deutsche Reich einen Krieg führen müssen, der die Wehrmacht mit zunehmender Entfernung von den eigenen Nachschubbasen logistisch benachteiligen und die Kriegswirtschaft überfordern würde.45 Zunächst schien der Plan – wie auch in Polen und Frankreich – aufzugehen. Die Siegeszuversicht der ersten Wochen legte sich jedoch sehr schnell, als die Rote Armee den deutschen Truppen die ersten schmerzhaften Niederlagen zufügte. Die gescheiterte Blitzkriegskonzeption zwang das Deutsche Reich zu einer grundlegenden Neuausrichtung. Für die an Schwierigkeiten und Verzögerungen wahrlich gewöhnten Ethnokraten bedeutete diese Entwicklung jedoch eine Katastrophe neuer Größenordnung: Es war absehbar, dass der Druck der deutschen Wirtschaft, die Volkstumspolitik auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel abzustimmen, zunehmen würde. Außerdem war die Bevölkerungspolitik erstmals insgesamt in eine Sackgasse geraten: Die Umwandererzentralstellen verfügten schlicht über kein Abschiebeterritorium. Ende 1941 sahen sich die Bevölkerungsplaner in Berlin also mit einem strukturellen Dilemma konfrontiert, das mit dem bisherigen Instrumentarium nicht mehr zu lösen war. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Jahren lud Heydrich dann auch im Januar 1942 nicht zu einer Konferenz zur Koordinierung der Ansiedlungsund Deportationspolitik: Die Differenz zwischen den praktischen Problemen in den annektierten Gebieten und den megalomanischen Vorstellungen etwa im Rahmen der Generalplanungen Ost schien durch praktische Politik vorerst nicht überbrückbar. Und doch traf dies nicht für alle Bereiche der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik zu. Zwar hatte der ausgebliebene Sieg über die Sowjetunion alle Hoffnungen auf ein neues Abschiebeterritorium und damit die baldige Fortsetzung der Deportationspolitik begraben. Allerdings waren die Besatzer nur teilweise bereit, die sich daraus 45 Tooze, The Wages of Destruction, S. 452–460. 360 ergebenden Konsequenzen zu akzeptieren. Dies galt etwas weniger im Hinblick auf die unerwünschten polnischen »Fremdvölkischen«. Mit diesen – wie auch mit Russen oder anderen »Völkern«, wie die Autoren der RKF-Generalpläne einräumten – musste zunächst schon aufgrund ihrer Anzahl ein Umgang gefunden werden, der die deutsche Herrschaft in diesen Gebieten sicherheitspolitisch oder wirtschaftlich nicht weiter verschlechterte. Eine solche Rücksichtnahme sah man Juden gegenüber jedoch als nicht notwendig an. Herberts Überlegung, die jüngst von Tooze aufgegriffen wurde, erscheint mir dabei sehr plausibel. Demnach eröffnete dieser erzwungene Kompromiss überhaupt den Handlungsspielraum, um die antisemitische Politik bis hin zum systematischen Massenmord zu radikalisieren. Das scheinbar unerschöpfliche Reservoir an osteuropäischen Zwangsarbeitern entwertete die jüdische Arbeitskraft, Juden wurden in dieser Logik tatsächlich »überflüssig«. Die herrschaftsrationalen Zwänge, die der deutschen Führung zumindest in der Behandlung von Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung Osteuropas gewisse Schranken auferlegten, galten für Juden nicht.46 Über Herbert hinausgehend würde ich argumentieren, dass der Verzicht auf umfassende Deportationen jedoch nicht nur die Bedingung der Möglichkeit zum Massenmord war, also nicht nur den Rahmen bildete, in dem antisemitische Ideologie praktische Gestalt annehmen konnte, sondern auf den Radikalisierungsprozess direkt einwirkte. Zwar lässt sich diese Interpretation nicht direkt aus den Aussagen der Täter ableiten, aber doch aus ihrer Handlungslogik. Meines Erachtens setzten die Fehlschläge der bisherigen Germanisierungspolitik die Verantwortlichen unter zusätzlichen Druck, zumindest in Teilbereichen »Fortschritte« zu vermelden. Dass dieser Druck ausgerechnet die Maßnahmen gegen die Juden weiter radikalisierte, ist dann nicht weiter verwunderlich – und zwar nicht nur, weil die antisemitische Politik zum damaligen Zeitpunkt ohnehin bereits die Schwelle zum systematischen Massenmord überschritten hatte, sondern auch weil eine weitere Radikalisierung in diesem Politikfeld innerhalb der Machtgruppen des nationalsozialistischen Deutschlands weniger konfliktträchtig war, die »Endlösung der Judenfrage« aber dennoch als entscheidender Sieg vermeldet werden konnte. Natürlich lässt sich damit die Radikalisierung der antisemi46 Herbert, »Arbeit und Vernichtung«; Tooze, The Wages of Destruction, S. 526–538. 361 tischen Politik nicht hinreichend klären, allerdings trug dieser Aspekt sicherlich zu der Dynamik des Scheiterns bei, die den Entscheidungsprozess zum Massenmord antrieb. Die Konferenz, die am 20. Januar 1942 unter Heydrichs Vorsitz stattfand, ist deshalb auch im breiteren Kontext der Schaffung »deutschen Lebensraums« zu verorten – obwohl sich das Ziel im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Konferenzen unterschied, enger und weiter zugleich war. Auch für die – berüchtigte – Wannseekonferenz bildete die Dystopie vom »deutschen Lebensraum« das Leitmotiv. Allerdings ging es hier nicht mehr generell um den Versuch, die Deportation aller Juden und »Fremdvölkischen« aus dem Deutschen Reich und den annektierten und besetzten Ostgebieten aufeinander abzustimmen, sondern allein um die »Evakuierung der Juden nach dem Osten« – wobei »Evakuierung« nun wohl in der Tat als Chiffre für den geplanten Massenmord stand.47 Auch wenn die Wannseekonferenz also einerseits für einen entscheidenden Bruch steht, der, als Höppner sein Memorandum zur Zukunft der Umwandererzentralstelle schrieb, noch nicht absehbar war: nämlich die endgültige Trennung von antijüdischer und antipolnischer Verfolgungspolitik, so ist sie doch im breiteren Kontext der bevölkerungspolitischen Gewaltmaßnahmen zu verorten, die in diesem Buch analysiert werden. Dieser Bruch ist im Wartheland am offensichtlichsten und lässt sich insbesondere anhand der Reaktionen auf den Deportationsstopp verdeutlichen: Während die Ethnokraten die christlichen Besitzer von Wohnungen, die für die Ansiedlung ethnischer Deutscher gebraucht wurden, innerhalb der Provinz »verdrängten«, »lösten« sie das Problem der drohenden Überbelegung des Ghettos in Litzmannstadt Ende 1941 durch die Errichtung des ersten Vernichtungslagers im nahen Kulmhof. Da die ideologisch gebotene Deportierung der polnischen Bevölkerung aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen ausgeschlossen war, holten die Besatzer gegenüber den Juden zu einem umso radikaleren Schlag aus. Das nach wie vor geltende Deportationsverbot und vor allem die Abhängigkeit von polnischen Arbeitskräften sollten ab 1942 jeden weiteren Versuch noch mehr erschweren, die Ansiedlungs- und Ver47 Wannseeprotokoll vom 20. Januar 1942, abgedruckt in: Roseman, Die Wannsee-Konferenz, S. 170–184, hier S. 174. 362 treibungspolitik in den annektierten Gebieten stärker zu koordinieren. Es dominierte provinzielles Stückwerk. In der politischen Spitze verschob sich der Einfluss verschiedener Zentralinstitutionen. So wie es dem Reichssicherheitshauptamt mit der Zentralisierung der Deportationspolitik gelungen war, das für die Bevölkerungspolitik entscheidende Feld zu besetzen und innerhalb des SS-Apparats zum dominanten Akteur zu avancieren, so konsequent war der relative Bedeutungsverlust nach Einstellung der Deportationen. Mit dem Wechsel zu den sogenannten Verdrängungen entfiel die Notwendigkeit eines provinzübergreifenden Vorgehens, denn die betroffenen Personen wurden in der Regel innerhalb des eigenen Landkreises bei anderen Polen zwangseinquartiert. Deshalb fiel auch dem Stabshauptamt in den folgenden Jahren eine größere Bedeutung zu. Die Aufgabe, ethnische Deutsche aus Osteuropa unterzubringen, war schließlich immer noch nicht gelöst; zu denjenigen, die in Lagern überall im Deutschen Reich einsaßen, stießen ab 1943 bald auch Flüchtlinge vor der rückweichenden Front. Deutlich wird dieser Wandel aber auch im Auftreten eines weiteren Akteurs: der Arbeitseinsatzverwaltung in Gestalt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Zwar hatte das Reichsarbeitsministerium von Beginn an Präsenz gezeigt, seine Forderungen nach polnischen Zwangsarbeitern hatten aber lange Zeit nicht die notwendige Durchschlagskraft, um die Politik entscheidend zu beeinflussen. Der Überfall auf die Sowjetunion verlieh den Forderungen der Arbeitseinsatzbehörden jedoch einen Nachdruck, dem sich die einzelnen Territorialherren und der SS-Komplex nicht länger entziehen konnten. Auch wenn die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik in den annektierten Ostprovinzen erst mit der deutschen Kapitulation an ihr Ende kam, so war sie doch ab 1941 nicht mehr in allen Aspekten Germanisierungspolitik. Diese Akzentverschiebung zeigte sich nirgends so deutlich wie in der Deportationspolitik. Die Verschleppung der einheimischen Bevölkerung zielte nicht mehr auf die Schaffung von »deutschem Lebensraum im Osten«, sondern nahm genau das Gegenteil billigend in Kauf: die Zunahme unerwünschter »Fremdvölkischer« im Kerngebiet des Deutschen Reiches. Diese Verschiebungen auf die Ebene der Zentralinstanzen hatten auch Konsequenzen für den bevölkerungspolitischen Apparat vor Ort, zumal die zurückgehende Ansiedlungstätigkeit durch den ständig wachsenden Personalbedarf der Wehrmacht verstärkt wurde. 363 Ausdünnung, Zusammenlegung und schließlich Stilllegung der einzelnen Dienststellen traf zunächst die zahlenmäßig umfangreichen Einrichtungen der RKF-Zweigstellen, also in erster Linie die SS-Ansiedlungs- und die ihnen unterstellten SS-Arbeitsstäbe. Aber auch den dem Reichssicherheitshauptamt unterstellten, personell deutlich kleineren Umwandererzentralstellen war ein ähnliches Schicksal beschieden, zumal die Einführung der Deutschen Volksliste in allen Ostprovinzen ihre Aufgabe als Selektionsorgan zusätzlich eingeschränkt hatte. Der Bruch mit der bisherigen Bevölkerungspolitik hatte sich bereits 1941 angekündigt. Bevor die Ethnokraten in den annektierten Ostprovinzen noch Pläne für das anbrechende Jahr vorlegen konnten, wurden sie von Göring auf die veränderte Prioritätensetzung verwiesen. Zeitgleich zum Erlass Hitlers vom 10. Januar 1942, der in der Umstellung von einem Blitz- auf einen Abnutzungskrieg einen Paradigmenwechsel in der deutschen Rüstungswirtschaft durchsetzte, ordnete Göring die Zentralisierung des Arbeitseinsatzes unter der Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz im Vierjahresplan an – ein Zwischenschritt zur Bestellung des Thüringer Gauleiters Fritz Sauckel im März 1942.48 In dem Erlass strich Göring die Notwendigkeit heraus, »der vordringlichen Rüstungsfertigung […] sowie der Landwirtschaft die […] dringend benötigten Kräfte« zuzuführen.49 Dies wurde vom Stabshauptamt – wohl zu Recht – so interpretiert, dass nun auch »alle Maßnahmen unterbleiben, die geeignet sind, die kriegswichtige Fertigung oder Arbeiten in der Landwirtschaft zu stören«.50 Aus Sicht Berlins waren die einzelnen annektierten Ostprovinzen nicht gleichermaßen für die Zwangsarbeiterrekrutierung geeignet. So blieb Oberschlesien wegen der Bedeutung der einheimischen Schwerindustrie zumindest in der zweiten Hälfte des Krieges weitgehend vor solchen Anforderungen verschont, und in DanzigWestpreußen wurden die Verschleppungen innerhalb der Provinz- Eichholtz, »Die Vorgeschichte des ›Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz‹«; Herbert, Fremdarbeiter, S. 173–178; Tooze, The Wages of Destruction, S. 513–551. 49 Erlass Göring 10. Januar 1942, abgedruckt bei Eichholtz, Generalbevollmächtigter, S. 379f. 50 Stier an ausgewählte Höhere SS- und Polizeiführer, 19. März 1942, BArch R 49/73, Bl. 116–118. 48 364 grenzen abgewickelt. Zwangsarbeiter kamen in der Regel in den Kreisen des Regierungsbezirks Marienwerder zum Einsatz, die auch vor dem Überfall deutsches Staatsgebiet gewesen waren. Im Gegensatz dazu sah sich Greiser Ende Januar/Anfang Februar mit einer Anforderung der Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz konfrontiert, innerhalb kürzester Zeit 20000 landwirtschaftliche Arbeitskräfte abzugeben – eine Zahl, die Anfang März auf 40000 verdoppelt wurde.51 Wenn die Ethnokraten in der Umwandererzentralstelle noch irgendwelche Hoffnungen gehegt haben sollten, auch im folgenden Jahr an die Deportationen der Vergangenheit anschließen zu können – die Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz zerstörte sie endgültig. An die Stelle trat ein sogenannter erweiterter dritter Nahplan, der aber – anders als die Kontinuität suggerierende Bezeichnung nahelegt – mit den vorangegangenen Deportationen wenig gemein hatte: Die Deportationen in diesem Nahplan blieben auf das Wartheland beschränkt und zielten erstmals nicht auf die Germanisierung der Provinz, sondern sollten in erster Linie der deutschen Kriegswirtschaft die benötigten Zwangsarbeiter liefern. Die erste Sitzung zur Vorbereitung dieser Vertreibungen am 7. Februar 1942 fand dann auch nicht bei einem SS-Ansiedlungsstab oder der Umwandererzentralstelle statt, sondern in der Abteilung Arbeit der Reichsstatthalterei. Weil bereits während der letzten Auskämm-Aktionen alle nicht unabkömmlichen polnischen Landarbeiter erfasst worden waren, glaubte Kendzia zusätzliche Arbeitskräfte nur dann entbehren zu können, wenn Kleinbetriebe zusammengelegt, die Bewirtschaftung also effektiviert werden könnte. Überdies – und dies zeigt den Ernst der Lage – dürften diese zusammengelegten Betriebe nicht ohne weiteres an ethnische Deutsche übergeben werden – zumindest dann nicht, wenn in Zweifel stand, ob sie ihre erfolgreiche Bewirtschaftung sicherstellen konnten. In diesem Fall sollten sie an die »besten früheren polnischen Besitzer« übergehen.52 Der SS-Komplex musste also akzeptieren, dass die Verschleppung von »fremdvölkischen« Arbeitskräften ins Reich aus der Ansiedlungspolitik Abschlussbericht Krumey zum erweiterten dritten Nahplan, 31. Dezember 1942, BArch R 75/9, Bl. 1–25, teilweise abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 115–122. 52 Geheimer Lagebericht Krumeys über Oktober 1942, 5. November 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe. 51 365 herausgebrochen wurde. Die SS-Ansiedlungsstäbe konnten dadurch frei werdende Höfe auch nicht mehr einfach für ihre Zwecke reklamieren. Entsprechend dieser Zielsetzungen wurden in den nächsten Wochen wiederum neue Selektionskriterien und Verfahren ausgearbeitet. Die lokalen SS-Arbeitsstäbe wurden angewiesen, die örtlichen Vertreter der Ostland zu kontaktieren, gemeinsam die Planungen zur Flurbereinigung auszuarbeiten und die dabei freigesetzten Personen zu erfassen. Um sicherzugehen, dass nur potentielle »landwirtschaftliche Arbeitskräfte« vertrieben wurden, mussten die Listen für die Umwandererzentralstelle in Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern erstellt werden.53 Die Zwangsrekrutierung von polnischen Arbeitskräften begann am 2. März und wurde bis zum 23. Juni 1942 fortgesetzt. Schwierigkeiten gab es auch im Rahmen dieser sogenannten Z[usammenlegung]-Hof-Aktion oder Feldarbeiteraktion zuhauf. Die Besatzer stellten wieder einmal fest, dass sich Nachrichten über Vertreibungsaktionen sehr schnell verbreiteten und viele Einwohner noch vor Eintreffen der deutschen Rollkommandos flüchteten und selbst von den Verhafteten ein großer Teil ausgenommen werden musste.54 Neben der Selektion der wenigen »Wiedereindeutschungsfähigen« traf dies etwa auf Familien zu, bei denen entweder die Hälfte der Kinder nicht arbeitsfähig, das heißt unter zehn Jahren, war oder aber wenn sich ein Kind darunter befand, das jünger als ein Jahr war. Diese Familien durften nach Anweisungen des Reichsarbeitsministeriums nicht deportiert werden. Krumey ordnete an, dass Familien mit einem Kind unter einem Jahr und mindestens einem weiteren über zwölf von diesem Verbot nicht betroffen seien – schließlich könne doch das ältere für das jüngere sorgen. Und falls tatsächlich mehrere Kinder jünger als zehn Jahre alt waren, sollten sie nach Litzmannstadt verbracht werden, »da hier genügend jugendliche Einzelgänger Vermerk Krumey, 19. April 1942, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 111. 54 Im Landkreis Turek etwa konnten von den vorgesehenen 22437 Personen nur 12391 vertrieben werden, da die restlichen bei Ankunft der Deutschen bereits geflohen waren, Bericht des Leiters des UWZ-Sonderkommandos in Turek, Obersturmführer Wilhelm Koch, 4. Mai 1942, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe. UWZ-Personalakte unter AGK 69/209. Siehe auch ähnlich Abschlussbericht des Leiters der UWZ-Außenstelle Kempen, SSHauptsturmführer Gustav Hütte, 14. Mai 1942, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe. 53 366 vorhanden sind, die den betreffenden Familien zugeschlagen diese arbeitsfähig machen«.55 Besonderen Zorn zogen schwangere Frauen auf sich, die von den Arbeitsämtern nicht zu vermitteln waren. Aus Krumeys Sicht stahlen sich Frauen durch eine Schwangerschaft nicht nur aus der Arbeitspflicht, sondern trugen auch dazu bei, »ihr eigenes Volkstum zu stärken und dadurch dem angestrebten Ziel auf biologischem Wege eine Verminderung der Slawen herbeizuführen, entgegen zu arbeiten«.56 Dieses imaginierte Bedrohungsszenario unterstellte polnischen Frauen, die von den Besatzern initiierten biopolitischen Kampfmaßnahmen, wie etwa die Heraufsetzung des Heiratsalters, durch eine erhöhte Geburtenrate zu konterkarieren. Ebenso verdächtig waren Frauen, die bereits ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit deportiert worden waren und nun in zunehmender Anzahl zurückgeschickt wurden, weil sie ein Kind erwarteten. In einem weiteren Bericht forderte Krumey seine Vorgesetzten auf, »die Dienststellen im Altreich darauf aufmerksam zu machen, dass dem deutschen Staat jedes Mittel recht sein muss, die hemmungslose Fortpflanzung des rassisch unbrauchbaren Polentums zu verhindern«.57 Dass man bei der Umwandererzentralstelle vor nichts mehr zurückschreckte, überrascht wenig – schließlich hatte Höppner schon vor fast einem Jahr die massenhafte Ermordung eines Teils der wartheländischen Juden ins Gespräch gebracht, und auch das Vernichtungslager Kulmhof hatte – unweit von Litzmannstadt – bereits seinen Betrieb aufgenommen. In einer Wortwahl, die sicherlich nicht zufällig an das berüchtigte Schreiben Höppners erinnert, schlug Krumey also vor, »in jedem Falle, gleich, ob im Altreich oder Warthegau, jede polnische schwangere Person bis zum 8½ Monat zum vollsten Arbeitseinsatz heranzuziehen. Die daraus möglicherweise entstehende Schwangerschaftsunterbrechung und Störung sind nicht nur gewollt, sondern werden auch erwartet und bringen neben der erzieherischen Auswirkung auch eine Erleichterung für komVermerk Krumey, 19. April 1942, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 111. Die Kinder kamen vermutlich in das neu eingerichtete Jugendverwahrlager in Litzmannstadt. 56 Krumeys geheimer Lagebericht über die Zeit vom 6. Mai bis zum 30. Juni 1942, 30. Juni 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe. 57 Geheimer Lagebericht Krumey über den September 1942, 2. Oktober 1942, BArch R 75/4, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 114. 55 367 mende Aufgaben mit sich. Die härteste Beeinflussung eines Geschehens ist nach den ehernen Gesetzen der Natur immer die humanste.«58 Sollte eine Geburt nicht zu verhindern sein, wäre zu erwägen, »ob nicht diese Kinder den Müttern unter gewissen Voraussetzungen nach einer bestimmten Zeit abgenommen werden sollen. Die Kinder guten Blutes könnten in Heime untergebracht werden, während die anderen einer Sonderbehandlung zugeführt werden müssten. M. E. würde dadurch mit einem Schlage die Kinderfreudigkeit bei diesen Polinnen nachlassen.«59 Von einer Verschleppung ins Deutsche Reich ebenfalls ausgenommen waren kranke, schwache oder transportunfähige Personen. Ihre Anzahl war verhältnismäßig hoch, vermutlich auch, weil sich viele junge Männer bereits in deutscher Kriegsgefangenschaft befanden oder bei früheren Auskämm-Aktionen erfasst worden waren. Um die Produktivierung der einheimischen Landwirtschaft voranzutreiben, war jedoch beschlossen worden, die von ihrem Land vertriebenen Personen auch bei erwiesener Arbeitsunfähigkeit nicht mehr an ihre Wohnorte zurückzulassen. Da aber bereits seit dem Deportationsstopp vom März 1941 die meisten enteigneten Einheimischen bei anderen Polen zwangseinquartiert wurden, waren die SS-Arbeitsstäbe bald nicht mehr in der Lage, der Umwandererzentralstelle weitere Ausweichadressen anzugeben. Stattdessen wurde die bereits einmal verworfene Idee eines sogenannten Polenreservats wieder aufgegriffen und diesmal auch durchgesetzt. Nach der Selektion der Zwangsarbeitskräfte für das Deutsche Reich wurden die verbleibenden Personen vom lokalen Arbeitsamt erfasst und – je nach Arbeitskräftebedarf – auf ihre neuen Wohnorte verteilt.60 Allein in Kalisch, Ostrowo, Welungen und Kempen, einem Schwerpunkt der Vertreibungen, verschleppte man die arbeitsunfähigen Personen in das neugeschaffene »Polenreservat«, das an der Schnittstelle dieser Kreise errichtet wurde. Es versprach eine weniEbenda. Abschlussbericht Krumey zum erweiterten dritten Nahplan, 31. Dezember 1942, BArch R 75/9, Bl. 1–25, teilweise abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 115–122. Dieses Schreiben trug – neben seiner Beteiligung an der Ermordung der ungarischen Juden 1944 – zu seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft in der Bundesrepublik bei, BAL B 162/1033. 60 Unsignierter Auszug aus einem Bericht der UWZ-Außenstelle Kempen, 30. Juni 1942, AGK 69/139, Bl. 43. 58 59 368 ger personalintensive Überwachung und trotz des geltenden Deportationsstopps »eine volkstumsmäßige […] Trennung«.61 Zudem hätte bei Wiederaufnahme der Deportationen schnell reagiert und diese Personen sofort abgeschoben werden können. Aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht schien dieses Verfahren von Vorteil: Zum einen entstand so ein Reservoir jederzeit verfügbarer Arbeitskraft. Zum anderen glaubten die Besatzer damit auch einen Weg gefunden zu haben, die eigene Ernährungslage verbessern zu können. Die Aushändigung der ohnehin knappen Lebensmittelrationen wurde an die Ableistung von Zwangsarbeit geknüpft. Die restliche Bevölkerung sollte ihren Lebensunterhalt auf den ihnen zugewiesenen kleinen Parzellen in Subsistenzwirtschaft fristen – und dies in einem Gebiet, das wegen seines schlechten Bodens ausgewählt worden war. Für diese Menschen verwandelten sich die »Polenreservate« in Hungerzonen.62 Zu welch dominantem Akteur die Arbeitseinsatzbehörden in der Bevölkerungspolitik avanciert waren, erschließt sich bei der Durchsicht des Jahresberichts der Umwandererzentralstelle: Die Ethnokraten im Wartheland hatten mit der Verschleppung von 38168 Zwangsarbeitern ins Deutsche Reich das von ihnen geforderte Kontingent fast erfüllt. Auch wenn der Abschlussbericht zum dritten erweiterten Nahplan hier erstaunlicherweise eklatante Widersprüchlichkeiten aufweist, musste die Umwandererzentralstelle 171947 Menschen erfassen, um die ihr aus Berlin zugewiesene Quote erfüllen zu können. Etwa die Hälfte, also 82403 Personen, wurden noch vor Ort in einem ersten Selektionsvorgang wegen Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, junger Kinder oder ihrer beruflichen Stellung ausgeschlossen – und wohl nur zum Teil von ihrem Besitz vertrieben. Weitere 33723 musste das Arbeitsamt schließlich in einem zweiten Selektionsschritt aus ähnlichen Gründen zurückweisen.63 Wenn Unsignierter, geheimer UWZ-Bericht über den Juli 1942, 5. August 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 113f. 62 Zu den »Polenreservaten« siehe auch Łuczak, Pod niemieckim, S. 57. 63 Lagebericht Krumey, geheim, zu den Zeitraum vom 6. Mai bis zum 30. Juni 1942, 30. Juni 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe, und Abschlussbericht Krumey zum erweiterten dritten Nahplan, 31. Dezember 1942, BArch R 75/9, Bl. 1–25, teilweise abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 115–122. Die Widersprüche des Abschlussberichts sind trotz der dramatischen Ausmaße anhand des überlieferten Materials nicht zu klären. Krumey behauptet einerseits, dass die Umwandererzentralstelle »im Berichtsjahre insge61 369 aber 1942 insgesamt 99074 Menschen im Wartheland von ihrem Hof gejagt wurden, bedeutete dies, dass fast jeder Zweite davon zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt wurde. Diese Zahlen veranschaulichen den Paradigmenwechsel, den die Deportationspolitik durchlaufen hatte: In einer ersten Phase waren bis einschließlich des ersten Nahplans Ende 1939 noch vor allem Personen abgeschoben (und auch ermordet) worden, die wie die Mitglieder nationaler Vereine oder Parteien aus politischen Gründen für die hier durchzusetzende »deutsche Volksgemeinschaft« nicht infrage kamen. Mit der immer zahlreicheren Ankunft von ethnischen Deutschen aus Osteuropa blieb den Verantwortlichen nichts anderes übrig, als die Selektionskriterien zu ändern und vom Zwischenplan bis zum dritten Nahplan vor allem die Personen zu erfassen, deren Wohnungen gebraucht wurden. Die Entideologisierung der Selektionskriterien war aus Sicht der Verantwortlichen umso leichter zu verkraften, als die Erfassungen nach wie vor der Germanisierung der Provinz dienten. Genau dies änderte sich mit dem erweiterten dritten Nahplan. Zwar wurde nun erstmals seit dem Deportationsstopp vom März 1941 eine große Gruppe von Einheimischen deportiert. Diese Deportationen waren jedoch nicht mehr Teil der deutschen »Lebensraum«-Planungen, die Selektion dieser Menschen orientierte sich allein an ihrer Arbeitsfähigkeit für das Deutsche Reich. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik samt 216136 Pers. ausgesiedelt« habe. Dies betraf zum einen 167417 Personen, die innerhalb der einzelnen Kreise in die Reservate »verdrängt wurden«, sowie weitere 99074, die – und dies hebt Krumey explizit hervor – »außer der Durchführung der Feldarbeiterbeschaffung […] und der Polenreservatsbildung« erfasst wurden. Von diesen verblieben manche »soweit sie als Arbeitskräfte notwendig waren, an Ort und Stelle«. Wenn jedoch die »Baulichkeiten für Umsiedler bestimmt waren«, wurden sie ebenfalls »verdrängt«. Die diesem Abschlussbericht beiliegende Anlage 1 erwähnt als Gesamtzahl der »ausgesiedelten bezw. verdrängten Polen« erstaunlicherweise jedoch lediglich 99074 Personen. Ich werde im Folgenden diese Zahl trotz der genannten Widersprüche übernehmen, da auch die Umwandererzentralstelle allen weiteren Zusammenstellungen diese Zahl zugrunde legt und es nicht nachvollziehbar ist, welches Interesse Krumey und seine Mitarbeiter an einer Minderung ihrer Arbeitsergebnisse hätten haben sollen. Eine Erklärung für diese beträchtliche Differenz kann zum einen an der Doppelzählung der betroffenen Personen, zum anderen aber auch daran liegen, dass manche zwar erfasst, bei ihrem Ausschluss aber eben nicht »verdrängt« wurden, sondern in ihre Wohnung zurückkehren durften. 370 war radikal auf einen neuen Kurs ausgerichtet worden, der sich bis zum Kriegsende nicht mehr ändern sollte. Vor die Alternative gestellt, die Germanisierung der annektierten Ostprovinzen wie bisher zu verfolgen oder aber deren politische Kosten kalkulierbar zu halten und die Politik an die sich verändernde Kriegslage anzupassen, optierten die Nationalsozialisten für Letzteres. Auflösung der Umwandererzentralstellen Wie eng der Spielraum mittlerweile geworden war, erfuhren die Ethnokraten vor allem im Wartheland. Die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung zur Unterbringung der ethnischen Deutschen spielte zwar 1942 noch eine gewisse Rolle, immerhin wurden noch 21576 »Volksdeutsche« in beschlagnahmte Wohnungen und Höfe eingewiesen.64 Dies war allerdings nur ein Drittel der Anzahl des vorangegangenen Jahres und gerade einmal 10 Prozent der bisher im Wartheland angesiedelten ethnischen Deutschen.65 Außerdem waren diese Ansiedlungen zum größten Teil ein Nebenprodukt der Zwangsrekrutierungen. Die Menschen wurden zumeist auf Höfen untergebracht, deren Besitzer entweder als Zwangsarbeiter verschleppt oder in diesem Prozess erfasst worden waren. Arbeitsmäßig wenig ausgelastet, wurden Krumey und ein größerer Teil seiner Belegschaft dann auch ins Generalgouvernement abkommandiert, um die Vertreibung der nichtdeutschen Bevölkerung aus Stadt und Kreis Zamosć zu organisieren – ein erster systematischer Versuch, auch das Generalgouvernement in »deutschen Lebensraum« zu verwandeln.66 Bis zum 31. Dezember 1941 waren 220308 ethnische Deutsche angesiedelt worden, bis zum 31. Dezember 1942 waren es dann insgesamt nicht mehr als 241884. Für beide Zahlen siehe den unsignierten Bericht des Stabshauptamtes über die Um- und Ansiedlung 1942, 30. April 1943, BArch R 49/14, Bl. 1–33. 65 Unsignierte Aufstellung der RKF-Zentrale mit dem Stand vom 16. Januar 1941, 11. Februar 1941, BArch R 49/303, ohne Seitenangabe, und die ebenfalls unsignierte Aufstellung mit dem Stand vom 31. Dezember 1942, 30. April 1943, BArch R 49/14, Bl. 1–33. 66 Die Vertreibungen in Zamosć stellten auch den ersten Schritt dar, die mit den Generalplanungen Ost vorgelegte Planung einer bevölkerungspolitischen Sicherung der eroberten Gebiete durch die Einrichtung von SS- und Polizeistützpunkten inmitten deutscher Siedlungsgebiete umzusetzen, siehe Marczewski, Hitlerowska koncepcja, S. 263–278; Wasser, Die »Germanisierung« im Distrikt Lublin; ausführlicher unter ders., Himmlers 64 371 Ähnlich war die Situation in den beiden anderen Provinzen – mit dem Unterschied, dass von dort auch keine Zwangsarbeiter in nennenswertem Ausmaß ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Zwar konnten die Ethnokraten etwa in Oberschlesien darauf verweisen, dass sich sowohl die Vertreibungs- als auch die Ansiedlungsziffern fast verdoppelt hatten – aber eben »nur« auf 33061 beziehungsweise 81330 Personen.67 Noch dramatischer war die Situation in DanzigWestpreußen. Obwohl mit der Ansiedlung von 20194 ethnischen Deutschen auch dort die Anzahl auf 51358 fast verdoppelt worden war, sah es bei den Vertreibungen anders aus: Insgesamt waren bis zum Ende des Jahres 1942 61166 Personen deportiert oder innerhalb der Provinz »verdrängt« worden, davon aber nur 4705 im Jahr 1942, so wenig wie in keinem Jahr zuvor.68 Für alle drei Provinzen galt: Eine Germanisierung der Provinz war auf diesem Wege in absehbarer Zeit nicht zu erreichen. Besonders schmerzhaft für den SS-Komplex war jedoch, dass es für die Zivilverwaltung eine Alternative gab. Im nächsten Kapitel werde ich darauf im Detail eingehen, hier soll ein knapper Verweis auf die Situation in Oberschlesien genügen: Bracht etwa hatte durchaus keinen Grund, über den Fortschritt der Germanisierung seiner Provinz zu klagen. Während die SS mit großem Aufwand insgesamt 33061 ethnische Deutschen ansiedeln konnte, hatte die Zivilverwaltung im gleichen Zeitraum bereits 1005719 »Deutsche« registriert – das war fast die Hälfte der einheimischen Bevölkerung, und die Deutsche Volksliste war noch nicht abgeschlossen.69 Die zentralen Akteure der Germanisierungspolitik waren hier und auch in den anderen annektierten Provinzen nicht die SS-Dienststellen. Raumplanung im Osten, S. 133–229, und Aly, »Endlösung«, S. 380f. Siehe auch Krumeys Abschlussbericht über die Arbeit der Umwandererzentralstelle im Wartheland und im Generalgouvernement, 31. Dezember 1943, AGK NTN/13, Bl. 158–174. 67 Unsignierter Tätigkeitsbericht des Beauftragten RKF in Oberschlesien, September 1939 bis Januar 1943, 30. März 1943, BArch 186/42, ohne Seitenangabe, Auszug auch als NO-5640. 68 Unsignierte Übersicht der Umwandererzentralstelle Danzig-Westpreußen über interne Umsiedlungen im Jahre 1942, 31. Dezember 1942, BArch PL 170/39, Bl. 1. 69 Davon 709991 in Abteilung 3, unsignierte Übersicht über den Stand der Deutschen Volksliste am 1. Dezember 1942 in den Regierungsbezirken Kattowitz und Oppeln, APK 117/140, Bl. 232. 372 Faktisch eingestellt wurden die Vertreibungen in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien Ende 1942. Das »Schwergewicht« der Tätigkeit der RKF-Dienststellen – so der Bericht aus Oberschlesien – wurde von der Ansiedlung »auf die ausgesprochene Betreuungsarbeit hingelenkt«.70 Allein im Wartheland sah sich die Umwandererzentralstelle vor neue Anforderungen gestellt: die der Arbeitseinsatzverwaltung. Am 18. Februar 1943 wandte sich Ministerialdirektor Dr. Max Timm, unter Sauckel mit der Organisation der Arbeitskräftebeschaffung betraut,71 an das Landesarbeitsamt im Warthegau: Auf den von der Reichsland bewirtschafteten Gütern in Nordfrankreich hatten die dort bisher zur Zwangsarbeit verpflichteten 7000 farbigen französischen Kriegsgefangenen aus »militärischen Gründen« abgezogen werden müssen und sollten nun durch Familien aus dem Wartheland ersetzt werden.72 Kendzia gab diese Forderung am 23. Februar 1943 weiter.73 Um den Verlust weiterer wertvoller Arbeitskräfte zu vermeiden, sollten die erforderlichen Familien aber unter denen ausgewählt werden, die bei früheren Selektionen als »Untaugliche[n]« ausgeschlossen worden waren. Mochten die Vertreter der Reichsland auch darauf hinweisen, dass die Personen »unter allen Umstände arbeitsfähig sein müßten, da sie dort selbständige Höfe zu bewirtschaften hätten«, hatten sie doch schließlich zu akzeptieren, dass der frühere »Maßstab […] nicht mehr eingehalten werden kann«: »Eine Familie […] mit mehreren kleinen Kindern und evtl. älteren Personen« war nun ebenso wenig davor gefeit, nach Frankreich deportiert zu werden, wie auch »Trachomkranke und sonstige körperliche Gebrechen […] kein Hinderungsgrund sein [sollten]«.74 Ausgenommen waren nur noch die Familien, die über weniger als zwei arbeitsfähige Personen – Erwachsene oder Kinder – verfügten, und natürlich Facharbeiter, die Unsignierter Tätigkeitsbericht des Beauftragten RKF in Oberschlesien, September 1939 bis Januar 1943, 30. März 1943, BArch 186/42, ohne Seitenangabe, Auszug auch als NO-5640. 71 Herbert, Fremdarbeiter, S. 195. 72 Timm an Landesarbeitsamt, 18. Februar 1943, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe. 73 Vermerk Krumey, irrtümlich datiert auf den 23. Februar 1943, frühestens jedoch 25. Februar 1943, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 122f. 74 Vermerk Krumey, 24. Februar 1943, BArch R 75/10, ohne Seitenangabe. 70 373 das Wartheland nicht abgeben wollte.75 Es dauerte schließlich bis Ende April, bis 16772 Personen erfasst und wiederum über die Lager in Litzmannstadt nach Frankreich deportiert wurden.76 Kaum war die Frankreich-Aktion abgeschlossen, meldeten auch die Arbeitsämter in Niederschlesien erhöhten Bedarf an, der ebenfalls aus dem Wartheland gedeckt werden sollte. Zwischen dem 25. Mai und 4. Juni verschleppte die dortige Umwandererzentralstelle also Hunderte und bis zum Ende des Jahres insgesamt 1974 Personen nach Niederschlesien.77 Ähnliche kurzfristige Anforderungen folgten, und auch die Frankreich-Aktion wurde fortgesetzt. Ende Oktober 1944 waren insgesamt 23512 polnische Zwangsarbeiter dorthin verschleppt worden.78 Die Zwangsarbeiterrekrutierung war damit zum zentralen Arbeitsfeld der Umwandererzentralstelle im Wartheland avanciert. War die »Freistellung von polnischen Arbeitskräften für das Altreich« bereits in einem Lagebericht im August 1942 als eine der »Hauptaufgaben« der Umwandererzentralstelle bezeichnet worden, legte Krumey ein Jahr später auch konkrete Zahlen vor.79 Im Dezember 1943 brachte er die Verschleppung von einem Viertel aller landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Wartheland ins Gespräch, die angeblich nicht gebraucht würden – eine Ansicht, die die Zivilverwaltung freilich nicht teilte.80 Entscheidend war aber wohl etwas anderes: Wegen der immer weiter abnehmenden Wahrscheinlichkeit, die Deportationspolitik in absehbarer Zeit wieder aufnehmen zu können, musste die Existenz der Umwandererzentralstelle neu begründet werden. Eingerichtet auf dem Höhepunkt deutscher Macht, um die Germanisierung der Provinz durch die Deportation der ein- Bericht Krumey, 4. April 1943, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe. Krumeys Abschlussbericht über die Arbeit der Umwandererzentralstelle im Wartheland und im Generalgouvernement 1943, geheim, 31. Dezember 1943, AGK NTN/13, Bl. 158–174. 77 Ebenda. 78 Bericht SS-Hauptsturmführer Hermann Püschel, der Stellvertreter Krumeys, 1. November 1944, abgedruckt in: Łuczak, Położenie ludności polskiej (DO XIII), S. 158–160, und Biuletyn 21, S. 129. 79 Unsignierter, geheimer UWZ-Bericht über den Juli 1942, 5. August 1942, BArch R 75/4, ohne Seitenangabe, abgedruckt in: Biuletyn 21, S. 113f. 80 Krumeys Abschlussbericht über die Arbeit der Umwandererzentralstelle im Wartheland und im Generalgouvernement 1943, geheim, 31. Dezember 1943, AGK NTN/13, Bl. 158–174. 75 76 374 heimischen Bevölkerung durchzusetzen, rückte ebendies durch die sich verschlechternde Kriegslage in immer weitere Ferne. Krumey reagierte darauf frühzeitig. Mit der Umstellung auf den »totalen Krieg« war die Rekrutierung der notwendigen Arbeitskräfte zur »Hauptbeschäftigung der deutschen Kriegswirtschaft« geworden – und genau mit diesen Bedarf gedachte Krumey die Weiterexistenz seiner Dienststelle zu legitimieren.81 Die rasante Verschlechterung der militärischen Position des Deutschen Reiches bereitete aber auch diesen Planspielen ein schnelles Ende. Nachdem bereits die meisten Außenstellen aufgelöst waren, massiver Widerstand auch die Einstellung der massenmörderischen Vertreibungen im Generalgouvernement erzwungen hatten und ein Großteil des Personals auf die verschiedenen Brennpunkte im schrumpfenden deutschen Machtbereich zerstreut worden war, stellte die Umwandererzentralstelle ihre Arbeit Mitte 1944 faktisch ein.82 Fast die gesamte Führungsspitze wurde Ende März 1944 abgezogen und ein Teil unter Krumey zunächst der Einsatzgruppe F zugeteilt, wo sie mit der Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz das größte einzelne Mordunternehmen in der Geschichte der Shoah durchführen sollte.83 Den in Litzmannstadt zurückbleibenden Beamten verblieb – so Krumey an seinen Nachfolger Hermann Püschel am 14. August 1944 – »die Abfertigung von Rückfragen, Auskunftserteilung, usw.« sowie »aufsichtsführende Aufgaben am Ostwall«.84 Glücklicherweise blieb den Deutschen auch dafür nicht mehr viel Zeit. Łódź wurde am 19. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Tooze, The Wages of Destruction, S. 513 [Übers. G.W.] Das SS-Personal kam unter anderem in Italien, Frankreich und Estland zum Einsatz und natürlich bei der Deportation der ungarischen Juden. Siehe Krumey an Schwarzhuber, 9. Januar 1944, AGK 69/196, Bl. 26; Krumey an Prause, 7. Februar 1944, AGK 69/196, Bl. 32. 83 Zur Rolle Krumeys in Ungarn siehe Gerlach und Aly, Letzte Kapitel. 84 Krumey an Püschel, 14. August 1944, AGK 358/51, Bl. 9. 81 82 375 Assimilation Hatte der Schwerpunkt der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik anfangs noch auf der Deportation derjenigen gelegen, die die Dystopie von einem deutschen Osten zu gefährden schienen, so verschob sich die Gewichtung im Verlauf des Krieges auf die Assimilation jener, ohne die jede Hoffnung auf die Ausweitung der deutschen Volksgemeinschaft auf den zukünftigen deutschen Lebensraum eine Illusion bleiben musste. Da sich die zentralen Akteure jedoch weder über Weg noch Ziel dieser Politik verständigen konnten, wurde auch dieses Politikfeld zunehmend von erbitterten Auseinandersetzungen erschüttert, die jede einheitliche Ausrichtung unmöglich machten. Im Spätsommer 1940 schien sich jedoch eine entscheidende Machtverschiebung anzubahnen, als es Himmler gelang, die Richtlinienkompetenz des Reichsinnenministeriums zu brechen: Mitte September sah sich Stuckart gezwungen, den bisherigen Widerstand gegen die Herausgabe von Himmlers Erlass zur Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten aufzugeben, in dem dieser die Ausweitung der Deutschen Volksliste auf alle Ostprovinzen anordnete. Ende Oktober stimmte das Reichsinnenministerium dann auch formal zu und verschickte einen ersten Entwurf zur Einführung der Deutschen Volksliste mitsamt der dazugehörigen Durchführungsbestimmungen. Von einem Durchbruch Himmlers zu sprechen ist freilich übertrieben – und zwar nicht nur, weil sich die Einführung der Deutschen Volksliste in allen Ostprovinzen noch bis zum März 1941 verzögerte. Die Marginalisierung des Reichsinnenministeriums sollte sich vor allem deshalb als Pyrrhussieg erweisen, weil es dem SS-Komplex auch in der Folgezeit weder gelingen sollte, den zunehmenden Wildwuchs bei der Selektion der einheimischen Bevölkerung in den einzelnen Provinzen zu beenden oder gar den Umfang der Assimilationspolitik einzuschränken. Späteren Versuchen Himmlers erging es nicht anders – auch sie scheiterten an der Macht der Gauleiter. Für die hier aufgeworfene Fragestellung sind diese Initiativen Himmlers von besonderem Interesse, da sie Auskunft über die bis zum Kriegsende fortdauernden Auseinandersetzungen um die Kriterien deutscher Volks- und Staatsangehörigkeit geben und zudem auf ein Selektionskriterium fokussieren, das wie kein anderes als national376 sozialistische Neuerung gelten muss und dennoch höchst umstritten war: »Rasse«. Himmlers wiederholte Versuche, Rasse als entscheidendes Selektionskriterium durchzusetzen, wurden jedes Mal von den Zivilverwaltungen zu Fall gebracht, die diese Überprüfungen als schlicht dysfunktional ablehnten. Wie in der Deportationspolitik sollte schließlich auch in der Politik gegenüber der einheimischen Bevölkerung der Überfall auf die Sowjetunion die entscheidende Wende markieren – oder genauer: die baldige Erkenntnis im Spätherbst 1941, dass sich das Deutsche Reich für einen längeren Krieg rüsten müsse, in dem selbst die Unterstützung weiter Teile der polnischen Bevölkerung unverzichtbar war. Diese Auseinandersetzungen machen dann auch vor allem eines deutlich: Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik kann nicht länger vor allem als Exklusionspolitik missverstanden werden, sondern zielte zunehmend auf die Inklusion weiter Bevölkerungsteile. Diese wurden einem Assimilierungsdruck unterworfen, der in der deutschen Geschichte ohnegleichen war und seine preußischen Vorläufer bald in den Schatten stellte. Einführung der Deutschen Volksliste in allen annektierten Gebieten Westpolens Im Rückblick auf die nationalsozialistische Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten während des ersten Kriegsjahres wird die relative Schwäche des Reichsinnenministeriums besonders deutlich. Mit einem Ressortchef, der weder über eine eigene Hausmacht verfügte noch zum inneren Kreis der NS-Führung gehörte, wurde der Einfluss des Reichsinnenministeriums in einem Zweifrontenkrieg zwischen den Gauleitern und dem SS-Komplex zerrieben. Die Behauptung, wonach das Reichsinnenministerium »die Himmlerschen Kategorien komplett übernahm«, ist dennoch grob vereinfachend, da sie die zentrale Rolle von Initiativen an der Peripherie unterschlägt, in diesem Fall also die Vorbildfunktion der Deutschen Volksliste im Wartheland.85 Neu war an Himmlers Erlass nur ein Aspekt: »Rasse« als Selektionskriterium nicht nur für »fremdblütige« Juden, sondern auch für »fremdvölkische«, aber »artverwandte« Polen. Wie ich zeigen werde, war es aber genau diese Neue- 85 Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 264. 377 rung, also gewissermaßen der SS-eigene Beitrag zur nationalsozialistischen Germanisierungspolitik, der sich nicht durchsetzen sollte. Es dauerte vier Monate, bis der Erlass über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit und die dazugehörigen Durchführungsbestimmungen im März 1941 unterschrieben wurden. Die Gründe für diese Verzögerung sind den Quellen nicht eindeutig zu entnehmen, allerdings scheinen die Differenzen auf der vom Reichsinnenministerium für den 13. November 1940 anberaumten Konferenz nicht endgültig bereinigt worden zu sein.86 Im Zentrum stand dabei die Bemühung, im Rahmen der reichsweiten Einführung der Deutschen Volksliste eine grundlegende Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und der staatsrechtlichen Behandlung auch der nicht in den Staatsverband aufzunehmenden Personen im deutschen Machtbereich zu klären. Die Einführung der Deutschen Volksliste sowie die Schaffung der Staatsangehörigkeit auf Widerruf markierte dabei nach Verkündung der Nürnberger Gesetze einen weiteren Schritt zu Aushöhlung der Institution der Staatsangehörigkeit. Die Einrichtung der »Schutzangehörigkeit« etablierte darüber hinaus ein staatsrechtliches Novum, waren damit doch Menschen gemeint, deren Zugehörigkeit zu einem anderen Staatsverband abgestritten, denen der Zugang zum eigenen aber versagt blieb. Diese Entwicklung war aus nationalsozialistischer Perspektive freilich problematisch. Wie sich Vertreter einer interministeriellen Besprechung am 15. Januar 1941 im Reichsinnenministerium entrüsteten, gehe es nicht an, »die zwar nicht umvolkbaren, aber doch artverwandten Fremdvoelkischen nur zu Schutzangehoerigen [zu machen], […] die artfremden Juden [jedoch] im Besitz der deutschen Staatsangehoerigkeit zu belassen«.87 Der Vorschlag des Reichsinnenministeriums, auch die jüdischen Deutschen zu Schutzangehörigen zu machen, war von Hitler mit dem gleichen Argument abgelehnt worden: Sie mussten schlechtergestellt werden als die Polen. Als logische Folge blieb also lediglich, sie zu Staatenlosen zu erklären – eine Entwicklung, die in geradezu exemplarischer Weise die Verknüpfung und gegenseitige Radikalisierung von antijüdischer 86 87 Frick an SdF, BArch R 1501/5402, Bl. 305–335. Undatierte und unsignierte Niederschrift über eine Besprechung im Reichsinnenministerium am 15. Januar 1941, NG-300. 378 und antipolnischer Politik aufzeigt. Tatsächlich wurde diese Regelung dann auch Ende des Jahres 1941 zumindest für die jüdischen Deutschen verordnet, die in die Vernichtungslager außerhalb der Reichsgrenzen deportiert wurden.88 Zu Beginn dieses Jahres war in diesem Punkt aber noch keine Einigung zu erzielen. Auch wenn niemand dieser abermaligen Radikalisierung der antijüdischen Politik widersprach, konnte man sich doch nicht darüber einigen, ob auch den sogenannten jüdischen Mischlingen die deutsche Staatsangehörigkeit abgesprochen werden sollte. Es waren offensichtlich auch solche Fragen, die es letztlich angebracht erscheinen ließen, eine allgemeine Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts von der reichsweiten Einführung der Deutschen Volksliste abzukoppeln, um Letztere nicht noch weiter hinauszuzögern. Die Erlassentwürfe zur Deutschen Volksliste wurden schließlich von Hitler vermutlich im Februar 1941 gebilligt.89 Unterzeichnet wurde die Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten am 4. März 1941 von Frick, Heß und Himmler. Zur Erinnerung: Die Verordnung definierte zum einen den Personenkreis, der in die Deutsche Volksliste eingetragen werden konnte: die ehemaligen polnischen oder Danziger Staatsangehörigen, die am 26. Oktober oder aber – für Danzig – am 1. September 1939 in den annektierten Gebieten gelebt hatten.90 Zum anderen wurde der Aufbau der Deutschen Volksliste nach dem Modell des Warthelands vorgegeben: eine Zentralstelle beim Reichsstatthalter oder Oberpräsidenten, Bezirksstellen bei den Regierungspräsidenten und Zweigstellen bei den Landräten oder Oberbürgermeistern. Als zentrale Beschwerdeinstanz wurde für alle annektierten Gebiete bei Himmler als Reichskommissar ein Oberster Prüfungshof für Volkszugehörigkeitsfragen eingerichtet. Außerdem wurden die staatsrechtlichen Folgen definiert: Die Angehörigen der Abteilungen 1 oder 2 erhielten die deutsche Staatsangehörigkeit und das Reichsbürgerrecht, während die Angehörigen der Abteilungen 3 oder 4 in einem gesonElfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, RGBl. 1941, Teil 1, S. 721–724. 89 Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 198. 90 Für die ehemaligen Danziger Staatsangehörigen, die nach den neuen Richtlinien in die Abteilungen 1 oder 2 sortiert worden wären, wurde jedoch eine Ausnahme gemacht. Sie wurden nicht in die Deutsche Volksliste eingetragen, sondern erhielten sofort die deutsche Staatsangehörigkeit. 88 379 derten Akt um ihre Einbürgerung nachsuchen und sich also einer weiteren Selektion unterziehen mussten, wobei Letztere selbst dann nur Staatsangehörige auf Widerruf werden konnten.91 Die restliche Bevölkerung wurde auf den Status von Schutzangehörigen des Deutschen Reiches herabgestuft, solange sie denn überhaupt über einen »Wohnsitz im Inlande« verfügten. Eine Deportation aus dem Deutschen Reich würde sie also auch dieses Status berauben.92 Nur wenig später unterzeichnete Frick am 13. März 1941 die Durchführungsbestimmungen.93 Auch diese hatten sich im Vergleich zu dem vom Reichsinnenministerium am 31. Oktober 1940 versandten Entwurf nur unwesentlich verändert, zielten also auf eine exklusive und differenzierte Selektion der gesamten einheimischen Bevölkerung, bei der »Rasse« eine gewisse Rolle als Selektionskriterium zugewiesen wurde. Dieser Entwurf besiegelte die Niederlage des Reichsinnenministeriums in der Auseinandersetzung mit dem SS-Komplex. Wenn Stuckart in einem Beitrag für die Zeitung der Akademie für deutsches Recht im August 1941 angab, dass »von vornherein Klarheit darüber [bestand], daß die Fremdvölkischen keine deutschen Staatsangehörigen werden«, beschreibt dies also mitnichten den tatsächlichen Verlauf der erbitterten Auseinandersetzungen.94 Wie gezeigt, konnte von einem uneingeschränkten Durchmarsch des SS-Komplexes dennoch nicht gesprochen werden – die Durchführungsbestimmungen waren hierfür in den entscheidenden Passagen zu uneindeutig und ließen einen erheblichen Interpretationsspielraum. Grundsätzlich setzte die Eintragung in die Deutsche Volksliste drei Kriterien voraus, die jedoch nicht gleichzeitig gegeben sein mussten. Dies war, wie im Wartheland praktiziert, in erster Linie genehmes politisches und soziales Verhalten in der Zeit vor dem deutschen Überfall. Die im März eingeführte reichseinheitliche Regelung übernahm diese Kriterien – inklusive der Privilegierung der Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, 4. März 1941, abgedruckt im RGBl. 1941, Teil 1, S. 118–120. 92 Dies galt übrigens auf für die Deportationen ins Generalgouvernement, siehe ebenda. 93 Fricks Durchführungsbestimmungen, 13. März 1941, APP 406/1105, Bl. 9–28, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 122–139. 94 Stuckart, Die Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten, S. 236. 91 380 sogenannten Bekenntnisdeutschen über die Deutschstämmigen. In Abteilung 1 wurden Personen eingetragen, die etwa Organisationen der deutschen Minderheiten angehört hatten oder auch nur in der Öffentlichkeit als Deutsche aufgetreten waren. Traf dies nicht zu oder konnte eine Familie nachweisen, dass sie lediglich unter Druck Mitglied in einem polnischen Verein geworden war, zu Hause aber Deutsch sprach, wurde sie Abteilung 2 zugeordnet.95 Grundsätzlich war die Eintragung in beide Abteilungen nicht an den Nachweis deutscher Vorfahren gebunden – Verhalten war wichtiger als Abstammung. Eine »deutsche Abstammung« wurde erst für die Eintragung in die Abteilungen 3 und 4 vorausgesetzt. Antragsteller, denen eine feindliche politische Betätigung unterstellt wurde, die aber gleichzeitig eine »deutsche Abstammung« nachweisen konnten, wurden in Abteilung 4 sortiert. In dieser Logik erschienen diese Personen gerade wegen ihrer »deutschen Abstammung« besonders gefährlich und mussten unter Beobachtung gehalten werden. Und auch wenn nicht alle wieder in die »deutsche Volksgemeinschaft« zu integrieren waren, so galten diese Bemühungen doch zumindest ihren Kindern. Abteilung 3 erfasste schließlich Antragsteller, die »deutscher Abstammung« waren, ohne in der Zwischenkriegszeit auch als »Deutsche« in Erscheinung getreten zu sein, und Ehepartner von Mitgliedern der Abteilungen 1 oder 2, die ansonsten nicht in die Deutsche Volksliste aufgenommen worden wären. Eine dritte und größte Gruppe waren die Angehörigen der sogenannten Zwischenschicht. Allein hier hatte auch Rasse als Selektionskriterium eine gewisse Bedeutung erhalten. Sofern Antragsteller, die von den deutschen Besatzern als Kaschuben, Wasserpolen oder Schlonsaken bezeichnet wurden, sich durch ihr Verhalten in der Zwischenkriegszeit nicht schon ein Anrecht auf die Eintragung in die Abteilungen 1 oder 2 erworben hatten oder als politische Gegner grundsätzlich ausgeschlossen worden waren, stand ihnen die Aufnahme in Abteilung 3 offen, solange sie nicht als »rassisch ungeeignet« erschienen. Wenn die Auseinandersetzungen um die Abteilung 3 zum zentralen Kampfplatz der an der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik beteiligten Akteure wurden, dann ist dies zum einen der Ma95 Fricks Durchführungsbestimmungen, 13. März 1941, APP 406/1105, Bl. 9–28, abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 122–139. 381 terie selbst zuzuschreiben. Begriffe wie »deutsche Abstammung« oder »rassische Eignung« waren schließlich nur schwer in den Griff zu bekommen zumal das Reichsinnenministerium auch wenig Interesse zeigte, den damit entstandenen Spielraum definitorisch einzuschränken. Nähere Bestimmungen darüber, wann eine »deutsche Abstammung« nicht mehr als »sicher nachweisbar« galt, blieben aus – was insofern verwunderlich ist, als etwa zur Trennung von sogenannten jüdischen Mischlingen ersten oder zweiten Grades ein bereits erprobtes Modell vorlag. Nach welchen Kriterien und von wem eine unter Umständen notwendige »rassische Musterung« durchzuführen war – auch dazu verloren die Bestimmungen kein Wort. Darüber hinaus verzichtete das Reichsinnenministerium darauf, die in Himmlers Volkstumserlass vorgegebene Höchstgrenze von einer Million zu assimilierenden Personen »nicht-deutscher Abstammung« in den Erlass aufzunehmen. Natürlich nutzten die Zivilverwaltungen in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien diesen Spielraum dazu, ihre bisherige – im Vergleich zum Wartheland und den Vorstellungen des SS-Komplexes: inklusive96 – Politik fortzusetzen. Vor allem mit dem Verweis auf die Bestimmungen über die Eintragung der sogenannten Zwischenschicht in die Abteilung 3 sollte deren Anzahl auf über 2 Millionen anwachsen, also auf zwei Drittel aller von der Deutschen Volksliste erfassten Personen. Forster und Bracht setzten damit in ihren Provinzen eine Deportationspolitik durch, die nur noch in Ansätzen mit dem nationalsozialistischen Schlagwort einer rassisch fundierten »Germanisierung des Bodens« in Einklang zu bringen war und sich vielmehr an der preußischen Germanisierungspolitik orientierte, also auf die forcierte Assimilierung zumindest der ehemaligen deutschen Staatsbürger zielte. 96 Da nützte es auch nichts, dass Greifelt bereits am 27. März 1941 seine Zweigstellen in den jeweiligen Provinzhauptstädten aufforderte, »unter allen Umständen« zu verhindern, dass diese Bestimmung nicht »irrtümlich dazu benutzt wird, allzu viele Wasserpolen und Slonzaken als Deutsche anzuerkennen«, und er verpflichtete diese auf die Höchstgrenzen in Himmlers Volkstumserlass, Greifelt an beauftragte RKF, SMR 1232/15, Bl. 38. 382 Wartheland: »Erneute Ermittlungen […] nur […] , soweit sie unbedingt notwendig sind«97 Auf die Germanisierungspolitik im Wartheland hatte die reichsweite Einführung der Deutschen Volksliste die geringsten Auswirkungen, war es der Zivilverwaltung doch gelungen, die vorangegangenen Auseinandersetzungen – wie Coulon zufrieden festhielt – »im Sinne der im Verfahren des Warthelandes eingeschlagenen Linie« zu entscheiden.98 Und als das Reichsinnenministerium schließlich die Durchführungsbestimmungen für das neue Verfahren erließ, hatte sich Mehlhorn zusichern lassen, die nach dem alten Verfahren begonnene und fast abgeschlossene Erfassung zu beenden, bevor die Ergebnisse überprüft und an das neue Verfahren angepasst werden würden.99 Greiser ordnete dann auch die Reorganisation der DVLDienststellen an, um sie mit den Vorgaben aus Berlin in Einklang zu bringen,100 der Selektionsprozess blieb aber faktisch unverändert. Den Zweigstellen wurde vielmehr die kurze Frist bis zum 10. Juni 1941 gesetzt, um die bereits erfassten Personen nach den neuen Richtlinien noch einmal zu überprüfen. Am einfachsten schien dies noch bei den Personen in Gruppe A der »alten« Volksliste: Sie sollten ohne weiteres in Abteilung 1 der »neuen« Volksliste umgetragen werden. Bei der Übertragung der restlichen Gruppen wies Greiser einerseits auf die »etwas weiter gezogen[en]« Bestimmungen des Reichsinnenministeriums hin. Andererseits schärfte er seinen Beamten ein, »grundsätzlich […] davon auszugehen«, dass der bisherigen Gruppe B die Abteilung 2, C die Abteilung 3 und D/E die Abteilung 4 entsprechen. Die Entscheidung war nach Aktenlage zu treffen. Wenn aber die Berliner Richtlinien weiter gefasst waren als die Posener, was passierte dann mit denjenigen, denen die AushändiGreiser an Regierungspräsidenten, Landräte und Oberbürgermeister, 6. April 1941, APP 834/2, Bl. 13–22. 98 Vermerk Coulon, 4. November 1940, APP 406/1109, Bl. 6f. 99 Undatierte und unsignierte Niederschrift des Reichsinnenministeriums über die dortige Besprechung am 15. Januar 1941, SMR 1232/15, Bl. 46–51. 100 Die Reorganisation führte unter anderem dazu, dass Coulon nicht länger Vorsitzender der Zentralstelle war – diese Position musste nun von Greiser selbst ausgeübt werden –, sondern als Vertreter der Gauleitung an den Beratungen teilnahm, siehe NSDAP Gauleitung Wartheland, gez. i. V. SS-Standartenführer Karl Drendel, an Reichsstatthalterei, 11. April 1941, AGK 62/35, Bl. 1. 97 383 gung von Fragebögen verweigert worden war, weil ihre Chancen auf Eintragung von den Zweigstellen als zu gering bewertet worden waren? Auch da zeigte Greiser keine Eile, die Frick’schen Durchführungsbestimmungen zu übernehmen: Den Behörden wurde klargemacht, dass zunächst »Veröffentlichungen irgendwelcher Art über die neue reichsrechtliche Regelung des Volkslistenverfahrens unbedingt zu unterbleiben« hatten und die Bevölkerung erst nach Abschluss der Umsortierungen über die neue Situation zu informieren und gleichzeitig ein letztes Mal zur Antragstellung aufzufordern war. Allerdings gälten diese Aufforderungen allein den noch nicht erfassten Personen »deutscher Abstammung«, die »zu wenigstens 50 % von deutschen Vorfahren [abstammen]«. Die Bevölkerung sei zu informieren, »dass Anträge von Personen, die nicht deutschstämmig sind, völlig aussichtslos sind«.101 Diese ausdrückliche Betonung der »deutschen Abstammung« schien auf den ersten Blick eine Abweichung von der bisherigen Position zu signalisieren, die doch zumindest bei den »Bekenntnisdeutschen« diese eben nicht voraussetzte. Die entstandene Verwirrung wurde von der Reichsstatthalterei beendet: Es bleibe dabei, dass »für die Aufnahme in die Abteilung 1 und 2 der DVL. die 50-prozentige Deutschstämmigkeit von untergeordneter Bedeutung, dagegen das Bekenntnis von ausschlaggebender Bedeutung sei«.102 Schließlich gehe es »nicht an, Menschen, die sich zu polnischer Zeit als Volksdeutsche bekannt haben, jetzt wegen mangelnder Deutschstämmigkeit von der Aufnahme in die deutsche Volksliste auszuschließen«.103 Im Mai 1941 begannen die Zweigstellen mit den Umtragungen, sie sollten nach Greisers Anordnung Mitte Juli abgeschlossen sein. Vor allem für die größeren Städte bedeutete dies einen enormen Zeitdruck, waren dort noch Tausende von Entscheidungen durchzusehen.104 Uebelhoer erlaubte seinen Zweigstellen deshalb die Arbeit Greiser an Regierungspräsidenten, Landräte und Oberbürgermeister, 6. April 1941, APP 834/2, Bl. 13–22. 102 Niederschrift Dr. Senst vom Regierungspräsidium in Hohensalza zu der Besprechung in Posen, 6. September 1941, APP 406/1120, Bl. 3–5. 103 Vermerk Höppner an Abteilung I der Reichsstatthalterei in dem Regierungspräsidium in Litzmannstadt, 20. Oktober 1942, APP 406/1110, Bl. 164. 104 Siehe etwa Strickners Ausführungen, undatierter Bericht Strickners über die Deutsche Volksliste in Polen, vermutlich Ende 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 19–130, hier S. 71. 101 384 nach dem »Berichterstattersystem«, wonach Unterkommissionen Anträge vorprüften und schließlich »Hunderte von gleich gelagerten Fällen summarisch vortragen, weil sie sich nach genauer Prüfung davon überzeugt haben, dass jeder dieser Fälle zweifelsfrei gelagert ist«.105 In der Zweigstelle Litzmannstadt-Stadt, der zweitgrößten in der gesamten Provinz, legte man diese Bestimmungen in einer Weise aus, die die Entscheidungen faktisch an die Sachbearbeiter übertrug,106 die diese wiederum »ohne Anfertigung einer Niederschrift« trafen, was eine nachträgliche Überprüfung verunmöglichte.107 Klar war jedoch, dass sich wenige daran gestört hatten, dass in »den meisten Fällen […] die Antragsteller […] keine Abstammungsurkunden [besaßen]«, was immerhin ein entscheidendes Kriterium bei der Sortierung in die Abteilungen 3 und 4 war. Der zuständige Volkstumsdezernent kam dann auch schnell zum Schluss, dass es »unmöglich stimmen« könne, dass in nur zwei Sitzungen über 80000 Fälle entschieden hatte und nun als eine der ersten Vollzug meldete.108 Als dieses Verfahren bei der Abnahme der Zweigstelle Mitte 1944 endgültig aufflog, verteidigte sich der Oberbürgermeister, dass eine »ordnungsgemäße Aufnahme von über 100000 Personen durch Kommissionsbeschluß […] sehr lange Zeit in Anspruch genommen« hätte. Da das Regierungspräsidium und der damalige Oberbürgermeister Werner Ventzki das Verfahren angeblich »ausdrücklich gutgeheißen« hätten – was diese sofort bestritten – und von den Betroffenen ohnehin viele mittlerweile bei der Wehrmacht seien, wäre es wenig wünschenswert, alle Anträge noch einmal zu überprüfen.109 Da dies offensichtlich auch nicht mehr geschah, hatten immerhin fast 20 Prozent der insgesamt im Wartheland in der Deutschen Volksliste erfassten Personen die deutsche Staatsangehörigkeit (auf Widerruf) in einem Verfahren erhalten, das mit den ansonsten restriktiven Richtlinien der Provinz nichts mehr gemein hatte. Uebelhoer an Zweigstellen, 18. September 1941, APL 897/52, Bl. 84. Vernehmung des Sachbearbeiters der Zweigstelle Otto Triebe, 14. August 1944, APP 406/1113, Bl. 329–331. 107 Unsignierter Bericht des Oberbürgermeisters von Litzmannstadt für den Regierungspräsidenten, 30. Mai 1944, APP 406/1113, Bl. 314f. 108 Vermerk Schultheiß, 5. August 1941, APL 176/387, Bl. 130. Siehe auch Vermerk Coulon, 29. Juli 1941, APP 406/1120, Bl. 203. 109 Regierungsvizepräsident in Litzmannstadt, Dr. Ernst Hermann Riediger, an Reichsstatthalterei, 26. Juni 1944, APP 406/1113, Bl. 311–313. 105 106 385 Die Ereignisse in der Zweigstelle Litzmannstadt-Stadt scheinen jedoch in dieser Größenordnung eine Ausnahme gewesen zu sein. Die meisten anderen Zweigstellen überschritten die von Greiser gesetzte Frist, die schließlich mehrmals verlängert werden musste. Große Veränderungen blieben aber aus. Lediglich im Regierungsbezirk Litzmannstadt wuchs die Deutsche Volksliste von September 1941 bis Januar 1942 um 31878 Personen an.110 Wobei es sich aber nicht um neue Anträge, sondern um die Erstentscheidung von 12644 bereits vorliegenden, aber noch nicht bearbeiteten handelte sowie um die Überprüfung von ca. 20000 bereits abgelehnten Anträgen, die nun doch positiv beschieden wurden. Die allermeisten von ihnen wurden vermutlich in die Abteilung 3 sortiert. Gekoppelt mit dem »Berichterstattersystem« in Litzmannstadt, führten hier die Durchführungsbestimmungen des Reichsinnenministeriums immerhin zur Aufnahme von ca. 20000 bereits abgelehnten Personen, das heißt von 10 Prozent der insgesamt in der Deutschen Volksliste registrierten Personen. Die Prüfungskommissionen in den Regierungsbezirken Posen und Hohensalza scheinen dagegen die Mahnung Greisers eher beherzigt zu haben und kamen mit nur geringen Änderungen aus. Als Ende Januar/Anfang Februar 1942 den wartheländischen Zeitungen ein Aufruf übergeben wurde, mit dem die Bevölkerung über die neue Deutsche Volksliste informiert und zur Stellung von Aufnahmeanträgen aufgefordert wurde, war die Umstellung auf das neue Verfahren abgeschlossen, ohne dass sich die Selektionspraxis relevant geändert hatte.111 Die – so Strickner – »volkspolitisch weich […] formulierten« Durchführungsbestimmungen des Reichsinnenministeriums hatten, abgesehen vom Regierungsbezirk Litzmannstadt, keinen relevanten Einfluss auf die Deutsche Volksliste im Wartheland, auch diesmal hatten sich die lokalen Akteure durchgesetzt.112 Leuschner an Reichsstatthalterei, 4. Oktober 1941, APP 406/1120, Bl. 46. Entwurf für den Aufruf in der Tagespresse mit der Frist vom 28. Februar 1942, vermutlich Ende Januar/Anfang Februar 1942, APP 406/1115, Bl. 7. 112 Undatierter Bericht Strickners über die Deutsche Volksliste in Polen, vermutlich Ende 1942, abgedruckt in: Pospiesyzalski, Niemiecka lista narodowa (DO IV), S. 19–130, hier S. 71. 110 111 386 Oberschlesien: Aufruf an »alle […] Oberschlesier, die sich zum Deutschtum bekennen«113 In Oberschlesien machten die ersten Gerüchte über die baldige Einführung einer Deutschen Volksliste bereits im Frühling 1941 die Runde. Zu einem Zeitpunkt, als das Deutsche Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, die Lage für die Bevölkerung im unterworfenen Europa aussichtslos schien und gleichzeitig die Massenmorde vom Beginn des Krieges noch in schmerzhafter Erinnerung waren, befürchteten viele den Ausbruch einer weiteren Gewaltwelle und möglicherweise die Ermordung derjenigen, die von der Deutschen Volksliste zurückgewiesen wurden.114 Es sollte anders kommen – zumindest für die Personen, die westlich der Polizeigrenze in Gebieten lebten, die bis 1921 zum Deutschen Reich gehört hatten. Anders als im Wartheland gab das neu eingerichtete Oberpräsidium in Kattowitz die Einführung der Deutschen Volksliste sehr bald den lokalen Dienststellen bekannt, die an die Stelle der Polenliste und Deutschenliste trat.115 Am 10. April 1941 wandte sich Bracht schließlich an die Bevölkerung: »Ich wende mich daher an die Bevölkerung Oberschlesiens mit der Aufforderung, die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu beantragen. Ich rufe nicht nur die Volksgenossen auf, die deutschen Organisationen z.Zt. der Polenherrschaft angehört haben, sondern auch alle diejenigen Oberschlesier, die sich zum Deutschtum bekennen oder deutscher Abstammung sind. […] Durch die Deutsche Volksliste wird das deutsche Oberschlesien auch nach außen hin den ihm innewohnenden deutschen Charakter klar zum Ausdruck bringen.«116 Mit dem Aufruf hatte Bracht deutlich gemacht, sich auch durch Berlin nicht von seiner bisherigen Politik abbringen zu lassen. Wie er das Reichsinnenministerium wissen ließ, würde er natürlich für die »völlige Ausmerzung der fremden Elemente« Sorge tragen. Dies werde aber »verhältnismäßig geringe Schwierigkeiten bereiten«, da der »Zuzug aus Kongreßpolen und Galizien […] nicht überAufruf Bracht, APK 119/10731, Bl. 63. Adamski, Pogl˛ad na rozwój sprawy narodowościowej, S. 11f. 115 Springorum an Landräte, Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten, 10. April 1941, APK 117/116, Bl. 102, und 24. Mai 1941, APK 117/116, Bl. 115. 116 Aufruf Bracht, APK 119/10731, Bl. 63. 113 114 387 groß« gewesen sei – er also alle anderen westlich der Polizeigrenze grundsätzlich zumindest in Abteilung 3 der Deutschen Volksliste aufzunehmen gedenke. Es gelte dann, »in den kommenden Jahren in ruhiger Entwicklung das Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum zu stärken und – soweit es verschüttet gewesen ist – wieder zu wecken«.117 Einzelheiten regelte Brachts Durchführungserlass vom 25. Mai 1941, den vermutlich der Leiter der Kattowitzer RKF-Zweigstelle Fritz Arlt entworfen hatte. Als »allgemeiner Grundsatz« habe dabei zu gelten, dass, »soweit wie deutsches Blut vorhanden ist, dasselbe dem Deutschtum erhalten bleibt. Soweit wie Menschen förderungswürdig sind und ihre Eingliederung in den deutschen Volkskörper einen Gewinn für Deutschland darstellt, sollen dieselben eine Eingliederung in den deutschen Volkskörper erfahren«.118 Spielte das soziale und politische Verhalten der Antragsteller bereits in Fricks Durchführungserlass eine wichtige und bei der Eintragung in die Abteilungen 1 und 2 die entscheidende Rolle, wurde dieses Kriterium in Oberschlesien noch bedeutsamer. Es zeigte sich etwa in der Anweisung, Personen, die sich in der Volkszählung von Dezember 1939 als »Deutsche«, in den Wehrerfassungen 1940 und 1941 dann aber als »Polen« bezeichnet hatten, um der Einziehung zu entgehen, von der Aufnahme in die Abteilung 1 auszuschließen. Im Gegenzug wären V-Männer der Abwehr »im allgemeinen als deutsche Aktivisten in Abteilung 1 aufzunehmen«, und zwar auch dann, wenn es sich um Polen handelte oder – in der Umschreibung Brachts – »trotz ihrer dadurch bedingten öffentlichen polnischen Tarnung«.119 Wirklich strittig waren vor allem die Kriterien für die Selektion der Abteilung 3, wusste Bracht doch um die Befürchtung insbesondere des SS-Komplexes, dass die Selektionskriterien für diese Abteilung in einer Weise ausgedehnt werden könnten, die eine Eintragung eines Großteils der einheimischen Bevölkerung unter dem Vorwand Oberpräsidium in Kattowitz, gez. wahrscheinlich Vizeoberpräsident Faust, an Reichsinnenministerium, im Oktober 1941, APK 117/140, Bl. 68–74. 118 Brachts Material für die Arbeiten zur Aufstellung Durchführung der Deutschen Volksliste, 25. Mai 1941, APK 117/116, Bl. 159–167. 119 Ebenda. 117 388 zuließe, es handle sich dabei um Angehörige der Zwischenschicht. Fricks Durchführungsbestimmungen waren diesbezüglich auch deshalb auf Kritik gestoßen, weil sie im Unterschied zu Himmlers Volkstumserlass auf die Setzung einer Obergrenze verzichtet hatten. Um das zu korrigieren, hatte Greifelt noch im März 1941 die RKFZweigstelle in Kattowitz angewiesen, diese Entwicklung unbedingt zu verhindern: Es müsse »unter allen Umständen vermieden werden, dass durch die nachgeordneten Instanzen der Deutschen Volksliste die Formulierung auf Seite 10, Absatz 6c [also die Bestimmungen zur Definition der »Zwischenschicht«, G.W.] irrtümlich dazu benutzt wird, allzu viele Wasserpolen und Slonzaken als Deutsche anzuerkennen. Ich ordne daher an, daß diese Formulierung streng im ursprünglichen Sinn des grundsätzlichen Erlasses Reichsführer SS vom 12. September 1940 ausgelegt wird.«120 Bracht scherte sich darum wenig. In Übernahme der Frick’schen Durchführungsbestimmungen gliederte auch er die Abteilung 3 in »Deutschstämmige, die Bindungen zum Polentum eingegangen sind«, »Mischehen zwischen Fremdvölkischen und Deutschstämmigen« und der in »Oberschlesien ortsansässige[n] Mischbevölkerung […], die eine slawische Haussprache hat«. Diese letzte Gruppe wurde aber vor allem territorial definiert und umfasste nach Ansicht Brachts schlicht die gesamte Bevölkerung auf ehemaligem deutschem und österreichischem Gebiet. Grundsätzlich ausgeschlossen blieben hier lediglich jene Antragsteller, die nicht zur autochthonen Bevölkerung gehörten, also etwa nach 1890 aus dem russischen oder österreichischen Teilungsgebiet Polens zugezogen waren, oder wenn ihr bisheriges politisches und soziales Verhalten bezweifeln ließ, dass sie als loyale Mitglieder der »deutschen Volksgemeinschaft« eingebunden werden konnten. Verwiesen wurde auf Personen, die nach dem Plebiszit aus dem Deutschen Reich, insbesondere aus Westoberschlesien und Westfalen, zugezogen waren, da dies einer Loyalitätserklärung an den neu entstandenen polnischen Staat gleichkam. Und natürlich galten auch jene Angehörigen der sogenannten Zwischenschicht nicht als »erwünschter Bevölkerungszuwachs«, die vor 1918 bereits als deutsche Staatsbürger Teil der irredentistischen Bewegung, in der Zwischenkriegszeit Funktionäre 120 Greifelt an RKF-Zweigstelle in Kattowitz, 27. März 1941, SMR 1232/15, Bl. 38. 389 polnischer Parteien oder Träger hoher polnischer Auszeichnungen gewesen waren oder sich nach dem deutschen Überfall der Widerstandsbewegung angeschlossen hatten. Eine Ausnahme sollte westlich der Polizeigrenze lediglich bei jenen polnischsprachigen Personen gemacht werden, die gleichzeitig eine »deutsche Abstammung« nachweisen konnten. Sie wurden als gefährliche »Renegaten« in die Abteilung 4 eingetragen und also unter Kontrolle gehalten. Obwohl sich der SS-Komplex gegen das Reichsinnenministerium durchgesetzt hatte, wurde seine Hoffnung, endgültig auch rassische Kriterien bei der Selektion der einheimischen Bevölkerung zu verankern, auch in Oberschlesien enttäuscht. Biometrische Kriterien spielten – wenn überhaupt – eine nur untergeordnete Rolle. Zwar findet sich in Brachts Durchführungserlass der Hinweis, dass zumindest ein Angehöriger der »Zwischenschicht« nur dann in Abteilung 3 aufgenommen werden sollte, wenn es sich um einen »würdigen Antragsteller« handelte, und hierbei seien »rassische Gründe ausschlaggebend«. Bracht glaubte aber dieser Richtlinie bereits mit dem dürren Verweis Genüge zu tun, dass es »ratsam« sei, wenn die Kreisleiter ihre Leiter des Rassenpolitischen Amtes hinzuziehen würden. Aber selbst dann sollten nicht »lediglich Schädelmass und Vergleich mit der Farbtafel ausschlaggebend sein, sondern die allgemeine Lebensführung und die allgemeinen Lebensleistungen […] mitbeachtet werden«.121 Volksgemeinschaft war auch in Oberschlesien Tat- und Leistungsgemeinschaft. Wie das Wartheland hatte sich auch Oberschlesien vom Reichsinnenministerium zusichern lassen, die Deutsche Volksliste schrittweise einführen zu dürfen, das heißt, ohne einen abrupten Wechsel von den bisherigen Erfassungen zum neuen Verfahren.122 Als die Zweigstellen in Oberschlesien ihre Tätigkeit im Mai 1941 aufnahmen, setzten sie also zunächst die Erfassung der Personen fort, die entweder für die Eintragung in die Abteilungen 1 oder 2 infrage kamen (und oftmals bereits einen Staatsangehörigkeitsausweis erhalten hatten), im Dienst von Staat oder Partei standen oder aber von Deportation und Beschlagnahmung bedroht waren. Erst danach sollten auch die Übrigen selektiert werden. Brachts Material für die Arbeiten zur Aufstellung Durchführung der Deutschen Volksliste, 25. Mai 1941, APK 117/116, Bl. 159–167. 122 Undatierte und unsignierte Niederschrift des Reichsinnenministeriums über die dortige Besprechung am 15. Januar 1941, SMR 1232/15, Bl. 46–51. 121 390 Wie Brachts Durchführungsbestimmungen zu entnehmen ist, hegte man im Oberpräsidium jedoch keinen Zweifel, dass ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung ebenfalls in die Deutsche Volksliste gehörte – wenn sie denn westlich der Polizeigrenze lebte. Nach einer Mitteilung von Vizeoberpräsident Faust an das Reichsinnenministerium vom Oktober 1941 gedachte die Deutsche Volksliste ihre Erfassung auf einen verhältnismäßig kleinen Teil der Provinz zu konzentrieren. Auszuschließen sei natürlich der äußere Westen der Provinz, der bereits früher zum Deutschen Reich gehörte, deren Bewohner also ohnehin schon deutsche Staatsbürger seien. Weitgehend ausgeschlossen sei aber auch der Oststreifen. Als Beispiel erwähnte Faust die Zweigstelle des im ehemaligen russischen Teilungsgebiet liegenden Kreises Warthenau, die nach Bearbeitung von nur 600 Anträgen ihre Tätigkeit bereits abgeschlossen habe. Die restlichen fast 120000 Einwohner kamen nach Auffassung der Zivilverwaltung für eine Aufnahme nicht infrage. Die Deutsche Volksliste werde sich also »im wesentlichen auf die 10 bis 12 Kreise« des Regierungsbezirks Kattowitz konzentrieren, also auf Gebiete, die nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland oder Österreich an Polen abgetreten werden mussten und in denen etwa 1,8 Millionen Menschen lebten. So war es sicherlich kein Zufall, dass Faust ebenfalls erwähnte, dass die Deutsche Volksliste etwa 1,8 Millionen Menschen erfassen werde, auch wenn er davon ausgehe, dass zwei Drittel von ihnen lediglich für die Aufnahme in die Abteilung 3 infrage kämen.123 Faktisch hatte Faust dem Reichsinnenministerium also die Fortsetzung der hiesigen Politik angekündigt: den generellen Ausschluss der Bewohner östlich der Polizeigrenze, und zwar auch, wenn sie, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, »rassisch geeignet« schienen, sowie die grundsätzliche Assimilation aller westlich der Polizeigrenze lebenden Einwohner, falls sie nicht gerade als politische Gegner galten. Wie die Zivilverwaltung bald herausfand, standen die Berliner Richtlinien dieser geplanten Assimilationspolitik im Weg, und zwar weniger wegen der dort vorgesehenen Selektionskriterien. Wie bereits gezeigt, hatte es noch jede Provinz geschafft, diese so auszu123 Oberpräsidium in Kattowitz, gez. wahrscheinlich Vizeoberpräsident Faust, an Reichsinnenministerium, im Oktober 1941, APK 117/140, Bl. 68–74. Siehe auch Kreisleitung Warthenau-Blachstädt, gez. unleserlich, an Gauleitung, 26. Juni 1941, APK 142/209, Bl. 141–154. 391 legen, dass die bereits vor Einführung der Deutschen Volksliste eingeschlagene Selektionspraxis fortgesetzt werden konnte. Störend war vielmehr das personal- und materialintensive Verfahren, das von den zwei in dreifacher Ausfertigung abzuliefernden Fragebögen über Einzelentscheidungen mit persönlicher Vorstellung der Antragsteller und Inspektion ihrer Wohnungen bis zu einem mehrstufigen Beschwerdeverfahren reichte. Faust machte das dem Reichsinnenministerium an einem Beispiel deutlich: Von den 387000 Menschen im Landkreis Kattowitz kämen nach Schätzungen der Zweigstelle 300000 für die Aufnahme in die Deutsche Volksliste infrage. Bearbeitet wurden bisher aber nur 15352 Anträge – für die restlichen fehlten dem Landrat die Ressourcen.124 Die Bilanz Ende des Jahres sah für die gesamte Provinz nicht viel besser aus, konnten doch erst 190000 Anträge bearbeitet werden, von denen immerhin 89 Prozent positiv beschieden worden waren.125 Wenn mit der Bearbeitung der restlichen 1,6 Millionen aber nicht weitere fünf Jahre gewartet werden sollte, galt es das Verfahren zu beschleunigen. Danzig-Westpreußen: »Stein« ist gleich »Kaminski«126 Weitreichende Konsequenzen drohte die Deutsche Volksliste für das Selektionsverfahren in Danzig-Westpreußen zu haben. Forsters Vertreter bekamen dies bereits bei der erwähnten Sitzung im Reichsinnenministerium zu spüren, in der sich alle Provinzen um einen Bestandsschutz ihrer bisherigen Erfassungen und um eine schrittweise Einführung der Deutschen Volksliste bemühten. Zum Konflikt kam es, als der Regierungspräsident von Danzig, Fritz Hermann, zu erkennen gab, dass Forster nicht bereit sei, das bisherige Verfahren zugunsten der aus Berlin verordneten Richtlinien aufzugeben und stattdessen beide verknüpfen wolle. Wie bisher sollten die Personen also zuerst durch die von der Partei durchzuführende »Grobauslese« erfasst und dann erst den Kommissionen der Deutschen Volksliste zur endgültigen Entscheidung übergeben werden. Das Prinzip der freiwilligen Antragstellung versprach Hermann dadurch zu Oberpräsidium in Kattowitz, gez. wahrscheinlich Vizeoberpräsident Faust, an Reichsinnenministerium, im Oktober 1941, APK 117/140, Bl. 68–74. 125 Übersicht des Oberpräsidiums über den Stand der Deutschen Volksliste am 1. Dezember 1941, 8. Januar 1942, BArch R 49/467, ohne Seitenangabe. 126 Forsters vertrauliche Ausführungsbestimmungen, 21. Mai 1941, AGK NTN/198, Bl. 56–63. 124 392 wahren, dass auch Anträge außerhalb der von der Partei durchgeführten Vorerfassung bearbeitet würden, auch wenn die Bevölkerung zunächst nicht über die Einführung der Deutschen Volksliste informiert werde. Den Einwand Hermann Herings vom Reichsinnenministerium, die Bevölkerung werde wohl kaum die Eintragung in die Deutsche Volksliste beantragen, wenn sie gar nichts von ihrer Existenz wisse, versuchte Hermann damit zu entkräften, »daß sich diese Kenntnis […] sicher schnell von Mund zu Mund verbreiten würde«. Nicht in der Lage, Forster auf das neue Verfahren festzulegen, gab das Reichsinnenministerium schließlich auch hier »[n]ach längerer Aussprache« und mit den Zusicherungen, dass die Vorerfassung nach den Richtlinien stattfinde, »wie sie im Protokoll festgehalten« seien, nach.127 Zunächst machte Forster also weiter wie zuvor. Bevor den lokalen Dienststellen die Erlasse zur Deutschen Volksliste zugingen, erhielten sie zunächst Anweisungen über die Fortsetzung der im vorigen Jahr begonnenen »Deutschstämmigenaktion« – also der Erfassung einer für jeden Kreis spezifisch festgesetzten Anzahl von Einheimischen zur »Wiedereindeutschung«. Kriterien und Verfahren der »Deutschstämmigenaktion« hatten sich 1941 im Vergleich zum Vorjahr nur unwesentlich geändert: Der Kreisleiter des Kreises Preußisch Stargard im Regierungsbezirk Danzig wies seine Blockleiter an, ihm Listen mit den Personen zu überreichen, die zum einen bereits vor dem Ersten Weltkrieg hier gelebt und zum anderen entweder Verwandte im Deutschen Reich hatten oder selbst »deutscher Abstammung« waren, wobei es ausreichte, »in irgendeinem Elternteil von Deutschen [abzustammen]«. Zu denken war auch an zweisprachige Ehen sowie an Familien, die sich »in den letzten 20 Jahren deutschfreundlich und auch ansonsten anständig verhalten« hätten, einen »deutschen bezw. rassisch guten Eindruck« machten oder generell »für das deutsche Volkstum einen wertvollen Zuwachs« darstellten.128 Erfasst werden sollten also all jene, die »nach Bekenntnis, Herkunft und Verhalten dem deutschen Volk einverleibt werden könUndatierte und unsignierte Niederschrift des Reichsinnenministeriums über die dortige Besprechung am 15. Januar 1941, SMR 1232/15, Bl. 46–51. 128 Merkblatt für die Vorerfassung des Kreisleiters in Preußisch Stargard, Walther Hillmann, das als streng vertraulich eingestuft wurde und unter Verschluss zu halten war, 1. Mai 1941, APG 532/919, Bl. 2–7. Siehe zu Hillmann auch Personalakte des Reichsinnenministeriums, SMR 720-5/3557. 127 393 nen«, wobei auf ihr »äußeres Erscheinungsbild (Sauberkeit), Sprache, fachliche Eignung, Namensform, frühere Zugehörigkeit zu Organisationen, Geburtsort (evtl. der Eltern und Großeltern)« zu achten war.129 Diese Listen gingen an die Kreisleiter, die sie überprüften und an die Blockleiter mit Fragebögen für die Vorerfassung zurückgaben. Die ausgefüllten Fragebögen waren schließlich mit einer kurzen Bewertung des zuständigen Zellen-, Block- und Ortsgruppenleiters zu versehen und einer Kommission vorzulegen, die nach Abschluss der Erfassung die Ortsgruppen aufsuchte und darüber entschied, ob die Person der Zweigstelle für die Aufnahme in die Deutsche Volksliste vorgeschlagen werden sollte. Im Gegensatz zu den Kommissionen der »Deutschstämmigenaktion« bestanden diese nun ausschließlich aus Gefolgsleuten Forsters: dem Kreisleiter, einem Beauftragten der Gauleitung und anderen »besonders beauftragten Männern«.130 Da die endgültige Entscheidung von den Dienststellen der Deutschen Volksliste getroffen werden sollte, glaubte Forster also nicht einmal mehr den Anschein erwecken zu müssen, auch andere Interessengruppen wie etwa den SS-Komplex einzubeziehen. Erst nachdem die Vorerfassung in den meisten Kreisen abgeschlossen war, gab Forster am 21. Mai 1941 die Einführung der Deutschen Volksliste in Danzig-Westpreußen bekannt und erteilte genaue Anweisungen, wie Fricks Durchführungsbestimmungen zu interpretieren waren. So wurde dem neuen Kurs im Reichsinnenministerium mit der Behauptung Reverenz erwiesen, wonach die »Deutsche Volksliste […] nicht [bezwecke], fremdes Volkstum zu assimilieren«. Faktisch ging es Forster aber um die Fortsetzung seiner Assimilationspolitik, wenn er etwa bei der Bestimmung der »deutschen Abstammung« neben den üblichen Kriterien wie der ZuUndatierte und unsignierte Niederschrift der Besprechung der Landräte und Oberbürgermeister im Regierungsbezirk Bromberg am 14. Mai 1941, AGK NTN/201, Bl. 41–43. Sauberkeit ist dann auch ein ständig wiederkehrender Topos in den Kriterienkatalogen zur Scheidung von Deutschen und Polen. Allgemeiner zur Bedeutung von Sauberkeit für das deutsche Selbstverständnis und die Abgrenzung von anderen siehe Reagin, Sweeping the German Nation, hier insbesondere S. 181–217. Zur Bedeutung von Sauberkeit für die Abgrenzung von Polen siehe Orłowski, Polnische Wirtschaft, S. 319–346. 130 Merkblatt für die Vorerfassung des Kreisleiters in Preußisch Stargard, das als streng vertraulich eingestuft wurde und unter Verschluss zu halten war, APG 532/919, Bl. 2–7. 129 394 gehörigkeit zu einer evangelischen Gemeinde die Beamten zu einem ungewöhnlichen Maß an Verständnis für Antragsteller mit polnischem Namen aufforderte. Diese seien durchaus noch kein Ausschlussgrund, schließlich habe der Familienname möglicherweise unter wirtschaftlichem oder politischem Druck polonisiert werden müssen, hinter einem »Kowalski« könnte sich ein »Schmidt«, hinter einem »Kaminski« ein »Stein« verbergen. Und auch ein polnischer Vorname gehe möglicherweise auf die Weigerung der staatlichen Behörden zurück, die ursprünglich deutsche Form in das Geburtsregister aufzunehmen.131 Bezeichnenderweise unterließ es Forster überhaupt anzugeben, wann eine Person wegen zu geringer »deutscher Abstammung« nicht aufgenommen werden durfte. Während im Wartheland wie gezeigt Personen nur dann als »deutschstämmig« galten, die mindestens zwei »deutsche« Großeltern vorweisen konnten, ließ die Zentralstelle auch die Eintragung von Personen zu, die »weniger als die Hälfte deutschstämmig« waren – ohne zu bestimmen, ob zumindest ein deutsches Großelternteil notwendig war.132 Ebenso verständnisvoll zeigte sich Forster bei der Beurteilung von »Haltung und Gesinnung«. Nachdem alle politischen polnischen Organisationen aufgelöst, ihre Anführer ermordet worden oder in Haft waren, glaubte man selbst die Antragsteller nicht notwendigerweise ausschließen zu müssen, die nur »zwangsweise« Mitglieder dieser Organisationen geworden waren. Nicht einmal fehlende deutsche Sprachkenntnisse waren ein Hinderungsgrund. So sollten zwar die Mitglieder der Abteilung 1 oder 2 zumindest deutsch sprechen können, dies galt aber nicht für die Mitglieder der Abteilung 3, schließlich sei die »Beherrschung der deutschen Sprache kein wesentliches Merkmal der Deutschstämmigkeit«.133 Die lokalen Behörden folgten diesem Beispiel und organisierten, wie etwa die Kreisleitung in Neustadt, Sprachkurse für jene Angehörigen der Abteilungen 3 und 4, die »bis jetzt der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht fähig sind«.134 Forsters vertrauliche Ausführungsbestimmungen, 21. Mai NTN/198, Bl. 56–63. 132 Durchführungsbestimmungen der Zentralstelle, 21. Mai NTN/198, Bl. 64–72. 133 Forsters vertrauliche Ausführungsbestimmungen, 21. Mai NTN/198, Bl. 56–63. 134 Rundschreiben des Kreisorganisationsleiters der NSDAP, Neustadt, 8. Juli 1941, APG 266/4, Bl. 19–21. 131 1941, AGK 1941, AGK 1941, AGK Kreisleitung 395 Forster ließ es sich auch nicht nehmen, die Spitzen von Partei und Staat noch einmal gesondert darauf hinzuweisen, wie entscheidend ein schnelles und inklusives Verfahren sei. Den Regierungspräsidenten von Bromberg, Dr. Johannes Kurt Schimmel, wies er am 24. Juli 1941 an, mit der Tätigkeit der Zweigstellen in den Kreisen sofort zu beginnen, in denen bereits die Vorerfassung durchgeführt worden sei. Die Zustimmung der Zweigstelle setzte er als Formalie voraus, schließlich waren die Personen bereits von der Partei überprüft worden. Etwaige Widerstände seien deshalb so schnell wie möglich zu beseitigen: »Wenn in der Kommission der Zweigstellen der Deutschen Volksliste durch wiederholte Einsprüche einzelner Mitglieder die Arbeiten verzögert werden, so erwarte ich von Ihnen, dass Sie den Kommissionen die Wichtigkeit rascher Entscheidung beibringen.«135 Schimmel gab diese Anweisung auch sofort weiter und schärfte den Landräten ein, dass »es Ihre vornehmste Aufgabe sein [muß], rasche Entscheidungen herbeizuführen«.136 Forster konnte sich vor Ort aber auch auf Parteigenossen wie Warras, den Kreisleiter in Thorn, verlassen. Nach Niederschrift des Bürgermeisters Dr. Zeitler begann Warras mit einem historischen Überblick, der eine möglichst inklusive Selektionspolitik rechtfertigen sollte: »Die hier wohnende Bevölkerung sei zwar durch unkluge deutsche Regierungen planmäßig dem Polentum zugeführt worden, so dass sie äußerlich polnisch erscheine, allein der Kern sei deutsch und es wird nur an der nationalsozialistischen Erziehungsarbeit liegen, aus diesen Menschen, die zum Teil selbst nicht wissen, wohin sie gehören, wertvolle deutsche Menschen zu machen.«137 Zuständig war für Warras die Partei und nicht die DVL-Zweigstelle. Über die in der Vorerfassung bestimmten und der Zweigstelle bereits präsentierten Personen sei von dieser nicht mehr zu befinden, die Entscheidung der Partei sei vielmehr »endgültig und kann auf keinen Fall von kurzsichtigen Menschen verworfen werden, denn wir ordnen hier die BevölkerungsstrukForster an Schimmel, 24. Juli 1941, APB 9/5, Bl. 107. Schimmel an Zweigstellen, 29. Juli 1941, APB 9/5, Bl. 109. 137 Niederschrift des Bürgermeisters Dr. Zeitler über die Besprechung beim Kreisleiter am 24. September 1941, 24. September 1941, AGK NTN/201, Bl. 50. 135 136 396 tur nicht von heute auf morgen, sondern für die kommenden Jahrhunderte. Es ist gleichgültig, ob kleine Fehler gemacht werden, oder nicht, die große vom Gauleiter angegebene Linie ist richtig«.138 Die kritische Nachfrage des als »Volksdeutscher« in die Zweigstelle berufenen Schulleiters Eduard Heinz, dass damit ja wohl auch Fricks Durchführungsbestimmungen aufgehoben seien, beantwortete Warras belehrend, »dass man sich in gehässige parlamentarische Streitigkeiten nicht einlassen dürfe« und kündigte auch gleich an, »dass er jeden Mitarbeiter der Deutschen Volksliste vor das Parteigericht stellen würde, der sich nicht seinen Anordnungen in Bezug auf das Verfahren der Deutschen Volksliste unterordne«. SS-Untersturmführer Harbrecht erging es nicht besser, als er Warras wissen ließ, sich nach wie vor an die Durchführungsbestimmungen des Reichsinnenministeriums halten zu wollen und gegen jeden »polnischstämmigen Familienverband« sein Veto einlegen werde: »Der Kreisleiter erklärte dazu, dass für die Lösung der Volkstumsfrage im Reichsgau Danzig-Westpreussen allein der Gauleiter die Verantwortung trage und aus diesem Grunde der Befehl des Gauleiters ausgeführt werden müsse. Er schloss damit die Besprechung.«139 Wie ernst es Forster war, sollte SS-Rottenführer Wellnitz ()vom SD erfahren. Nur zwei Tage nachdem Forster mit Himmler in Anwesenheit Hitlers über die Deutsche Volksliste in Streit geraten war, besuchte er am 21. Oktober 1941 Neumark und nahm wie bereits öfter geschehen auch an der Sitzung der dortigen Deutschen Volksliste teil.140 Zu seiner Verbitterung musste er gleich bei der ersten der Zweigstelle von der Vorerfassungskommission vorgeschlagenen Person erleben, wie Wellnitz Einspruch erhob. Nach dem Bericht von Wellnitz’ Vorgesetztem, dem Leiter des SD-Abschnittes Thorn, SS-Sturmbannführer Werner Böhm, reagierte Forster ausfallend, bezeichnete Wellnitz’ Einspruch als »Quatsch« und forderte ihn auf, seinen Einspruch zurückzunehmen. Als dieser sich mit dem Verweis auf Fricks Durchführungsbestimmungen weigerte, entgegnete Forster: »Sie sind zu dumm zur Auslegung des Erlasses« und warf ihn Ebenda. Ebenda. 140 Witte u.a. (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, Eintrag für den 19. Oktober 1941, S. 186. Siehe auch ebenda, S. 209. 138 139 397 Goebbels nimmt bei einem Besuch in Danzig-Westpreußen an einer Sitzung der Zweigstelle Thorn teil. Links von ihm Gauleiter Forster. Narodowe Archiwum Cyfrowe, 2–3854 hinaus.141 Natürlich heizte dieser Vorfall die Animositäten zwischen dem SS-Komplex und Forster weiter an, zumal der Höhere SS- und Polizeiführer Richard Hildebrandt nur zu gut wusste, dass er kein Einzelfall war. In einem Schreiben an Himmler zwei Tage später ereiferte er sich, dass Forster »nicht das geringste Recht« zu Angriffen dieser Art habe. Sie seien »sachlich unberechtigt und darüber hinaus unverschämt und beleidigend, daß allein die SS die Sache nicht auf sich beruhen lassen kann. Schließlich muß auch dem größenwahnsinnigen und unverantwortlichen Treiben eines Gauleiters noch irgendwo ein Halt geboten werden können«.142 Dass sich der Streit zwischen dem SS-Komplex und der Zivilverwaltung ausgerechnet an dieser Frage neu entfachte, war freilich wenig verwunderlich, hatte Himmler die Einführung der Deutschen Volksliste doch auch deshalb forciert, um assimilatorische Selek141 142 Vermerk Böhm, 21. Oktober 1941, BArch R 49/36a, Bl. 54. Hildebrandt an Himmler, 23. Oktober 1941, BArch R 49/36a, Bl. 52f. Über den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung siehe auch Schenk, Hitlers Mann in Danzig, S. 205–212. 398 tionspraxen auszuschließen, die Deportationen voranzutreiben und so Raum für die ethnischen Deutschen aus Osteuropa zu schaffen. Es war jedoch nicht allein die Auslegung der Selektionskriterien durch die Zivilverwaltung, die diesen Zielen entgegenstanden. Für den SS-Komplex ebenso ärgerlich war die Anweisung Forsters vom 15. Mai 1941, die Namen aller zur Deportation vorgesehenen Personen an den zuständigen Kreisleiter zu melden, der entscheiden würde, ob sie nicht ebenfalls von der Zweigstelle aufzunehmen wären. Außerdem wurde diesen Personen ausdrücklich das Recht zugesichert, sich selbst noch aus dem Durchgangslager um die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu bewerben.143 Hildebrandt stand damit vor einem Dilemma: Was passierte, wenn eine Person vom SD erfasst, in ein Lager der Umwandererzentralstelle oder ins Generalgouvernement verschleppt worden war und anschließend von der Zweigstelle in die Deutsche Volksliste eingetragen wurde? Eine besonders »große Gefahr« prognostizierte Hildebrandt für den Fall, dass der Betreffende in die Abteilung 1 oder 2 einsortiert würde, könne doch dann der Reichskommissar »auf dem Regresswege in Anspruch genommen werden«.144 Aber auch die Sortierung in die Abteilungen 3 oder 4 wäre problematisch, seien diese Personen als »Deutsche« doch nicht mehr im gleichen Maße dem Zugriff der SS ausgeliefert und müssten aus den Durchgangslagern für Polen in das eigens zu diesem Zweck eingerichtete »Eindeutschungslager« in Gosslershausen überstellen werden. Da an der Zuständigkeit der Deutschen Volksliste in dieser Frage nicht zu rütteln war, setzte der SS-Komplex auf den Aufbau einer Parallelstruktur, die auf der Grundlage der Bestimmungen des Reichsinnenministeriums die Deportierten simulierten DVL-Entscheidungen unterwarf, um das eigene Agieren gegenüber Forster rechtlich abzusichern. In den UWZ-Lagern wurden Außenstellen des SS-Sonderreferats gebildet, um alle dorthin verschleppten Personen auf der Grundlage von Fricks Durchführungsbestimmungen vom 13. März 1941 auf ihre Volkstumszugehörigkeit zu überprü- Undatierte Niederschrift des stellvertretenden Leiters des SS-Ansiedlungsstabes Danzig, Dr. Duckart, über die Besprechung der Kreisarbeitsstabsführersitzung am 15. Mai 1941, APG 265/4492, Bl. 51–55. 144 Niederschrift einer Besprechung bei Hildebrandt am 28. Oktober 1941, abgedruckt in: Jastrz˛ebski, Potulice, S. 68f. 143 399 fen.145 Handelte es sich um »Deutschstämmige«, waren sie – zusammen mit Personen, denen die Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volkstum bescheinigt worden war, sowie den Inhabern von Staatsangehörigkeits- oder DVL-Ausweisen der Abteilungen 3 oder 4 – sofort nach Gosslershausen zu transferieren.146 Sollten dennoch in den UWZ-Lagern verbliebene Personen Aufnahmeanträge stellen, so waren der Zweigstelle die bereits ausgefüllten Fragebögen mit dem Vermerk zuzusenden, dass der Antragsteller aus Sicht des SDSonderreferats nicht in die Deutsche Volksliste aufgenommen werden könne. Wenn die Zweigstelle dieser Empfehlung nicht nachkam, ging sie an den Inspekteur der Sicherheitspolizei, damit dieser Einspruch bei der Zweigstelle einlegen konnte.147 Natürlich war keine der beiden Seiten mit diesem Verfahren zufrieden. Der SD beschwerte sich immer wieder, dass durch das SDSonderreferat abgelehnte Personen dennoch von der Zweigstelle aufgenommen wurden. Nach Włodzimierz Jastrz˛ebski sahen sich die Außenstellen bis Ende 1943 genötigt, die Aufnahmeanträge von 1331 Personen weiterzuleiten, von denen 137 Familien in die Deutsche Volksliste eingetragen wurden. Es ist jedoch falsch, daraus wie Jastrz˛ebski zu schließen, dass die meisten von ihnen vom SD zur Stellung eines Aufnahmeantrags gezwungen wurden, obgleich sie »eindeutige« Polen waren, weil die Zahl der Aufnahmen sehr niedrig gewesen sei.148 Zum einen war die Zahl von 137 in die Deutsche Volksliste aufgenommenen Familien keineswegs klein, schließlich mussten alle Familienmitglieder von über zwölf Jahren die Fragebögen ausfüllen. Angesichts der Durchschnittsgröße der damaligen Familien ist es durchaus möglich, dass etwa der Hälfte der Anträge stattgegeben wurde. Darüber hinaus verkennt Jastrz˛ebski jedoch auch die Grundlinien des Konflikts zwischen Zivilverwaltung und SS-Komplex. Es stimmt zwar, dass alle von der SS verschleppten Willich an SS-Obersturmbannführer Max Pauly und Abromeit, 30. Dezember 1941, APB 96/351, Bl. 5–7. 146 Der Leiter des SD-Sonderreferats beim SD-Leitabschnitt, SS-Obersturmführer Dr. Pech, an das UWZ-Lager in Thorn, 15. Januar 1942, APB 96/351, Bl. 3 und an die UWZ Danzig und an die Außenstellen des SD-Sonderreferates in den UWZ-Lagern, 26. Januar 1942, APB 96/351, Bl. 11. 147 Der Leiter des SD-Sonderreferats beim SD-Leitabschnitt, SS-Obersturmführer Dr. Pech, an die Außenstellen des SD-Sonderreferates, 23. Februar 1942, APB 96/351, Bl. 25–30. 148 Jastrz˛ ebski, Potulice, S. 54–57. 145 400 Personen, die nicht ohnehin bereits als »Deutschstämmige« galten, die DVL-Fragebögen ausfüllen mussten – aber eben nicht, um in die Deutsche Volksliste aufgenommen zu werden, sondern um im Gegenteil die Aussichtslosigkeit eines solchen Antrags und damit die Entscheidung des SD zu bekräftigen, diese Personen in ein Lager der Umwandererzentralstelle verschleppt zu haben. Jastrz˛ebskis Analyse geht insofern an der Zielsetzung der SS-Germanisierungspolitik vorbei, als dass diese auf eine möglichst exklusive Selektionspolitik drängte und überhaupt kein Interesse daran hatte, die von den eigenen Dienststellen in UWZ-Lager deportierten Personen dort zu einem Aufnahmeantrag zu drängen. Die Dienststellen der Deutschen Volksliste waren nicht minder unzufrieden. So hatte die Zentralstelle zwar klargestellt, dass der SD für die Erfassung der Personen in den UWZ-Lagern zuständig sei und die Zweigstellen ihre Entscheidung auf der Grundlage der ihren vom SD zugesandten ausgefüllten Fragebögen zu treffen hätten, eine Vorladung also nicht vorgesehen war.149 Dies hielt eine Reihe von DVL-Dienststellen dennoch nicht davon ab, sich an die jeweiligen Lager zu wenden und eine Überstellung von Insassen zu fordern. Die Umwandererzentralstelle lehnte ab.150 Die Bezirksstelle in Bromberg vermutete, dass der SS-Komplex mit den Fragebögen die Entscheidung der DVL-Dienststellen präjudizieren wollte, deren Vorgehen als zu inklusiv kritisiert wurden. Nachdem das UWZ-Lager in Thorn weitere Forderungen nach Überstellung von Insassen abgewiesen hatte, wandte sich die Bezirksstelle schließlich am 19. Juni 1943 an die Zentralstelle und forderte eine Änderung der bestehenden Regelungen, da so Entscheidungen »erschwert bezw. verhindert« würden.151 Und auch der Landrat in Bromberg, Walther Nethe, in dessen Kreis sich das größte UWZ-Lager Potulitz befand, blieb hartnäckig.152 Sein Stellvertreter verwies auf eine Verordnung So noch einmal grundsätzlich der Regierungsvizepräsident in Bromberg, Raguse, an die Zweigstellen des Regierungsbezirkes, 28. September 1942, APB 9/5, Bl. 365. 150 So etwa UWZ-Danzig, gez. i. A. Kluge, an Regierungspräsidium in Bromberg, nachdem dieses am 18. Januar 1943 die Überstellung von Insassen verlangt hatte, 22. Januar 1943, BArch PL 170/65, Bl. 97. 151 Unsigniertes Schreiben der Bezirksstelle Bromberg an die Zentralstelle, 19. Juni 1943, AGK NTN/213, Bl. 27. 152 Siehe auch Personalakte des Reichsinnenministeriums unter SMR 7205/6930. 149 401 der Zentralstelle vom 9. Februar 1943, die die Zweigstellen aufforderte, Antragsteller nur nach persönlicher Begutachtung in die Deutsche Volksliste aufzunehmen, und drang ebenfalls auf eine grundsätzliche Entscheidung der Zentralstelle.153 Ob eine solche in der verbleibenden Zeit noch erfolgte, ist nicht überliefert. Für den Regierungsbezirk Bromberg war dies aber auch nicht nötig, gab die Lagerleitung in Potulitz – mit Billigung des Inspektors der Sicherheit und des SD, Willich – doch schließlich nach. Am 2. Dezember 1943 wurden der Bezirksstelle die ersten Insassen überstellt, weitere folgten.154 Ende 1941 meldeten die Zweigstellen vorschriftsgemäß Erfüllung – aber nicht den Abschluss der Erfassung der gesamten Bevölkerung, sondern der von Forster bereits im Dezember angeordneten »Deutschstämmigenaktion«.155 Dieser nur zähe Fortschritt war zum einen darauf zurückzuführen, dass dieses Verfahren nicht auf die »freiwillige« Meldung der Bevölkerung setzte, sondern auf eine Selektion durch die Partei, die dabei für jeden Kreis eine bestimmte Anzahl von Personen zu erfassen hatte, die zudem in den besonders dringend gebrauchten Berufen tätig sein sollten. Bald kam jedoch ein weiteres Problem hinzu. Auch wenn die Rechtfertigung des Danziger Regierungspräsidenten Fritz Hermann, wonach es unnötig sei, vor Abschluss der »Deutschstämmigenaktion« die Deutsche Volksliste bekanntzugeben, da sie sich bestimmt herumsprechen würde, wohl als Schutzbehauptung gedacht war, trat nun genau dies ein. So war zum Beispiel der Partei in Thorn aufgetragen worden, 8000 Einwohner der Stadt in der »Grobauslese« zu erfassen und der Zweigstelle zu präsentieren. Weil dieses Verfahren vor der restlichen Bevölkerung aber nur schwer zu verheimlichen war, sah sich die Zweigstelle bald mit zusätzlichen 12 000 Anträgen konfrontiert, die ihr nicht von der Vorerfassungskommission der Partei, Landratsamt Bromberg, gez. i.V. Kistner, an das Regierungspräsidium in Bromberg, 10. Juli 1943, AGK NTN/213, Bl. 32. 154 SD-Sonderreferat Potulitz an Bezirksstelle Bromberg, 2. Dezember 1943, AGK NTN/213, Bl. 34 und der Lagerführer von Potulitz an die Bezirksstelle Bromberg, 28. Dezember 1943, AGK NTN/213, Bl. 40. 155 Siehe etwa Lageberichte des Landrats in Kulm, gez. unleserlich, 6. Dezember 1941, AGK 904/2, Bl. 121–125, oder des Landrats in Wirsitz, gez. unleserlich, 9. Januar 1942, AGK 904/2, Bl. 226–231, jeweils an das Regierungspräsidium in Bromberg. 153 402 sondern von den Betroffenen direkt zugeleitet worden waren. Anders als in den Richtlinien des Reichsinnenministeriums vorgesehen, durfte die Zweigstelle diese Anträge aber nicht gleichberechtigt bearbeiten, sondern musste denen der Vorerfassungskommissionen Priorität einräumen – obwohl von diesen 8000 Personen nur 1000 auch von sich aus um Fragebögen nachgesucht und diese bei der Zweigstelle eingereicht hatten. Für den Oberbürgermeister war dies eine untragbare Situation, der abgeholfen werden müsse, um den Betroffenen »zu ihrem primären Recht zu verhelfen«.156 Dieser Vorfall verweist auf die allgemeine Beunruhigung der lokalen Behörden über das langsame Voranschreiten des Selektionsprozesses. In der Volkszählung vom 6. Dezember 1939 hatten die deutschen Besatzer in der Stadt Thorn 3417 »Volksdeutsche« registriert – also mehr oder minder die gleiche Anzahl, die kurze Zeit später im Rahmen von Fricks Staatsangehörigkeitserlass Staatsangehörigkeitsausweise erhielten, und fast so viele wie die 3983, die nach Einführung der Deutschen Volksliste in die Abteilungen 1 oder 2 eingetragen werden sollten. Wenn die Stadtverwaltung in Thorn aber nun auch einen großen Teil der 57166 Personen in die Deutsche Volksliste aufnehmen wollte, die in der Volkszählung als »einsässig« bezeichnet worden waren, würde sich bei einer Eintragung von lediglich 8000 Personen in einem Jahr der Prozess über Jahre hinziehen.157 Oberbürgermeister von Thorn an Regierungspräsidenten in Bromberg, 8. November 1941, AGK 904/2, Bl. 16f. 157 Das Ergebnis der Volkszählung gab für Thorn folgende Zahlen an: Gesamteinwohnerzahl: 69151, Stufe I (also die »einwandfreien Volksdeutschen«): 3417, Stufe II (»Nichteinwandfreie Volksdeutsche, gutwillige Polen, Kaschuben«): 57166, Stufe III (»Kongreßpolen u. andere, die nicht einwandfrei waren«): 8569. Ein deutlicheres Bild über die ethnische Zusammensetzung der Stadt vermittelte die Abfrage der gesprochenen Sprache. Danach sprachen 9280 Deutsch und 59481 Polnisch (siehe unsignierte und undatierte Übersicht über die Ergebnisse der Volkszählung vom 3.–6. Dezember 1939, AGK NTN/191, Bl. 20f.). Die letzte Übersicht über Eintragungen in die Deutsche Volksliste bei der Zweigstelle der Stadt Thorn liegt vom 7. April 1943 vor. Zu diesem Zeitpunkt waren 3983 Personen in die Abteilungen 1 oder 2, 42152 in 3 und 10 in 4 sortiert worden. Nicht in die Deutsche Volksliste eingetragen waren die 10864 Personen aus dem Deutschen Reich oder ethnische Deutsche aus Osteuropa, die durch die Einwandererzentralstelle eingebürgert worden waren, und etwa 16000 Polen (siehe Polizeidirektor Thorn, SS-Standartenführer Alfons Graf, an Stapo Brom156 403 Selbst dieses, zunächst auf die von der Partei zu erfassenden Personen beschränkte Verfahren verwies jedoch auch auf die enorme Arbeitsbelastung, die auf die Zivilverwaltung zukam. So berichtete der Landrat in Preußisch Stargard im Regierungsbezirk Danzig, dass er die Anträge nur deshalb habe bearbeiten können, weil sich ein Lehrer und mehrere Schüler zur Vorsortierung bereit erklärt hatten. Die Bereitschaft der Schüler habe aber mittlerweile merklich nachgelassen.158 Im Kreis Neustadt, ebenfalls im Regierungsbezirk Danzig, konnte der Landrat diese Aufgabe nur bewältigen, weil er zum einen »jugendliche Arbeitskräfte am Platze« einspannte und zudem den Reichsarbeitsdienst überzeugen konnte, mit dem »weiblichen Kriegshilfsdienst« einzuspringen. Und dennoch: Nach Angaben des Landrats hätte über die Dauer von einem Jahr in drei Schichten rund um die Uhr gearbeitet werden müssen, um die einsetzende Flut von Anträgen zu bearbeiten.159 Einen guten Eindruck vermittelt auch die Situation im Regierungsbezirk Bromberg, der einzige in Danzig-Westpreußen, für den genauere Daten für diesen Zeitraum vorliegen. Danach hatten die dortigen Zweigstellen Ende Dezember 1941 erst 41867 Personen registriert, davon etwas über mehr als 30000 in den Abteilungen 1 und 2.160 Wenn es der Zivilverwaltung ernst war mit der Absicht, alle hiesigen »Volksdeutschen« und die gesamte autochthone Bevölkerung zu registrieren, solange sie nur nicht eine politische Gefahr darstellte, war dies allenfalls ein erster Schritt. Die Kluft machte die Volkszählung vom Dezember 1939 deutlich: Damals waren fast berg, 7. April 1943, AGK 904/4, Bl. 90–102). Aus Sicht Forsters war Thorn, wo nur vier Jahre vorher immerhin noch 59481 Polnisch als Muttersprache angegeben hatten, nun zu einer überwiegend »deutschen« Stadt geworden. 158 Der Landrat von Preußisch Stargard, Walther Hillmann, an das Regierungspräsidium in Danzig, 9. September 1941, SMR 720-4/189, Bl. 7f. 159 Unsignierter Bericht über die Tätigkeit der Zweigstelle der Deutschen Volksliste im Kreis Neustadt, 30. April 1943, APG 37/2, Bl. 455. 160 Unsigniertes Schreiben der Reichsstatthalterei in Danzig an Reichsinnenministerium, 7. März 1942, APP 406/1120, Bl. 19f. Der Autor verweist auf die noch unzureichende statistische Erfassung in der Provinz. So ist im Regierungsbezirk Danzig zwar erfasst worden, wie viele Familien in die einzelnen Gruppen sortiert wurden, aber nicht, aus wie vielen Einzelpersonen diese Familien bestanden. Noch ungenauer ist die Statistik für den Regierungsbezirk Marienwerder, wo ebenfalls nur Familien erfasst wurden, aber nicht einmal die Gruppeneinteilung mitgeteilt werden konnte, sondern lediglich, wie viele Familien in die Deutsche Volksliste eingetragen wurden. 404 80000 Einwohner als »Volksdeutsche« und über 380000 als »Einheimische« bezeichnet worden – also zehnmal so viele, wie bislang in die Deutsche Volksliste eingetragen waren.161 Wenn es Forster mit seiner Forderung nach einer möglichst raschen Selektion der einheimischen Bevölkerung ernst war, dann musste auch er ein Interesse an der Änderung des bisherigen Verfahrens haben. Beschleunigung und Vereinfachung des Selektionsverfahrens Wie in der Deportationspolitik markierte die Jahreswende 1941/42 auch für die Deutsche Volksliste einen tiefen Einschnitt. Nachdem die Zweigstellen vor über einem halben Jahr ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass das durch die Frick’schen Durchführungsbestimmungen verordnete Selektionsverfahren enorm personal- und zeitintensiv war. Genau dies konnten sich die deutschen Besatzer um die Jahreswende aber noch weniger leisten als jemals zuvor, da das Scheitern der Blitzkriegsstrategie gegen die Sowjetunion und die daraus folgende Ausrichtung des Deutschen Reiches auf einen längeren Krieg zum bestimmenden Faktor auch in der Germanisierungspolitik wurde. Auf der Hand liegt dies bei der nun abermals notwendigen Ausweitung der Rekrutierungen für die Wehrmacht, die die Personalstärke des deutschen Besatzungsapparats in den Ostprovinzen reduzierte und die Selektionen im Rahmen der Deutschen Volksliste noch langwieriger machte. Zudem zeigte sich die Wehrmacht bald auch an den Angehörigen der Abteilung 3 interessiert, der mit Abstand größten Gruppe in der Deutschen Volksliste, die nur deshalb noch nicht eingezogen worden waren, weil sie nach den geltenden Bestimmungen nicht deutsche Staatsangehörige waren, dies vielmehr erst auf dem Weg der Einzeleinbürgerung werden konnten. Um dies zu ändern, unterzeichneten Stuckart, Bormann und Himmler am 31. Januar 1942 die »2. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten«, die den Angehörigen der Abteilung 3 die neu geschaf161 Unsignierte und undatierte Übersicht über die Ergebnisse der Volkszählung vom 3.–6. Dezember 1939, AGK NTN/191, Bl. 20f. Die Tatsache, dass die Zahl der deutschen und polnischen Muttersprachler die Gesamtzahl der durch die Volksliste erfassten Personen übersteigt, liegt daran, dass manche Personen beide Sprachen als ihre Muttersprache angegeben haben. 405 fene Staatsbürgerschaft auf Widerruf verlieh – zu diesem Zeitpunkt immerhin mindestens 220000 Menschen, bis zum Kriegsende das Zehnfache.162 Die Staatsangehörigkeit auf Widerruf würde dann ohne weiteres in eine reguläre Staatsangehörigkeit umgewandelt werden, wenn vom Recht auf Widerruf nicht innerhalb von zehn Jahren Gebrauch gemacht würde. Auf den Widerruf konnte aber auch »bei voller Bewährung bereits vorher verzichtet werden«.163 In einem Rückblick schrieb Stuckart, es habe sich schlicht als »politisch und psychologisch notwendig [erwiesen]«, diese Personengruppe »staatsrechtlich in gewisser Weise an das Reich zu binden«. Den Betroffenen konnte so einerseits »die Anwartschaft auf die vollen Inländerrechte« versprochen werden, ohne sie jedoch der direkten Kontrolle durch die deutschen Besatzer zu entziehen, da eine »nachträgliche negative Auslese« möglich blieb.164 Die Zusicherung eines gehobenen Rechtsstatus muss dennoch – so Wacław Długoborski zu Recht – als »Konzession« der deutschen Besatzer gesehen werden. Neben Soldaten war auch die Kooperation der nicht wehrfähigen Bevölkerung notwendiger denn je – sei es als Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte oder als Arbeitskräfte in der Rüstungsproduktion.165 In Danzig-Westpreußen führte diese Situation Anfang 1942 zu einer abermaligen Modifizierung des Selektionsverfahrens, das damit noch weiter von den Berliner Richtlinien abwich. Um die Erfassung weiter zu beschleunigen, wies Forster die Mitglieder der Zweigstellen am 9. Januar 1942 an, den Sitzungen der Vorerfassungskommission beizuwohnen, da so von Vorladungen »in noch größerem Umfange als bisher abgesehen werden« könne. Die Mitglieder der DVL-Prü2. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, gezeichnet Frick, Bormann, Himmler, RGBl. 1942, Teil 1, S. 51f., und Übersicht über den Stand der Deutschen Volksliste der Reichsstatthalterei in Danzig-Westpreußen, 7. März 1942, APP 406/1120, Bl. 19f., im Wartheland mit dem Stand vom 1. Januar 1942, 9. Januar 1942, APP 406/1120, Bl. 64f., und der RKF-Zentralstelle mit dem Stand vom 1. Februar 1942, 5. März 1942, BArch R 49/467, ohne Seitenangabe. 163 2. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, gezeichnet Frick, Bormann, Himmler, RGBl. 1942, Teil 1, S. 51f. 164 Stuckart an Oberste deutsche Reichsbehörden, Stabshauptamt, VoMi, 4. August 1942, APP 406/1110, Bl. 67–73. 165 Długoborski, Polozenie ludności w Rejencji Katowickiej (DO XI), S. xxvii. 162 406 fungskommissionen waren damit im eigentlichen Sinne Zuschauer des eigenen Verfahrens geworden. Zweitens machte Forster klar, auf welche Personen sich die Erfassungen vor allem zu konzentrieren hätte: Angehörige von »Heilberufen«, »Mangelberufen«, Personen im öffentlichen Dienst, mit Verwandten an der Front oder im Deutschen Reich und schließlich solche, die deportiert werden sollten.166 Nachahmer fand Forster in Oberschlesien. Schrittmacher war hier der Landrat in Kattowitz, der, wie erwähnt, bei einer Einwohnerzahl von ca. 387000 mit etwa 300000 Anträgen rechnete – also fast so vielen wie im ganzen Regierungsbezirk Bromberg. Um diesen Andrang auch nur einigermaßen bewältigen zu können, hatte er in den einzelnen Gemeinden und Städten die Aufstellung von lokalen Erfassungskommissionen angeordnet. Sie sollten erst die Fragebögen überprüfen und dabei die Antragsteller zusammenfassen, die in Abteilung 3 zu sortieren waren, um der Zweigstelle eine summarische Entscheidung zu ermöglichen.167 Das Oberpräsidium griff dieses Verfahren auf. In einer Denkschrift des Volkstumsreferats in Zusammenarbeit mit der Partei, der RKF-Zweigstelle und dem SD wurde ebenfalls eine Änderung des Verfahrens gefordert und dies vor allem mit der Notwendigkeit begründet, »den Dienststellen der Wehrmacht im Rahmen des von ihnen örtlich benötigten Bedarfs schnellstens eine hinreichende Zahl deutscher Volkszugehörigen namhaft zu machen«.168 Um dies sicherzustellen, sollte die »deutsche Bevölkerung Oberschlesiens« durch öffentliche Bekanntmachungen aufgerufen werden, sich bis zum März 1942 um die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu bewerben. Wer dies ohne triftige Gründe unterlasse, werde als »nicht zum deutschen Volkstum zugehörig behandelt«. Die Fragebögen würden jedoch nicht mehr direkt der Zweigstelle in der Kreishauptstadt, sondern ebenfalls zunächst den auf lokaler Ebene eingerichteten Erfassungskommissionen zugeleitet, die aus dem Bürgermeister, dem Ortsgruppenleiter sowie einem Vertreter des SD bestehen sollten und von diesem mit einem Entscheidungsvorschlag versehen Forster an Zweigstellen, 12. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 243f. Zweigstelle des Kreises Kattowitz, gez. i. V. Schultze, an die Bürgermeister des Landkreises, 20. Februar 1942, APK 82/691, Bl. 1–6. 168 Unsigniertes Schreiben des Volkstumsreferats des Oberpräsidiums in Kattowitz an die Regierungspräsidenten in Kattowitz und Oppeln, 29. Januar 1942, Barch R 49/3508, ohne Seitenangabe. 166 167 407 würden. Sollte die Erfassungskommission auf Sortierung in die Abteilung 3 befinden, »so erfolgt eine summarische Entscheidung durch die Zweigstelle, die sich lediglich durch stichprobenartige Prüfung von der Richtigkeit des Vorschlags der Erfassungskommission zu überzeugen hat«. Die Prüfungskommission der Zweigstelle hätte nur noch bei Sortierung in die Abteilungen 1, 2 oder 4 sowie bei Uneinigkeit der Erfassungskommission nach dem regulären Verfahren zu entscheiden. Antragsteller, die in die Abteilungen 1 bis 3 eingetragen würden, seien den »Wehrersatzdienststellen […] unmittelbar nach Entscheidung namhaft zu machen«.169 Es sollte keine zwei Wochen dauern, bis Himmler diesen Entwurf mehr oder minder wortwörtlich übernahm und am 10. Februar 1942 als Anordnung zur »Durchführung der Vorerfassung« allen Provinzen verbindlich vorschrieb. Erstaunlich ist nicht nur, wie schnell, sondern vielmehr die Tatsache, dass Himmler diesem Erlass überhaupt zustimmte. Auch wenn er nicht in seinem Interesse gelegen haben kann, so hatte er doch wenig Alternativen, da Forster und Bracht die Frick’schen Durchführungsbestimmungen bereits so umgedeutet hatten, dass sie ihre Assimilationspolitik fortsetzen konnten – hier legitimierte Himmler also lediglich eine bereits bestehende Praxis, die er nicht ändern konnte. Außerdem war sicherlich auch aus seiner Perspektive ein Jahre dauernder Selektionsprozess wenig wünschenswert. Und schließlich glaubte er, für Kontrollmechanismen gesorgt zu haben. Dies betraf zum einen die Maßgabe, dass jedem Mitglied der Vorerfassungskommission – und damit auch dem SD – ein Vetorecht zustand, bei dessem Inanspruchnahme der Antrag nach dem bisherigen Verfahren hätte bearbeitet werden müssen. Darüber hinaus ordnete Himmler an, dass, soweit »zusätzliche örtliche Regelungen für die einzelnen Gaue notwendig sind, sind diese von dem zuständigen Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zu veranlassen. Sie sind mir über mein Stabshauptamt zu Kenntnis zu bringen«.170 169 170 Ebenda. Himmler, RKF, Anordnung 66/I, 10. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 237f. Diese Vereinfachung des Verfahrens ging am polnischen Widerstand nicht unbemerkt vorüber, siehe G˛asiorowski, »Niemiecka lista narodowa«, S. 77. 408 Wartheland: Bestimmung Himmlers »unerheblich«171 Zunächst noch geringe Auswirkungen hatte diese Beschleunigung des Verfahrens auf die Selektionstätigkeit im Wartheland. Hier waren die Zweigstellen gerade dabei, die Umtragungen abzuschließen, und Greiser hatte der »deutschstämmigen« Bevölkerung bereits ein Ultimatum zum 28. Februar 1942 gesetzt. Wer sich bis dahin nicht um die Aufnahme in die Deutsche Volksliste beworben habe, würde als Pole behandelt werden.172 Die Bestimmungen Himmlers erschienen »unerheblich, […] weil ein [sic!] Erfordernis dafür nicht bestand«.173 Und dennoch lassen sich – wenn auch deutlich später – im Wartheland Entwicklungen feststellen, die zumindest in Teilen in die gleiche Richtung zielten. Am 8. April 1943 wies Greisers Stellvertreter Jäger die Bezirksstellen an, alle männlichen Angehörigen des Jahrgangs 1923 und jünger aus Abteilung 4 in Abteilung 3 umzutragen, es sei denn, die ganze Familie wäre ohnehin aus rassischen Gründen auszuschließen oder »in ihrer sozialen Haltung« unerwünscht. Gleiches galt auch für ältere männliche Angehörige der Abteilung 4, die sich freiwillig meldeten. Sie alle würden in Abteilung 3 hochgestuft, »um auf diese Art und Weise beim Dienst in der Wehrmacht beweisen zu können«, dass sie bereit seien, »sich in die Deutsche Volksgemeinschaft einzufügen«.174 Entscheidende Ergebnisse brachten aber weder die erleichterten Eintragungen noch die Umtragung von potentiellen Soldaten von Abteilung 4 in 3. Wie die Zahlen belegen, erhöhte sich die Anzahl der in die Deutsche Volksliste eingetragenen Personen zwischen Anfang April und Ende 1942 nur noch unwesentlich um 44786 Personen. Verglichen mit der Anzahl der Ablehnungen ist dies durchaus aufschlussreich, stiegen diese doch im selben Zeitraum um 58,40 Prozent an.175 Die DVL-Prüfungskommissionen waren also wenig bereit, ihre Selektionskriterien pragmatischer zu handhaben, was sich auch in der unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen AbteilunJäger an Bezirksstellen, 13. September 1943, APL 176/387, Bl. 57. Undatierte und unsignierte Vorlage für einen Aufruf des Volkstumsreferats zur Veröffentlichung in Zeitungen des Warthelandes, APP 406/1115, Bl. 7. 173 Jäger an Bezirksstellen, 13. September 1943, APL 176/387, Bl. 57. 174 Jäger an Bezirksstellen, 8. April 1943, APP 406/1117, Bl. 16f. 175 Übersicht der Reichsstatthalterei mit dem Stand vom 1. April 1942 (APP 406/1120, Bl. 91) und dem 1. Januar 1943 (BArch R 186/32, ohne Seitenangabe). 171 172 409 gen niederschlug: Anfang 1943 waren von den insgesamt 475743 Personen 401372 als politisch zuverlässige »Bekenntnisdeutsche« oder »Volksdeutsche« erfasst worden, also immerhin 84,37 Prozent. Im Vergleich dazu war die Gruppe der 74371 »Deutschstämmigen« oder »Wiedereinzudeutschenden«, die nach dem Willen der Reichsstatthalterei so bald als möglich ins Deutsche Reich verschleppt werden sollten, mit 13,63 Prozent deutlich kleiner.176 Oberschlesien: Würdigung der »Gesamtpersönlichkeit«177 Auch für Oberschlesien hielten sich die Auswirkungen von Himmlers Anordnung in Grenzen, legitimierte er doch lediglich ein hier entstandenes Verfahren. In Vorbereitung der weiteren Erfassung stellte Hohlfeld, der Volkstumsreferent Brachts, für eine Besprechung im Oberpräsidium am 18. Februar 1942 altbekannte Prioritäten heraus. Den Dienststellen der Deutschen Volksliste wurde erneut eingeschärft, die Erfassungstätigkeit sei »vordringlich vor allen anderen Aufgaben« durchzuführen, und die Bedeutung der Erfassungen für den Personalbedarf der Wehrmacht unterstrichen. Letzteres sollte aber der einheimischen Bevölkerung verborgen werden, weshalb die Überprüfungen »unter allen Umständen […] nur im Rahmen der Familie unter gleichzeitiger Aufnahme sämtlicher Familienmitglieder erfolgen (Urahne, Großmutter, Mutter und ›wehrdienstfähiges‹ Kind)«, also Antragsformulare auch an »Familien ohne wehrdienstfähige Personen auszuhändigen« seien.178 Im Anschluss an die Besprechung erhielten die Regierungspräsidenten und Landräte einen erneuten Aufruf Brachts, der am 1. März in den lokalen Zeitungen veröffentlicht wurde und die Antragsfrist auf den 31. März 1942 festsetzte. Die unterschiedliche Wortwahl im Vergleich zum Aufruf Greisers reflektiert die Unterschiede in der Germanisierungspolitik. Während Greiser vor allem die Voraussetzungen hervorhob, ohne die ein Antrag keine Aussicht auf Erfolg haben würde, schlug Bracht einen deutlich inklusiveren Ton an und Übersicht der Reichsstatthalterei mit dem Stand vom 1. Januar 1943 (BArch R 186/32, ohne Seitenangabe). 177 Konzept des Volkstumsreferats des Oberpräsidiums für einen Vortrag für die erste Sitzung der Zentralstelle, 19. Februar 1942, APK 117/140, Bl. 216–223. 178 Undatierter Vermerk Hohlfelds zur Besprechung vom 18. Februar 1942, APK 117/140, Bl. 158f. [Hervorhebung im Original, G.W.]. Siehe auch Kaczmarek, »Niemiecka polityka narodowościowa«, S. 133–135. 176 410 forderte schlicht »alle diejenigen Personen, welche glauben, einen Antrag auf Aufnahme in die Deutsche Volksliste stellen zu können, auf, diesen Antrag umgehend einzureichen«. Offensichtlich fürchtete Bracht jedoch, dass sein Aufruf auf geringes Interesse stoßen würde, wofür vorausschauend auch gleich »arbeitsscheue und politisch unzuverlässige Elemente« verantwortlich gemacht wurden, die immer noch versuchten, »Euch einzureden, daß die in die Deutsche Volksliste (Abt. 1 bis 3) aufgenommenen Volksgenossen […] anders behandelt werden, als die übrigen Deutschen, also Deutsche zweiter oder dritter Klasse bleiben sollen. Diesen unsinnigen Gerüchten gegenüber stelle ich nochmals eindeutig fest, dass sämtliche in die Abteilung 3 der Deutschen Volksliste aufgenommenen Personen in vermögensrechtlicher, steuerrechtlicher und arbeitsrechtlicher Hinsicht allen anderen deutschen Volksgenossen im Großdeutschen Reich vollkommen gleichgestellt werden. Der vollständige Genuß ihres Besitzes, ihres Vermögens und aller sonstiger bürgerlicher Rechte ist ihnen sicher«.179 In einem Entwurf für eine Rede vor der Zentralstelle, deren erste Sitzung in Oberschlesien erst ein Jahr nach den Frick’schen Durchführungsbestimmungen am 20. Februar 1942 stattfand, schwor vermutlich Hohlfeld die Mitglieder auf diese inklusive Politik ein, wonach alle Antragsteller, die in der Zwischenkriegszeit Mitglieder einer »deutschen« Organisation gewesen waren, in Abteilung 1 einzusortieren waren, während selbst Mitglieder polnischer wirtschaftlicher und kultureller Vereinigungen durchaus in Abteilung 2 aufgenommen werden könnten, da diese Mitgliedschaft »oft unvermeidlich« gewesen war. Hohlfeld ermahnte seine Zuhörer aber vor allem zu Großzügigkeit bei der Selektion in Abteilung 3. Hierher gehörte etwa die »Mischbevölkerung mit slawischer Haussprache«, die sich »nicht nur aus deutschen Elementen [zusammensetzt]«, aber auch Personen, die polnischen politischen Verbänden und hier »in gewissen Fällen« auch dem Aufständischen-, dem Westmarkenund dem Schützenverband angehört hatten, also den Organisationen, die eine radikal antideutsche Politik vertraten. Letztlich sei eine Person nach ihrer »Gesamtpersönlichkeit« zu beurteilen und – damit waren wohl nicht zuletzt die Berliner Bestimmungen gemeint – 179 Aufruf Bracht in einem Schreiben Fausts an die Regierungspräsidenten und Landräte, 19. Februar 1942, SMR 1232/15, Bl. 65–60. 411 »nicht vom toten Buchstaben auszugehen«. War eine Person »würdig, der deutschen Volksgemeinschaft eingegliedert zu werden, so ist sie aufzunehmen, wie sie umgekehrt abzulehnen ist«.180 Tatsächlich schnellte die Zahl der in der Deutschen Volksliste erfassten Personen ab Februar merklich in die Höhe: Hatten die DVLDienststellen in den ersten neun Monaten von Mai 1941 bis Januar 1942 238921 Personen erfasst, war bis Ende des Jahres 1942 bereits die Millionengrenze überschritten.181 Die besonders inklusive Auslegung der Bestimmungen vor allem für die Selektion in Abteilung 3 ist ebenfalls ablesbar und wird im Vergleich zum Wartheland besonders deutlich. Während dort Ende 1942 lediglich 13,63 Prozent der Angehörigen der Deutschen Volksliste in die beiden unteren Abteilungen eingetragen worden waren, stellten diese in Oberschlesien mit 754414 Personen 75,01 Prozent.182 Diese besondere Bedeutung, die der Abteilung 3 zukam und die gleichzeitig Ausweis für die assimilatorische Zielrichtung der dortigen Selektionspraxis ist, war in der Vergangenheit oft Anlass, die Germanisierungspolitik in Oberschlesien mit derjenigen in DanzigWestpreußen zu vergleichen. So richtig dies im Grundsatz ist, darf dabei doch ein Unterschied nicht übersehen werden: Auch wenn in beiden Provinzen tatsächlich mehr als 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung in die Deutsche Volksliste aufgenommen wurden, ist doch das Missverhältnis zwischen den Erfassungen westlich und östlich der Polizeigrenze so groß wie in keiner anderen Provinz. Deutlich wird dies etwa an den Daten zum Regierungsbezirk Kattowitz für Ende 1943, dem der überwiegende Teil der an Oberschlesien angeschlossenen westpolnischen Gebiete zugeschlagen worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zweigstellen bereits 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung aufgenommen, von denen aber nicht einmal Konzept des Volkstumsreferats des Oberpräsidiums für einen Vortrag für die erste Sitzung der Zentralstelle, 19. Februar 1942, APK 117/140, Bl. 216–223. 181 Anders als Borodzej behauptet, beschleunigten sich also die Eintragungen ab Februar 1942 nicht nur – wie noch gezeigt werden wird – in DanzigWestpreußen, sondern auch in Oberschlesien, siehe Lemberg/Borodzej, Einleitung, S. 43. 182 Übersicht des Stabshauptamtes mit Stand vom 1. Februar 1942 (BArch R 49/467, ohne Seitenangabe), 1. Mai 1942 (BArch R 49/467, ohne Seitenangabe), Oberpräsidiums mit dem Stand vom 1. Dezember 1942 (APK 117/140, Bl. 232), 1. April 1944 (APK 117/140, Bl. 228). 180 412 2 Prozent aus dem östlichen, das heißt, früher russischen Teilungsgebiet der Provinz stammten und über 98 Prozent aus den westlichen, das heißt, preußischen und österreichischen Teilungsgebieten.183 Die Gründe hierfür in der Bevölkerung zu suchen und diese zu essentialisieren, hieße freilich der zeitgenössischen deutschen Propaganda Glauben schenken. Die Besatzer gingen nicht deshalb im Westen anders vor, weil – wie etwa Ryszard Kaczmarek meint – »die dort wohnende Bevölkerung einen Bestandteil der arischen Rasse bildete, also keiner Exterminierung aus Rassengründen unterlag«.184 Abgesehen davon, dass die deutsche Selektionspraxis mitnichten Rückschlüsse auf die »rassische« Beschaffenheit der Bevölkerung, sondern allein auf die ideologische Verfasstheit der Besatzer zulässt, ist die Einschätzung Kaczmareks aus meiner Sicht auch deshalb fatal, weil sie die Aufmerksamkeit in exakt die falsche Richtung lenkt: »Rasse« spielte im Kriterienkatalog der Deutschen Volksliste (nicht nur in Oberschlesien) faktisch keine Rolle. Stattdessen – und hierfür liefert gerade die territoriale Differenzierung in Oberschlesien einen schlagenden Beweis – orientierten sich die dortigen Zweigstellen viel eher an einem Bündel aus sicherheitspolitischen und ökonomischen Kriterien auf der einen und traditionellen preußischen Germanisierungsbestrebungen auf der anderen Seite: Auf ehemals deutschem (und österreichischem) Territorium wurde die Bevölkerung faktisch vor die Wahl gestellt, sich zu assimilieren oder aber von der nächsten Deportationswelle erfasst zu werden. Wer unter diesen Bedingungen keine andere Möglichkeit sah, als die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu beantragen, konnte mit Nachsicht rechnen. Wenig kompromissbereit zeigten sich die Besatzer hingegen im ehemals russischen Teilungsgebiet. Fehlende deutsche Sprachkenntnisse wurden hier als Beleg dafür gewertet, dass es sich bei dem Antragsteller um einen »Polen« handelte. Eine Anerkennung als »Wasserpole« oder »Schlonsake« war ohnehin ausgeschlossen, da diese nach Meinung deutscher Volkskundler nur in den ehemals preußisch/ österreichischen Gebieten lebten. Es ist diese territoriale Differenzierung, die das Volkslistenverfahren in Oberschlesien weniger als nationalsozialistische Neuerung herausstellt, sondern in eine preußische Kontinuität einordnet. Unsignierte Übersicht über die Bevölkerungsverteilung des Regierungsbezirkes Kattowitz, 10. Oktober 1943, APK 117/140, Bl. 229. 184 Kaczmarek, »Zwischen Altreich und Besatzungsgebiet«, S. 349. 183 413 Danzig-Westpreußen: »Sofortige Eintragung ohne bürokratische Arbeit«185 Die Gefahr einer zu inklusiven Auslegung seines Beschleunigungserlasses vom 10. Februar 1942 hatte Himmler wie dargestellt durch die Auflage zu bannen versucht, dass etwaige örtliche Abweichungen allein durch seinen jeweiligen Beauftragten als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums erlassen werden konnten und über das Stabshauptamt auch ihm mitzuteilen waren. Diese Regelung richtete sich vor allem gegen Forster, den einzigen Chef einer Zivilverwaltung in den annektierten Provinzen, dem Himmler die Ernennung zu seinem Beauftragten verweigert hatte. In DanzigWestpreußen war es bei der alten Regelung geblieben, dass der Höhere SS- und Polizeiführer diese Funktion ausübte. Wenn Himmler nun aber geglaubt hatte, Forster damit in die Schranken weisen zu können, wurde er bald eines Besseren belehrt. Forster spielte den Beschleunigungserlass vielmehr gegen die Frick’schen Durchführungsbestimmungen aus und machte sich damit von einschränkenden Richtlinien der Reichsbehörden völlig frei. Hatte sich Forster noch Mitte 1941 gegenüber dem Reichsinnenministerium geweigert, einen allgemeinen Aufruf an die Bevölkerung zu veröffentlichen, um die Erfassungen der Deutschen Volksliste voranzutreiben, und stattdessen auf die Vorerfassungskommissionen der Partei gesetzt, schien diese Vorsichtsmaßnahme nun nicht mehr vonnöten. Am 22. Februar 1942 ließ auch Forster einen Appell an die Bevölkerung veröffentlichen. In einem Rückblick auf den bisherigen Selektionsprozess verwies er noch einmal auf die Bereitschaft der Zivilverwaltung, einen großen Teil der Bevölkerung aufzunehmen, und versuchte gleichzeitig, Zweifel zu entkräften, die durch das schleppende Verfahren entstanden waren: »Wir haben die Menschen herausgesucht, die auf Grund ihrer Haltung oder ihrer Abstammung als Deutsche angesehen [werden] koennen. […] Es kann nun sein, dass bei der ungeheuer vielen Arbeit, die in den letzten zweieinhalb Jahren gerade auch auf diesem Gebiet zu leisten war, die ein oder andere Person oder Familie von uns vergessen worden ist. Um aber keinem Menschen die Moeglichkeit zu nehmen, in die deutsche Volksgemeinschaft zurueckzukehren und sich als Deutscher zu bekennen, ergeht hier185 Richtlinien Forsters, 22. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 261–269. 414 mit die oeffentliche Aufforderung an alle diejenigen, die sich als Deutsche fühlen oder nachweislich deutscher Abstammung sind oder Verwandte im Altreich haben und in die deutsche Volksgemeinschaft eingereiht werden wollen, sich bis zum 31. März 1942 zur Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu melden. Es soll kein Mensch, der in die deutsche Volksgemeinschaft zurückkehren will und bisher uebersehen worden ist, benachteiligt werden.«186 Forster mochte aber nicht allein diesem Versprechen einer inklusiven Selektionspolitik vertrauen und schloss eine Drohung an: »Wer das aber ablehnt, muss sich darueber im klaren sein, dass er in Zukunft als nicht zum Deutschtum gehoerig behandelt, nach aussen hin als Pole gekennzeichnet wird und den Bestimmungen fuer Polen unterliegt. Dass damit auch Gleichstellung mit den schlimmsten Feinden des deutschen Volkes zusammenhaengt, ist ebenfalls selbstverstaendlich.«187 Die einheimische Bevölkerung war damit zum ersten Mal aufgefordert, »freiwillig« einen Antrag zu stellen. Dies markierte einen »Wendepunkt« in der bisherigen Politik, wie die polnische Untergrundpresse zu Recht bemerkte.188 Um die schnelle Bearbeitung der Anträge zu gewährleisten, ging Forster noch einen Schritt weiter, als im Beschleunigungserlass von Himmler vorgesehen war, und machte summarische Entscheidungen nicht nur für die Selektion in Abteilung 3, sondern auch in die Abteilungen 1 und 2 obligatorisch. Wer hierher einzusortieren war, »[dürfte] im allgemeinen klar liegen; es ist daher eine sofortige Eintragung ohne bürokratische Arbeit vorzunehmen«, also ohne die bisherige Einzelfallprüfung.189 Diese sollte sich nun allein auf die politischen Gegner »deutscher Abstammung« in Abteilung 4 beschränken. Entschieden wurde auch nicht mehr auf der Grundlage der vom Reichsinnenministerium versandAufruf Forsters vom 22. Februar 1942, APB 5/3, Bl. 1f. Ebenda. 188 G˛ asiorowski, »Niemiecka lista narodowa«, S. 75 [Übers. G.W.]. Im polnischen Untergrund wurde die Forcierung der Einschreibungen als Ausweis deutschen Scheiterns und polnischer Widerständigkeit gesehen oder, wie es in einem Bericht von Ziemiach Zachodnich Rzeczypospolitej heißt: »Dort wo Lockungen und Versprechungen keine befriedigenden Ergebnisse brachten, dort wendet man Zwang an«, G˛asiorowski, »Niemiecka lista narodowa«, S. 76 [Übers. G.W.]. 189 Richtlinien Forsters, 22. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 261–269. 186 187 415 ten jeweils zwei Fragebögen, diese fielen nun ganz weg.190 Stattdessen, so wurde den Zweigstellen lapidar mitgeteilt, sei »ein Formular ausgearbeitet worden«, das nur noch eine Seite umfasste und nicht von den Antragstellern, sondern von den Vorerfassungskommissionen in direkter Befragung der betreffenden Familie sofort bei Antragstellung ausgefüllt wurde (siehe Abb. S. 417).191 Neben der Aufnahme von Personalien interessierten lediglich fünf Fragen: ob »deutsche Vorfahren feststellbar« oder »Verwandte im Altreich vorhanden« waren, das »Verhalten der Familie […] während der polnischen« Zeit und »seit September 1939«, und schließlich, ob die »Arbeitsleistung« zufriedenstellend sei und »der Haushalt einen sauberen Eindruck« mache.192 Wie in Oberschlesien gehörte der Nachweis »deutscher« Vorfahren damit auch in Danzig-Westpreußen nicht mehr länger zu den Voraussetzungen für die Eintragung in die Deutsche Volksliste. Wie mit den so gewonnenen Informationen zu verfahren sei, diktierte Forster ebenfalls: Lag gegen den Antragsteller nichts vor und konnten »von den 5 Fragen des Fragebogens 3 positiv beantwortet werden […], hat die Vorerfassungskommission den Vorschlag auf Aufnahme in die Abteilung 3 […] zu machen«, sofern nicht sogar die Abteilungen 1 oder 2 infrage kämen. Diese Vorentscheidung war für die Zweigstelle bindend. Bei Sortierung in Abteilung 3 hatte die »Zweigstelle […] diesem Antrage zu entsprechen, so daß sich eine Überprüfung der Vorschläge im Einzelnen erübrigt«. Votierte die Vorerfassungskommission auf Abteilungen 1 oder 2, sei eine »Einzelüberprüfung notwendig, jedoch wird bei diesen beiden Abteilungen großzügig verfahren werden können«. Falls politisch belastendes Material vorliege oder aber zwei oder weniger Fragen positiv beantwortet werden konnten, so war der Antragsteller nicht etwa abzuweisen, sondern mit einer Stellungnahme an die Zweigstelle zu Die Frick’schen Fragebögen sollten von Forster erst Anfang 1944 wieder ins Spiel gebracht werden. Auf seine Veranlassung ordnete Huth an, dass die alten Fragebögen »zur Ergänzung der Schnellverfahrensvorgänge von den Angehörigen der Abteilung 3 der Deutschen Volksliste nachträglich ausgefüllt, zu den Akten genommen und Doppel der Fragebogen bestimmungsgemäß der Publikationsstelle Berlin-Dahlem zugeleitet werden«, Zentralstelle, gez. i. V. Huth, an Zweig- und Bezirksstellen, 31. Januar 1944, APB 9/380, Bl. 233. Es gibt keinen Hinweis, dass dies passiert ist. 191 Richtlinien Forsters, 22. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 261–269. 192 Fragebogen der Zweigstelle Thorn, AGK NTN/201, Bl. 7. 190 416 Fragebogen zur Beschleunigung des DVL-Verfahrens in Danzig-Westpreußen. Archiwum Glównej Komisji Badania Zbrodni przeciwko Narodow Polskiemu im Instytut Pami˛eci Narodowej Warschau (AGK) NTN 196/201 417 verweisen.193 Die gewünschte inklusive Selektionspraxis wurde durch die Dringlichkeit unterstrichen, mit der die Entscheidungen zu fällen waren: Vom »23. Februar bis 15. März 1942 arbeiten die Landräte, Oberbürgermeister und Kreisleiter ausschließlich nur für die Deutsche Volksliste, sämtliche anderen Arbeiten werden zurückgestellt«. Und jeden »Sonnabend […] ist mir nach Danzig […] Meldung zu machen, wieviel Personen in die einzelnen Abteilungen […] aufgenommen worden sind«.194 Der SS-Apparat geriet weiter unter Druck, Entscheidungen nicht zu verzögern. Der Sicherheitspolizei und dem SD wurde eingeschärft, Anfragen bezüglich neuer Antragsteller zügig zu beantworten, jedoch nur mit einem »Ja« oder »Nein«, also nur Auskunft zu geben, »ob überhaupt« etwas gegen den Betreffenden vorliegt, nicht aber »was vorliegt«. Urkunden, die eine deutsche Abstammung oder das politische Verhalten vor dem deutschen Überfall belegten, seien – so Forster, den Beschleunigungserlass verdrehend – »nach der Anordnung des Reichsführers SS nicht mehr verlangt«. Sie sollten zwar trotzdem angefordert werden, aber »wann dies geschieht ist gleichgültig. In keinem Fall darf die Entscheidung von der Beibringung der Urkunden abhängig gemacht werden«.195 Forster hatte dem Volkslistenverfahren damit auch jeden Schein eines reichseinheitlichen Selektionsprozesses genommen. Natürlich protestierte das Reichsinnenministerium gegen diese eigenmächtigen Eingriffe. In einem Schreiben an die Bezirks- und Zweigstellen vom 2. Juli 1942 berichtete Forster schließlich von einer angeblichen Einigung, wonach nur dann auf die alten Fragebögen zurückgegriffen werden müsse, wenn ein Mitglied des Prüfungsausschusses gegen die – vom jeweiligen Vorsitzenden gefällte – Entscheidung Einspruch einlege und den Fall damit an die nächsthöhere Instanz verweise.196 Siehe auch zu einer Zusammenfassung des neuen Verfahrens den undatierten und unsignierten Überblick, vermutlich Ende 1942, AGK NTN/200, Bl. 97–99. 194 Richtlinien Forsters, 22. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 261–269. Siehe auch zu einer Zusammenfassung des neuen Verfahrens den undatierten und unsignierten Überblick, vermutlich Ende 1942, AGK NTN/200, Bl. 97–99. 195 Richtlinien Forsters, 22. Februar 1942, APB 9/5, Bl. 261–269. 196 Dies zumindest bei Prüfungen der Zweigstelle. Bei der Bezirksstelle war der Einspruch von zwei Mitgliedern notwendig, um den Fall an die Zentralstelle zu verweisen. 193 418 Außerdem müssten Antragsteller jetzt zumindest die ersten beiden der fünf Fragen mit »Ja« beantworten, also »deutsche« Vorfahren und Verwandte im Deutschen Reich nachweisen können.197 Was sollte aber mit den Personen geschehen, die in den vergangenen vier Monaten aufgenommen worden waren? Für den Landrat des Kreises Bromberg, Walther Nethe, war die Sache klar: Eine »Berichtigung« würde nur »Schwierigkeiten« bereiten, darum sei es bei den bisherigen Entscheidungen zu belassen.198 Es gibt keinen Hinweis, dass auch nur eine Zweigstelle dies anders gehandhabt hat. Zudem hatte die Behandlung der Beschwerdefälle bereits zu Problemen geführt. Die Bezirksstelle in Bromberg hatte die bei ihr eintreffenden Beschwerdefälle postwendend an die Zweigstellen zurückgeschickt. Wie der Regierungsvizepräsident Walther Kühn den Landräten und Oberbürgermeistern am 27. Juni 1942 mitteilte, hätten diese »entsprechend der Ihnen erteilten Richtlinien im wesentlichen ohne urkundliche Unterlagen lediglich auf Grund des persönlichen Eindrucks und der nicht nachgeprüften Angaben der Antragsteller selbst entschieden […] Auch die im Runderlass des Herrn RMdI. vom 13. 3. 41 vorgeschriebenen Fragebogen sind nicht ausgefüllt worden«.199 Unter diesen Umständen könnten die Beschwerden nicht bearbeitet werden. Die Zweigstellen wurden angewiesen, in solchen Fällen wie bisher zu verfahren und sowohl die Fragebögen ausfüllen als auch alle notwendigen Urkunden einreichen zu lassen. Die Behauptung, bereits vor dem Überfall eine deutsche Zeitung abonniert und also als »Deutscher« gelebt zu haben, solle nicht mehr ausreichen – jetzt mussten auch »Quittungen« vorgezeigt werden.200 An seiner Entschlossenheit, eine möglichst inklusive Selektionspolitik durchzusetzen, änderten diese Modifikationen freilich nichts. Noch am selben Tag, an dem er diese bekanntgab, erhielten die Zweigstellen ein weiteres Schreiben, in dem Forster sie erneut dafür kritisierte, dass oftmals die Beschwerde einer Behörde – »u.a. des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD« – ausgereicht hätte, um Eintragungen rückgängig zu machen. Um dies zu verhindern, dürfForster an Bezirks- und Zweigstellen, 2. Juli 1942, APB 9/5, Bl. 352. Nethe an den Leiter der Gestapo, 9. Juli 1942, AGK 904/3, Bl. 27–32. 199 Kühn an Zweigstellen, 27. Juni 1942, APB 9/392, Bl. 1f. 200 Ebenda. 197 198 419 ten Beschwerden in Zukunft nur schriftlich eingereicht und erst dann geprüft werden, wenn »alle vorliegenden Anträge […] bearbeitet« wären – also vorerst nicht. Wollte eine Zweig- oder Bezirksstelle einem Antrag auf Entfernung aus der Deutschen Volksliste stattgeben, so werde diese »nach Vorlage der Akten an die Zentralstelle gegebenenfalls durch den Gauleiter und Reichsstatthalter ausgesprochen«.201 Wenig später ordnete Forster die DVL-Dienststellen an, grundsätzlich alle Personen, die im ersten Jahr der deutschen Besatzung einen Volksdeutschen-Ausweis (der Partei) erhalten hatten und nach den Frick’schen Durchführungsbestimmungen in Abteilung 3 einsortiert worden waren, in Abteilung 2 aufzunehmen, wenn sie gleichzeitig nach dem deutschen Überfall in einer Gliederung der Partei mitgearbeitet hatten oder nichts Nachteiliges aus der Zeit vor dem deutschen Überfall gegen sie vorliege. »Falls trotzdem Einspruch von irgendeinem Mitglied der Kommission erhoben werden sollte, so ist dieser Einspruch nicht zu beachten.«202 Wie in Oberschlesien stieg die Zahl der in die Deutsche Volksliste eingetragenen Personen nach Himmlers Beschleunigungserlass – oder genauer: der dadurch erleichterten Ausweitung der Inklusionspolitik Forsters – rasant an: Während die Deutsche Volksliste im Dezember 1941 erst über 31000 Mitglieder umfasste, war sie nur zehn Monate später auf fast 800000 emporgeschnellt.203 Weniger markant als in Oberschlesien, aber doch auffällig war auch in Danzig-Westpreußen, dass die Selektionspraxis im Westen der Provinz inklusiver war als im Osten. Während in den früher zum russischen Teilungsgebiet gehörenden Kreisen Leipe und Rippin Ende März 1943 erst 17 Prozent der einheimischen Bevölkerung in der Deut- Forster an Zweigstellen, 2. Juli 1942, APB 9/5, Bl. 353. Am 9. Februar 1942 verfügte Forster dann, dass in jedem Fall, also auch außerhalb des Beschwerdeverfahrens, ein Ausschluss aus der Deutschen Volksliste nur durch ihn ausgesprochen werden könne, Forster an Zweig- und Bezirksstellen, APB 9/380, Bl. 81f. Erst am 7. Februar 1944 übertrug Forster die Kompetenz, Ausweise zu entziehen, auf die Regierungspräsidenten, die sie jedoch nur persönlich ausüben durften, Forster an Bezirks- und Zweigstellen, 7. Februar 1944, APB 9/380, Bl. 241f. 202 Forster an Zweig- und Bezirksstellen, 10. Oktober 1942, AGK NTN/197, Bl. 145. 203 HSSPF Danzig an Stabshauptamt, 3. Dezember 1941, BArch R 49/467, ohne Seitenangabe, und unsignierte Übersicht über den Stand der DVL in Danzig-Westpreußen am 1. November 1943, APP 406/1120, Bl. 28–32. 201 420 schen Volksliste registriert worden waren, lag dieser Anteil in der restlichen Provinz bei 58 Prozent.204 Für die einzelnen Zweigstellen bedeutete das eine Vervielfachung der Entscheidungen. So hatte die Zweigstelle des Landkreises Bromberg bis zum 3. Dezember 1941 insgesamt 1380 Personen erfasst, während sie in der ersten Sitzung »nach neuem Verfahren« am 7. März 1942 über 362 und in der zweiten am 14. März sogar über 2203 Anträge entschied. Bis Ende Juni konnten so 19804 Antragsteller überprüft werden – in wöchentlichen Sitzungen, auf denen bis zu 2587, im Durchschnitt jedoch 1238 Antragsteller selektiert wurden.205 Endgültige Marginalisierung der rassischen Musterungen Aus Perspektive des SS-Komplexes musste die Selektionspraxis zumindest in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien all die Befürchtungen bestätigen, die Himmlers Volkstumserlass vom September 1940 und sein Druck auf das Reichsinnenministerium, die Deutsche Volksliste nach dem wartheländischen Modell einzuführen, zu verhindern gesucht hatte. Himmler war vor allem an einem gescheitert: an der Durchsetzung eines exklusiven Selektionsverfahrens, das er als Verantwortlicher für die Unterbringung der ethnischen Deutschen aus Osteuropa brauchte und von dem er als rassischer Ideologe überzeugt war. Die zu diesem Zweck durchgesetzte Forderung, wonach die Eintragung von Antragstellern ohne erwiesene »deutsche Abstammung« in die Deutsche Volksliste an ihre »rassische Eignung« zu binden war, hatte sich in keiner Provinz durchsetzen können. Die Angaben über die einheimische Bevölkerung basieren auf den Ergebnissen der zweiten Volkszählung im Dezember 1940 (unsignierte und undatierte Übersicht AGK NTN/189, Bl. 22) abzüglich der in dem Zeitraum zwischen Dezember 1940 und 31. März 1943 aus der Provinz deportierten ca. 11242 Personen (unsignierte Übersicht des Reichssicherheitshauptamtes mit dem Stand vom 15. November 1940, NO-5150, abgedruckt in: Łuczak, Wysiedlenia ludności polskiej (DO VIII), S. 74f. Die Angaben für die Eintragungen in die Deutsche Volksliste aus der unsignierten und undatierten Übersicht über den Stand der Deutschen Volksliste in den annektierten westpolnischen Gebieten mit dem Stand vom 31. März 1943, BArch R 186/32, ohne Seitenangabe. 205 Landrat Bromberg, Walther Nethe, an Reichsstatthalterei, 29. August 1942, APB 9/702, Bl. 1–34. 204 421 Es war schließlich das Rasse- und Siedlungshauptamt, das einen letzten Anlauf nahm, um die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste im Sinne des SS-Komplexes zu beeinflussen. Mit Verweis auf Fricks Durchführungsbestimmungen präsentierte es bereits am 25. April 1941 »Richtlinien für die Durchführung der rassischen Überprüfung für die Deutsche Volksliste«, die die Eintragung in die Abteilungen 3 und 4 an eine rassische Musterung knüpften. Die Überprüfungen waren vom Rasse- und Siedlungshauptamt selbst vorzunehmen, das »Fachkommissionen« in die einzelnen Regierungsbezirke entsenden sollte, wo sie die Betroffenen nach Abschluss der Erfassung überprüfen und nur bei denjenigen Personen der Eintragung in die Abteilungen 3 und 4 zustimmen sollten, die »aufgrund der rassischen Wertung als geeignet befunden[en]« worden waren.206 Im Vergleich zum früheren Versuch des Stabshauptamtes, das gesamte Verfahren zu übernehmen, war dieser Vorstoß deutlich weniger ambitioniert, hätte dem SS-Komplex aber ein Vetorecht bei den Eintragungen in die Abteilungen 3 und 4 gesichert und damit ein Instrument in die Hand gegeben, die inklusive Selektionspraxis in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien zu beenden. Bevor diese neue Runde in den Auseinandersetzungen um die Selektionskriterien der Deutschen Volksliste in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien bekannt wurde, also den Provinzen, an die sich diese Richtlinien vor allem richteten, kam bereits heftiger Protest aus dem Wartheland. Leuschner, der in seiner Funktion als Mitglied des Rassenpolitischen Amtes zu der Besprechung beim Rasse- und Siedlungshauptamt geladen war, sah sich bei seiner Rückkehr heftiger Kritik aus der Reichsstatthalterei ausgesetzt und musste von Uebelhoer in Schutz genommen werden.207 Letzterer nutzte seinen Spielraum auch, um Leuschner die Einhaltung der Zusagen zu ermöglichen, die dieser in Berlin gemacht hatte, wonach – gewissermaßen als erster Feldversuch – mit der Selektion im Regierungsbezirk Litzmannstadt begonnen werden sollte. Dort schienen zumindest die Richtlinien für die Durchführung der rassischen Überprüfung für die Deutsche Volksliste, 25. April 1941, AGK 167/39, Bl. 32f. 207 Undatierte und unsignierte Niederschrift über eine Besprechung in Posen zu dem Vorhaben des Rasse- und Siedlungshauptamtes, APP 406/1112, Bl. 79–83. 206 422 logistischen Herausforderungen geringer, war Litzmannstadt doch Sitz der RuSHA-Außenstelle. Völlig unklar war zunächst, welche »rassische Wertungsgruppe« ein Antragsteller aufweisen musste, um in die Deutsche Volksliste eingetragen zu werden.208 Ursprünglich wollte man in der Außenstelle den gleichen Maßstab wie bei der Selektion der zu deportierenden Polen und beim Wiedereindeutschungsprogramm anlegen und nur die Wertungsgruppen I oder II zulassen. Bei einer »Probemusterung« von 20 Familien am 10. Mai 1941 musste man jedoch feststellen, dass nur vier diese Voraussetzungen erfüllten. Über den Widerstand gegen eine zusätzliche rassische Selektion bestens informiert, war dem Leiter der dortigen Außenstelle, SS-Sturmbannführer Fritz Schwalm, offensichtlich klar, dass ein Ausschluss von drei Vierteln der Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 politisch nicht durchsetzbar war.209 Mit dem Widerstand der DVL-Bezirksstelle konfrontiert, sah sich Schwalm zu dem Eingeständnis gezwungen, dass »eine Aufnahme lediglich der rassischen Wertungsgruppe I und II in die Deutsche Volksliste zu kleinen Ergebnissen führen würde«. Um eine Lösung war man im Rasse- und Siedlungshauptamt freilich so wenig verlegen wie um ihre ideologische Begründung: Da es sich bei diesen Personen doch – im Gegensatz zu den »Wiedereinzudeutschenden« – um »größten Teils Deutschstämmige handelt«, könne man auch diejenigen aufnehmen, die in die Wertungsgruppe III selektiert wurden. Außerdem würde so auch eine Gleichbehandlung mit den von der Einwandererzentralstelle selektierten »Volksdeutschen« aus dem Baltikum und anderen Gebieten erreicht werden, bei denen schließlich auch die Wertungsgruppen I bis III einen »O-Bescheid« für die Ansiedlung im Osten erhielten.210 Dieser Verweis ist jedoch bereits ideologieimmanent problematisch. Zum einen waren diese Vorgänge aus nationalsozialistischer Die rassischen Wertungsgruppen waren erstmals bei der Selektion der Frauen zum Einsatz gekommen, die SS-Männer heiraten wollten, um »rassisch gesunden Nachwuch[es]« sicherzustellen. Die Frauen wurden in die vier Gruppen I–IV sortiert, siehe Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 53. Möglicherweise verdankte sich diese Klassifikation den Vorarbeiten Egon von Eickstedts, siehe Klautke, »German ›Race psychology‹«, S. 27. 209 Eine Kurzbiographie Schwalms findet sich bei Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 635f. 210 Vermerk Schwalm über eine Besprechung bei der Bezirksstelle Litzmannstadt am 21. Mai 1941, AGK 167/39, Bl. 3–5. 208 423 Perspektive nicht vergleichbar. Ein »O-Bescheid« der Einwandererzentralstelle erkannte der betreffenden Familie ihre Tauglichkeit für die Ansiedlung in den annektierten Gebieten zu, während die Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 – so zumindest die Planungen – dafür als eben nicht geeignet erschienen und deshalb zur »Wiedereindeutschung« ins Deutsche Reich verschleppt werden sollten. Zum anderen vergaß Schwalm zu erwähnen, wie die Entscheidung der Einwandererzentralstelle zustande gekommen war, auch Umsiedler der Wertungsgruppe III als O-Fälle anzuerkennen: Himmler hatte am 14. Januar 1940 die Einwandererzentralstelle in Gotenhafen besucht, wo ihm bei der Inspektion des Selektionsvorgangs die große Zahl der Personen auffiel, die von den Eignungsprüfern als für den Osteinsatz untauglich aussortiert wurden. Da für die »Germanisierung des Bodens« eine große Anzahl von Siedlern gebraucht wurde, hatte Himmler angeordnet, anstelle wie bisher nur Personen mit den Wertungsgruppen I oder II freizugeben, nun auch Personen mit der Wertungsgruppe III einzuschließen.211 Schwalm begründete seine Konzession an machtpolitische Überlegungen in Litzmannstadt also mit einem Vorgang, der ebenfalls eine Konzession an machtpolitische Überlegungen war. Einführung der rassischen Selektionen im Volkslistenverfahren Der SS-Komplex intensivierte in den folgenden Monaten seine Bemühungen, schließlich sollten die rassischen Musterungen nicht nur in Litzmannstadt, sondern in den gesamten annektierten Ostgebieten durchgeführt werden. Während die Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Litzmannstadt für den Juni 1941 weitere »Probemusterungen« unter Beteiligung von RuSHA-Mitarbeitern aus Danzig-Westpreußen und Oberschlesien plante, übernahm die RKF-Zentrale die Koordinierung der Aktivitäten in Berlin und beschloss am 12. August 1941 in Übereinkunft mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt und der Parteikanzlei, an jede der elf Bezirksstellen eine eigene Überprüfungskommission zu entsenden. Diese 211 Anordnung 6, gez. RuS-Führer bei der Einwandererzentralstelle SS-Obersturmbannführer Otto Dietrich, 22. Januar 1940, BDC SSO-Akte Otto Dietrich, und Hofmann an Künzel, 25. Januar 1940, AGK 167/26, Bl. 27. Nach Heinemann versuchte das Rasse- und Siedlungshauptamt die durch Himmler angeordnete Erweiterung des Personenkreises durch eine Verschärfung der Auslesekriterien für Gruppe III zumindest teilweise zu konterkarieren, Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 236. 424 sollten pro Tag 600 Personen einer rassischen Selektion unterwerfen und dabei diejenigen Personen aus Abteilung 3 entfernen, »die auf Grund ihres Erscheinungsbildes ungeeignet sind, in die deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen zu werden«.212 Die Ethnokraten im Wartheland lehnten sofort ab. Wie Coulon am 26. August 1941 Dr. Gottfried Neeße von der Parteikanzlei auseinandersetzte, bestehe das »drängendste Problem« momentan darin, dass es nach wie vor zu wenige Deutsche und zu viele Polen gebe. Die »rassenpolitische Frage« – Coulon meinte die weitere Selektion der deutschen Bevölkerung – könne nicht in Angriff genommen werden, bevor die »volkspolitische Frage« – also die Trennung von »Deutschen« und »Polen« – nicht geklärt sei. Deshalb werde man sich in Posen auch mit aller Energie der polnischen Mehrheitsbevölkerung zuwenden, deren Lebensverhältnisse weiter reglementieren und noch bestehenden Kontakt zu den »Deutschen« möglichst unterbinden, bis sie aus der Provinz entfernt werden könnten. Dafür brauche man aber die aktive Kooperation der »deutschen« Bevölkerung, die deshalb nicht durch nachträgliche Ausschlüsse aus der Deutschen Volksliste verunsichert werden dürfe. Sinnvoller als eine rassische Selektion der Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 sei es, ihre vorgesehene Verschleppung ins Deutsche Reich abzuwarten. Da es sich bei ihnen sämtlich um Personen mit erwiesener »deutscher« Abstammung handle, im Wartheland bekanntlich Voraussetzung für die Eintragung in die Abteilung 3, sie also deshalb potentiell gefährlicher seien als Polen, dürften sie ohnehin selbst dann nicht wieder als solche behandelt werden, wenn sie den Ansprüchen der Eignungsprüfer nicht genügten. Coulon versuchte also, die rassischen Selektionen mit einem rassischen Argument zu verhindern, und hatte damit eine argumentative Pattsituation hergestellt, die ideologieimmanent nicht mehr zu entscheiden war – eine Aporie, wie sie die rassische Ideologie notwendigerweise produziert und die allein praktisch aufzuheben ist. Coulons Kritik reichte jedoch weiter. Er befürchtete, dass selbst wenn alle Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 unabhängig vom Ergebnis der rassischen Musterungen ins Deutsche Reich abgescho212 Unsignierter Vermerk der Parteikanzlei über die Besprechung am 12. August 1941, 14. August 1941, APP 406/1131, Bl. 33f. Siehe auch undatierter Entwurf der RKF-Zentrale, APP 406/1131, Bl. 12 und undatierter Entwurf der RKF-Zentrale, APP 406/1131, Bl. 13–15. 425 ben würden, diese die Reihenfolge der Verschleppungen präjudizieren würden. Coulon vertrat diesbezüglich eine dezidiert andere Position: »Die Reihenfolge der Umsiedlung hätte wieder nach praktischen, nicht nach theoretischen Gesichtspunkten zu erfolgen. Zuerst kommen diejenigen an die Reihe, die das innere Leben des völkischen Kampfgebietes besonders belasten.«213 Als Erste müssten also die politisch gefährlichen Angehörigen der Abteilung 4 sowie diejenigen Angehörigen der Abteilung 3 die Provinz verlassen, »deren Umsiedlung aus volkstumspolitischen Gründen […] unaufschiebbar ist«. Umgekehrt sollten diejenigen, die Mangelberufe ausübten, unabhängig von ihrer rassischen Beurteilung als Letzte und auch nur dann verschleppt werden, wenn aus dem Deutschen Reich entsprechend qualifizierter Ersatz ins Wartheland kam. »Andere Gesichtspunkte als die durch die Volkstumskampflage gegebenen, werden bei der deutschen Bevölkerung des Warthelandes auf kein Verständnis stoßen.«214 In der Vorbereitung auf die finale Auseinandersetzung mit der polnischen Bevölkerung erschien Rasse schlichtweg als dysfunktionale Kategorie. In einer späteren Notiz für seine Vorgesetzten, die auch dem Reichsinnenministerium zugehen sollte, fasste Coulon noch einmal die zentralen Argumente gegen die Einführung der rassischen Selektionen im Wartheland zusammen. Dabei stellte er vor allem die prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen dem Selektionsvorgang der Deutschen Volksliste und den vom SS-Komplex vorgeschlagenen rassischen Selektionen heraus: »Eine Einschaltung der rassischen Überprüfung in das Verfahren der Deutschen Volksliste […] widerspricht […] deren Grundgedanken. Die Volksliste ist eine summarische Erfassung der Deutschstämmigen unter Zugrundelegung des Bekenntnisgedankens für Abteilung 1 und 2, der Abstammung für Abteilung 3 und 4. […] Es muß […] bei dem Grundsatz bleiben, Volkstumsfragen und Rassefragen zu trennen.«215 Die Deutsche Volksliste – so Coulon – sei eingeführt worden, um »Volksdeutsche« und »Deutschstämmige« zu erfassen und mit deren Unterstützung umso unerbittlicher gegen die Polen vorzugehen. Coulon an ORR Dr. Neeße, 26. August 1941, APP 406/1131, Bl. 27–32. Ebenda. 215 Vermerk Coulon, 10. September 1941, APP 406/1131, Bl. 41–45. 213 214 426 Dafür sei es aber unabdingbar, dass »in volkstumsmäßiger Hinsicht in der deutschen Bevölkerung im Wartheland sobald wie möglich eine Klärung und Beruhigung eintritt, da nur so eine wirklich geschlossene deutsche Volkstumsfront gegenüber dem Polentum geschaffen werden kann«. Der »baldige Abschluß des Verfahrens ist nunmehr das vordringlichste Ziel der volkstumspolitischen Arbeit im Warthegau«, weshalb »eine Einschaltung der rassischen Überprüfung in das Verfahren selbst nicht mehr [möglich]« sei. Wenn der SS-Komplex an der rassischen Musterung festhalte, sollte diese nach der Verschleppung dieser Personen ins Deutsche Reich durchgeführt werden. Falls sie aber doch im Wartheland stattfinden müsse, seien alle Vorkehrungen zu treffen, um die befürchteten negativen Folgen auf die antipolnische Politik der Reichsstatthalterei einzugrenzen: »Die sich aus der Ausmerze rassisch unerwünschter Deutschstämmiger ergebenden Gefahren bedingen jedoch, daß die Ausgemerzten aus dem Wartheland auf alle Fälle entfernt und in Lagern im Altreich untergebracht werden, wo es dann noch möglich ist, sie durch Stilisierung [sic!] an einer Fortpflanzung zu verhindern [sic!].«216 In Posen war man jedoch nicht bereit, die Selektionspraxis so lange zu unterbrechen, bis in dieser Frage Einigkeit mit dem SS-Komplex erreicht war. Die Forderungen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, die Aushändigung von Ausweisen erst wieder fortzusetzen, wenn die betreffenden Antragsteller auch von den eigenen Eignungsprüfern überprüft worden waren, wurden ignoriert.217 Schließlich akzeptierte Schwalm, dass durch die Aushändigung der Ausweise »vollendete Tatsachen« geschaffen worden seien und nur noch eine nachträgliche Überprüfung praktikabel sei. Diese sei jedoch unbedingt erforderlich: Wenn diese Personen nicht verschleppt und bald sogar Staatsangehörige auf Widerruf würden, müssten diejenigen, die später aufgrund ihrer mangelnden »rassischen Eignung« nicht eingebürgert würden, bereits jetzt selektiert werden. Ansonsten be- 216 217 Ebenda. Schwalm an Zentralstelle, 8. Juli 1941, APP 406/1131, Bl. 3–5. In Litzmannstadt etwa hatte Uebelhoer seinen Zweigstellen explizit verboten, mit der Aushändigung der Ausweise bis auf eine positive Entscheidung der Prüfungskommissionen zu warten, Uebelhoer an Zweigstellen, 21. Juli 1941, APP 406/1113, Bl. 254–258. 427 stünde die Gefahr, dass sie in Positionen gelangten, die einen späteren Widerruf der Staatsangehörigkeit deutlich erschwerten. Die in der Reichsstatthalterei befürchteten negativen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt könnten im Übrigen dadurch begrenzt werden, dass man – hier nahm Schwalm einen Gedanken Coulons auf – diese Personen »durch Unfruchtbarkeit biologisch ausscheidet, sie selbst jedoch als Arbeitskräfte erhält, bzw. nicht an fremdes Volkstum abzugeben genötigt ist«.218 Die Reichsstatthalterei stimmte schließlich den bereits von Coulon genannten Einschränkungen zu. Auf Anfrage des Reichsinnenministeriums antwortete Jäger am 11. September 1941, dass man in Posen zwar nach wie vor die Verschleppung aller Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 favorisiere. Falls dies aber nicht möglich sei, würde man den rassischen Selektionen zustimmen – allerdings nur »nach Abschluß der Deutschen Volksliste« und nur, wenn die so Selektierten sofort aus dem Wartheland entfernt werden würden, um eine »Beunruhigung der hiesigen Bevölkerung« zu vermeiden.219 Das Einlenken Greisers mag die Entscheidung Himmlers beeinflusst haben, einen erneuten massiven Eingriff in die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste zu wagen. Am 30. September 1941 unterzeichnete er die Anordnung zur »Rassischen Musterung der Angehörigen der Abteilung 3 der Deutschen Volksliste« und bestätigte Greiser noch am selben Tag den allein für das Wartheland gültigen Kompromiss. Greiser wurde gebeten, die rassischen Selektionen sofort beginnen zu lassen, und erhielt dafür die Zusage, dass der Ausschluss der Betreffenden erst dann wirksam werden würde, wenn die SS auch ihre Entfernung aus der Provinz garantieren könnte, um so jede Beunruhigung der Bevölkerung zu vermeiden. Um ähnliche Konzessionen nicht auch noch an Forster und Bracht machen zu müssen, wurde Greiser gebeten, diese Zusicherungen vertraulich zu behandeln.220 So abgesichert, bestimmte die Anordnung, alle »für die Aufnahme in die Abt. 3 der Deutschen Volksliste vorgesehenen bezw. bereits aufgenommenen Personen, deren deutsche Abstammung nicht mehr sicher nachweisbar ist, rassisch zu überprüfen. […] Ein negatives Ergebnis der rassischen Überprüfung hat Schwalm an Mehlhorn, 10. September 1941, APP 406/1131, Bl. 9–11. Jäger an Reichsinnenministerium, 11. September 1941, APP 406/1131, Bl. 46–48. 220 Himmler an Greiser, Geheim!, 30. September 1941, APP 406/1114, Bl. 3f. 218 219 428 zwangsläufig Ablehnung des Aufnahmeantrages bzw. Streichung aus der Deutschen Volksliste zur Folge. Mit der Überprüfung beauftrage ich das Rasse- und Siedlungshauptamt-SS in Berlin.«221 Proteste der Gauleiter Wartheland Wie zu erwarten, zeigte sich Coulon zunächst wenig begeistert. In einer Stellungnahme für Jäger stellte er vor allem die negativen Konsequenzen von Himmlers Anordnung für die antipolnische Politik heraus, sei doch »keinerlei Bezugnahme auf irgendwelche praktischen politischen Bedürfnisse der betroffenen Gaue zu erkennen«. Wie bei früheren Erlassen aus dem Reichsinnenministerium wurde Jäger gebeten, auf Greiser einzuwirken, durch entsprechende Durchführungsbestimmungen die »das Leben des Gaues stark beunruhigende Wirkung dieses Erlasses einzudämmen«.222 Erst nachdem Coulon das Himmler’sche Begleitschreiben vorgelegt wurde, zeigte er sich einigermaßen beruhigt – waren damit doch die politischen Bedürfnisse zumindest teilweise in Rechnung gestellt worden und jeder weitere Widerstand nach der Einverständniserklärung Greisers ohnehin zwecklos.223 Andere Stellen ließen sich jedoch nicht so schnell zum Schweigen bringen. Der Regierungspräsident von Posen etwa, Dr. Victor Böttcher, gab sich in einem Lagebericht an Greiser wenig Mühe, seine Kritik zu verbergen, die gleichzeitig den Unterschied dieser beiden Verfahren sehr genau traf: »Es zeigt sich immer mehr, daß das hier geübte Verfahren der rassischen Auslese nicht nur eine Ergänzung des Volkslistenverfahrens darstellt, sondern daß hier zwei verschiedene Ansichten gegenüber stehen. Während die einen bei der Entscheidung über die Eindeutschungsfähigkeit sich im wesentlichen von der Erziehung Anordnung 50/I Himmlers als RKF, 30. September 1941, APP 406/1114, Bl. 5f., abgedruckt in: Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 144f. Dieser Erlass hatte dann auch für Polen nicht die Absicht, wie Bergen meint, »schlicht mehr Deutsche zu schaffen«, sondern sollte im Gegenteil die inklusive Selektionspolitik eindämmen. Bergen hat aber aus meiner Sicht recht, was die besetzten Gebiete der Sowjetunion angeht. Siehe Bergen, »The Nazi Concept of »Volksdeutsche««, S. 74 [Übers. G.W.]. 222 Vermerk Coulon für Jäger, 11. November 1941, APP 406/1131, Bl. 53–57. 223 Greiser an Jäger, Vertraulich!, 11. November 1941, APP 406/1131, Bl. 68. 221 429 des Antragstellers, seinem Verhalten und seiner Charaktereinstellung leiten lassen, entscheiden die anderen lediglich nach dem äußeren Erscheinungsbild. Welches Verfahren das richtigere ist, wird letzten Endes die Geschichte entscheiden.«224 Es war vermutlich eine solche Kritik, die das Rasse- und Siedlungshauptamt mit dazu veranlasste, sich nicht mehr – wie bei der Selektion der für die Deportation freigegebenen Einheimischen – ausschließlich auf biometrische Merkmale zu konzentrieren. Nach den Planungen der Außenstelle sollten die Zweigstellen im Wartheland Karteikarten erhalten, mit denen sie die in Abteilung 3 eingetragenen Personen bis zum 15. Januar 1942 nach Litzmannstadt zu melden hätten. Neben den personenbezogenen Daten war aber auch ein Feld für »Auffälligkeiten und soziale Verhältnisse« aufgeführt, in das »Erkenntnisse« der Prüfungskommission einzutragen waren, wie etwa »arbeitsam, Säufer, Raufbold, kriminell vorbestraft, spionageverdächtig usw.«.225 Nach dem Abschluss der Erfassungen würde die Zweigstelle die RuSHA-Außenstelle benachrichtigen, um die Selektionen vor Ort zu ermöglichen.226 Nachdem sich die Reichsstatthalterei am 3. März 1942 auch offiziell mit den Selektionen einverstanden erklärt hatte, wurden im Regierungsbezirk Posen bereits die ersten Betroffenen vorgeladen.227 Zur Vermeidung weiterer Beunruhigung sollten sie über den wahren Charakter der Überprüfungen im Unklaren gelassen werden – ein Vorhaben, das natürlich scheiterte. Anders als ursprünglich geplant hatte das Rasse- und Siedlungshauptamt in Posen durchsetzen können, nicht nur die Angehörigen der Abteilung 3 rassisch zu mustern, sondern – angeblich aus arbeitsökonomischen Gründen – auch die der Abteilung 4 und zusätzlich jene Antragsteller, deren Anträge entweder schon bei der Zweigstelle vorlagen, aber noch nicht hatten entschieden werden können oder aber wegen zu geringer »Deutschstämmigkeit« abgeBöttcher an Greiser, 13. Januar 1942, APP 406/1131, Bl. 341–346. Niederschrift des in der RuSHA-Außenstelle mit der Durchführung dieser Selektionen beauftragte SS-Oberscharführer Dr. Erich Sieder mit Dr. Rössel von der RKF-Zweigstelle und Coulon am 11. Dezember 1941, 11. Dezember 1941, APP 406/1131, Bl. 73–75. 226 Undatierter und unsignierter Vermerk des Volkstumsreferats der Reichsstatthalterei, vermutlich nach der Unterredung Coulons mit Sieder und Rössel, APP 406/1131, Bl. 94–99. 227 Mehlhorn an die Regierungspräsidenten, 3. März 1942, APP 406/1114, Bl. 7. 224 225 430 lehnt worden waren. Die vier Untersuchungskommissionen mit jeweils zwei Eignungsprüfern suchten die einzelnen Zweigstellen von Anfang März bis Mitte April 1942 auf und überprüften in nur acht Wochen 67235 Personen, von denen 6227 beziehungsweise 1186 Familien in die Wertungsgruppen IV oder IVf (= »fremdblütig«) selektiert wurden.228 Kaum waren die Selektionen abgeschlossen, brachen die Auseinandersetzungen zwischen der Reichsstatthalterei und dem Rasseund Siedlungshauptamt aufs Neue aus, da man sich nicht darüber einigen konnte, wie mit den Ergebnissen umzugehen sei. Zu einem ersten Konflikt kam es bereits, bevor die Selektionen überhaupt begonnen hatten. Ursache war die Kritik von Schwalms Nachfolger, SS-Hauptsturmführer Walter Dongus,229 an der Reichsstatthalterei vom 27. Januar 1942. Die Deutsche Volksliste solle doch gefälligst nur solche Antragsteller in die Abteilungen 1 oder 2 eintragen, die eine »deutsche Abstammung« nachweisen konnten. Natürlich rüttelte diese Forderung am Fundament des gesamten Volkslistenverfahrens im Wartheland, das vor allem Verhalten honorierte und nicht umsonst diese beiden Abteilungen den sogenannten Bekenntnisdeutschen vorbehalten hatte, also Antragstellern, mit deren politischem und sozialem Verhalten sich die Zivilverwaltung zufrieden zeigte. Eine »deutsche Abstammung« war hierfür ebenso irrelevant Detaillierter Bericht der RuSHA-Außenstelle an die Reichsstatthalterei, 9. Juli 1942, APP 406/1131, Bl. 163–175. Siehe auch Dongus’ Abschlussbericht, Vertraulich!, 29. Mai 1942, APP 406/1131, Bl. 138–154. Das Verhältnis zwischen den wenigen Eignungsprüfern und der hohen Anzahl von selektierten Personen ist natürlich für den Charakter der Überprüfungen aufschlussreich. Auch wenn weder die tägliche Arbeitszeit noch die An- und Abfahrtszeiten bekannt sind, möchte ich doch folgende Berechnung vorschlagen: Angenommen, die 67235 Personen wurden insgesamt von acht Eignungsprüfern selektiert, die in diesen acht Wochen jeden Tag zwölf Stunden ohne Unterbrechung arbeiteten und nur ein Viertel der Zeit auf Reisen zwischen den verschiedenen Zweigstellen aufwandten, so blieben ihnen im Durchschnitt dreieinhalb Minuten, um jede Person in eine Wertungsgruppe zu sortieren. Auch wenn also grundsätzlich Heinemann nicht zu widersprechen ist, dass die Kriterien der rassischen Musterungen von der Selektion der SS-Anwärter herrührten, die SS also ihr Menschenbild auf die eroberten Gebiete übertrug, wurden die Kriterien nicht nur anders gewertet, sondern auch für die Selektionen selbst blieb wesentlich weniger Zeit, siehe Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 13. 229 Eine Kurzbiographie bei Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 613–614. 228 431 wie deutsche Sprachkenntnisse. Kein Wunder also, dass die Reichsstatthalterei rundweg ablehnte und Dongus »Nein!« antwortete.230 Ähnlich entschieden reagierte man in Posen auch auf die nächste Forderung der RuSHA-Außenstelle. Diese hatte unmittelbar nach dem Abschluss der ersten Selektionen einzelnen Zweigstellen Namenlisten zugesandt, die einen »erwünschten Bevölkerungszuwachs darstellten«.231 Als die Außenstelle dann einen Schritt weiter ging und von der Zweigstelle in Lissa die Aufnahme der Personen verlangte, die in die Wertungsgruppe 1 oder 2 selektiert worden waren, obwohl sie nicht die von der Deutschen Volksliste geforderten zwei »deutschen« Großeltern nachweisen konnten, protestierte die Zweigstelle bei der vorgesetzten Bezirksstelle in Posen.232 Regierungspräsident Böttcher verbot die Aufnahme und beschwerte sich umgehend bei der Zentralstelle, glaube das Rasse- und Siedlungshauptamt doch »immer noch«, dass von der Deutschen Volksliste abgelehnte Personen allein auf der Grundlage rassischer Selektionen aufgenommen würden. Dies müsste abgestellt werden.233 Dongus hielt dies nicht davon ab, in seinem Abschlussbericht erneut auf diese Forderung zurückzukommen. Nun sollten zumindest die Anträge der Personen, die von den Zweigstellen wegen zu geringer »Deutschstämmigkeit« zurückgestellt worden seien, auf der Grundlage der RuS-Wertung entschieden werden. Sie seien zunächst in zwei Gruppen zu unterteilen: Antragsteller, die in die Wertungsgruppe I oder II sortiert worden und überdies durch ihre »Haltung und Leistung« aufgefallen waren, sollten – da »Leistung […] ebenso Ausdruck des deutschen Menschen« sei – nachträglich doch noch in die Deutsche Volksliste aufgenommen werden. Die rassische Selektion habe bei diesen erwiesen, dass »hier ein weit größerer deutscher Blutseinschlag vorhanden sein muß, als er sich auf Grund der polnischen Namen der Eltern und Großeltern feststellen läßt«. Wurden den Antragstellern nur durchschnittliche Leistungswerte attestiert, waren sie in das Wiedereindeutschungsprogramm zu übernehmen. Allerdings war für diese Gruppe ein »beschleunigtes und erleichDongus an Reichsstatthalterei, 27. Januar 1942, APP 406/1131, Bl. 81–83. Dongus an Zweigstelle Kalisch, 27. April 1942, AGK 167/10, Bl. 10–21. 232 Unsigniertes Schreiben des Landrats in Lissa an den Regierungspräsidenten in Posen, 8. Mai 1942, APP 406/1131, Bl. 125. 233 Undatierte Antwort Böttchers an den Landrat in Lissa, APP 406/1131, Bl. 126, und Böttcher an Zentralstelle, 14. Mai 1942, APP 406/1131, Bl. 123f. 230 231 432 tertes Wiedereindeutschungsverfahren« vorgesehen, konnten sie doch – im Gegensatz zu den restlichen Personen, die vom Rasse- und Siedlungshauptamt selektiert worden waren – zumindest ein »deutsches« Großelternteil, also »deutsches Blut« nachweisen. Im Gegenzug müssten die als »untragbar bewerteten Familien (RuS IV und RuS IVf)« ausgeschlossen werden. Sie sollten entweder durch das Arbeitsamt (ins Deutsche Reich) oder durch die Umwandererzentralstelle (ins Generalgouvernement) verschleppt werden.234 In der Reichsstatthalterei stieß wiederum die erste Forderung auf besondere Kritik. Den Standpunkt, dass die rassischen Selektionen und die Deutsche Volksliste nicht vermischt werden dürften, hatte man nur sehr widerwillig aufgegeben und schließlich einer Negativselektion zugestimmt. Gänzlich ausgeschlossen war aber, dem Rasse- und Siedlungshauptamt nun auch die Entscheidung zu überlassen, wer in die Deutsche Volksliste einzutragen war, würde sie doch damit ihren für die Zivilverwaltung entscheidenden Zweck als Verzeichnis der Personen verlieren, mit deren Unterstützung zu rechnen war oder die wegen ihrer politischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und ihrer »deutschen Abstammung« besonders beobachtet werden mussten. Die Reichsstatthalterei stand mit dieser Position nicht allein, sondern konnte in ihrer Auseinandersetzung mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt auf Unterstützung auch aus dem SS-Komplex zählen. So war Höppner Dongus bereits am 13. Mai 1942 in den Rücken gefallen, als er in einem Schreiben an die DVL-Dienststellen erklärte, dass aus Sicht des SD-Leitabschnittes in Posen wie auch des Reichssicherheitshauptamtes die »rassische Eignung« allein nicht ausreiche, um in die Deutsche Volksliste eingetragen zu werden.235 Höppner musste seine Position daher nicht ändern, als er im Juni 1942 zusätzlich zur Leitung des SD-Leitabschnittes auch die Nachfolge Coulons antrat – zuerst als Volkstumsreferent in der Reichsstatthalterei und schließlich auch als Leiter des Gauamtes für Volkstumsfragen. Unter diesem neuen Briefkopf bereitete Höppner dem Rasse- und Siedlungshauptamt die nächste Niederlage. Da die DVL-Prüfungskommissionen eine Familie entweder vollständig in die Volksliste Dongus’ Abschlussbericht, Vertraulich!, 29. Mai 1942, APP 406/1131, Bl. 138–154. 235 SD-Leitabschnitt Posen, gez. Höppner, an Reichsstatthalterei, Zentralstelle und Zweigstellen, 13. Mai 1942, APP 406/1131, Bl. 160f. 234 433 aufnahmen oder als Ganzes ablehnten, die rassischen Urteile der Eignungsprüfer hingegen für jede Person individuell gefällt wurden, drohten Familien auseinandergerissen zu werden. Höppner erzwang eine pragmatische Lösung und bestimmte, dass eine Person trotz negativem Urteil in der Deutschen Volksliste verbleiben konnte, wenn ein Familienmitglied in Abteilung 1 oder 2 eingetragen war. Ich möchte dies an einem hypothetischen Fall verdeutlichen, der so vielfach vorkam: War in einer Familie ein Elternteil Mitglied eines deutschen Vereins gewesen, war es regelmäßig in Abteilung 1 eingetragen worden – und zwar ohne seine »deutsche« Abstammung nachweisen zu müssen. War der Ehepartner nicht ebenfalls in einem solchen Verein der deutschen Minderheit organisiert, musste er zumindest zwei »deutsche« Großeltern vorweisen, um die Eintragung der Familie zu ermöglichen. Gelang dies nicht, wurde die Entscheidung von der Frage abhängig gemacht, ob die Kinder »deutsch« erzogen worden waren. In diesem Fall galt der Ehepartner zwar als »fremdvölkisch«, wurde aber dennoch in die Abteilung 3 und die Kinder in Abteilung 1 eingetragen. Mit der Einführung der rassischen Selektionen musste sich diese Person als Angehörige der Abteilung 3 den SS-Eignungsprüfern stellen und wurde möglicherweise in die Wertungsgruppe IV sortiert und damit ausgeschlossen. Da aber der Ausschluss der gesamten Familie ebenso undenkbar war wie eine erzwungene Trennung mit anschließender Deportation eines Familienmitglieds, sahen sich die Ethnokraten mit einem Dilemma konfrontiert: In der Frage, ob eine Person in die »deutsche Volksgemeinschaft« aufzunehmen war, begründeten politisches Wohlverhalten und »Rasse« möglicherweise entgegengesetzte Entscheidungen und fielen nicht etwa zusammen, wie dies die nationalsozialistische Ideologie suggerierte. Die Ethnokraten blieben dem Grundgedanken der Deutschen Volksliste treu und entschieden sich gegen »Rasse« und für politisches Wohlverhalten. Ein interessanter Aspekt dieser Auseinandersetzung, den ich noch einmal explizit hervorheben möchte, ist die sich herausbildende Frontstellung, die nicht der in der bisherigen Forschung dominierenden Konstellation von Zivilverwaltung auf der einen und SS-Apparat auf der anderen Seite entspricht. Wie bereits bei der Selektion der »Wiedereindeutschungsfähigen« in den Lagern der Umwandererzentralstelle stellte sich der SS-Apparat als durchaus heterogenes Machtgefüge dar, dessen Hauptämter nach der jeweils eigenen Binnenlogik entschieden und so getroffene Entscheidungen 434 notfalls in einem Bündnis mit anderen Machtgruppen gegen ein anderes Hauptamt durchsetzten. Die Beratung über Dongus’ Abschlussbericht am 19. Juni 1942 kann hierfür als Beispiel dienen. Wie er feststellen musste, stand er mit seinen weitgehenden Forderungen nicht nur gegen Höppner (hier in Vertretung der Reichsstatthalterei und des SD) und Heinz Hummitzsch vom Reichssicherheitshauptamt. Auch die Vertreter der RKF-Zweigstelle in Posen und des Stabshauptamtes versagten ihm die Unterstützung. Höppner konnte durchsetzen, dass DVL-Angehörige auch bei negativer RuS-Wertung dann nicht ausgeschlossen wurden, wenn sie enge Familienangehörige in den Abteilungen 1 oder 2 hatten oder, und dies kam neu hinzu, urkundlich belegen konnten, dass nicht nur zwei, sondern alle vier ihrer Großeltern »deutschstämmig« waren.236 Höppner war hierbei sowohl vom Reichssicherheitshauptamt als auch von der RKF-Zweigstelle unterstützt worden, Dongus hatte dem nichts entgegenzusetzen.237 Eine Frage, die mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen durfte, betraf die Konsequenzen der rassischen Musterungen für die Ersatzlage der Wehrmacht. Nachdem die zweite Verordnung über die Deutsche Volksliste eigens erlassen worden war, um auch die Angehörigen der Abteilung 3 in die Wehrmacht einzuziehen, drohte dies durch die rassischen Musterungen konterkariert zu werden. Wie der Befehlshaber des für das Wartheland zuständigen Wehrkreises XXI Greiser am 17. Juli 1942 beunruhigt mitteilte, wurden ihm 748 wehrpflichtige Angehörige der Abteilung 3 gemeldet, die von den Eignungsprüfern als »rassisch ungeeignet« bezeichnet worden waren. Von diesen waren aber bereits 53 »im Feld«, und es könne angenommen werden, dass sich »eine Anzahl dieser Leute […] vor dem Feind bewährt« habe. Zwar hatte er mit der Außenstelle bereits Kontakt aufgenommen, um den Verbleib dieser Soldaten zu erörtern, bat dennoch auch Greiser, »daß hierbei besonders dann – wenn keine kriminellen Gesichtspunkte oder schwerwiegende rassische Bedenken vorliegen – großzügig verfahren wird«.238 Höppner an Ehlich, 19. Juni 1942, APP 406/1130, Bl. 63. Unsignierter Vermerk, wahrscheinlich Höppner, 22. Juni 1942, APP 406/1131, Bl. 417f. 238 Der Befehlshaber des Wehrkreises XXI, gez. unleserlich, an Greiser, 17. Juli 1942, APP 406/1117, Bl. 89. 236 237 435 Greiser stellte sich auch in dieser Frage gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt: »Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass alles unterlassen wird, was die Einsatzfreudigkeit eines zur Wehrmacht eingezogenen Soldaten oder gar an der Front eingesetzten Soldaten beeinträchtigen könnte.«239 In der Reichsstatthalterei einigte man sich darauf, von den 53 Personen nur diejenigen aus Abteilung 3 und damit auch aus der Wehrmacht zu entfernen, bei denen auf Wertungsgruppe IVf [f = »fremdblütig«, G.W.] erkannt wurde. Der Rest müsse »verdaut werden«.240 Tatsächlich wurde von diesen 53 Personen dann aber überhaupt niemand ausgeschlossen. Wie sich bald herausstellte, hatten 30 von ihnen Angehörige in den Abteilungen 1 oder 2 oder waren rein »deutschstämmig«, während von den verbliebenen 23 lediglich einer in die Wertungsgruppe IVf selektiert worden war. Wie Mehlhorn im Januar 1943 nachträglich bestimmte, würde auch dieser nicht ausgeschlossen werden, wenn er sich mittlerweile im Fronteinsatz befände – was höchstwahrscheinlich zutraf, schließlich war diese Person bereits vor über einem halben Jahr eingezogen worden.241 Viel schwieriger ist die umgekehrte Frage zu beantworten, ob überhaupt eine Person durch die rassischen Selektionen zu Schaden kam, von der entwürdigenden Behandlung durch die Besatzer einmal abgesehen.242 Was die Behandlung der Soldaten betraf, kann das wohl ausgeschlossen werden, und zwar sowohl für die 53 Personen, die das Rasse- und Siedlungshauptamt zunächst gemeldet hatte, wie auch für die weiteren 81, die in einer zweiten Selektionsrunde ebenfalls eine negative RuS-Wertung erhielten.243 Bei der »derzeitigen Ersatzlage der Wehrmacht« – so Höppner unmittelbar nach Stalingrad – könne dies nicht verantwortet werden.244 Greiser an Jäger, 24. Juli 1942, APP 406/1117, Bl. 94. Vermerk Höppner, 31. Juli 1942, APP 406/1117, Bl. 103–105. 241 Mehlhorn an Wehrkreiskommando XXI, im Januar 1943, APP 406/1117, Bl. 150f. Czesław Łuczak irrt deshalb auch, wenn er behauptet, dass Greiser persönlich auf die Entfernung derjenigen Wert legte, die nicht den »Rassekriterien« des Rasse- und Siedlungshauptamtes entsprachen, siehe ders., Pod niemieckim, S. 60. 242 Łuczak, Pod niemieckim, S. 60. 243 Wehrkreiskommando XXI, gez. unleserlich, an Reichsstatthalterei, 25. September 1942, APP 406/1117, Bl. 134. 244 Höppner an die Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Litzmannstadt, 15. Februar 1943, APP 406/1117, Bl. 157f. 239 240 436 Aber auch den restlichen Betroffenen scheint es nicht schlechter ergangen zu sein, bestand die Reichsstatthalterei doch auf die Einhaltung von Himmlers Zusage und band dementsprechend den Ausschluss aus der Deutschen Volksliste an die Vertreibung aus dem Wartheland. Dafür fehlt aber jeder Hinweis. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich wehrfähige Männer, die von den Eignungsprüfern in die Wertungsgruppen IV oder IVf sortiert worden waren, vermutlich sogar in einer vorteilhaften Situation wiederfanden: Wie die Bezirksstelle in Litzmannstadt nach Posen meldete, gebe es im dortigen Regierungsbezirk Hunderte von Personen, die als Mitglieder der Deutschen Volksliste die deutsche Staatsangehörigkeit (auf Widerruf) besäßen und die damit einhergehenden Vorteile genössen, jedoch nicht zur Wehrmacht eingezogen würden245 – sie abzuschieben lehnte die Reichsstatthalterei jedoch ab.246 Und als sich die Gestapo in Hohensalza bei Damzog beschwerte, dass selbst die rassisch »negativ« selektierten Angehörigen der Abteilung 4 nicht ausgeschlossen wurden,247 verwies Mehlhorn auch hier auf das Schreiben Himmlers.248 Die Zivilverwaltung hatte die rassischen Selektionen von Anfang an abgelehnt, sah sich aber entweder nicht in der Lage, diese zu verhindern, oder wollte keine totale Konfrontation mit Himmler riskieren. Sie torpedierte stattdessen jeden Versuch, die sich daraus ergebenden Konsequenzen durchzusetzen. Nachdem die Zivilverwaltung dem Rasse- und Siedlungshauptamt erlaubt hatte, zunächst im März/April 1942 67235 Personen und im März 1943 einige weitere tausend einer rassischen Selektion zu unterziehen, untersagte sie den Ausschluss der von den Eignungsprüfern als »rassisch unerwünscht« bezeichneten Personen. Die sich verschlechternde Kriegslage ließ aus Sicht der Reichsstatthalterei eine weitere Beunruhigung der »deutschen« Bevölkerung nicht zu. Dieter Gosewinkels Einschätzung, dass vor allem im Wartheland »besonders restriktive rassische Kriterien der »Eindeutschung« an- Bezirksstelle Litzmannstadt, gez. i. V. unleserlich, an Reichsstatthalterei, 18. Januar 1943, APP 406/1117, Bl. 12f. 246 Höppner an das Regierungspräsidium in Litzmannstadt, 26. Januar 1943, APP 406/1117, Bl. 14f. 247 Unsigniertes Schreiben der Gestapo in Hohensalza an den IdS in Posen, 13. März 1943, APP 406/1131, Bl. 407f. 248 Mehlhorn an IdS in Posen, 9. April 1943, APP 406/1131, Bl. 409f. 245 437 gelegt« wurden, trifft also nicht zu.249 Zwar sollte der Regierungspräsident in Litzmannstadt seine Zweigstellen bald anweisen, Antragsteller vor ihrer Eintragung in die Abteilungen 3 und 4 nun regelmäßig einer rassischen Selektion zu unterziehen, und Mehlhorn griff diese Praxis für das gesamte Wartheland Mitte 1942 auf. Es lässt sich aber kein einziger Anhaltspunkt dafür finden, dass diese Weisungen auch tatsächlich umgesetzt wurden, zumal zu diesem Zeitpunkt die Erfassung ohnehin faktisch abgeschlossen war. Damit war der letzte Versuch Himmlers im Wartheland gescheitert, über die Durchsetzung rassischer Kriterien den Selektionsprozess der Deutschen Volksliste zu kontrollieren und damit das zentrale Instrument nationalsozialistischer Germanisierungspolitik dem bestimmenden Einfluss des SS-Apparats zu öffnen. Im Wartheland ging, um in der Wortwahl Coulons zu bleiben, »Volkstumspolitik« vor »Rassenpolitik«. Oberschlesien Nachdem Greiser Himmlers Anliegen zugestimmt und überhaupt erst dessen Erlass über die rassische Musterung der Angehörigen der Abteilung 3 ermöglicht hatte, drängte Otto Hofmann, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, Himmler am 22. November 1941, die rassischen Selektionen auch in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien durchzusetzen.250 Zwei Monate später trafen die betroffenen SS-Dienststellen am 5. Februar 1942 bei Arlt in Kattowitz zusammen und vereinbarten, bis zum Ende des Monats zehn Kommissionen mit jeweils einem Eignungsprüfer aufzustellen, um im März 1942 mit den rassischen Selektionen beginnen zu können. Wer diesen Selektionen jedoch genau zu unterziehen war, wurde nicht erläutert und war wohl auch noch unklar.251 Genaueres sollte vermutlich bei einer Besprechung geklärt werden, zu der Himmler Greifelt, Hofmann, Ehlich und Arlt einbestellte und bei der es allgemein um die Behandlung der Angehörigen der Deutschen Volksliste und die Beschleunigung des Verfahrens ging. Dabei wurGosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 410. Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 266; Witte (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 270. 251 Vermerk Arlt über Besprechung mit dem Vertreter des SD-Leitabschnittes Kattowitz und dem Rasse- und Siedlungshauptamt, 5. Februar 1942, BArch R 49/3160, ohne Seitenangabe. 249 250 438 den auch die rassischen Selektionen besprochen – allerdings in einer Form, die von den Anwesenden später völlig unterschiedlich interpretiert wurde. Der nicht anwesende Leiter des Rassenamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt, SS-Standartenführer Prof. Dr. Bruno Kurt Schultz, glaubte sich jedenfalls am 23. Februar 1942 mit einem Verweis auf diese Besprechung ein forsches Schreiben an Bracht erlauben zu können, indem er ihn – seine Erlaubnis zu einer Selektion der Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 voraussetzend – ersuchte, »den Zweigstellen eine Anweisung zur Mitarbeit zu geben«.252 Bracht reagierte ungehalten und setzte ihm auseinander, dass Arlt ihm über die Besprechung genau das Gegenteil berichtet habe. Himmler habe explizit erklärt, auf solche Selektionen »im Augenblick« verzichten zu wollen. Im Übrigen teilte er Schultz in unmissverständlicher Form mit, dass die Verwirklichung von dessen »Absichten angesichts der gegenwärtigen politischen Situation absolut unerwünscht« sei, er sein »Einverständnis auf keinen Fall […] erklären« könne und deshalb das Vorhaben »mit aller Entschiedenheit ablehnen« müsse.253 Einverstanden war Bracht lediglich mit der Selektion der 50000 Angehörigen der Abteilung 4. Darüber hinaus schlug er vor, das Rasse- und Siedlungshauptamt könne doch auch die 200000 Personen rassisch mustern, die zur Deportationen vorgesehen oder von den Landräten im Rahmen des Wiedereindeutschungsprogramms vorgeschlagen worden waren, allesamt also nicht in den Aufgabenbereich der DVL-Dienststellen fielen.254 Weshalb plötzlich die Selektion dieser Personen ins Spiel gebracht wurde, bleibt unklar, schließlich sollten nach Himmlers Anordnung vom 30. September 1941 allein die Angehörigen der Abteilung 3 rassisch selektiert werden. Unklar ist aber auch, wie das Rasse- und Siedlungshauptamt mit zehn verfügbaren Eignungsprüfern die eine Million umfassenden Angehörigen der Abteilung 3 hätte selektieren wollen. Bracht wusste jedenfalls um die wenigen verfügbaren EigSchultz an Bracht, 23. Februar 1942, BArch NS 2/80, Bl. 67. Eine Kurzbiographie von Schultz in Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 634f. 253 Bracht an Schultz, 1. März 1942, BArch NS 2/80, Bl. 68–70. 254 Am 1. Februar 1942 umfasste die Abteilung 4 5137 Personen, am 1. April 1944 dann tatsächlich 52780. Bracht hatte also eine verhältnismäßig klare Vorstellung, welche Personengruppen noch aufzunehmen waren (Stand DVL vom 1. Februar 1942, BArch R 49/467, ohne Seitenangabe, und vom 1. April 1944, APK 117/140, Bl. 228. 252 439 nungsprüfer und beschied dem Rasse- und Siedlungshauptamt, dass dieses schon mit der Selektion der von ihm vorgeschlagenen Personen »während der Kriegszeit eine ausreichende Betätigung gefunden haben [dürfte]«.255 Noch deutlicher äußerte sich Bracht am selben Tag in einem Schreiben an Schultz’ Vorgesetzten Hofmann. Neben einer Beschwerde über die respektlose Form von Schultz’ Schreiben zeigte er sich Bracht vor allem darüber verärgert, dass nach »einer Anzahl von Unterredungen« mit Himmler, einer längeren Besprechung mit den Vertretern des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Kattowitz, Unterredungen mit Hofmann selbst und einer »große[n] Anzahl von Schriftsätzen« er sich nun »aufs neue« mit diesem Gegenstand auseinandersetzen müsse. Unwillig ließ er Hofmann wissen, dass er zwar »der Energie, wenn nicht zu sagen dem Fanatismus« der Vertreter des Rasse- und Siedlungshauptamtes seine Anerkennung nicht versagen wolle, aber »doch so umfangreich beschäftigt […], daß ich bedauern muß, mich in weitere Verhandlungen und Korrespondenzen über den erwähnten Fragekomplex nicht einlassen zu können«.256 Auch eine persönliche Unterredung konnte Bracht nicht überzeugen. Hofmann musste sich vielmehr sagen lassen, dass eine Selektion einer so großen Anzahl von Personen »eine starke Beunruhigung der Bevölkerung und damit eine Beeinträchtigung der Arbeitsleistung« zur Folge haben würde.257 Am 3. März 1942 betraute SS-Obergruppenführer Heinrich Schmauser, der Nachfolger Bach-Zelewskis, den RuS-Führer im SS-Oberabschnitt Südost in Breslau, SS-Standartenführer Walter Scholtz, mit der Durchführung der rassischen Selektionen.258 Wie von Bracht angeordnet, waren die RuSHA-Kommissionen beauftragt, die Angehörigen der Abteilung 4 und gleichzeitig die für eine »Wiedereindeutschung« in Betracht kommenden Personen rassisch zu selektieren.259 Wann die Selektionen tatsächlich begannen, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Wahrscheinlich nahmen die Kommissionen ihre Tätigkeit erst Mitte des Jahres auf und selektierBracht an Schultz, 1. März 1942, BArch NS 2/80, Bl. 68–70. Bracht an Hofmann, 1. März 1942, BArch NS 2/80, Bl. 65–66. 257 Vermerk Hofmann, 26. März 1942, BArch NS 2/80, Bl. 51–53. 258 Kurzbiographie bei Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 634. 259 Arlt an das Oberpräsidium in Kattowitz, 30. März 1942, SMR 1232/34, Bl. 4f. 255 256 440 ten zunächst nur eine geringe Anzahl von Personen. Hauptgrund hierfür dürfte gewesen sein, dass die Landräte mit der Erfassung der einheimischen Bevölkerung noch nicht besonders weit waren – weder mit den Eintragungen in die Deutsche Volksliste noch mit der Benennung der »Wiedereinzudeutschenden«, die ihnen ebenfalls übertragen worden war. Das Rasse- und Siedlungshauptamt hatte eigens dazu knappe Richtlinien versandt, in denen die Landräte und Amtskommissare belehrt wurden, dass mit dieser Aktion »weniger eine Mehrung des deutschen Volkes«, sondern vor allem »eine qualitative Minderung der Führerschicht im fremden Volkstum« angestrebt werde, die »einen beträchtlichen Anteil nordischen Blutes aufweise«. Dies sei einfach zu erkennen und liege vor allem dann vor, wo eine »Familie […] durch Haltung, Fleiß, Sauberkeit und Gesundheit, auch bei ärmlichen Verhältnissen, aus der übrigen polnischen und volksdeutschen Bevölkerung [hervorsteche]« oder wenn sie »durch die Höhe des Wuchses aus der Masse im Allgemeinen herausrag[t]en«.260 Kaum hatten die rassische Musterungen begonnen, brachen die alten Differenzen wieder auf. Um diese zu bereinigen, reiste Schultz eigens von seiner neuen Wirkungsstätte in Prag an. In einer Besprechung am 6. Januar 1943 stellte sich jedoch bald heraus, dass die Ansichten von Schultz sowie den Kattowitzer Vertretern des Rasseund Siedlungshauptamtes, des SD-Leitabschnittes und der dortigen RKF-Zweigstelle auf der einen und diejenigen von Springorum, Hohlfeld und einigen Landräten auf der anderen Seite nicht mehr zu vereinbaren waren. Während Schulz den Anwesenden versicherte, dass die rassischen Selektionen nicht nur die äußere Erscheinung, sondern durchaus auch die »seelische Haltung« berücksichtigten, betonte er doch auch die Bedeutung von »einzelnen äußeren Merkmalen«, von denen »sich vielfach auch die innere Einstellung«, wie etwa die »Unausgeglichenheit«, ableiten lasse, die gerade für »das schwebende Volkstum häufig typisch wäre«. Der rassischen Beurteilung komme daher auch bei »der Volkstumspolitik eine ausschlaggebende Rolle« zu. Unterstützt wurde er allerdings nur von seinen SS-Kameraden, die – wie etwa Weber von der RKFZweigstelle – anklingen ließen, dass die rassischen Selektionen vor allem auch deshalb notwendig seien, weil man die bisherige »hu260 Richtlinien für die Eindeutschung polnischer Familien, gez. SS-Standartenführer Scholtz, 9. Juni 1942, APK 119/10222, Bl. 49–50 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 441 mane Beurteilung« verurteile, die vor allem dem Ersatzbedarf der Wehrmacht zugeschrieben wurde. Die Zivilverwaltung zeigte sich an diesen Ausführungen uninteressiert und machte sich im Gegensatz zu Coulon nicht einmal die Mühe, ihre Einwände ideologisch zu verkleiden. Stattdessen wiesen die Landräte von Teschen und Saybusch, also den am stärksten von den bevölkerungspolitischen Zwangsmaßnahmen betroffenen Landkreisen, auf die fatalen Konsequenzen hin, die ihre Tätigkeit als lokale Instanzen des deutsches Besatzungsapparates weiter gefährden würde. In den rassischen Selektionen läge die Gefahr, die gesamte Volkstumspolitik zu gefährden, würde doch die Zurücknahme der Entscheidungen der Zweigstellen die »Autorität der amtlichen Stellen außerordentlich gefährde[n]« – und das, obwohl bereits jetzt die »Vertrauenskrise […] in der Bevölkerung sehr groß« sei. Sollte die Bevölkerung nun aber auch an dem jüngst abgegebenen Versprechen des Gauleiters zu zweifeln beginnen, wonach Angehörige der Abteilung 3 mit denen der ersten beiden Abteilungen gleichgestellt würden, hätten die rassischen Musterungen – so der Landrat in Saybusch, Eugen Hering – »einen nicht gut zu machenden Schaden herbei[geführt]«. Der Landrat in Teschen, Dr. Udo Krüger, und auch der Gauhauptstellenleiter Ditze schlossen sich Hering an und betonten ebenfalls, dass sie die Selektionen »politisch nicht für tragbar« hielten.261 Springorum wurde noch konkreter: Zwar bestritt er nicht die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen dem Rasseund Siedlungshauptamt und der Deutschen Volksliste, ließ aber keinen Zweifel daran, dass die »Aufnahme in die Volksliste […] nicht etwa alleine abzulehnen [sei], weil die rassische Überprüfung auf ›RuS IV‹ lautet«262. Einigkeit konnte nur über die Positionen hergestellt werden, die Bracht bereits im vorangegangenen Jahr bei Himmler durchgesetzt und die das Rasse- und Siedlungshauptamt mittlerweile akzeptiert hatte, also dass die Angehörigen der Abteilung 3 nicht rassisch selektiert würden. Uneins war man sich faktisch in allen anderen Fragen – und anders als im Wartheland beschränkte sich die Zivilverwaltung in Oberschlesien nicht mehr allein darauf, die ImplementieUnsignierte Niederschrift des Regierungspräsidiums in Kattowitz über die Besprechung am 6. Januar 1943, 1. Februar 1943, APK 119/10222, Bl. 82–85. 262 Niederschrift Hohlfeld über die Besprechung am 6. Januar 1943, 8. Januar 1943, APK 117/140, Bl. 113–115. 261 442 rung der Selektionsergebnisse zu torpedieren, sondern zielte bald auf den Stopp der rassischen Selektionen überhaupt. Gewissermaßen in einem ersten Schritt machte Springorum den Vertretern des SS-Apparates klar, dass die DVL-Dienststellen den rassischen Selektionen kein entscheidendes Gewicht beimessen würden. Das Ergebnis der rassischen Selektionen wurde von der Zivilverwaltung allenfalls als Entscheidungshilfe akzeptiert, keinesfalls waren die DVL-Dienststellen jedoch bereit, dem Rasse- und Siedlungshauptamt ein Vetorecht einzuräumen. Den Zweigstellen sollte empfohlen werden, »sich in Zweifelsfällen der RuS-Kommission zu bedienen und das Gutachten ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen. Sie werden jedoch darauf hinzuweisen sein, dass ein Ausschluss aus der Deutschen Volksliste auf Grund der rassischen Beurteilung nur zulässig sei, wenn das Gutachten auf ›RuS IV‹ laute und auch nur dann, wenn der Betreffende als ausgesprochener Vertreter der Zwischenschicht mit wasserpolnischer Mundart angesehen werden müsse«.263 Die Entscheidung, die Selektionen der Deutschen Volksliste und die des Rasse- und Siedlungshauptamtes als zwei getrennte Verfahren zu behandeln, wurde in den folgenden Wochen von Bracht bestätigt. Am 25. Januar 1943 gab Springorum die Entscheidung Brachts bekannt, dass, wenn eine Entscheidung auch ohne Zuhilfenahme der rassischen Musterung erfolgen könne, diese »gleichgültig wie sie ausgefallen ist, ohne Belang« sei. Dieser Grundsatz war den Zweigstellen »mündlich bekanntzugeben«. In dem Akt findet sich auch eine kurze schriftliche Stellungnahme Brachts, wiederum »zur vertraulichen Kenntnis[nahme]«, die wegen ihrer Bestimmtheit etwas ausführlicher wiedergegeben werden soll: »Meine Auffassung war und ist: Die Aufnahme von Menschen deutschen Volkstums in die DVL. kann grundsätzlich nicht abhängig gemacht werden von dem Ergebnis einer rassischen Überprüfung. […] Die RuS.-Kommission hat also in Verbindung mit dem Volkslistenverfahren rassische Überprüfungen zu unterlassen. Andererseits gibt es Fälle, in denen eine richtige Volkslistenentscheidung tatsächlich von einem positiven Ergebnis der erfolgten rassischen Untersuchung abgeleitet werden kann. Ich denke hier an die Fälle, in denen die Deutschstämmigkeit weder durch Abstammungsnachweise noch durch das subjektive Be263 Ebenda. 443 kenntnis eindeutig erkannt werden kann. […] Hier also, wo die Dienststellen der DVL. keine anderen überzeugenden Entscheidungsmerkmale besitzen, muss die RuS.-Kommission tätig werden und von dem Ergebnis ihres Befundes die Entscheidung der DVL. abgeleitet sein. Es geht natürlich nicht an, wenn bei einem Familienmitglied das Ergebnis ›RuS IV‹ lautet, nur deshalb die ganze Familie abgelehnt wird.«264 Als die rassischen Selektionen im März 1943 schließlich fortgesetzt wurden, verfuhren die DVL-Dienststellen nach genau diesem Muster. Bei den Selektionen in den östlichen Landkreisen Warthenau und Blachstädt waren zwar nur die wenigsten Angehörigen der Abteilung 4 in die Wertungsgruppe RuS IV sortiert worden. Aber selbst für diese galt, so Hohlfeld nach Information des dortigen Landrats Curt Becker: »Eine Abänderung der Volkslistenentscheidung wurde […] nicht herbeigeführt. Einstweilen ist nichts zu veranlassen.«265 Das Rasse- und Siedlungshauptamt schien sich damit nicht zufriedengeben zu wollen, und der zuständige Eignungsprüfer, SS-Obersturmführer Hansjürgen Siems, setzte den Landrat offensichtlich unter Druck, zumindest die positiv selektierten Angehörigen der Abteilung 4 in Abteilung 3 hochzustufen.266 Nach einer Anfrage beim zuständigen Regierungspräsidium in Oppeln kam von dort die Anweisung, dass dies zu unterbleiben habe. Das ebenfalls informierte Oberpräsidium stellte sich eindeutig hinter diese Entscheidung: »Die rassische Überprüfung steht mit dem Verfahren der Deutschen Volksliste in keiner Verbindung. Die Spruchstellen der Deutschen Volksliste können sich lediglich der RuS.-Kommissionen bedienen, falls die Abstammung nicht hinreichend geklärt ist oder sonstige Gründe die rassische Überprüfung empfehlenswert erscheinen lassen. Keineswegs berechtigt ein gutes Ergebnis der rassischen Überprüfung etwa eine bessere Einstufung des Antragstellers in der Deutschen Volksliste, wie auch trotz einer guten Note im RuS.-Verfahren auch rein polnische Volkszugehörige nicht in die Deutsche Volksliste aufgenommen werden könUndatierter Vermerk Bracht, vermutlich 25. Januar 1943, APK 117/140, Bl. 116. 265 Vermerk Hohlfeld, 16. März 1943, SMR 1232/34, Bl. 25. 266 Curt Becker an Regierungspräsidium in Oppeln, 13. April 1943, SMR 1232/34, Bl. 28. 264 444 nen, es sei denn, dass die besonderen Voraussetzungen hierfür vorliegen.«267 Im Regierungsbezirk Kattowitz, in dem immerhin 95 Prozent der Angehörigen der Deutschen Volksliste lebten, wurde nicht anders verfahren. Erste Proteste gegen die rassischen Musterungen kamen wohl nicht zufällig von Walrab von Wangenheim, dem Landrat in Beuthen-Tarnowitz, einem Kreis im Westen des Regierungsbezirks, wo das Rasse- und Siedlungshauptamt die rassische Musterung von 10000 bis 15000 Menschen beabsichtigte.268 Wangenheim konnte aber mit dem vollen Einverständnis seiner vorgesetzten Dienststelle rechnen, als er am 16. August 1943 meldete, dass die Eignungsprüfer ihm zwar Einsprüche gegen 321 in die Abteilung 4 eingetragene Personen mitgeteilt hätten, er diese jedoch »als nicht kriegswichtig bis auf weiteres nicht bearbeite[t]«. Gegen die Proteste des Volkstumsreferenten des SD-Leitabschnitts in Kattowitz, Perey, gab Wangenheim die Einsprüche nicht einmal an die Bezirksstelle weiter. Sie blieben für die Betroffenen folgenlos.269 Springorum wollte sich jedoch nicht mehr damit begnügen, den SSKomplex mit seinen Versuchen ins Leere laufen zu lassen, über die rassischen Selektionen die Entscheidungen der Deutschen Volksliste zu beeinflussen. Wie er unter Beilegung des Schreibens Wangenheims an Bracht schrieb, musste die »rassische Überprüfung in dieser Form der umfassenden Reihenuntersuchungen als nicht kriegswichtig zurückgestellt werden […], zumal« – damit war die bisherige Obstruktionspraxis der Zivilverwaltung gemeint – »irgendwelche rechtlichen Folgerungen aus diesen Untersuchungen nicht gezogen werden«. Den einzigen Effekt, den die Selektionen zeitigten, sei eine Beunruhigung der Bevölkerung, und die »muß jetzt mehr denn je vermieden werden«. Die Selektionen sollten auf »Einzelfälle beschränkt bleiben, in denen die Dienststellen der Volksliste sie besonders für Zwecke ihrer Entscheidungen anfordern«.270 Hohlfeld an Regierungspräsidium, 9. Juni 1943, SMR 1232/34, Bl. 29. Unsigniertes Schreiben des Landrats in Beuthen-Tarnowitz an das Regierungspräsidium in Kattowitz, 25. Mai 1943, SMR 1232/37, Bl. 30. Personalakte des Reichsinnenministeriums unter SMR 720-5/10599. 269 Wangenheim an Springorum, 19. August 1943, SMR 1232/37, Bl. 34f. 270 Springorum an das Oberpräsidium, 30. Mai 1943, SMR 1232/37, Bl. 30. 267 268 445 Die Tour der Eignungsprüfer sorgte stets für neue Beschwerden der örtlichen Behörden, die Springorum wiederum sofort an Bracht weitergab, so etwa das Schreiben des Landrats aus Ilkenau, Dr. Heinrich Groll, vom 2. Juni 1943. Die Kreisdienststelle der Kattowitzer RKF-Zweigstelle hatte, ohne den Landrat zu unterrichten, 228 Personen ohne Begründung vorgeladen und diese von der endlich eintreffenden Kommission »nach stundenlangem Warten […] in wenigen Minuten oder Bruchteilen davon« abgefertigt. Die Betroffenen interpretierten diesen Prozess natürlich als Vorbereitung auf eine bevorstehende »Evakuierungsmaßnahme, Inhaftierung, Verbringung nach einem Konzentrationslager usw.«. Und es sagt einiges über die Stimmung der Bevölkerung oder zumindest über ihre Einschätzung durch den Landrat aus, dass der tatsächliche Grund als noch bedrohlicher empfunden wurde: »Noch erregter wurde die Stimmung als durchgesickert war, dass es sich um Eindeutschungsmaßnahmen handele. Es hat sich deutlich gezeigt, dass sowohl bei der ortsansässigen polnischen Bevölkerung wie auch bei einem großen Teil der Geladenen eine deutliche Ablehnung gegenüber den Gerüchten um Eindeutschungsbestrebungen zu bemerken war.«271 Es ist nicht verwunderlich, dass dann auch Groll unter Bezug auf ein bereits von Springorum ins Spiel gebrachtes Argument die sofortige Einstellung der rassischen Musterungen forderte. Neben der allgemeinen Beunruhigung der Bevölkerung, die einen idealen »Nährboden für die Widerstandsbewegung« darstellte, würden die Menschen auch »in eine Stimmung hineingehetzt, die der Arbeitsfreudigkeit im starken Maße Abbruch tut«. Außerdem würde die geplante Verschleppung der »Wiedereindeutschungsfähigen« so dramatische Auswirkungen haben, dass sie »heute schlechterdings nicht durch[zu]führen« sei. Wenn die rassischen Selektionen aber ohnehin ohne Konsequenzen blieben, dann bitte er, dass sie »bis nach Kriegsende zurückgestellt werden«.272 Wie bereits mit der Beschwerde Wangenheims geschehen, leitete Springorum auch Grolls Schreiben an Bracht weiter – wiederum mit einem Begleitschreiben versehen, das die Argumentation des Landrats unterstützte und mit der Bitte endete: »Ich bitte daher nochmals mindestens für eine 271 272 Groll an Springorum, Persönlich!, 2. Juni 1943, SMR 1232/37, Bl. 31f. Ebenda. 446 wirksame Einschränkung dieser rassischen Untersuchungen einzutreten.«273 Die Beschwerden Springorums und seiner Landräte landeten schließlich bei der RKF-Zweigstelle, wo Arlt in einem Schreiben vom 24. Juni 1943 ein gewisses Verständnis für das Argument der Beunruhigung der Bevölkerung erkennen ließ.274 Ende des Monats wurde Arlt jedoch von SS-Obersturmbannführer Friedrich Brehm abgelöst, der als ehemaliger Angehöriger des Rasse- und Siedlungshauptamtes die Selektionen deutlich offensiver verteidigte und sich auf einen direkten Schlagabtausch mit Springorum einließ.275 Auch wenn unklar ist, wann die rassischen Selektionen eingestellt wurden, scheint doch festzustehen, dass die Eignungsprüfer nicht alle Kreise Oberschlesiens aufsuchten. Konsequenzen hatten ihre Entscheidungen ohnehin allein für die Personen, die noch nicht in die Deutsche Volksliste eingetragen worden waren und in die Wertungsgruppen I oder II einsortiert und deshalb unter Umständen vom Wiedereindeutschungsprogramm erfasst wurden. Keinerlei Einfluss hatten die rassischen Selektionen auf die Entscheidung der Zweigstellen oder Personen, die bereits einen Ausweis der Deutschen Volksliste besaßen. Der SS-Komplex war damit auch in Oberschlesien gescheitert. Danzig-Westpreußen Die größte Blamage erlebte Himmler aber wiederum in DanzigWestpreußen. Wie in Oberschlesien hatte »Rasse« als Selektionskriterium hier keine Rolle gespielt, sodass sich Forster erst bei Einführung der Deutschen Volksliste gezwungen sah, einen Standpunkt dazu zu formulieren. Er fiel dementsprechend unbestimmt aus: Wenn – so Forster am 7. August 1941 – ein Zweigstellenleiter Bedenken gegen die »rassische Eignung« eines Antragstellers habe, so könne er die Entscheidung vertagen und das Rassenpolitische Amt hinzuziehen. In einer Hinsicht war Forster jedoch eindeutig: Zuständig für die rassischen Selektionen war nicht etwa das RasseSpringorum an Bracht, 5. Juni 1943, SMR 1232/37, Bl. 32. Arlt an Faust, 24. Juni 1943, SMR 1232/37, Bl. 27. 275 Brehm an Springorum, 6. Juli 1943, SMR 1232/37, Bl. 26. Als es Anfang 1944 das Gauamt für Volkstumsfragen neu zu besetzen galt und die SS Brehm vorschlug, lehnte Bracht nicht zuletzt auch wegen dessen Rolle bei den rassistischen Musterungen ab, SD-Leitabschnitt Kattowitz, gez. unleserlich, an Ehlich, 19. Februar 1944, SMR 500–4/71, Bl. 3. 273 274 447 und Siedlungshauptamt, sondern »allein« das Rassenpolitische Amt. Entsprechend der bisherigen Selektionspraxis würden sich die dortigen »Rasseexperten« auch nicht allein auf das »äußere[n] Erscheinungsbild« eines Antragstellers konzentrieren, sondern überprüfen, ob er nach »Lebensauffassung, Lebenshaltung und -führung dem Vorstellungsbild von einem deutschen Menschen« entspreche.276 Forster war mit der Tätigkeit der Zweigstellen aber auch nach dieser Klarstellung unzufrieden, da viele seiner Meinung nach den Verweis auf die vorausgesetzte »rassische Eignung« der Antragsteller in den Frick’schen Durchführungsbestimmungen nach wie vor »vielfach mißverstanden« hatten. In einem Schreiben an die Regierungspräsidenten, Landräte und Oberbürgermeister vom 30. Oktober 1941 verurteilte Forster deshalb die Mitglieder der Zweigstellen, die Antragsteller allein aus dem Grund ablehnten, weil diese »das Vorhandensein deutschen Blutes nicht durch Urkunden nachweisen konnten« und also verhindern wollten, »dass das Einströmen fremden Blutes in größerem Umfange die deutsche Rasse gefährde«. Dabei würde aber übersehen, dass das »Vorhandensein deutschen Blutes« auch dann »angenommen werden [könne]«, wenn die Antragsteller und auch ihre Eltern und Großeltern Einheimische seien und »im äußeren Erscheinungsbild einwandfrei sind und von Deutschen rassisch nicht unterschieden werden können«. Jedenfalls sei »polnisch klingenden Namen […] keine entscheidende Bedeutung beizumessen«. Bis zu einer allgemeinen Regelung durch Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums seien es allein die Vertreter der Partei, die bei Zweifeln über die »deutsche Abstammung« eines Antragstellers »dazu berufen [wären], die rassische Eignung auf Grund des äußeren Erscheinungsbildes zu beurteilen«. Dass sich diese Regelung längst vom Boden der Frick’schen Durchführungsbestimmungen entfernt hatte, war Forster offensichtlich klar. Die Empfänger durften sie deshalb auch nicht aus der Hand geben: »Diese Verfügung ist von den Vorsitzern den übrigen Mitgliedern mündlich bekannt zu geben. Sie sind eindringlich auf ihre Beachtung hinzuweisen.«277 Kühn an die Zweigstellen, 20. August 1941, AGK NTN/200, Bl. 123–127 [Hervorhebung im Original, G.W.]. 277 Forster an die Regierungspräsidenten, Landräte und Oberbürgermeister, 30. Oktober 1941, APB 9/5, Bl. 179–181. 276 448 Forster hatte noch einen weiteren Grund zur Verschwiegenheit: Von einer bevorstehenden Einigung mit Himmler in dieser Frage konnte keine Rede sein. Kurz vor einem weiteren persönlichen Treffen in Danzig nahm Himmler direkt auf diesen Erlass Bezug, als er Forster in einem Schreiben vom 20. November an ein gemeinsames Gespräch erinnerte, das man bei einem Mittagessen bei Hitler am 19. Oktober 1941 in dieser Sache geführt habe: »Betrübt bin ich, Parteigenosse Forster, dass Sie Ihre Meinung, die Sie am Schluss unserer Unterredung im Führerhauptquartier hatten, in der Sie mir Recht gaben, dass alle rassisch untersucht werden müssen, innerhalb kurzer 10 Tage bereits so weit wieder geändert haben, dass Sie die rassische Untersuchung nur in gewissen Einzelfällen zulassen wollten.«278 Dass Forster den rassischen Selektionen zugestimmt haben soll, ist nicht nur angesichts seiner bisherigen Politik jedoch wenig plausibel. Schließlich kam es nur zwei Tage danach, am 21. Oktober 1941, zu dem geschilderten Eklat bei der Sitzung der Zweigstelle in Neustadt, als Forster den SD-Vertreter hinauswarf und damit seine Dauerfehde mit Hildebrandt erneut eskalierte. Am 13. November 1941 hatte Forster ein Schreiben an Himmler diktiert, in dem er die Diskussion bei Hitler fortsetzte. Dieses Schreiben selbst ist nicht überliefert, doch die eben erwähnte Antwort Himmlers vom 20. November vermittelt nicht den Eindruck, dass sich die beiden Kontrahenten auch nur angenähert hätten.279 Im Zentrum der Auseinandersetzung stand zum wiederholten Mal der Vorwurf Himmlers an Forster, eine zu inklusive Germanisierungspolitik zu verfolgen. Forster hatte diese immer mit der Behauptung verteidigt, bei der autochthonen Bevölkerung handle es sich ohnehin um größtenteils »Deutschstämmige«. Zur ideologischen Legitimierung dieser rassischen These war, wie dargestellt, bereits 1940 Prof. Günther eingeladen worden, der die erwünschte Auskunft geliefert hatte, wonach vier Fünftel der dortigen Bevölkerung »eindeutschbar« seien. Ein Jahr später legte Forster nun mit einer interessierten Deutung der Besiedlungsgeschichte nach, die Himmler wieder in Rage brachte und beide in eine historische Aus278 279 Himmler an Forster, BArch R 43 II/1332a, Bl. 84–87. Himmler schickte am 26. November 1941 eine Kopie an Lammers (BArch R 43 II/1332,5, Bl. 83) und an Bormann mit Durchschlag für Heydrich, Greifelt und Hofmann (BArch R 49/36a, Bl. 56). 449 einandersetzung stürzte. Himmler störte sich vor allem an der Behauptung, wonach die »deutsche« Besiedlung dieses Territoriums sich über die Völkerwanderung erhalten habe und es bis zur Niederlage des Deutschen Ordens »bis auf kleine Gebietsteile deutsch gewesen« sei. Er habe – so Himmler – »bei allen meinen Studien von einer so totalen deutschen Besiedlung nichts gelesen«. Da Himmler klar war, dass sich Forster bei seiner Politik weniger von den Landeshistorikern Krannhals oder Keyser als von pragmatischen Erwägungen leiten ließ, zeigte er Verständnis für das Bedürfnis, »während des Krieges und der notwendigen Arbeiten für den Krieg Ruhe […] und möglichst wenig Beunruhigung« zu haben. »Ich kann Ihnen aber nicht zustimmen« – so Himmler weiter –, »wenn Sie um einer augenblicklichen Kriegsnot willen Dauerzustände schaffen wollen.« Wenn Forster die rassischen Selektionen jetzt für undurchführbar halte, dann müssten sie eben unterbleiben. Keinesfalls dürfe er aber mit der Deutschen Volksliste Tatsachen schaffen. In diesem Fall wäre »keine Entscheidung über die Volkstumszugehörigkeit […] besser als eine falsche«, schließlich wisse Forster selbst, »dass ein Tropfen falschen Blutes […] niemals wieder herauszubringen ist«. Auch deshalb lehnte er das von Forster grundlegend veränderte Schnellverfahren zur Eintragung in die Deutsche Volksliste ab und erklärte kategorisch: »Ich kann Ihren, den Intentionen des Führers absolut widersprechenden Schnellverfahren nur zustimmen, wenn es eine zur Lösung augenblicklicher Kriegsfragen notwendige vorläufige Massnahme ist und wenn feststeht, dass die ganzen Angehörigen der Gruppe III und IV rassisch überprüft werden.«280 Himmler hatte von Anfang an versucht, die Selektionspraxis der Gauleiter maßgeblich mitzubestimmen, was nirgends so gründlich gescheitert war wie in Danzig-Westpreußen. Da sich Forster auch gegen die Einführung der rassischen Selektionen vehement wehrte, blieb Himmler wenig anderes übrig, als mit der Nichtanerkennung aller Eintragungen in die Abteilungen 3 und 4 zu drohen – eine Drohung, die Ausdruck seiner Ohnmacht war. Am 20. November 1941 reiste Himmler nach Danzig, nahm am folgenden Tag an einer Sitzung der Zweigstelle in Preußisch Stargard teil und informierte sich auch über die hier von der Partei durchgeführte Vorerfassung, um schließlich am 22. November mit Fors280 Himmler an Forster, BArch R 43 II/1332a, Bl. 84–87. 450 ter und Hildebrandt zusammenzukommen.281 Von »Versöhnung zwischen beiden«, wie Himmler dann in seinem Dienstkalender vermerkte, konnte freilich keine Rede sein.282 Forster dachte nicht daran, die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste restriktiver zu gestalten, sondern beschritt, wie gesagt, genau den entgegengesetzten Weg. Während die Gauleiter im Wartheland und in Oberschlesien die ungeliebten rassischen Selektionen dadurch zu entschärfen versuchten, dass sie den Personenkreis eingrenzten und faktisch alle negativen Konsequenzen verhinderten, entschied sich Forster, sie schlicht zu verbieten, indem er dem Rasse- und Siedlungshauptamt die Tätigkeit im Rahmen der Deutschen Volksliste untersagte. Dass die Eignungsprüfer in Danzig-Westpreußen nicht völlig tatenlos blieben, ist dennoch richtig. Erwähnenswert sind hier jedoch weniger die wenigen Selektionen im Rahmen von Ehegesuchen von Angehörigen der Abteilungen 3 und 4.283 Genannt werden müssen vielmehr die Selektionen der Personen, die von der Umwandererzentralstelle in die Lager verschleppt und dort einen Antrag auf Aufnahme in die Deutsche Volksliste gestellt hatten. In den Lagern dem Zugriff Forsters entzogen, waren sie als Einzige in größerer Zahl einer rassischen Selektion unterzogen worden, wobei es sich selbst bei diesen wohl nur um maximal einige tausend gehandelt haben kann. Ob diese Selektionen jedoch einen Einfluss auf die Entscheidungen der DVL-Dienststellen hatten, ist freilich eine ganz andere Frage. Wie bereits erwähnt, hatten sich die Kommandanten der UWZLager anfangs geweigert, Inhaftierte zur persönlichen Beurteilung an die zuständigen DVL-Dienststellen zu überstellen, und versandten stattdessen lediglich die unter Aufsicht ausgefüllten Fragebögen und eine abschließende Beurteilung durch die in jedem UWZ-Lager eingerichtete Außenstelle des SD-Sonderreferats. Ab Februar 1942 waren diese Außenstellen angewiesen worden, ihren Entscheid »unter Berücksichtigung der rassischen Beurteilung festzulegen«.284 Für Witte u.a. (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 269. Ebenda, S. 270. 283 Heinemann erwähnt etwa allein diese, um ihre Behauptung zu stützen, wonach »trotz Widerwillen Forsters gegen eine großangelegte Rassenauslese […] solche Musterungen stattfanden«, Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 271. 284 Der Leiter des SD-Sonderreferats beim SD-Leitabschnitt, SS-Obersturmführer Dr. Pech, an die Außenstellen des SD-Sonderreferats, 23. Februar 1942, APB 96/351, Bl. 25–30. 281 282 451 die hier verfolgte Fragestellung besonders interessant ist nun, dass das Votum der Eignungsprüfer selbst für den Entscheidungsprozess aufseiten des SS-Apparats keineswegs ausschlaggebend war. So wie sich die Verantwortlichen im Rasse- und Siedlungshauptamt im Wartheland nicht mit der Forderung gegen die Zivilverwaltung durchsetzen konnten, generell alle Personen, die in die Wertungsgruppen I oder II selektiert wurden, in die Deutsche Volksliste einzutragen, so scheiterten ihre Kollegen auch in Danzig-Westpreußen – aber hier gegen den Sicherheitsdienst. So war zum Beispiel die Familie Blaschkiewitz in das »Eindeutschungslager« Gosslershausen verschleppt worden und hatte dort einen Aufnahmeantrag gestellt. Das dortige SD-Sonderreferat ließ sie die in den Frick’schen Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Fragebögen ausfüllen und unterzog sie anschließend einer rassischen Selektion. Das ebenfalls vom SD-Sonderreferat ausgefertigte abschließende Urteil erwähnte, dass der Eignungsprüfer die Familie durchaus als »noch erwünschte[n] Bevölkerungszuwachs« bezeichnet habe. Für den SD waren jedoch politische Kriterien entscheidend, handelte es sich doch um nach »Erscheinung und der Lebensauffassung […] polnische Menschen«. Und da »an keiner Stelle […] ein Hinneigen noch Bemühen um das Deutschtum festzustellen« sei, wie auch das »Bekenntnis zum Deutschtum […] von beiden Eheleuten in völlig gleichgültiger Form vorgetragen« werde, kam der SD zu dem Schluss, dass »eine Aufnahme in die Deutsche Volksliste abgelehnt werden« müsse. Für die rechtsgültige Entscheidung war das SD-Votum allerdings unerheblich – dies stand allein der zuständigen Zweigstelle zu. Es war deshalb für die Betroffenen von Bedeutung, selbst wenn sie auch nach Aufnahme in die Deutsche Volksliste in der Regel nicht sofort entlassen wurden. Ein positiver Bescheid verhinderte aber zumindest eine Rückverlegung in ein »Polenlager« wie etwa Potulitz, wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen noch weitaus schlechter waren. Dies war auch bei der Familie Blaschkiewitz der Fall, die von der zuständigen Zweigstelle in Abteilung 3 aufgenommen wurde und vermutlich freikam, als das Lager Gosslershausen im Juni 1943 aufgelöst wurde.285 Für die Beurteilung der Familie Blaschkiewitz durch die Zweigstelle spielten die Urteile des SS-Komplexes also keine Rolle. Eine gesonderte An285 Unsignierter Vermerk des SD-Sonderreferats, 28. Januar 1942, APB 96/334, Bl. 4, sowie Jastrz˛ebski, Potulice, S. 58. 452 weisung, dies im Hinblick auf die Urteile der SS-Eignungsprüfer zu tun, lieferte Forster nach, als er am 9. Februar 1943 den Bezirks- und Zweigstellen anheimstellte, wie sie damit verfuhren, aber eindringlich darauf hinwies, dass sie »für die Entscheidung […] der Deutschen Volksliste nicht als bindend anzusehen« seien.286 Wenn Isabel Heinemann in ihrer Studie über das Rasse- und Siedlungshauptamt konstatiert, dass »knapp zwei Millionen Menschen, Angehörige der DVL-Gruppen 3 und 4, […] für eine […] Rassenauslese vorgesehen« waren, so ist damit die erklärte Absicht Himmlers und zumindest von Teilen des SS-Apparates umrissen. Nicht richtig ist hingegen ihre Behauptung, wonach »ein großer Teil von ihnen […] bis Kriegsende auch tatsächlich« selektiert wurde.287 Angesichts der lückenhaften Überlieferung sind keine exakten Angaben über die Zahl der Personen möglich, die in den annektierten westpolnischen Provinzen von den Eignungsprüfern im Rahmen der Deutschen Volksliste einer rassischen Selektion unterworfen wurden. Es ist dennoch sehr unwahrscheinlich, dass im Wartheland mehr als 80000 Personen davon betroffen waren, in Oberschlesien waren es sicherlich nicht einmal die 51000 Angehörigen der Abteilung 4 und in Danzig-Westpreußen eine nochmals deutlich kleinere Anzahl. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass die Eignungsprüfer mehr als 150000 Personen selektierten – also nicht einmal ein Zehntel der ursprünglich geplanten Anzahl. Einstellung der Erfassungen In der Abwehr der rassischen Musterungen verwiesen die Gauleiter übereinstimmend auf einen Aspekt: Sie kosteten Zeit und verschoben den Abschluss der Deutschen Volksliste um weitere Monate hinaus. Genau dazu waren aber die Zivilverwaltungen nicht mehr bereit. Im Wartheland zeigt sich dieser Zeitdruck am deutlichsten. Bereits Anfang 1940 hatten die Ethnokraten in der Reichsstatthalterei die Schließung der Zweigstellen für den kommenden April angeForst