der im In 6 Bänden Herausgegeben von Peter Dinzelbacher Band 5 Ibacher Herausgegeben von Michael Pammer Ferdinand Schöningh Paderborn • München • Wien • Zürich MILIEUS cleinräumiger chungsprozeß srschiedlicher >solute Niveau eteiligung am seh immer ge;ich von Stadt iannover, Ronitz, Dresden, Stuttgart, Kasmind, im VerBrandenburg en die Zahlen ler stark urbaüscher Religisr Beteiligung lerts gar nicht bsoluten Tiefiherten, meist e Altona, Kiel njahrzehnten 40 in einer GeJahrhunderts r eimal im Jahr, mahl.41 Wennilität nicht zur eher Entkirch•r Köln vermuhrzehnten vor tendenziell im UND (Max Vogler) Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn der Französischen Revolution Cuius regio, eins religio. Dieser berühmte Satz aus dem Augsburger Religionsfrieden (1555) war das politische Leitprinzip des Heiligen Römischen Reiches. In jedem der über dreihundert Reichsterritorien war eine der offiziell anerkannten Konfessionen - 1555 die Katholiken und Lutheraner, nach dem Westfälischen Frieden (1648) kamen die Reformierten dazu - auch die Landeskonfession, also die Konfession des Fürsten wie des Volkes. Schon der Westfälische Frieden erkannte jedoch, daß ein solches Prinzip in der Praxis nur schwer umzusetzen war. Im Friedensvertrag wurde das Jahr 1624 als „Stunde Null" der jeweiligen lokalen Konfessionsverhältnisse festgelegt und konfessionelle Unterschiede in allen Ländern außer den katholischen Erbländern des Kaisers zugelassen. In den freien Reichsstädten wurde sogar zwischen drei Arten der Religionsausübung unterschieden: publicum religionis exercitium (freie öffentliche Religionsausübung), privatum religionis exercitium (Kirchen mußten ohne Kirchenturm und Glocken gebaut werden, Prozessionen und andere öffentliche Demonstrationen waren untersagt) und devotio domestica (das Recht, als Konfessionsanhänger im Land zu wohnen und öffentliche Gottesdienste auswärtiger Religionsverwandter besuchen zu dürfen). Eine solche Kategorisierung sollte aber keinesfalls als Zeichen einer wachsenden Toleranz verstanden werden. Konfessionell gemischte Gebiete blieben die Ausnahme und waren von allen Seiten eher unerwünscht. Als zum Beispiel 1685 der französische König Ludwig XIV. die Privilegien aufhob, die 1598 sein Großvater den Hugenotten im Edikt von Nantes verliehen hatte, gab es in Europa wenig Empörung. Die Aufhebung wurde als selbstverständliche und wichtige Maßnahme angesehen, um die allgemeine Ordnung aufrecht zu erhalten. Leitbilder der Toleranz, wie sie bei dem englischen Philosophen John Locke in seinen Leiters Concerning Toleration (1689-1692) zu finden sind, existierten kaum, Intoleranz und konfessionelle Homogenität blieben die Norm. Und sogar bei Locke sollte man vorsichtig sein: Toleranz, also die Duldung von „fremden" Konfessionen im „eigenen" Land, so Locke, konnte nur in Verbindung mit absoluter Loyalität zum Staat gestattet werden. Da aber Katholiken mit dem Papst ein 60 MILIEUS zweites Oberhaupt auf Erden besaßen, hielt Locke diese Loyalität bei ihnen für unmöglich, er schloß sie deshalb aus seiner Toleranzphilosophie aus. Wie außergewöhnlich erscheint dann das im Jahr 1752 verfaßte politische Testament des preußischen Königs Friedrich II. (1740-178Ö1): „Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Juden und zahlreiche andere christliche Sekten", schrieb er, „wohnen in Preußen und leben friedlich beieinander. Wenn der Herrscher aus falschem Eifer auf den Einfall käme, eine dieser Religionen zu bevorzugen, so würden sich sofort Parteien bilden und heftige Dispute ausbrechen".1 Voll von aufgeklärtem Idealismus scheinen die Worte Friedrichs II. zu sein, vor allem im Vergleich mit den Ansichten seiner südlichen Nachbarin. Kaiserin Maria Theresia (1740-1780) in Wien duldete weder Protestanten noch Juden - „die Juden müssen alle hinaus".2 Als ihr Sohn und Nachfolger Joseph II. (1764/80-1790) anfing, tolerante Ansichten zu vertreten, reagierte sie entsetzt.3 Der aufgeklärte Absolutismus und die Konfessionen In ihrem Umgang mit der eigenen und mit fremden Konfessionen stellten Maria Theresia und Friedrich II. zwar zwei Extreme dar, als Herrscher ähnelten sie einander jedoch in vielerlei Hinsicht, da beide auf ihre Weise eine im 18. Jahrhundert weit verbreitete Philosophie des Staates verkörperten, den aufgeklärten Absolutismus. Der zunächst etwas widersprüchlich klingende Begriff beinhaltet die wachsende Tendenz europäischer Machthaber, sich im 18. Jahrhundert nicht nur als absolute Herrscher zu sehen, sondern auch als ihrem Volk verpflichtet, ihm zu dienen und es zu prägen. Staat und Herrscher sollten eins werden: „Sein Bestes zu tun und im Staate möglichst der Vollkommenste zu sein", schrieb Friedrich II. Ähnlich sah sich auch Joseph II., der öfters von „wir Beamten" sprach. Sein Bruder Leopold II. (1790-1792) drückte es vielleicht am radikalsten aus, als er schrieb, daß „der Souverän, auch wenn er ein erblicher Monarch ist, nichts anderes als ein vom Volk angestellter Delegierter ist. Jedes Land sollte ein Grundgesetz haben, das als Vertrag zwischen den Untertanen und dem Monarchen dienen und dessen Rechte und Autorität begenzen sollte".4 Ein weiteres Element des aufgeklärten Absolutismus war die Rationalisierung des Staates durch die Erschließung neuer und besserer Einnahmequellen und die Schaffung einer effizienten Bürokratie. „Aue Gesetze eines Landes müssen dahin abzielen, dem Staate so viel Stärke, Macht und Glückseligkeit zu verschaffen, als er nach seinen Umständen nur immer erreichen kann", schrieb einer der wichtigsten Kameralisten, Johann Heinrich Gottlieb von Justi (1720-1771), in seinem Grundnß einer guten Regierung (1759) .5 Mit Justis Formulierung war zwar die Grundidee der neuen Staatsphilosophie umrissen, offen blieb aber zunächst, wie ein solches Programm in der Praxis durchgeführt werden sollte. Während Maria Theresia und Joseph II. den Staatsdienst in Wien erweiterten, zentralisierten und von einem ausgedehnten Spionagesystem überwachen ließen, baute Friedrich II. in Potsdam zwar ein ähnliches Überwachungssystem auf, koppelte dies aber mit einem dezentralen Staatsaufbau. Joseph II. griff die Privilegien der MILIEUS RELIGION UND POLITIK 61 bei ihnen für 1US. ßte politische atholiken, Lukten", schrieb ier Herrscher u bevorzugen, ien".'Voll von , vor allem im Maria Therei - „die Juden 764/80-1790) iionen stellten Maria • ähnelten sie e im 18. Jahri aufgeklärten riff beinhaltet hundert nicht k verpflichtet, werden:„Sein schrieb Friednten" sprach, .alsten aus, als rch ist, nichts Ite ein Grundn Monarchen .ionalisierung equellen und indes müssen it zu verschafrieb einer der 720-1771), in •ung war zwar ber zunächst, Ite. Während i, zentralisierließen, baute auf, koppelte rivilegien der Abbildung 12: Joseph II. Reiterdenkmal von Franz Anton Zauner, Josefsplatz, Wien I. höheren Stände an, Friedrich II. erweiterte ihre Rechte. In konfessioneller Hinsicht bewirkte dieser Prozeß, wie Fritz Härtung schrieb, eine gewisse „Entzauberung der Monarchie".6 Die Herrscher eines Landes wurden nicht mehr als allmächtige, von Gott bestimmte Machthaber, sondern als integrierter Teil der Staatsmaschinerie angesehen. Für die Entwicklung der konfessionellen Verhältnisse im Alten Reich war der Kameralismus in zweifacher Hinsicht prägend: Zum einen, so argumentierten die Kameralisten, hing die Stärke eines Staates von seiner Bevölkerungszahl ab. Die meisten Städte und Regionen hatten imJahrhundert nach dem Westfälischen Frieden einen massiven Bevölkerungsrückgang erlitten, und eine tolerante Religionspolitik wurde nun eine der effektivsten Formen der Zuwanderungsförderung. Bei weitem der größte Nutznießer der Intoleranz anderer Staaten war Preußen, und zwar lange vor Friedrich II.: 1685 wanderten 20000 Hugenotten von Frankreich nach Preußen aus, zwischen 1729 und 1736 folgten über 2000 Reformierte aus Böhmen und schließlich 1732 bis 1734 circa 30000 Protestanten aus dem Salzburger Hinterland. Aber nicht nur in Preußen war eine solche Politik üblich. In der Hoffnung, durch seine Maßnahmen eine wirtschaftstüchtige MILIEUS 62 und intelligente Klasse von Bürgern zu fördern, erlaubte der katholische Fürsterzbischof Friedrich Karl von Erthal in Mainz (1774-1802) 1786 Protestanten und in manchen Fällen auch Juden einen Abschluß an der Universität, zwei Jahre später folgte ein allgemeines Toleranzgesetz für Protestanten. Sogar die recht intolerante Maria Theresia übersiedelte „ihre" Protestanten lieber in das vom Hause Habsburg regierte Grenzgebiet zwischen Ungarn und dem Osmanischen Reich, als sie emigrieren zu lassen. Zum anderen war eine tolerante Religionspolitik wichtig, weil sie die zunehmende Unabhängigkeit des Staates von einer „Staatsreligion" ermöglichte. Im Preußen Friedrichs II., einem Staat, in dem der König reformiert, der Großteil der Bevölkerung lutherisch und eine deutliche Minderheit katholisch war, konnte sich der Staat zunehmend durch Toleranz über die Konfessionen stellen. Diese Ideenwelt - Kameralismus, Toleranz, aufgeklärter Absolutismus - existierte innerhalb eines vielfältigen und föderalen politischen Systems: des bis 1806 existierenden Heiligen Römischen Reiches. Konfessionell betrachtet war das Reich eine eindeutig katholische Gestalt - Historiker sprechen von einer „Katholizität des Reiches":7 der Kaiser und mit ihm der Reichshofrat waren katholisch; die wichtigsten Kurien und Ausschüsse sowie das Reichskammergericht waren von Katholiken dominiert. Solche konfessionell-politischen Machtspiele blieben bei den Mitwirkenden der Reichspolitik nicht unbeachtet. Von 1648 bis 1769 gab es bei den höheren protestantischen Dynastien 31 Übertritte zum Katholizismus, fast ausschließlich aus politischen Überlegungen. Eine solche Konstellation „schuf bei den Protestanten trotz ihrer formalen Gleichberechtigung zu allen Zeiten ein Mißtrauenspotential gegen alles katholisch-kaiserliche, das politisch virulent werden konnte".8 Im Lauf des 18. Jahrhunderts geriet die katholische Hegemonie im Reich immer häufiger unter Druck. In den sechziger Jahren fingen Protestanten an, die Machtposition des Kaisers und von Katholiken allgemein anzugreifen. Immer häufiger wurde die Reichsverfassung durch konfessionelle Forderungen seitens der Protestanten angegriffen und in Frage gestellt; im politischen Alltag stieß der wachsende politische Machtanspruch immer wieder auf die mühselig erhaltenen politischen Ordnungsstrukturen der Katholiken. Im Gegensatz zu den oben genannten Übertritten ging die Tendenz beim höchsten Adel eindeutig in die andere Richtung: Um 1750 waren nur noch drei der bedeutendsten Dynastien im Reich katholisch. Die Habsburgermonarchie Die besonderen Herausforderungen der katholischen (Gegen-)Reformation in der Habsburgermonarchie erforderten eine enge Zusammenarbeit von Staat, Kirche und Dynastie, um die bereits überwiegend protestantische Bevölkerung der Erbländer zurück zum Katholizismus zu konvertieren. Das Resultat war eine immer eindeutigere Verflechtung der Strukturen. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts fing die Staatsmaschinerie des Hauses Habsburg an, sich in kirchliche Angelegenheiten einzumischen, um die katholische Hierarchie immer enger an MILIEUS holische Fürst6 Protestanten rsität, zwei JahSogar die recht jer in das vom i Osmanischen sie die zuneh-möglichte. 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Kameralisten fanden mit dieser Institution und ihrem Besitz ein passendes Objekt zur Umsetzung ihrer Ideen. Philipp Wilhelm von Hörnigk (1640-1714), einer der leitenden österreichischen Kameralisten, beschrieb das neue Staatssystem in seinem Buch Österreich über alles, wann es nur will (1684): ein zentralistischer Beamtenapparat, der eine zentral gelenkte Wirtschaftspolitik betreibt, und eine Kirche, die wie der Adel eine eher dienende als eigenständige Funktion ausübt. Die theoretischen Grundlagen der Kameralisten wurden aber im siebzehnten Jahrhundert noch wenig beachtet, und erst unter der Herrschaft Maria Theresias und vor allem Josephs II. wurde das System in den Ländern der Monarchie umgesetzt. Mit den sogenannten josephmischen Reformen wurde dann zwischen den Jahren 1750 und 1790 „das durchdachteste katholische Staatskirchensystem des aufgeklärten Absolutismus" geschaffen.10 Der erste Schritt war die administrative und politische Loslösung der österreichischen Kirche von Rom. Schon 1752 verordnete Maria Theresia in Oberösterreich, daß alle kirchlichen Rechnungen den weltlichen Behörden vorgelegt werden mußten. Vier Jahre später kam es zu einer Überprüfung sämtlicher geistlicher Stiftungen in der Monarchie.11 In den sechziger und siebziger Jahren folgte die Schulreform: Die kirchlichen Schulen sollten einer weltlichen Gewalt unterworfen werden. Wie die Kaiserin 1770 einem protestierenden Kardinal mitteilte: „die Schule ist und bleibt ein Politikum", also sollte auch hier der Staat seine Interessen bewahren.12 Die Kaiserin hatte aber auch persönliche Gründe, dem Papst in Rom kritisch gegenüberzustehen: 1742, als die Kaiserin um ihr Erbe, die Monarchie, kämpfte, hatte Benedikt XIV. den bayerischen König Karl VII. als Kaiser anerkannt, und 1768 exkommunizierte Papst Clemens XIII. in einer europäischen Cause celebre den zukünftigen Schwiegersohn der Kaiserin, Ferdinand von Parma, wegen der radikalen Kirchenreformen, die dieser in seinem Land veranlaßt hatte. In diesen Jahren war die katholische Kirche von einer einheitlichen Richtung weit entfernt, und wichtige Personen innerhalb der Kirche unterstützten die antirömischen Entwicklungen. Schon vor dem Antritt Maria Theresias strebte eine Gruppe bedeutender Bischöfe in der Monarchie eine größere Reform an. Diese reformkatholisch geprägten Bischöfe und Geistlichen kamen öfters in Salzburg zusammen und standen unter der geistigen Führung des in Mailand und Rom lebenden Priesters und Kirchenhistorikers Ludovico Antonio Muratori (16721750). Sie wollten die Exzesse der aus der Gegenreformation stammenden Barockfrömmigkeit aus der Kirche entfernen. Klöster zum Beispiel, die zu den Zeiten der Gegenreformation noch als wichtige Inseln katholischer Pietät angesehen wurden, erschienen den Reformkatholiken als eine unnötige Verschwendung von finanziellen und personellen Ressourcen; der täglich direkt mit der Bevölkerung arbeitende Dorfpfarrer wurde zu ihrer neuen Leitfigur. Die Kaiserin unterstützte diese Strömungen und ernannte sogar 1757 einen der wichtigsten Anhänger Muratoris, Christoph Anton von Migazzi (1714-1803), zum Erzbischof von Wien.13 64 MILIEUS Abbildung 13: Architektur des Reformkatholizismus: die neoklassizistische Kathedrale von Väc, gebaut in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts nach Plänen von Isidor Canevale für Christoph Anton von Migazzi. Nachdem Joseph II. 1764 römischer Kaiser und Co-Regent seiner Mutter wurde und vor allem nach Maria Theresias Tod 1780 fand das josephinische System seinen Höhepunkt. Es war durch drei Merkmale charakterisiert: Erstens sollten die für Staat und Gesellschaft „nicht produktiven" Elemente des religiösen Lebens ein Ende finden. Hunderte von Klöstern wurden geschlossen und Wallfahrten, die länger als einen Tag dauerten oder ohne kirchliche Aufsicht erfolgten, untersagt. Zweitens wurde die Priesterausbildung professionalisiert: Fächer wie Mathematik, die Naturwissenschaften und besonders auch Pastoraltheologie wurden nun neben den traditionellen Fächern wie Dogmatik und Kirchengeschichte unterrichtet. Drittens wurden alle Verbindungen innerhalb der katho- MILIEUS e Kathedrale von n Isidor Canevale r Mutter wurde linische System Erstens sollten s religiösen LeQ und Wallfahrsicht erfolgten, ert: Fächer wie storaltheologie md Kirchengehalb der katho- RELIGION UND POLITIK 65 Abbildung 14: Pius VI. mit Joseph II in Conferenz. lischen Kirche und zwischen ihrer Hierarchie in der Habsburgermonarchie und Rom unter strenge staatliche Aufsicht gestellt. Die Korrespondenz mußte erst durch die weltlichen Behörden geleitet und päpstliche Enzykliken und Bullen vor der Bekanntmachung vom Kaiser genehmigt werden; alle Geistlichen mußten bei Dienstantritt einen Treueid auf den Staat leisten. Die sich beschleunigende Radikalität der Gesetze nach 1780 - die Schließung der Klöster, die Reduzierung der Priesterzahl, die Neugestaltung der Diözesen innerhalb der Monarchie - verfeindete schließlich einen wichtigen Teil der österreichischen Hierarchie. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts wurde sogar Erzbischof Migazzi zu einem Gegner desjosephinischen Staatskirchentums. Priester akzeptierten zum größten Teil die Reformen, die im Zusammenhang mit den Klosteraufhebungen zu einer völligen Reform der Pfarrstruktur führten.14 MILIEUS 66 Ein zentraler Punkt der Reform war die religiöse Toleranz. Unter Maria Theresia wurden Protestanten im westlichen Österreich (den Erbländern und Böhmen) bestenfalls geduldet; meist wurden sie vor die Wahl zwischen Konversion und Verbannung gestellt. (In Ungarn und in den österreichischen ^Niederlanden verhielt sich die Kaiserin aus rechtlichen und realpolitischen Gründen wesentlich pragmatischer.) Allerdings führte die Verbannung nicht ins Exil, sondern, wie erwähnt, zu den Sachsen im ungarischen Siebenbürgen, da die Kaiserin ungern tüchtige Arbeitskräfte ins Ausland schickte. Als im Jahre 1777 mehrere tausend Protestanten in Böhmen „entdeckt" wurden, kam es zwischen der Kaiserin und ihrem Sohn zu heftigen Diskussionen über Nutzen und Nachteil der Toleranz. Maria Theresia, zwar zutiefst entsetzt, wollte die Sache nicht ohne das Einverständnis ihres Sohnes entscheiden. Dieser wandte sich gegen eine drastische Lösung wie Verbannung. In einem seither berühmt gewordenen Briefwechsel erklärte Joseph II.: „Gott behüte mich vor dem Gedanken, daß es egal sein könnte, ob Untertanen Protestanten werden oder Katholiken bleiben [...] Ich würde alles, was ich habe, geben, wenn aus allen Protestanten Eures Reiches Katholiken würden. Für mich bedeutet die Toleranz nur etwas weltliches. Ich würde, ohne auf die Konfession Rücksicht zu nehmen, diejenigen beschäftigen und Landbesitz ermöglichen, in Berufe einsteigen lassen oder Staatsbürgerschaft annehmen, die Qualifiziert sind und so [der Monarchie] Vorteil und Industrie verschaffen."15 Die Kaiserin verfolgte die Protestanten dennoch. 1781, ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter, erließ Joseph II. seine berühmten Toleranzedikte. Für Protestanten wurde das privatum rehgioms exeratium genehmigt, in einem zweiten Edikt 1782 wurde der größte Teil der bestehenden Sondergesetze für Juden annulliert. Nach dem ersten Toleranzedikt ließen sich in kurzer Zeit 73 000 Protestanten in den Erbländern registrieren. Preußen Preußen schuf aus verschiedenen Gründen schon viel früher gewisse strukturelle Voraussetzungen für eine tolerante Staatsverwaltung. Bereits 1613 wechselte Kurfürst Sigismund vom lutherischen zum reformierten Glauben. Er tat dies, ohne von seinen Untertanen denselben Glaubenswechsel zu verlangen, aber auch, fast genau so wichtig, ohne auf die Ausübung seiner landesherrlichen Kirchenhoheit und oberbischöflichen Rechte über die lutherische Kirche zu verzichten. Mit dieser Verflechtung der protestantischen Konfessionen hatte Preußen schon einen wichtigen Grundstein für eine flexible Religionspolitik gelegt. Die philosophischen Grundlagen der Toleranzphilosophie und -politik des Hohenzollernstaates stammen zum größten Teil aus der Feder des Monarchen, Friedrich II., der sich in seinem Schriftverkehr und in Büchern ausführlich mit dem Thema beschäftigte. Zum einen sah er in allen Religionen der Welt gewisse Ähnlichkeiten der Moralität. „Les religions chretiennes, la juive, la mahometane et la chinoise ont ä peu pres la meine morale [...] une morale necessaire au maintien de la societe", schrieb er an D'Alembert im Januar 1770.16 Gleicherma- 67 ____ MILIEUS RELIGION UND POLITIK Viaria Theresia und Böhmen) onversion und Niederlanden den wesenüich , sondern, wie aiserin ungern ;hrere tausend r Kaiserin und [ der Toleranz, ne das Einverdne drastische n Briefwechsel .ß es egal sein leiben [...] Ich Eures Reiches weltliches. Ich n beschäftigen itsbürgerschaft und Industrie 1781, ein Jahr "oleranzedikte. nigt, in einem dergesetze für rzerZeit73000 ßen blieb bei ihm aber auch eine gewisse Skepsis jeder einzelnen Religion gegenüber bestehen, die Folge einer gewissen Relativierung seines religiösen Wahrheitsbegriffes. Friedrich selber besuchte in seinen 46 Jahren als Monarch nur neunmal einen Gottesdienst.17 ß Seine Toleranzphilosophie baute auch auf dem Naturrecht auf. Die Basis von Staaten und ihren Hierarchien lag im Gesellschaftsvertrag, also im menschlichen Verstand, nicht in der übernatürlichen Welt der Religion. „Die Aufrechterhaltung der Gesetze war der einzige Grund, der die Menschen bewog, sich Obere zu geben; denn das bedeutet den wahren Ursprung der Herrschergewalt", argumentierte er in seinem Aufsatz Regierungsformen und Herrscherpflichten (1776).18 Schließlich sah Friedrich wie die Kameralisten in der Toleranzpolitik auch einen ökonomischen Nutzen für den Staat. Einerseits förderte sie den Bevölkerungszuwachs, andererseits schuf sie ein wichtiges Vorbild für den freien Handel zwischen freien Parteien. Nur eine tolerante Politik, so Friedrich, konnte die Voraussetzung für ein harmonisches Zusammenleben der Gesellschaft schaffen. Und nur ein solches Zusammenleben ermöglichte den Ausbau des eigenen materiellen Wohlstands, der wiederum als Grundlage für die allgemeine wirtschaftliche Prosperität diente.19 Was hat Friedrichs Toleranzphilosophie nun bewirkt? Wie hat sie den Staat verändert? Die erste und vielleicht wichtigste Auswirkung der preußischen Staatsraison war eine einwanderungsfördernde Ausländerpolitik. Hier übertraf Preußen alle anderen Staaten. Nach einer Schätzung waren 1786 ungefähr zehn Prozent der preußischen Bevölkerung selbst eingewandert oder stammten von Einwanderern ab.20 Das gleiche gilt für die tolerante Minderheitenpolitik des Monarchen, die verschiedenen Sekten von Wiedertäufern bis Mennoniten sowie deren Anführern Asyl gewährte. Noch wichtiger als die Ausländer- und Minderheitenpolitik war die Kirchenpolitik allgemein. Als Friedrich 1740 den Staat übernahm, hatten sich die konfessionellen Verhältnisse im letzten Jahrhundert wenig verändert. Die christliche Bevölkerung bestand aus neunzig Prozent Lutheranern, sieben Prozent Katholiken und drei Prozent Reformierten.21 Die regierende Konfession, die reformierte, war also in der Minderheit. Der preußische Erfolg im Siebenjährigen Krieg (1740-1747) und die Annexion Schlesiens mit seiner halben Million Katholiken bedeuteten einen achtfachen Zuwachs der katholischen Bevölkerung Preußens. Friedrich II. vertrat hier eine aktive Toleranzpolitik, damit die schlesischen Katholiken nicht eine politische Loyalität zum katholischen Kaiserhaus in Wien beibehielten. Stolgebühren für Amtshandlungen wurden bis 1758 auch für Nichtkatholiken weiterhin an die katholischen Geistlichen gezahlt. Und obwohl die Protestanten der neuen preußischen Provinz jetzt frei Gemeinden bilden konnten, gewährte Friedrich ihnen hierfür keine leerstehenden katholischen Kirchen, so daß 165 katholische Kirchen gänzlich ohne Gemeinde waren und in manchen Orten, wie zum Beispiel Gottesberg bei Waldenburg, 1500 Protestanten des Dorfes keine Kirche hatten, während die zwei Katholiken des Ortes über die Stadtpfarrkirche verfügten.22 Kein Wunder, daß es in Schlesien in den unteren Rängen des Staatsdienstes bei örtlichen Beamten und Lehrern und bei den protestantischen Pfarrern immer wieder zu Katholikenhetze kam. In den nächsten Jahrzehnten ergingen zahlreiche scharfe öffendiche Abmah- sse strukturelle wechselte Kur- - tat dies, ohne aber auch, fast Kirchenhoheit verzichten. Mit ußen schon eif*. nd -politik des es Monarchen, msführlich mit er Welt gewisse a mahometane : necessaire au ,16 Gleicherma- MILIEUS 68 nungen an lutherische und reformierte Prediger wegen Verketzerns. Das Problem blieb. Friedrich II. Toleranz entstammte also keineswegs einer religiösen Indifferenz. Die Religionen bildeten für ihn die moralische Basis der Gesellschaft, die Kirchen waren daher ein zentrales Element der Staatsregierung, das vor allem für das sittliche Wohl der Bevölkerung zuständig war. Der Pfarrer, schrieb Friedrich, ist das „geistliche Polizeiorgan" des Staates. Als der Papst 1773 den Jesuitenorden auflöste und die Brüder des Ordens aus fast allen Ländern der Welt verbannt wurden, gewährte Friedrich II. ihnen in Preußen Asyl: er brauchte den Orden zum Erhalt des katholischen Schulsystems in Schlesien. Friedrichs Toleranzphilosophie sollte aber auch nicht als Vorreiter eines modernen, liberalen Ideals der individuellen Freiheit gesehen werden. Sie stammte aus den gegebenen religiösen Strukturen des Staates und einer der Aufklärung entstammenden allgemeinen Skepsis gegenüber religiösen Strukturen. Seine differenzierte und tolerante Religions- und Kirchenpolitik verlor den Staat als Hauptnutznießer nie aus dem Auge. Die geistlichen Länder Unter den etwa dreihundert Ländern im Reich wurden im 18. Jahrhundert noch über siebzig von einer geistlichen Obrigkeit, also von einem Bischof oder Abt, regiert. Fast alle waren katholisch; Ausnahmen wie in Osnabrück, wo ein katholischer und protestantischer Bischof in alternativer Sukzession Fürstbischof wurden, waren selten.23 Von Geistlichen regiert hieß aber noch lange nicht, daß diese Länder konservativ, reaktionär und/oder sozial zurückgeblieben waren. Die katholische (Gegen-) Reformation hatte hier im Zusammenhang mit der Aufklärung einen bedeutenden Einfluß, und Fragen von Staatsreform, religiöser Toleranz und Ideen der Nation wurden in diesen Gebieten viel häufiger, intensiver und öffentlicher diskutiert als in Wien oder Berlin. In Sachen Reform waren die geistlichen Staaten, als Verwaltungseinheiten politisch kompakt, oft schneller als ihre großen Nachbarn. In Mainz zum Beispiel, einer von der französischen Besatzung im Siebenjährigen Krieg schwer getroffenen Region, gründete Erzbischofjohann Friedrich Carl von Ostein (17431763) einen neuen Handelsstand und erließ gleichzeitig ein Gesetz zur Toleranz gegenüber Protestanten und Juden. Das Land brauchte Einwanderer. Auch die klassisch kameralistisch-jansenistischen Reformen blieben nicht aus: 1746 wurde ein Gesetz erlassen, welches die Übergabe von weltlichem Besitz an die „tote Hand", also an Klöster und die Kirche, verbot, und ab 1769 brauchten Novizen die Genehmigung des Bischofs, bevor sie in ein Kloster eintreten durften. Auch Salzburg unter Erzbischof Hieronymus Colloredo (1772-1803) wurde zum Zentrum eines „kleinen Josephinismus": die Priesterausbildung wurde reformiert, 1772 eine Feiertagsreduktion eingeführt und 1779 ein Verbot der Passionsdarstellung ausgesprochen. Nach der Vertreibung der Protestanten 1732-1734 war zwar der Umgang mit religiösen Minderheiten kein wichtiges Thema mehr - es MILIEUS •tzerns. Das Preisen Indifferenz, haft, die Kirchen or allem für das ieb Friedrich, ist n Jesuitenorden >r Welt verbannt chte den Orden chs Toleranzphieralen Ideals der egebenen religiicnden allgemeine und tolerante >ßer nie aus dem ihrhundert noch .ischof oder Abt, ck, wo ein kathoFürstbischof wurlange nicht, daß jeblieben waren, icnhang mit der eform, religiöser l häufiger, intenaltungseinheiten dnz zum Beispiel, ;g schwer getrofn Ostein (1743setz zur Toleranz nderer. Auch die t aus: 1746 wurde isitz an die „tote auchten Novizen m durften. Auch wurde zum Zen-urde reformiert, der Passionsdarn 1732-1734 war Thema mehr - es RELIGION UND POLITIK 69 gab keine Minderheiten -, dafür war das öffentliche Klima aber sehr liberal. In Salzburg wurden viele Bücher publiziert, die in einem anderen Staat, vor allem in der Habsburgermonarchie, kaum am Zensor vorbeigekommen wären. Es waren aber bei weitem nicht alle Staaten wie Mainz und .Salzburg. Köln zum Beispiel, welches Georg Forster 1790 als „finstere, traurige" Stadt beschrieb, war eine solche Ausnahme. „Man nennt sowohl dieser Türme als überhaupt der Gotteshäuser und Altäre eine so ungeheure Zahl, daß sie meinen Glauben übersteigt. Gleichwohl ist neben so vielen kein Plätzchen übrig, wo die Christen, die den Papst nicht anerkennen, ihre Andacht frei verrichten dürfen. Der Magistrat, der den Protestanten bereits die freie Religionsübung innerhalb der Ringmauern bewilligt hatte, mußte seine Erlaubnis kürzlich wieder zurücknehmen, weil der Aberglaube des Pöbels mit Aufruhr, Mord und Brand drohte."24 Diese Diskrepanz zwischen einer wachsenden pragmatischen Toleranz der Regierung und einer Intoleranz der allgemeinen Bevölkerung ist ein weiteres wichtiges Merkmal der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie in Köln scheiterten in vielen kleineren Staaten die Reformen oft weniger am mangelnden Willen des Staates als am Widerstand der Bevölkerung. Die geistlichen Staaten lieferten auch wichtige Beiträge zur Entwicklung der nationalen Frage, da diese vor allem auch als konfessionelle Frage wahrgenommen wurde. Wie schon erwähnt, waren es die Protestanten, die an dem Gerüst des Reiches rüttelten und Reformen förderten. Katholiken gingen oft in die andere Richtung und befaßten sich vor allem mit Überlegungen zur konfessionellen Einheit im Reich. Ein Beispiel hierfür sind die Koblenzer Gravamina (1769), ein Protestschreiben von mehreren Bischöfen und katholischen Gelehrten aus Mainz, Trier und Köln, die eine unabhängige, konziliare Kirche für Katholiken in Deutschland forderten. Der Papst, so argumentierten die Beteiligten, war zwar Oberhaupt der Kirche, es sollte aber zusätzlich ein nationales Konzil der deutschen Bischöfe einberufen werden, das neben dem Papst in Rom stehen könnte. Auch sollte die weltliche Macht von der geistlichen getrennt werden, es sollten also weltliche Landesherren ihr Mandat direkt von Gott und nicht erst über die Kirche erhalten. So versuchten sie, Lockes Dilemma zu lösen und die katholische Bevölkerung für die weltliche Macht „regierungstauglich" zu machen. Dieser Ansatz scheiterte aber letztendlich an Kaiser Joseph II., der in solchen Ansätzen eine ernste Bedrohung seiner eigenen und noch höchst umstrittenen Kirchenreformen sah. Ähnliche Versuche gab es immer wieder, wie 1786 auf dem Emser Kongreß, wo die Delegierten erneut die Macht des Papstes durch die Schaffung eines unabhängiges Nationalkonzils zu balancieren versuchten. Auch hier verhinderte Joseph II. aus Eigeninteresse das Vorhaben. Wichtige Folgen dieser fehlgeschlagenen Versuche waren ein sich langsam vergrößernder Abstand zwischen den politischen Strukturen der katholischen Hierarchie in der Habsburgermonarchie und denjenigen in den restlichen Ländern des Reiches sowie eine immer schwächer werdende Reichskirche. MILIEUS 70 Die protestantischen Länder und die Reichsstädte Mit seiner entschiedenen Toleranz war Friedrich II. untetfden protestantischen Landesherren eine Ausnahme. In Oldenburg, einem in Personalunion vom dänischen König regierten lutherischen Land, wurden Reformierte und Katholiken kaum geduldet. Als die kleine katholische Gemeinde 1737 um die Genehmigung bat, einen katholischen Geistlichen einstellen zu dürfen, wurde dies abgelehnt. 1743 wurde den Katholiken endlich ein „Layen-Prediger ... zur Verwaltung des Gottesdienstes" genehmigt. Erst fünf Jahre später erhielten die Katholiken, die sich in der Provinz hauptsächlich als Soldaten im Heer aufhielten, endlich einen geweihten Priester, einen Franziskanerrnönch, nachdem sie die „Schwierigkeiten" dokumentieren konnten, die mit dem Auffinden eines Laienpriesters verbunden waren.25 Unter der konfessionspolitisch offeneren Regierung Herzog Peter Friedrich Ludwigs (1755-1829) in den achtzigerJahren des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl der Katholiken, bis ihnen schließlich „ein auf eigene Kosten zu unterhaltender Geistlicher" erlaubt wurde. Der Gottesdienst mußte aber „in aller Stille, ohne außerhalb der Grenzen des Bethauses anzustellende Prozessionen oder Umgänge, und unter genauer Beachtung der Landesgesetze geschehen".26 In den Hansestädten und den freien Reichsstädten wie Dortmund und Frankfurt war die Situation ähnlich. In Dortmund waren Katholiken und Lutheraner zwar bürgerlich gleichberechtigt, Katholiken im Stadtrat gab es aber keine. Reformierte wiederum erhielten erst 1786 überhaupt das Bürgerrecht. Im lutherischen Frankfurt hatten die Katholiken zur Zeit der westfälischen „Stunde Null" (1624) mehrere Kirchen in der Stadt und erhielten so schon 1648 das exeratium religionis pnvatum. Reformierte mußten länger auf ihre Rechte warten: Erst 1787 erhielten sie ähnliche Rechte wie ihre katholischen Mitbürger. „In politischer und bürgerlicher Rücksicht gibt es nur einen einzigen Stand in Hamburg, den Bürgerstand. Bürger sind wir alle, nicht mehr und nicht weniger", schrieb Johann Daniel Curio 1802 über seine Heimatstadt Hamburg.27 Doch dieser Blick täuscht. Hamburg war als große Hafenstadt schon seit dem 16. Jahrhundert toleranter als die meisten Städte und gewährleistete allen Religionen den Aufenthalt und de- votio domestica. Aber auch in Hamburg war der Weg zur rechtlichen Anerkennung lang und verschlungen: 1782 erhielten Reformierte und Katholiken zwar die religiöse Gleichberechtigung, 1785 folgte die „freie und ungestörte Religionsausübung" für Reformierte durch das Reglement für die fremden Religions-Verwandten, ein Recht, über das Katholiken schon länger verfügten.28 Absolute Gleichstellung der Konfessionen erfolgte erst 1819.29 In allen vier hier erwähnten Beispielen protestantischer Reichsstände - Oldenburg, Dortmund, Frankfurt und Hamburg - gab es eine eindeutige Bevorzugung der katholischen gegenüber der reformierten Minderheit. Dies kann nur mit Blick auf die Reichsebene erklärt werden: Die freien Städte blickten immer mit Bedenken und Unruhe auf ihre größeren Nachbarn. Ihre Integrität sahen sie nur in der politischen Machtstruktur des Reiches, also unter dem Schutz des katholischen Kaisers gewährleistet. So war auch die Reichspolitik der meisten Stadträte und -senate dem Hof in Wien positiv gesinnt. Außerdem ka- MILIEUS ädte testantischen alunion vom .e und Kathom die Geneh\, wurde dies rer ... zur Vererhielten die Heer aufhiel, nachdem sie ffinden eines ich offeneren htzigerJahren ;ß!ich „ein auf r Gottesdienst luses anzustelig der Landesnd und Frankid Lutheraner iber keine. Re;cht. Im luthe„Stunde Null" 8 das exerätium rten: Erst 1787 „In politischer Hamburg, den Schriebjohann :r Blick täuscht. rt toleranter als enthalt und de\ Anerkennung iliken zwar die te Religionsausions-Verwandten, i Gleichstellung chsstände - Olndeutige Bevorheit. Dies kann Städte blickten L. Ihre Integrität also unter dem Leichspolitik der t. Außerdem ka- 71 RELIGION UND POLITIK. men die meisten Katholiken in den nördlichen Reichsstädten aus den ärmeren Klassen - Dienerschaft, Arbeiter und Handwerker -, waren also politisch „ungefährlich", während die Reformierten oft aus den besseren Schichten stammten.30 Interessant sind auch Zeitpunkt und Begründung der verschiöflenen Toleranzgesetze. In allen Städten wurden die wichtigen Toleranz-Gesetze der achtziger Jahre mit direktem Bezug auf das Toleranzedikt von Joseph II. verabschiedet. Die philosophisch begründete Toleranz aus dem protestantischen Berlin hatte die Reichsstädte also weniger beeinflußt als die pragmatische Gesetzgebung des Kaisers in Wien. Auch dies hat mehrere Gründe: Erstens war der preußische König nicht lutherisch, sondern reformiert - ein nicht unwichtiger Unterschied. Zweitens aber, wie schon erwähnt, waren die freien Reichsstädte am Erhalt der Reichsstruktur interessiert und neigten so eher den politischen Lösungen des katholischen Kaisers zu. Ohne Reich, also in einem Mitteleuropa, wie es nach 1806 existierte, waren die Reichsstädte den Interessen ihrer größeren Nachbarn ausgeliefert. Die philosophisch begründete Toleranz Preußens drohte den Status quo zu zerstören, während die komplexere Gesetzgebung des Kaisers gewisse Toleranzansprüche in das existierende System einbaute. Die katholischen Staaten Im Gegensatz zu den freien Reichsstädten schienen die katholischen Landesherren in der Kurpfalz oder in Bayern wie in Preußen sich eher an das Modell einer ideellen Aufklärung zu halten. Wie Friedrich II. handelten auch sie eher aus philosophischen als reichspolitischen Gründen, jedenfalls wenn es um die Landesinnenpolitik ging. Karl Theodor (1742-1799), Kurfürst in der Pfalz und nach 1777 auch in Bayern, ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Kurpfalz war ein konfessionell gemischtes, aber überwiegend reformiertes Land (60 Prozent reformiert, zehn Prozent lutherisch und 25 bis 30 Prozent katholisch). Der Kurfürst war zwar katholisch und ein „frommer Laie" im gebildeten Sinne, wollte aber auch eine bewußt liberale Öffentlichkeitspolitik betreiben. So ging er regelmäßig in die Messe und beschäftigte sich gern mit religiösen Fragen, pflegte aber gleichzeitig eine Freundschaft mit Voltaire und ließ sogar La Henriade, ein sehr kirchenkritisches Werk, ins Deutsche übersetzen. In seiner Wahl von Staatsministern und Universitätsprofessoren war er liberal und tolerant, andererseits zahlte er Geld, oft sogar eine kleine Rente, an Protestanten oder Juden, die zum Katholizismus übertraten. Seine Politik in der Kurpfalz wie später in Bayern war also eine Toleranz mit deutlicher katholischer Bevorzugung.31 Karl Theodor vertritt so die kleinstaatlich-katholische Variante der Toleranz im späten 18. Jahrhundert. 72 MILIEUS Beispiel der Religionspolitik auf internationaler Ebene: Die Auflösung des Jesuitenordens (1773) Für die gebildete Öffentlichkeit Europas verkörperten die Jesuiten all das, was die Aufklärung in Europa beenden wollte: eine heimliche „Supermacht" im Auftrag Roms, die ihre erstrangige Position im Vatikan nur Verschwörung und Intrigen verdankte und hemmungslos gegen die Aufklärung zu wirken versuchte. Ein Gedicht des Tirolers Hermann von Gilm aus dem Jahr 1845 zeigt beispielhaft, wie die Jesuiten gesehen wurden: „Es geht ein finstres Wesen um Das nennt sich Jesuit Es redet nicht, ist still und stumm Und schleichend ist sein Tritt Es trägt ein langes Trauergewand Und kurzgeschornes Haar Und bringt die Nacht zurück ins Land Wo schon die Dämmerung war."32 Die Gesellschaft Jesu war gewiß mächtig: in achthundert Residenzen, siebenhundert Kollegien und über dreihundert Missionen waren circa 22 500 Brüder über die ganze Welt verstreut, besonders in Amerika und Asien.33 Sie füngierten in der Aufsicht und als Lehrer an zahllosen Schulen und Universitäten sowie als Beichtväter bei bedeutenden (und oft regierenden) katholischen Familien Europas. Kurz, sie schienen genau das zu verkörpern, wovor Locke gewarnt hatte: sie waren dem Papst gegenüber loyaler als dem Landesfürsten. Der Versuch, die .jesuitische Weltverschwörung" zu brechen, begann vor allem in den „aufgeklärten" bürgerlichen und liberalen Mittelschichten der verschiedenen Länder Europas, besonders im Gerichtssaal. In Portugal verurteilte 1759 ein Gericht die Gesellschaft Jesu, „gegen die Portugiesische Krone in Afrika und Amerika Aufstände angezettelt zu haben".34 Zwei Jahre später wurden alle 1500 portugiesischen Jesuitenbrüder des Landes verwiesen und nach Rom zum Papst geschickt. Spanien folgte 1767 und verbrachte weitere 2700 Ordensbrüder nach Rom. In Frankreich ging man etwas vorsichtiger vor: nach einem ersten Gerichtsprozeß 1764 wurde auch dort der Orden verboten, doch mit dem wichtigen Unterschied, daß „diejenigen, die der vorbenannten Gesellschaft angehörten, einzeln in unseren Staaten unter der geistlichen Gewalt der örtlichen Ordinarien in Einklang mit unseren Gesetzen zu leben" haben.35 In wenigen Jahren hatte der Antijesuitismus es bis in die königlichen Höfe geschafft. Als 1769 Papst Clemens XIII. (1693-1769) starb, versuchten verschiedene Staaten ihr Veto-Recht36 im Konklave zu nutzen, um vom nächsten Papst das Versprechen der Ordensauflösung als Gegenleistung für die päpstliche Tiara zu verlangen, zunächst ohne Erfolg. Aber der neue Papst, Clemens XTV. (1705— 1774), konnte die antijesuitischen Strömungen nicht aufhalten, und am 18. August 1773, nach langem Zögern, wurde Lorenzo Ricci, dem Oberhaupt der Gesellschaft in Rom, die schlechte Nachricht übermittelt: die Gesellschaft Jesu würde aufgelöst weren. MILIEUS RELIGION UND POLITIK 73 ler Ebene: 73) .uiten all das, was .Supermacht" im Erschwerung und wirken versuchte, zeigt beispielhaft, nzen, siebenhun> 500 Brüder über füngierten in der i sowie als Beichtamilien Europas. 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Als das papstliche Breve offiziell veröffentlicht wurde, erhielt der Staat die Pfründe, wahrend die Exjesuiten weiter in ihren alten Posten arbeiteten. In Köln, Mainz und Trier war es ähnlich: die Exjesuiten blieben und wurden als dem Bischof unterstellte Weltgeistliche eingestuft.37 Politik „von oben", Politik „von unten" Waren die Jesuiten denn so unbeliebt? Im Gegenteil, bei großen Teilen der breiten Bevölkerung wurde die Auflösung als Katastrophe empfunden. In Mainz, also in einem geistlich regierten Land, war die Spannung zwischen Regierung und 74 MILIEUS Bevölkerung nach Ankündigung der Auflösung so hoch, daß die Garnison die Stadt besetzen mußte, um die Ordnung aufrecht zu halten. Die öffentliche Meinung für die Jesuiten und gegen den Landesfürsten spiegelte sich auch im niederen Klerus wieder, wo es im Anschluß an die Krawalle in Mainz eine Reihe von Verhaftungen wegen pn>jesuitischen Predigens gab.38 Daß die aufgeklärte Haltung eines Bischofs nicht immer von der Bevölkerung geteilt wurde, sollte nicht überraschen. Die mit dem Josephinismus und Reformkatholizismus verbundenen Reformen zielten auf die unteren Schichten: die Kürzung der religiösen Feiertage und das Verbot von Pilgerreisen bedeuteten schlicht mehr Arbeit und weniger Freizeit. Auch die Toleranz wurde ungern akzeptiert; dies galt für Protestanten wie für Katholiken. Es wurde schon von den Abmahnungen von Friedrich II. in Schlesien berichtet sowie von dem Widerstand der Bevölkerung gegenüber den „fortschrittlichen" Gesetzen zur Toleranz in Köln. Auch in Hamburg stieß der Versuch, ein Toleranzgesetz durchzusetzen, wiederholt auf Widerstand im Bürgertum. Im katholischen Mainz verursachte die Berufung eines Protestanten, des Schweizer Historikers Johannes Müller, an die dortige Universität eine Flut von antiprotestantischen Flugblättern; die populärste Zeitschrift im Erzbistum war das Rehgionsjournal, herausgegeben von dem Exjesuiten Hermann Goldhagen, welches zum Großteil aus Beiträgen gegen Toleranz, Protestanten und Aufklärung bestand. Die zum Reformkatholizismus eher distanzierte Haltung der Bevölkerung und des niederen Klerus wurde auch in dem Versuch deutlich, 1787 neue Hymnenbücher in deutscher Sprache zu verbreiten. Priester und Gemeinde ignorierten die neuen Bücher und sangen weiterhin auf Lateinisch. In Rüdesheim waren die neuen Bücher sogar Anlaß für eine größere Insurrektion. Dreihundert Soldaten wurden benötigt, um eine Gruppe Laien unter Kontrolle zu bringen, die sich in einer örtlichen Kirche verbarrikadiert hatten, um einen lateinisch „klingenden" Gottesdienst selbst abzuhalten.39 Am Ende des 18. Jahrhunderts existierten also innerhalb des Reiches klare Trennungen; politisch gesehen verliefen diese aber nicht unbedingt zwischen den Konfessionen: Auf der Reichsebene agierten die kleinsten Staaten, die freien protestantischen Reichsstädte und kleineren geistlichen Gebiete zusammen mit dem Kaiser zum Erhalt der Reichsidee. Dies ging aber gegen das Bestreben der mittelgroßen Staaten. Das friderizianische Preußen sowie die Rurpfalz und das Königreich Bayern ignorierten zum größten Teil die gegebenen Strukturen des Reiches und versuchten ihre Gesetze eher auf ideeller Basis zu begründen. Die Zelt der Französischen Revolution und „Am Anfang war Napoleon", schrieb Thomas Nipperdey zu Beginn seiner Deutschen Geschichte.*0 Und er hatte recht: die Ideen der Aufklärung und Französischen Revolution hatten zwar tiefe Eindrücke hinterlassen, zu einer grundsätzlichen MILIEUS Garnison die [entliche Mei- i auch im nieine Reihe von • Bevölkerung , und Reformhten: die Küriteten schlicht rn akzeptiert; RELIGION UND POLITIK 75 Änderung der politischen und rechtlichen Struktur des Heiligen Römischen Reiches und der einzelnen Länder reichte es aber kaum. Dann kam Napoleon. In den sechzehn Jahren zwischen seiner Machtergreifung 1799 und seiner endgültigen Niederlage 1815 schaffte Napoleon, was die Philosophes nie erreichen konnten: den Untergang des Alten Reiches und ein völlig neues Staaten- und Rechtssystem - ein neues Deutschland. Die Gebiete westlich des Rheins gerieten schon früh unter französische Besatzung und unterlagen auch einer gründlichen territorialen und rechtlichen Reform. Östlich des Rheins erreichte dann 1803 der Reichsdeputationshauptschluß mit einem Schlag das Ende der deutschen „Kleinstaaterei", 1806 kam schließlich das Ende des Reiches selbst. i den Abmahiderstand der ranz in Köln, m, wiederholt die Berufung Französische Besatzung und Reichsdeputationshauptschluß n die dortige >pulärste Zeit;m Exjesuiten Toleranz, Protier distanzierL dem Versuch eiten. Priester luf Lateinisch. Insurrektion, iter Kontrolle en, um einen Reiches klare ingt zwischen ten, die freien usammen mit 3estreben der pfalz und das trukturen des gründen. Schon vor der Ankunft der französischen Besatzungstruppen 1792 in Mainz und den Gebieten westlich des Rheins entstanden schlimme Gerüchte: die Soldaten seien nicht nur atheistisch, sondern bewußt anti-kirchlich. Sie ließen keine Gelegenheit aus, die örtlichen Geistlichen zu demütigen und Kirchen zu verwüsten. In der Praxis verhielten die Truppen sich nicht ganz so extrem, aber die vorkommenden Ereignisse reichten aus, um dem Mythos Gehalt zu geben.41 Nachdem die Besatzung aber zum Alltag wurde, entwickelte sich rasch eine differenzierte Religionspolitik. Während die Franzosen zum Beispiel in dem weniger frommen Aachen einen Tempel des höchsten Wesens bauen ließen, wurden Truppen in Köln darauf hingewiesen, daß sie beim Vorübertragen des Allerheiligsten ihre Köpfe neigen sollten. Da die Zukunft der französischen Besatzung noch ungewiß war, gab es wenig Anreiz für eine allzu tiefgreifende Reform. Erst nach dem Frieden von Basel (1795) wurden dann radikalere Gesetze verabschiedet: Religionsfreiheit und -gleichheit wurde eingeführt, der Zehnte abgeschafft, Prozessionen und Pilgerreisen verboten und äußere religiöse Symbole von öffentlichen Kruzifixen bis zu kleinen Kapellen am Straßenrand abgeschafft. Dazu kam die Zwangseinführung der Zivilehe und der französischen Zehn-Tages-Woche (Dekaden) . Priester mußten der neuen Republik einen Treueid schwören, und alle offenen Kirchenämter konnten erst nach einer öffentlichen Wahl besetzt werden.42 Priester wurden häufig wegen Staatswidrigkeiten - antirevolutionäre Predigten, Schriften und so weiter - festgenommen und inhaftiert oder deportiert. Nach der Wiederaufnahme des Krieges 1798 und den französischen Niederlagen im Jahre 1799 wurde die Besatzungsregierung wieder vorsichtiger, und das Pendel schwang in die andere Richtung. Die antikirchlichen Verordnungen wurden gelockert oder gar ignoriert.43 Die einzige Verordnung, die nie zurückgenommen und weiterhin streng beachtet wurde, war die gegen Wallfahrten; denn hier sah die Besatzungsmacht, wahrscheinlich auch zu Recht, eine überaus gefährliche Versammlungsmöglichkeit der Staatsgegner.44 n seiner Deutranzösischen imdsätzlichen T In den noch unbesetzten deutschen Gebieten herrschte bei den verbleibenden Landesfürsten große Unzufriedenheit. Der Frieden von Basel (1795) hatte zwar die Streitigkeiten zunächst beendet, außer den beiden Hauptvertragspartnern MILIEUS 76 Frankreich und Preußen war aber kein Land zufrieden. Der Frieden setzte fest, daß Frankreich im Rheinland seine (hauptsächlich ehemals geistlichen) Territorien behalten durfte und Preußen gleichzeitig für eine „neutrale Zone" nördlich des Mains bürgen würde. Die nördlichen Länder waren zwar erleichtert, daß der Krieg zunächst ein Ende hatte, machten sich aber über die preußische „Neutralität" keine Illusionen. Im Süden wiederum reagierten vor allem die verbleibenden geistlichen Staaten entsetzt auf die Kollaboration des preußischen Königs mit den „zerstörenden" und „gottlosen" Franzosen. Schließlich nahmen die Fürsten in ganz Deutschland erschüttert zu Kenntnis, daß Preußen mehr oder minder das Reich preisgegeben hatte. 1797, mit den französischen Truppen vor Wien, folgte das Haus Habsburg dem preußischen Beispiel und machte den Franzosen im Frieden von Campo Formio (1797) ähnliche Zugeständnisse, um möglichst die eigenen Länder zu retten. Nach dem Friedensvertrag akzeptierten die Habsburger nun auch die französische Besatzung westlich des Rheins und verloren Belgien und Teile Italiens; dafür erhielten sie Venedig mit Hinterland und die geheime Zusage eines künftigen Erwerbs des Erzbistums Salzburg, bis zu diesem Zeitpunkt ein geistliches Fürstentum. Letztendlich akzeptierten sie aber auch, daß enteignete Fürsten der Länder westlich des Rheins irgendwann kompensiert würden. Nach den Friedensverträgen von Basel und Campo Formio war die wichtigste Vorarbeit für den Reichsdeputationshauptschluß geleistet. Nun hatten die zwei größten Mächte ihre Grundsätze festgelegt: die Fürsten sollten kompensiert werden, und die Auflösung der geistlichen Fürstentümer war nicht mehr Tabu, nicht einmal in Wien. 1803 folgte dann der Beschluß zur Neuregelung der Territorien in Deutschland, der Reichsdeputationshauptschluß, durch den fast alle geistlichen Herrschaften säkularisiert (und kleine weltliche Herrschaften und Reichsstädte mediatisiert) wurden, wovon besonders Preußen und die mittelgroßen Staaten profitierten.45 Mit der Ausnahme von Bayern, Österreich und Sachsen war jetzt der Landesherr in allen deutschen Ländern protestantisch, eine katholische Bevölkerungsmehrheit bestand nur mehr in Österreich, Bayern und Baden.46 Für die Katholiken in Deutschland war der Reichsdeputationshauptschluß eine schwere politische Niederlage. Mit dem Verlust politischer Macht ging auch die Schließung der meisten katholischen Hochschulen und Seminare oder ihr Umbau in protestantische Form einher. Somit war die Kraft des Reformkatholizismus auf Dauer zu Ende. Der Hauptschluß bedeutete aber nicht nur eine starke Einschränkung der katholischen Stellung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, sondern letztlich auch den Todesstoß für das Reich selbst, dessen wichtigste Grundformen er zerschlug. Revolution und Gesellschaft Ungewollte Revolutionen gelingen aber selten. Wenn man das durch Napoleon geschaffene Deutschland betrachtet - den rheinischen Bund, den Reichsdeputationshauptschluß und das Ende des alten Reiches —, muß man auch die lokalen Akteure des Dramas im Auge behalten. Die meisten Zeitgenossen inklusive eines MILIEUS len setzte fest, chen) Territo,one" nördlich :htert, daß der ;che „Neutraliverbleibenden Königs mit den die Fürsten in er minder das >r Wien, folgte Franzosen im möglichst die i die Habsburrloren Belgien d die geheime sem Zeitpunkt :h, daß enteigsiert würden. die wichtigste Latten die zwei mpensiert wer•hr Tabu, nicht ler Territorien alle geistlichen d Reichsstädte jroßen Staaten en war jetzt der lische Bevölken.46 uptschluß eine . ging auch die s oder ihr Umnkatholizismus ine starke Einischen Reiches, ssen wichtigste arch Napoleon ;n Reichsdepuach die lokalen inklusive eines RELIGION UND POLITIK 77 jungen, radikalen Joseph von Görres (1776-1848) hielten die katholische Kirche schon lange für zu mächtig, ihren politischen und sozialen Einfluß sowie ihren weltlichen Reichtum für zu groß. In Köln gehörte der katholischen Kirche über die Hälfte der Stadt.47 Der Reformkatholizismus innerhalb der Kirche war zwar geschädigt, für liberal gesinnte katholische Laien allerdings bedeutete die Säkularisierung eine einmalige Gelegenheit, die Kirche aus dem öffentlichen und staatlichen Leben zu drängen. Für Protestanten war wiederum das Gegenteil der Fall. In den Jahren nach 1803 festigten sich die Bündnisse zwischen protestantischem Staat und protestantischer Bevölkerung. Nach Reichsdeputationshauptschluß und Wiener Kongreß (1815) existierte letztendlich eine Reihe konfessionell gemischter, aber protestantisch regierter Staaten, in denen protestantische Eliten ihre Machtposition gegenüber dem jeweiligen Herrscherhaus ausbauen wollten. Um das zu ermöglichen, bauten sie eine neue Art des konfessionellen Staates. Köln wurde nach 1815 preußisch, Württemberg, Baden und die Pfalz erhielten große katholische Minderheiten. Einerseits tendierten die Regierungen in der Tradition des 18. Jahrhunderts zur Toleranz oder wenigstens zur tolerierten Multikonfessionalität. Andererseits strebten, um die Politik des Staates weiterhin zu beherrschen, die protestantischen Oberschichten immer stärker dazu, den Primat ihrer meist lutherischen Konfession im Staat zu betonen. Eine solche Konstellation war an sich nichts Neues, aber verbunden mit dem neuen protestantisch dominierten Staatensystem im Deutschen Bund erhielt sie eine ganz andere Dynamik. Die Probleme der Besatzung: Bayern und Tirol Daß auf einem Stück Papier geschrieben steht, daß jetzt ein Land einem anderen Landesherrn gehört, heißt nicht immer, daß die Bevölkerung dies stillschweigend akzeptiert. Nach weiteren Verlusten im Feld mußten 1805 die Habsburger auch noch Tirol und Vorarlberg an das mit Napoleon verbündete Bayern abgeben, das mit Napoleon verbündet war. Bayern hätte zwar lieber das Innviertel zurückbekommen, sah aber auch durchaus wirtschaftliche Vorteile in der Expansion nach Süden. Die Besatzung fing mit einer strengen Zentralisierung des Staatswesens an, in der auch die Kirche in Tirol neu gestaltet und fest in die eng mit dem Staat verbundene bayerische Kirche eingegliedert wurde. Kurfürst und dann König Maximilian Joseph von Bayern übernahm das Patronatsrecht der Bischöfe bei der Besetzung von Priesterstellen, die Pfründenverleihung und die Überwachung der Priesterausbildung. In kürzester Zeit folgte eine regelrechte Flut neuer kirchlicher Anweisungen über Feier- und Fasttage, Dauer der Predigt, Anzahl der Gebete, Segenserteilung und sogar das Rosenkranzgebet. Auch eine Kirchenpolizei wurde gegründet, die die Verwendung der kirchlichen Ausgaben und die „Vernünftigkeit der religiösen Bräuche" überprüfte. Für Tiroler, die schon bei denjosephinischen Religionsverordnungen gewissen Widerstand geleistet hatten, erschien dies als unnötige Provokation. Die baye- 78 MILIEUS rischen Beamten wiederum fühlten sich durch die Proteste bestätigt, wirklich „Licht in die Finsternis" der zurückgebliebenen und altmodischen Tiroler Frömmigkeit bringen zu können. In vielerlei Hinsicht entstand eine Situation, die derjenigen in Baden und Preußen nach 1871 im Kulturkajnpf ähnelt: die Bevölkerung unterstützte die eigenen und ignorierte die vom Staat eingestellten Pfarrer. Der bayerische Staat nahm die Bischöfe fest, verbannte sie nach Salzburg und nach Münster und stellte eigene Nachfolger ein. Die Auseinandersetzung wurde immer schwerer. Nach weiteren Mißerfolgen beschieß die bayerische Regierung schließlich: „In Bezug auf Religion hat das Landvolk zu tief eingewurzelte Vorurteile, um dieselben auf einmal auszurotten und infolgedessen rasche Maßregeln ergreifen zu können, ohne dadurch eine gefährliche Stimmung im Volk zu erwecken, das noch lieber erhöhte Abgaben an den Staat zu zahlen bereit ist, als sich in seiner Religion stören zu lassen, was ihm Herzenswunden schlägt."48 Neben dem Versuch, Tiroler für die bayerische Armee zu verpflichten, waren es vor allem die religiösen Maßnahmen, die schließlich zum umfassenden Aufstand vom April 1809 führten. Der Vormärz Mit der Niederlage Napoleons in Waterloo und der anschließenden Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß 1815 begann eine neue Ära. Restauration ist aber das falsche Wort; nach Säkularisierung, Code Napoleon und dem Ende des alten Reiches konnte es keine Rückkehr zum Zeitalter vor 1789 oder vor 1780 geben. Reaktion ist ebenfalls ein zu starker Ausdruck für einen sich langsam entwickelnden Prozeß. Die Ära war eher von einer „konservativen Wende"49 geprägt, die sich schon vor dem Wiener Kongreß bemerkbar machte, sich zwischen 1815 und 1820 entfaltete und schließlich bis 1830 mit den Reformversuchen in Preußen und anderen deutschen Staaten ihr Ende fand. Insbesondere nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 erfolgte eine entschlossene Abkehr von konstitutionellen und zum großen Teil nationalen Ideen, die unvereinbar mit einer von Gott gegebenen und hierarchisch gegliederten Welt der Monarchien war. Läßt man die politischen Aspekte außer acht, entsteht aber das Bild einer Gesellschaft in tiefem Umbruch. In der Landwirtschaft wurden in fast allen deutschen Staaten grundlegende Reformen durchgeführt; Österreich war hier die wichtigste Ausnahme. In Bayern fiel der Anteil der Adligen mit Landbesitz zwischen 1822 und 1832 von zwei Dritteln auf nur ein Drittel.50 Die neuen Besitzer, meist Bauern, aber auch oft wie in Preußen das Bürgertum, führten Reformen und, wenn auch nur in kleinem Umfang, Industrialisierung auf dem eigenen Hof durch. Genau so oft, und dies sogar in Osterreich, wurden diese Pioniere auch für ihre Arbeit belohnt. Fridolin (von) Jenny zum Beispiel, ein reformierter Protestant aus der Schweiz, wurde 1815 von Kaiser Franz für die wirtschaftlichen Leistungen seiner Textilfabrik in Oberösterreich geadelt.51 MILIEUS sstätigt, wirklich sn Tiroler Frömic Situation, die hnelt: die Bevölngestellten Pfarch Salzburg und ersetzung wurde ische Regierung ewurzelte Vorurische Maßregeln g im Volk zu eren bereit ist, als n schlägt."48 Neen, waren es vor ;n Aufstand vom en Neuordnung . 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Alt und neu, liberal und konservativ, national und föderal, katholisch und protestantisch - all diese geistigen Strömungen vermischten sich in vielfältigen Kombinationen, und insbesondere die Frage der „richtigen" Beziehung zwischen Staat und Kirche brachte unzählige verschiedene Antworten hervor. In diese Jahre fallen auch die Anfänge katholischer und protestantischer Denktraditionen, deren Gegensätze im Staats- und Religionsverhältnis fast unüberbrückbar waren und die im Laufe des folgenden Jahrhunderts immer wieder zu Konflikten und Spannungen führen sollten.52 Unter Katholiken reichten die geistigen Strömungen von den Anhängern des demokratisch denkenden Franzosen Felicite Robert de Lammenais (1782-1854) bis zum ultramontan gesinnten Auguste de Comte (1798-1857). Viele Katholiken, wie zum Beispiel Görres, fingen das neue Jahrhundert radikal-demokratisch an, wurden dann aber in den dreißigerJahren religiös-konservativ. Angehörige beider Konfessionen waren sich aber einig, daß in Mitteleuropa eine neue politische Lösung zur deutschen Frage nötig war - den Deutschen Bund (18151866), auch wenn er ein halbes Jahrhundert hielt, sahen nur die wenigsten Zeitgenossen als eine dauerhafte Lösung an - und daß diese Lösung auch eine religiöse Komponente beinhalten müsse. Das Wartburgfest Um einen Einblick in die geistige Ideenwelt der frühen Metternich-Ära zu bekommen, lohnt ein kurzer Ausflug in die Welt der Studenten. Die Völkerschlacht bei Leipzig (1813) noch frisch im Gedächtnis, kehrten die Studenten mit einer zutiefst nationalen Gesinnung zurück an die Universitäten. 1815 bildeten sich die ersten Burschenschaften inJena. Die Leitbegriffe waren Vaterland und Kultur - nur die wenigsten verwendeten das Wort Nation -, von Anfang an verbunden mit einem tief religiösen Unterton, nicht zuletzt, weil viele der aktivsten Mitglieder der Bewegung Theologiestudenten oder Pfarrer waren. Das erste öffentliche Ereignis, bei dem die neue „Nation" auf Religion traf, war das sogenannte Wartburgfest. An einem Oktoberwochenende im Jahr 1817 trafen sich 468 deutsche Studenten am vierten Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht an dem Ort, an dem Martin Luther drei Jahrhunderte zuvor die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte. Die Verbindung dieser zwei Ereignisse sollte die Befreiung der deutschen Nation von ausländischer Vorherrschaft wie auch die Befreiung des Denkens allgemein von den Fesseln der religiösen Dogmatik sym- 80 MILIEUS bolisieren.53 In Luther sahen die Studenten einen „Erwecker wissenschaftlicher Aufklärung"54 und in der Reformation eine nicht nur auf Protestanten beschränkte Botschaft, sondern, so der Pfarrer Johann Gottlieb Reuter, eine Botschaft „für die Menschheit überhaupt". „Die Fesseln waren gesprengt, welche bisher jeden freien Aufschwung denkender Köpfe zurückhielten, der freie Forschungsgeist war nun erregt." Aber nicht nur der liberale Freiheitsgeist wurde erregt, auch „die Sittlichkeit zog durch die Reformation. Die Laster, welche Unwissenheit, Furcht und Aberglaube, wie schädliche Früchte aus einer giftigen Wurzel hervorgetrieben und genährt hatten, konnten nicht mehr vor dem Lichte des neuen Tages bestehen".55 Solche Ideen tendierten rasch zum Anti-Katholizismus. Die vorreformatorische Kirche war ein „Werkzeug römischer Herrschsucht" und ein „großes Sclavengefängniß".56 Am Ende des ersten Tages gab es einen Fackelzug, gefolgt von einer Bücherverbrennung „vaterlandsfeindlicher" und antiliberaler Schriften.57 Napoleon war der .Antichrist" und „Knecht der Hölle", der die deutsche Einheit zerstört hatte.58 Aus heutiger Sicht überrascht der fanatische Stil, - Antichrist? Bücherverbrennung? Werkzeug römischer Herrschsucht? - was etwas über die gefühlsbetonte und emotionale Welt, in der Studenten im nachnapoleonischen Zeitalter lebten, aussagt. Eine solche Mischung aus nationalen, liberalen und theologischen Gedanken kann man auch bei der Ermordung des damals bekannten Schriftstellers August von Kotzebue (1761-1819) wiederfinden. Kotzebues Geschichte des Deutschen Reiches war eines der auf der Wartburg verbrannten Bücher,59 und dem Schriftsteller wurde ein falscher Patriotismus vorgeworfen. Kotzebue rächte sich mit kritischen Artikeln über die Burschenschaften und Turnvereine der jungen Studenten. Sein Mörder, Karl Sand, war Theologiestudent in Jena und hatte am Wartburgfest teilgenommen. Seine Tat begründete er mit einer wirren Mischung aus religiösen und nationalen Motiven - „das Schwert ins Gekröse" des „Vaterlandsverräters" zu stecken.60 Metternich benutzte den Mord als Anlaß für die Karlsbader Beschlüsse 1819. Mit der Zeit minderte sich die religiöse Komponente im protestantischen Nationalismus, was vor allem deutlich wird, wenn man das Wartburgfest mit dem viel berühmteren Hambacher Fest des Jahres 1832 vergleicht, an dem zwischen 20000 und 30000 Menschen teilnahmen. Zweck war dieses Mal weniger die Einigung von Religion und Nation als die Durchsetzung einer liberalen Politik im allgemeinen. Unter Protestanten säkularisierten sich also langsam die liberalen Protestbewegungen. Die beteiligten protestantischen Geistlichen waren nun eher, nach Maßstäben der Zeit, radikale Demokraten und nicht fanatische Antikatholiken. Der offensichtlich religiöse Unterton des Wartburgfests war fast gänzlich verschwunden. Friedrich Wilhelm und der „Christliche Staat" in Preußen Als Johann Sigismund 1613 auf sein jus reformandi verzichtete und so, ohne sein Volk zum gleichen Schritt zu zwingen, zur reformierten Kirche übertrat, war dies, MILIEUS änschaftlicher >testanten bejter, eine Bot- rengt, welche der freie Foritsgeist wurde sr, welche Uneiner giftigen vor dem Lieh- m Anti-Kathocher HerrschL Tages gab es dsfeindlicher" I „Knecht der :ht überrascht ug römischer le Welt, in der RELIGION UND POLITIK 81 so Otto Hintze, „eine Toleranz, die [...] aus politischer Quelle entstammte. Kirche und Staat, die bisher zusammengefallen waren, begannen sich begrifflich voneinander zu sondern".61 Zwei Jahrhunderte später schwang das Pendel nun deutlich in die andere Richtung aus. In den ersten Jahrzehnten nach 1815 versuchte Friedrich Wilhelm III., die protestantischen Konfessionen — die reformierte Konfession der regierenden Familie und die lutherische Konfession der Mehrheit der preußischen Bevölkerung - in seinem Staat in einer Union wieder zu vereinigen, um damit auch die Kirche wieder näher an den Staat zu binden. Hierzu leistete das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 schon eine wichtige Vorarbeit. Teil II, Titel 11, '13 (Grundsatz) sah vor: „jede Kirchengesellschaft ist verpflichte t, ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnung gegen ihre Mitbürger einzuflößen." Unter dem Gesetz erhielten Kirchengebäude das Recht, „privilegierte Gebäude des Staates" zu sein, und die Priester wurden „mit ändern Beamten im Staate gleich".62 Diese Tendenz zur Verstaatlichung verstärkte sich nach dem Reichsdeputationshauptschluß weiter, und dies nicht nur für die pro- testantischen Konfessionen. Für die Konfessionen in Preußen war also das Bündnis mit dem Staat, wenn auch noch nicht miteinander, sehr eng. len Gedanken Einen weiteren Hintergrund zu der preußischen Union liefert schließlich der stellers August des Deutschen d dem Schriftächte sich mit preußische Zusammenbruch im napoleonischen Krieg 1806: Als 1808 die Kirchenverwaltung neu aufgebaut werden mußte, war ihre Verstaatlichung ein natürlicher und leichter Akt. Statt Konsistorien und kirchlicher Oberbehörden er jungen Stu- und hatte am -ren Mischung se" des „VaterAnlaß für die wurde nun auf der Provinzebene eine Kirchen- und Schulabteilung aufgebaut, die letztendlich in das Innenministerium eingegliedert wurde und für alle Kon- fessionen gleichermaßen zuständig war. Diese Struktur wurde zwar nach 1814 wieder aufgelockert, der Kerngedanke aber blieb.63 Nach 1806 entwickelten sich unter Protestanten zwei Richtungen im Denken über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat: auf der einen Seite standen die Reformer wie Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und Karl von und zum tantischen Na- Stein (1757-1831). Sie versuchten die durch die Welle der preußischen Re- •gfest mit dem formen entstandenen rationalen Strömungen mit einer fortschrittlichen Konzeption der Religion zu vereinigen, plädierten also für eine freie, von unten dem zwischen veniger die Ei- alen Politik im n die liberalen :n waren nun inatische Antis war fast gänz- Preußen i so, ohne sein :rtrat, war dies, strukturierte und relativ dezentrale Kirchenverfassung. Auf der anderen Seite standen die konservativen Kreise, die sich um Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) und die Evangelische Kirchenzeitung gebildet hatten und zum großen Teil auch unter kirchlicher Aufsicht standen.64 Diese Kreise wurden immer wieder durch die wachsende Radikalität eigenständiger Initiativen aus den Synoden bedroht, da diese die Einheit und Hierarchie des Kirchensystems gefährdet sahen. Im Jahr 1817, also zeitgleich mit dem Wartburgfest, kam es schließlich zum erwähnten Versuch des Königs, die reformierten und lutherischen Kirchen zur sogenannten preußischen Unionzu vereinigen. Die Vereinigung lief aber nicht ganz reibungslos ab, auf erste liturgische Erfolge bezüglich des Abendmahls folgten beträchtliche Streitigkeiten.65 Dennoch wurde die Union gegen heftigen Widerstand aus manchen Teilen der Bevölkerung vollzogen, wenn auch nicht ohne Verluste: Als 1837 Friedrich Wilhelm III. die Auswanderungsfreiheit gewährte, nahmen über tausend (Alt-) Lutheraner die Möglichkeit wahr. Auf ihrem Weg nach Hamburg und schließlich nach Amerika marschierten sie demonstrativ 82 MILIEUS singend durch Berlin. Erst unter Friedrich Wilhelm IV. wurden Kirchenaustritte und die Bildung von Freikirchen genehmigt. Die Kölner „Wirren" Bei Protestanten trat die religiöse Komponente des nationalen Gedankens nach 1815 in den Hintergrund, was jedoch nicht als Annäherung an die katholischen Mitbürger verstanden werden sollte. Für Katholiken hingegen, jetzt in der Mehrzahl von protestantischen Fürsten regiert, wenn man von den habsburgischen Ländern absieht, war die konfessionelle Uneinigkeit in Deutschland ein viel alltäglicheres Problem. Es überrascht daher, daß katholische Antworten auf die deutsche Frage nach 1815 deutlich religiös waren und sich meist damit befaßten, wie eine „deutsche" Kirche und eine „deutsche" Theologie aussehen und geschaffen werden sollte. Die verschiedenen Antworten auf diese Frage sind am besten mit einem kurzen Blick auf die katholische Presse der nachnapoleonischen Zeit geschildert. Der Katholik, 1821 nach dem Tod von Erzbischofjoseph Ludwig Colmar (1760-1818) von „seinem" „Mainzer Kreis" gegründet, wurde zum Zentralorgan einer konservativen katholischen Neuordnung in Deutschland. Die Zeitschrift war vor allem von französischen Ideen der Restauration beeinflußt und lenkte von Anfang an in eine neoscholastische und ultramontane Richtung. Noch weiter verbreitet waren Zeitschriften wie der von Görres zwischen 1814 und 1816 als national-patriotisch herausgegebene Rheinische Merkur oder die ähnlich wie Der Katholik ultramontan geprägte Katholisch-Kirchliche Zeitung aus Aschaffenburg, in der Franz Baader und später, als die nationalistisch-patriotische Prägung nachließ, auch Görres regelmäßig Beiträge veröffentlichten. In der Zeit nach 1815 existierte aber auch noch ein liberalerer Katholizismus, besonders in den Jahren vor 1837, zu dem zum Beispiel die Wiener Zeitschrift Oehweiggehörte. Aber allgemein zwischen liberal und konservativ in diesen Jahren zu trennen, führt eher in die Irre. Katholiken suchten nach Ideen und Alternativen zur deutschen Frage, zur konfessionellen Lage und zur Staatsform überhaupt in allen Richtungen. Eos, eine 1818 in München gegründete Zeitschrift, die in dem dortigen Mischehenstreit (1829-1831) eine deutliche römische Linie vertrat, rezensierte zur selben Zeit durchaus positiv die Bücher des liberalen Befürworters der Demokratie und der absoluten Trennung von Staat und Kirche, Lammenais.66 1815 wurde das Rheinland preußisch. Mit dem Erhalt des Rheinlands nach dem Wiener Kongreß wurde zum zweiten Mal eine überwiegend katholische Provinz in Preußen eingegliedert. Nach 1815 waren fast 40 Prozent der Bevölkerung des Staates katholisch.67 Aber das Rheinland war nicht Schlesien oder das ostpreußische Ermland. Unter der Herrschaft Napoleons hatte die Provinz eine neue Rechtsordnung und, inmitten der französischen Diktatur, auch neue Freiheiten erhalten. Von der preußischen Übernahme erhofften sich am Anfang viele Katholiken, daß sie Baustein eines neuen Deutschlands werden könnten, „getragen von dem Schwünge der vaterländischen Erhebung", wie Franz Schnabel schrieb.68 Das _ MILIEUS icnaustritte mkens nach katholischen in der Mehrisburgischen i ein viel allrten auf die nit befaßten, und geschaf•inem kurzen schildert. 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Die Streitigkeiten zwischen liberal geprägter selbstbewußter katholischer Provinz und einem ihrer Macht und Führungsrolle bewußten protestantisch-preußischen Beamtentum ließen nicht lange auf sich warten, und so fühlten sich die Rheinländer nach kurzer Zeit von Preußen eher besetzt als befreit. Für die katholische Kirche in Preußen wurde von Anfang an auch der Briefverkehr zwischen Bischöfen und Papst streng kontrolliert. Wie das jetzt geltende preußische Allgemeine Landrecht bestimmte: Nur nach .Antrag bey der unmittelbar vorgesetzten weltlichen Behörde" durfte Korrespondenz entstehen, welche, wenn genehmigt, dann an den preußischen Gesandten in Rom zur Bearbeitung weitergeleitet werden konnte. Paragraph 10 fügte weiter hinzu, daß Bischöfe nur vom König ernannt werden konnten.69 Die Kombination aus preußischem Allgemeinen Landrecht und den Organischen Artikeln Napoleons bedeutete, daß der preußische König „mit Rechten der Kirchenhoheit... bis zum Übermaß ausgerüstet" war.70 Noch dazu vertrat Friedrich Wilhelm III. in seiner Familienpolitik eine recht anti-katholische Linie. Im Gegensatz zu seinem Großonkel übte er Toleranz nur aus, „so weit sie dem protestantischen Charakter des Landes nicht schadet", so ein Bekannter des Königs.71 Als der Kronprinz Friedrich Wilhelm (1795-1861) sich mit der bayerischen (sprich: katholischen) Prinzessin Elisabeth (1801-1873) verlobte, bestand er darauf, daß sie zum Protestantismus konvertiere. Sie lehnte ab und war gezwungen, an einem Hof zu leben, an dem sie nur in ihrem Beichtvater einen Konfessionsverwandten fand. 1830 konvertierte sie doch. Mischehen waren also in den dreißiger Jahren kein neues Thema, die königliche Meinung dazu hinlänglich bekannt. Die eigentliche Krise fing mit einem Bischofswechsel an. Der frühere Erzbischof, Ferdinand August von Spiegel (1764-1835), ein Kind der Aufklärung, wußte sich an die neue Situation nach 1815 gut anzupassen. Über die Mischehenfrage stand er schon länger in heimlichen Diskussionen mit Berlin. 1834 erfolgte ein nicht öffentlich gemachter Kompromiß, in dem die Erwartungen der katholischen Kirche an den Staat so gemildert wurden, daß beide Seiten gerade noch damit leben konnten. Rom wurde nicht informiert. Als Spiegel 1835 starb, wurde der deutlich stärker auf Rom ausgerichtete Bischof von Münster, Clemens August Freiherr von Droste-Vischering, zum neuen Erzbischof von Köln ernannt. Droste-Vischering hielt sich nicht an die Konvention von 1834 und vertrat stattdessen den konservativ-römischen Standpunkt. Die Situation spitzte sich daraufhin zu. Der Erzbischof weigerte sich, der preußischen Regierung in irgendeiner Hinsicht entgegenzukommen. Schließlich wurden ihm die Verbindung mit Revolutionären und die Untergrabung der staatlichen Gesetze vorgeworfen. Am 20. November 1837 wurde er festgenommen. Droste-Vischering selbst war bis zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich unbeliebt in Köln, und seine Festnahme löste unter den Einwohnern nicht sofort die oft MILIEUS 84 im nachhinein geschilderten Sympathiewellen aus. Bei vielen Laien wie auch höheren Geistlichen im Domkapitel war Drostes Rückkehr zu einer streng konservativen Kirchenform unerwünscht.72 „Die Kölner", so eine Zeitgenossin, „sind trotz ihrer Frömmigkeit so froh, ihn los zu sein, daß sich keine Maus regt."73 Köln war nicht Mainz und sollte auch nicht so werden. Dennoch bildete sich langsam erst in anderen Städten, schließlich auch in Köln, eine katholische Widerstandsbewegung, die die preußische Regierung in einer Flut von Büchern und Flugschriften attackierte und die Kirche verteidigte. Das berühmteste Werk dieser anti-preußischen Welle, Athanasius, aus der Feder des bekannten Publizisten Joseph Görres, erschien Januar 1838. „Wie ein Gewitter", erinnerte sich der damals noch junge katholische Politiker August Reichensperger,74 schlug das Buch in Deutschland ein und wurde zu der Grundlage für einen politischen, ultramontan ausgerichteten Katholizismus. Droste-Vischering und seine Haltung wurden unversehens zum Vorbild für den Kampf um die Kirchenfreiheit. Die Nachwirkungen der „Kölner Wirren" können fast nicht überschätzt werden. Ob im schlesischen Breslau oder im oberösterreichischen Linz, Köln wurde für politisch aktive Katholiken zum Symbol des katholischen Widerstands gegen ein rein protestantisch konzipiertes und von Preußen geführtes Deutschland. Mit den Kölner Wirren begann ein Prozeß, der sich mit der Wiederaufnahme von Arbeiten am Kölner Dom, dessen Fertigbau ein politisches Leitmotiv für den deutschen Katholizismus blieb,75 fortsetzte und auch durch die Veranstaltung zahlreicher gesamtdeutscher Katholikentage in der Stadt gefördert wurde: Köln wurde zur heimlichen katholischen Hauptstadt Deutschlands. Die „andere" katholische Hauptstadt und die Protestanten im Zillertal Die eigentliche „katholische Hauptstadt" Deutschlands, also Wien, war in diesen Jahren für die meisten deutschen Katholiken außerhalb des Habsburgerreiches weitgehend uninteressant. Ein Hintergrund dafür ist die Entwicklung des Josephinismus nach dem Tod von Joseph II. und in der Ära Metternich. Das religiöse Klima der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts war in Wien, wenn auch nicht unbedingt liberal, so doch auf alle Fälle von ultramontanen Strömungen weit entfernt. Der Klerus fühlte sich, wie die protestantischen Pfarrer in Preußen, als Staatsbeamte wohl, und das josephinische Kirchengerüst funktionierte zwar nicht optimal, aber ohne größere Krisen. Mit wenig Mühe konnte die Kirche an die konservative Wende des Vormärz angepaßt werden. Als sich aber schließlich der Ultramontanismus, an dessen Beginn in Wien der bedeutende Redemptorist Klemens Maria Hofbauer (1751-1820) stand, durch Figuren wie den Bischof Gregorius Thomas Ziegler im galizischen TyniecTarnöw (1822-1827) und später in Linz (1827-1852) auch in Österreich auszubreiten anfing, lag die Betonung ganz anders als in den restlichen deutschen Ländern: hier stand die Unabhängigkeit der Kirche in den Ländern der Monarchie im Mittelpunkt und weniger die Einheit aller Katholiken in Deutschland. MILIEUS ;n wie auch streng konlossin, „sind regt."73 Köln ich langsam Viderstandsn und FlugWerk dieser Publizisten sich der daug das Buch n, ultramonung wurden rschätzt werKöln wurde tands gegen schland. Mit fnahme von otiv für den sranstaltung wurde: Köln var in diesen irgerreiches mg des Josei. Das religi<var in Wien, r amontanen sstan tischen rchengerüst .venig Mühe aßt werden, in Wien der stand, durch hen TyniecTeich auszun deutschen rn der Mon)eutschland. RELIGION UND POLITIK 85 Dieser Unterschied ist für die Entwicklung der katholischen Politik in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas von großer Bedeutung. Ein Beispiel: Die Kölner Wirren hinterließen zwar auch in Österreich einen tiefen Eindruck, dieser war aber antijosephinisch, also grundsätzlich gegen die Idee einer Staatskirche und in keiner Weise deutschnational geprägt. Wie ein Administrationsbericht aus dem Jahre 1844 betonte: „die Behörden [gouvernieren] zu viel in geistlichen Angelegenheiten. Daß die unglücklichen Kölner Wirren dies Gefühl mächtig aufgeregt haben, daß man seither sehr empfänglich geworden ist, Verletzungen der kirchlichen und kanonischen Rechte bei vielen Anlässen zu argwöhnen und folglich mit oder ohne Erreichung eines dem Kirchenstaate ähnlichen Zustandes von Selbstständigkeit dagegen ankämpfe, das dürfte auch der unbefangene Beobachter vermögen wahrzunehmen."76 Diese theologischpolitische Distanz zwischen Katholiken in der Habsburgermonarchie und in den restlichen Staaten Deutschlands wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher. Ein zweiter Grund, aus dem die Habsburgermonarchie nicht als tragende Kraft für das katholische Deutschland in Frage kam, war, daß die Monarchie sich selbst nur ungern in dieser Rolle sah. Freilich sah sie sich als führenden Staat im Deutschen Bund und auch als leitenden katholischen Staat. Aber wie das Beispiel der Protestanten im Zillertal deutlich macht, war die Habsburgermonarchie im Vormärz, ähnlich wie Preußen, unfähig, konstruktiv mit konfessionellen Minderheiten umzugehen und so zum Leitbild eines überkonfessionellen Gebildes zu werden. Als das Zillertal 1815 gemeinsam mit Salzburg in die Habsburgermonarchie eingegliedert wurde, versuchten die dort lebenden Protestanten, nach langjähriger Geheimhaltung ihrer Religion im Fürsterzbistum Salzburg, nun vom österreichischen Toleranzedikt Gebrauch zu machen. 1828 beantragte eine Anzahl Familien offiziell den Übertritt zum Protestantismus. Die Landesregierung deutete den Versuch jedoch als Proselytenmacherei und verweigerte die Genehmigung. Die jetzt schon bekennende protestantische Gemeinde erhielt zwar 1832 eine Audienz bei Kaiser Franz I. (1768-1835), in der Hoffnung, von ihm eine Bewilligung zur freien Religionsausübung im Sinn des Toleranzedikts zu erhalten. Der Tiroler Landtag wiederum riet dem Kaiser energisch, gegen die „Sektierer" einzuschreiten, um die konfessionelle Einheit des Landes zu bewahren. 1834 gab Kaiser Franz den Protestanten dann die Möglichkeit, entweder zum katholischen Glauben zurückzukehren oder in ein anderes Kronland überzusiedeln. Die Protestanten ignorierten die Entscheidung. Nach wiederholtem Druck des Tiroler Landtags und des neu ernannten Salzburger Erzbischofs Friedrich von Schwarzenberg (1809-1885) forderte der Kaiser die protestantische Gemeinde erneut auf, binnen vierzehn Tagen zum katholischen Glauben zurückzukehren oder auszuwandern. Laut Toleranzedikt wie auch Art. 16 der deutschen Bundesakte war eine solche Aktion illegal, da die Zillertaler sich mehrmals zur Augsburger Konfession, also einer gesetzlich anerkannten Konfession, bekannten. Der Kaiser wiederum stützte sich in seiner Anweisung darauf, daß die Zillertaler nicht Lutheraner waren, sondern „Inklinanten", also eine nicht anerkannte Sekte.77 436 wanderten aus, aber nicht in ein anderes österreichisches Kronland, sondern nach Preußen. 86 MILIEUS Deutschkatholiken und Lichtfreunde Es waren aber weder alle Staaten so in tolerant wie Osterrekh oder Preußen noch alle Katholiken so ultramontan wie Görres oder Protestanten so antikatholisch gesinnt wie die Studenten auf der Wartburg. Ganz andere Beispiele liefern die Deutschkatholische Bewegung und die protestantischen Lichtfreunde. Die deutschkatholische Bewegung begann als Protest gegen die 1844 vom Trierer Bischof Wilhelm Ärnoldi (1798-1864) ausgerufene Wallfahrt zur Besichtigung des heiligen Rocks, also des von Jesus angeblich vor seiner Kreuzigung getragenen Leibrocks. Die Wallfahrt, die über sieben Wochen hinweg Wallfahrer anzog, wurde von der Diözese organisiert und war ein ausgesprochener Erfolg: nach zeitgenössischen Berechnungen eine Million Menschen, nach historischen Rekonstruktionen immer noch gut die Hälfte, nahmen daran teil.78 Hauptsächlich kamen die Teilnehmer aus dem Umland, aber viele auch von weither. Im Durchschnitt waren es 10000 Besucher pro Tag in einer Stadt mit damals nur 15000 Einwohnern.79 Kirchenpolitisch stand die Wallfahrt für die Beendigung der schweren Kontroversen zwischen Preußen und der rheinischen Kirchenführung. Die Trierer Reliquie hatte die Echtheitsvermutung der Gläubigen auf ihrer Seite, genährt von zahlreichen Kleinschriften und Andachtsbüchern wie von .Actenmäßigen Darstellungen" der sich ereignenden Wunder, in denen Amtsärzte deren Authentizität gegen ein vordringendes naturwissenschaftliches Weltbild verteidigten. „Heiliger Rock, bitte für uns!" — das prägte die Pilger, denen die publizistischen Auseinandersetzungen der deutschen Intellektuellen weitgehend verborgen blieben. Die katholische Presse verglich die Wallfahrt mit einem Kreuzzug, der nun aber auf alle militärische Gewalt verzichte, mit einer Heerschau Gottes und einer Völkerwanderung. Die Trier Wallfahrt, so Joseph Görres, sei eine „Musterung über die Getreuen, die ihm noch geblieben", die Christus selber vornehme. Die Pilger stellten ein Heer dar, und die Bischöfe, die mit ihnen zogen, die „Oberführer jenes Pilgerheeres". Die Andacht der Pilger, so der Trierer Priester und Wallfahrtsorganisator Jakob Marx, machten mit ihrem unentwegten Gebet und Gesang Stadt und Land zu einem „Tempel Gottes" und vollzögen eine „Demonstration" der katholischen Einigkeit und Stärke. „Die Wallfahrtspublizistik könnte eine jener Nahtstellen sein, an denen sich der Begriff der Demonstration mit politischen Inhalten zu füllen beginnt."80 Denn Görres' Geschichtstheologie brachte den Heiligen Rock mit der Destabilisierung der mittelalterlichen universitas chnstianaund mit dem politischen und religiösen Protestantismus als dem Prinzip der Revolution zusammen. Die „Einheit" des ungenähten Rockes und der vermeintlich korporative Vollzug der Wallfahrt sollen diese universitas als Kircheneinheit, aber auch als Einheit des Volkes zugleich darstellen und herstellen.81 Für den schlesischen Priester Johannes Ronge spiegelten sich die aktuellen Probleme der katholischen Kirche in der Wallfahrt: die Eitelkeit der Eliten, das Hierarchiedenken, die Anbetung von Idolen. So verfaßte er einen offenen Brief an Bischof Ärnoldi: „Wissen Sie nicht [...] daß der Stifter der christlichen Religion seinen Jüngern und seinen Nachfolgern nicht seinen Rock, sondern seinen MILIEUS reußen noch Qtikatholisch le liefern die ide. ie 1844 vom rt zur Besich- Kreuzigung :g Wallfahrer icner Erfolg: historischen 8 Hauptsächi weither. 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Friedrich Engels schrieb 1851 eher spottend über die Bewegung, daß sie .jenen großen Tempel [bauen], unter dessen Dach sich alle Deutschen zusammenfinden könnten; sie repräsentieren also in religiöser Form eine andere politische Idee jener Tage, die Idee der Deutschen, und konnten doch selbst nie untereinander einig werden".83 Für Engels war die Bewegung also das Politische unter dem Schein des Religiösen. Tatsächlich zeigt aber die deutschkatholische Bewegung die Wichtigkeit des Religiösen in der nationalen Frage, auch bei den liberalen und radikalen Katholiken im Vormärz. Insgesamt war die Bewegung mit bis zu 100000 Mitgliedern eine der größten Protestbewegungen des Vormärz, aber in den Jahren nach 1848 verlor sie schnell an Mitgliedern. Auf protestantischer Seite entstand mit den „Lichtfreunden" ein analoger Versuch, in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine radikal-demokratische Bewegung in Richtung „freies Christentum" zu gründen. Wie die Deutschkatholiken reagierten die Lichtfreunde auf die konservative Kirchenpolitik ihrer Zeit und versuchten sich von deren Strukturen zu befreien: eine freie Kirche zu schaffen, mit freier Verfassung, freier Pfarrerwahl und freien Gemeinden. Die Lichtfreunde waren auch eine überwiegend städtische Bewegung, mit ihrem Zentrum in Berlin. Als 1847 in Preußen der Kirchenaustritt legalisiert wurde, erhielt die Bewegung einen Stoß und erreichte 1848 bis zu 150000 Mitglieder. Ähnlich aber wie die Deutschkatholiken ist sie in den konservativen Jahren nach 1848 untergegangen. Von der Revolution 1848 bis zum Ende des :ts Die Revolutionen von 1848 In der letzten Februarwoche 1848 brach in Paris erneut die Revolution aus. Innerhalb einer Woche wurde Louis Philippe gestürzt, und die Republik wurde ausgerufen. Als Anfang März die Nachricht auch Deutschland erreichte, ermutigte sie Bürger und Bauern, auch in ihren Ländern Reformen zu verlangen. Am 2. März marschierten 30 000 Bauern in Wiesbaden auf das Schloß des Fürsten MILIEUS von Nassau, um die Beseitigung des Zehnten zu fordern. In Baden und Württemberg passierte ähnliches, wenn auch nicht in einem so großen Ausmaß, und in Sachsen, Thüringen und Schlesien stürmten Menschenmassen eine Reihe von Schlössern, um sie in Brand zu stecken. In Wien verlangte eine bunte Mischung aus Studenten, Arbeitern und Liberalen neue Reformen, was Metternich noch am selben Tag, dem 13. März, zum Rücktritt veranlaßte. Schließlich lösten die Nachrichten aus Wien auch in Berlin Unruhen aus: nach zwei Tagen von Straßenschlachten am 18. und 19. März waren 303 Menschen tot, und sogar Friedrich Wilhelm IV. (1796-1861) schlug einen Reformkurs ein. Innerhalb von wenigen Wochen sind also die politischen Fundamente des vormärzlichen Europa mit wenig Widerstand scheinbar implodiert. In allen Ländern Deutschlands wurden innerhalb kürzester Zeit liberale Minister in den Staatsdienst berufen, die Reste der Grundherrschaft beseitigt und ein deutsches Parlament in Frankfurt einberufen, welches über die Zukunft des deutschen Bundes entscheiden sollte. Abgeordnetenhäuser wurden auch in Berlin und Wien (später in Kremsier) zusammengerufen, um über eine Verfassung zu beraten. Sogar die Verbindung von Gott und König wurde in Frage gestellt: In Kremsier kam es Anfang 1849 zu einem Eklat zwischen dem Innenminister, Graf Franz von Stadion, und den Delegierten über die Frage, ob der Monarch Kraft des Willens des Volkes oder der Gnade Gottes regiere, während in Berlin der Satz „König von Gottes Gnaden" ganz aus der Verfassung genommen werden sollte. Auch in der Paulskirche in Frankfurt wurde von den Delegierten der Versuch unternommen, die konfessionellen Verhältnisse umzugestalten, die seit dem Untergang des Reiches keine umfassende Neuregelung erhalten hatten. Daß eine „Religionsgesellschaft [...] Vorrechte durch den Staat" genießen durfte, wurde in allen deutschen Staaten untersagt. Sodann wurde die absolute Freiheit bei der Ausübung religiöser Praxis wie auch in der Bildung neuer Religionsgesellschaften erklärt: „Einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht", so § 147 der Frankfurter Reichsverfassung. Der Heiratsakt sollte ebenfalls aus den Händen der Kirche genommen werden: Eine bürgerliche Ehe konnte nur durch einen zivilen Akt vollstreckt werden, und die Standesbücher waren von „bürgerlichen Behörden" zu führen.84 Solche Maßnahmen sollten aber nicht den Eindruck vermitteln, das Parlament in Frankfurt sei areligiös gewesen. Zwar wollten liberal gesinnte Parlamentarier das Bündnis zwischen Kirche und Staat auflösen, mit wenigen Ausnahmen aber Gott keineswegs aus der Gesellschaft verdrängen. So war die Todesfeier für die Gefallenen der Märztage in Berlin selbstverständlich kirchlich, und auch die Formel des Eides der Frankfurter Reichsverfassung sollte „so wahr mir Gott helfe" lauten.85 Auch waren unter den achthundert Abgeordneten in Frankfurt nicht nur liberale Juristen: 22 evangelische Theologen86 und eine noch größere Zahl katholischer Theologen und Priester befanden sich in der Paulskirche. Politisch waren die meisten protestantischen wie katholischen Geistlichen dem rechten Zentrum des politischen Spektrums zuzuordnen. Aber nicht alle Geistlichen standen politisch mitte-rechts; zwei evangelische Pfarrer gehörten sogar der äußerst linken Donnersberg-Fraktion an.87 Die Katholiken bildeten zusätzlich zu den konfessionell übergreifenden Gruppierungen auch eine eigene Gruppe, um ihre politischen Interessen zu vertreten. _ MILIEUS Württemaß, und in Reihe von Mischung nich noch lösten die i von Stra• Friedrich nente des allen Läner in den deutsches deutschen >erlin und ig zu bera: In KremSraf Franz Kraft des n der Satz den sollte. ;r Versuch • seit dem i. Daß eine fte, wurde eit bei der jllschaften bedarf es 2 ebenfalls he konnte waren von Parlament .mentarier imen aber ier für die [ auch die r Gott helkfurt nicht ißere Zahl :. Politisch m rechten ieisdichen jar der äuäätzlich zu ruppe, um 89 RELIGION UND POLITIK Aber nicht nur im politischen Bereich setzten die Revolutionäre grundlegende Veränderungen durch; auch im Alltag, in den Rechten und Pflichten der Geistlichen, strebten sie Neuerungen an. Als junger Student in Wien wurde Franz Josef Rudigier, später erzkonservativer Bischof von Linz, von radikalen Deutschkatholiken angegriffen, die in den Märztagen 1848 durch die Straßen umherzogen und ultramontan oder konservativ gerichtete Priester bedrohten. Er verließ die Stadt binnen wenigen Tagen.88 Zeitgleich entstanden die ersten Demokratiebewegungen innerhalb der katholischen Kirche: Geistliche sollten von der Gemeinde gewählt werden, Priester heiraten dürfen und die Liturgie auf Deutsch gehalten werden.89 Mit der Revolution selbst jedoch fanden auch diese Strömungen ein rasches Ende. Die Folgen der Revolution Mitte 1849 war die Revolution endgültig gescheitert; eine neue konservative Wende, in Preußen die „Neue Ära", in Osterreich der „Neoabsolutismus" genannt, entfaltete sich in der politischen Landschaft. Die fünfziger Jahre werden meist als „konservativ-bürgerlicher Kompromiß, eines obrigkeitlich gebremsten Konstitutionalismus" beschrieben,90 und zum Großteil stimmt diese Einschätzung. Die jüngere Geschichtsschreibung hat aber auch begonnen, die vielschichtigen Kontinuitäten zwischen den Jahren vor und nach 1848 zu erforschen. Was auch nach dem Scheitern der Revolutionen blieb, war vor allem ein sehr aktives Bürgertum, das, wenn auch nicht mehr im nationalen Rampenlicht, so doch auf lokaler Ebene ein Betätigungsfeld in kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen fand. Obwohl öffentliche Kritik an staatlicher Politik in fast allen Ländern ausblieb, wurde der Reformkurs also in anderen Bereichen, vor allem in Wirtschaft und Lokalverwaltung, weiter verfolgt.91 Das Jahrzehnt nach 1848 brachte auch für die verschiedenen Konfessionen grundlegende Änderungen. In Österreich wurde das Verhältnis zwischen Kirche und Staat tiefgreifend umgestaltet, die wichtigsten verbleibenden Elemente des josephinischen Staatskirchentums wurden aufgehoben: Nach 1850 mußte der Briefverkehr zwischen Bischöfen und Rom nicht mehr über Wien gehen, und die Kirche erhielt die Kontrolle über Ausbildung und Erziehung ihrer Priester zurück. Am 18. August 1855, dem kaiserlichen Geburtstag, erfolgte dann der Höhepunkt dieser Entwicklung: ein neues Konkordat zwischen Wien und dem Vatikan. In ihm wurde betont, daß die Kirche der „landesfürstlichen Bewilligung nachzusuchen, nicht unterliegt, sondern vollkommen frei" sei. Der Kirche wurde die Aufsicht über die öffentlichen Schulen bis zum Gymnasium gegeben, ebenso das Recht, „mit vollkommener Freiheit", in jeder Diözese eine Liste gefährliche Bücher zu benennen, deren Verfügbarkeit mit voller Unterstützung der lokalen Behörden begrenzt werden sollte. Im Eherecht mußten alle mit Katholiken verbundenen Angelegenheiten vor dem katholischen Ehegericht gehört werden. In mehrfacher Hinsicht leistete das Konkordat für die Kirche das, was 1848 für den Staat bedeutet hatte; indem es die existierende Praxis beseitigte, schuf es eine 90 MILIEUS Tabula rasa und ermöglichte der Kirche dadurch den Aufbau einer neuen, konservativen und ultramontanen Struktur. Für Katholiken bewirkten die Revolutionen von 1848 einen Bruch im liberalen Lager. Auf der einen Seite wollten radikale Demokraten ihre Ideen auch im kirchlichen Bereich verbreiten: freie Wahlen und Gemeinden, mehr Laienbeteiligung. Pragmatischere Demokraten wollten dagegen die Chance der Revolution nutzen, um die Trennung zwischen Kirche und Staat zu verfestigen; Reformen innerhalb der katholischen Kirche standen sie gleichgültig gegenüber. Das zersplitterte liberale Lager zog sich in den fünfziger Jahren auf der nationalen Ebene aus der Politik zurück. Auf lokaler Ebene blieb die liberale Bürgerbewegung allerdings politisch aktiv, und Gemeinden behielten ihre liberalen Bürgermeister, meist noch mit „revolutionärer" Vergangenheit. Das liberale Lager war zunächst auch sehr geschwächt. Die Vereinskultur der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts brach zusammen, Vereine mit politischer Tätigkeit wurden ganz verboten, Zeitungen eingestellt, und die öffentliche Kultur, die sich mühselig im letzten Jahrzehnt des Vormärz entwickelt hatte, brach zusammen. Die konservativen, vor allem ultramontanen Kreise wurden wiederum durch die Revolution gestärkt und konsolidiert. Nach dem Beispiel der Liberalen im Vormärz begannen sie ein engmaschiges Netzwerk von Vereinen und Initiativen zu bilden, das sich mit der Zeit zu einem dicht geflochtenen katholischen Milieu heranbilden sollte. Schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Vereine gegründet: der Borromäusverein (1844) zur Verbreitung von katholischen Büchern und der karitative Vinzenzverein (1845). In und nach den Revolutionen von 1848 folgte eine Welle von Vereinsgründungen; innerhalb weniger Jahre wurde eine Vielzahl von Vereinen zu fast jedem erdenklichen Zweck gegründet.92 Auch eine katholische Presse entstand, wenn auch noch keine Massenpresse mit Tageszeitungen und hohen Leserzahlen; aber kleinere Wochenblätter, oft an Vereinstätigkeiten oder kulturelle Themen gebunden, wurden in dieser Zeit gefördert. Obwohl Ausmaß und Breite des Pressewesens und der Vereine der fünfziger Jahre nicht mit dem Massenspektakel der siebziger und vor allem neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu vergleichen sind, wurde doch in diesen Jahren das Fundament gelegt, auf dem die spätere Ära der Massenpolitik gebaut wurde. Für Protestanten wiederum, besonders in Preußen, war genau das Gegenteil der Fall: Hier fand der Bruch eher im konservativen Lager statt. Die revolutionäre preußische Verfassung von 1848 enthielt einen Artikel zur völligen Trennung von Kirche und Staat: jede Religionsgemeinde „ordnet und verwaltet von jetzt an ihre Angelegenheiten selbstständig", und die Verfassung von 1850 übernahm diesen Absatz wörtlich. Gleichzeitig aber wurde ein Evangelischer Oberkirchenrat gebildet, der voll und ganz der Krone unterstand. Das Resultat, ähnlich wie in Osterreich nach dem Konkordat, war die Entwicklung eines sonderbaren doppelten Absolutismus: Die Kirche wurde vom Staat zwar gelöst, entfernte sich in ihrer Unabhängigkeit aber immer weiter von den altprotestantischen Kreisen, die schon seit der Union 1817 mit der staatlichen Kirchenpolitik unglücklich gewesen waren, und näherte sich an die erzkonservativen Kreise des preußischen Königs an. Wie der Rechtshistoriker Ernst Rudolf Huber bemerkte, ging in Preußen „die Überwindung des staatlichen Absolutismus durch den modernen Ver- MILIEUS er neuen, kon:h im liberalen deen auch im •hr Laienbeteiler Revolution ;en; Reformen lüber. 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Jahrhunderts schrieb noch so mancher Theologe von der Hoffnung, daß Verstädterung und Industrie sowie der allgemeine Fortschritt durch Technik und Medizin den Weg der Seele zu Gott freimachen und so ein neues religiöses Zeitalter bringen würden.94 Spätestens nach 1848 wurde aber klar, daß die Industrialisierung eine ganz unerwartete, schwierige Wendung mit sich brachte: Statt durch die wachsende Technik der Maschinen von den schlimmsten Lasten ihrer Arbeit entlastet zu sein, mußten die städtischen Fabrikarbeiter länger arbeiten, verdienten weniger Geld, und weil die meisten aus der Provinz in die nähere Umgebung der Fabriken der Stadt zogen, hatten nur wenige eine enge Bindung an ihre alltägliche Umwelt. Sie kannten ihre Nachbarn nicht und noch weniger ihre Pfarrer und Pastoren. Beide Konfessionen suchten nach Lösungen für diese entstehende „soziale Frage". Die katholischen Gesellenvereine Kolpings wurden gegründet, um den religiös gleichgültigen wachsenden sozialistischen Strömungen zu begegnen.95 Ein großer Schub in diese Richtung kam 1863, als die soziale Frage Hauptthema des in diesem Jahr in Frankfurt abgehaltenen Katholikentags war, einer jährlichen Versammlung aller deutschsprachigen katholischen Vereine. Unter den Bischöfen waren nun auch kapitalismus-kritische Stimmen zu hören, von denen die prominenteste dem Bischof von Mainz, Wilhelm Emmanuel von Ketteier (1811-1877), gehörte. Ketteier, der 1848 noch für die Gründung von Produktionsgenossenschaften mit rein privaten Mitteln (das heißt ohne staatliches Eingreifen) plädiert hatte, vollzog wie viele Katholiken, die sich mit dem Thema beschäftigten, eine völlige Wandlung. 1863 wurde der Staat als regulierende Kraft zum ersten Mal in einer breiten katholischen Öffentlichkeit angesprochen: höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit, diese Probleme könnten am effektivsten mit neuen Gesetzen und strenger staatlicher Aufsicht bewältigt werden. Kettelers Buch, Die Arbeiterfrage und das Christenthum, direkt nach dem Katholikentag geschrieben, wie auch seine weit verbreitete Rede vom 25. Juli 1869, Die Arbäterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zur Religion und Sittlichkeit, wurden zu den Gründungsdokumenten der christlichen Arbeiterbewegung. Im Zug des Kulturkampfes wurden die meisten christlich-sozialen Vereine in Deutschland aufgelöst. In Österreich kam es in diesem Jahrzehnt zwar zur Gründung vereinzelter Konsumvereine auf lokaler Ebene, aber auch dort entstand keine größere Arbeiterbewegung. Die große Wende kam schließlich „von oben" aus Rom: die Enzyklika Leos XIII., Rerum novarum (1891), zum Zustand der Arbeiterklassen gab der katholischen Arbeiterbewegung einen neuen Geist. In der Enzyklika verurteilte der Papst zwar scharf den Klassenkampf, betonte aber 92 MILIEUS gleichzeitig das Recht auf Selbsthilfeorganisationen und, vielleicht der radikalste Punkt, entnahm aus der thomistischen Naturrechtslehre die Idee vom Eigentumsrecht als bloßem Nutzungsrecht. Wenn Eigenturn nicht für das Wohl der ganzen Gemeinde benutzt wird, so argumentierte Leo sehr vorsichtig nach Thomas von Aquin, dann entfällt auch das Nutzungsrecht. Ähnlich wie bei den Katholiken entstanden auch in protestantischen Ländern und Kreisen anfänglich eher lokale Einzelinitiativen als kirchliche Verordnungen. Erste Versuche zur Lösung der sozialen Frage kamen vereinzelt von Priestern, Industriellen und engagierten Laien. Der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern gründete schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts örtliche Initiativen in Hamburg, Franken und Schlesien zur Verbesserung der Lage der Arbeiter.96 Vereinzelte Unternehmer, etwa Gustav Werner, gehören auch dazu; dieser versuchte eine „christliche Fabrik" zu gestalten, die die christlichen Familien- und Lebensstrukturen erhalten könnte. Letztendlich kamen auch engagierte Laien wie Victor Arme Huber dazu, dessen Schriften zur „Selbsthilfe der arbeitenden Klassen durch Assoziationen" ein Vorbild sein wollten. Alle drei fanden aber kaum ein größeres Publikum für ihre Ideen. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts begannen die ersten Versuche einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus. Bahnbrechend war hier vor allem das Buch des brandenburgischen Landpfarrers Rudolf Todt, Der radikale Sozialismus und die christliche Gesellschaft (1873). Zusammen mit Rudolf Meyer, Adolf Wagner und Adolf Stoecker gründete Todt 1877 den Zentralverein für Sozialreform. Ein Jahr später rief Stoecker die Christlich-Soziale Arbeiterpartei ins Leben. Beide Initiativen wurden aber vom eher konservativ ausgerichteten Evangelischen Oberkirchenrat rundheraus abgewiesen, der diese Versuche als „Parteileidenschaften" deutete und sich gegen jeden Versuch stellte, „aus dem Evangelium die Lösung der konkreten politischen Fragen zu entnehmen".97 Als 1878, nach Beendigung des Kulturkampfes, die sozialistischen Parteien in Deutschland verboten wurden, machte sich die christliche Arbeiterbewegung große Hoffnungen aufwachsende Mitgliederzahlen, die aber letztendlich unerfüllt blieben. Das Verbot blieb zwar bis 1890 erhalten, brachte aber den christlichen Gewerkschaften und politischen Arbeitervereinen keine beträchtlichen Vorteile. Der Gesamtverband Evangelischer Arbeitervereine Deutschlands, 1890 von dem Mönchengladbacher Pfarrer Ludwig Weber gegründet, hatte im ganzen Deutschen Reich um 1900 nur 28000 Mitglieder.98 Wenn Katholiken wie Ketteier und Kolping oder Protestanten wie Todt die Sozialisten kritisierten und ablehnten, so richteten sie sich vor allem gegen die Gottlosigkeit ihrer Gegner. Ein langsam wachsender Atheismus, so betonten die religiösen Kritiker, würde langfristig zum Verfall der Gesellschaft und zur Anarchie führen. Gleichzeitig aber waren sich die Theologen über die Schwächen eines „laissez faire" kapitalistischen Systems einig. Karl Marx' Das Kapital zum Beispiel erhielt eine durchaus positive Rezension in der katholischen TheologischPraktischen Quartalschnft ,99 einem Periodikum mit rund 6000 Abonnenten, fast ausschließlich Priester, und Ferdinand Lassalle war für viele sozial denkende Priester noch bis in die späten siebziger Jahre hinein das philosophische und praktische Leitbild für die „korrekte" Kapitalismuskritik. MILIEUS ht der radikalste dee vom Eigenir das Wohl der ichtig nach Thotischen Ländern ; Verordnungen. 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Die sozialen Stände, die Familie und vor allem die „wahre" Kirche, die katholische, waren die einzigen wirklichen Stützen der Gesellschaft. Auch der Staat hatte eine wichtige Rolle zu spielen, soziale Gerechtigkeit zwischen den Ständen und Menschen herzustellen sowie Familie und katholische Kirche als gesellschaftserhaltende Institutionen zu fördern. Protestanten wiederum sahen vor allem in der Aufklärungsarbeit eine Lösung zur „sozialen Frage": Die „Gesellschaft" (und hier war meistens die „bessere Gesellschaft" gemeint) sollte sich der Leiden ihrer Mitbürger bewußt sein und dadurch zum Handeln bewegt werden. Aus solcher Motivation entstanden Bücherwie Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerkerbursche (1891) von dem Theologiestudenten Paul Göhre, welches mehrere Auflagen erlebte und die Leiden des normalen Arbeiters aus der Sicht eines aus bürgerlicher Familie stammenden Studenten beschreibt. Wurden die Arbeiter aber immer weniger christlich? Wurden sie durch den wachsenden Einfluß der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen atheistisch? Laut einer Umfrage aus dem Jahre 1910 war ungefähr die Hälfte der sozialdemokratischen Arbeiterschaft bewußt atheistisch, während sich 13 Prozent als bewußt „gläubig" bezeichneten. Dennoch sind offiziell nur sechs Prozent aus der Kirche ausgetreten.100 Diese Zahlen verdeutlichen auch die großen Unterschiede, die zwischen den Konfessionen existierten. So waren protestantische Arbeiter ehemals durchaus häufiger sozialdemokratisch (und atheistisch) als katholische. Eine Statistik aus Berlin im Jahr 1869 hält fest, daß nur ein Prozent der protestantischen Bevölkerung in den Arbeitervierteln regelmäßig zur Kirche ging. Im überwiegend protestantischen Bremen waren es nur drei Prozent der gesamten Bevölkerung. Bei katholischen Arbeitern wiederum waren die Zahlen deutlich höher. Warum? Im Gegensatz zur katholischen Kirche war die Identifikation zwischen Protestantismus und Autorität — staatlich und wirtschaftlich — sehr stark ausgeprägt, was die Kirche bei den meisten protestantischen Arbeitern unattraktiv machte. Auch war für viele Katholiken, vor allem im Rheinland, der Arbeitgeber ein Protestant, was wiederum bei katholischen Arbeitern ein konfessionell basiertes Solidaritätsgefühl auslöste.101 Die Nationale Einheit von 1871 Die Vereinigung des Deutschen Reiches 1871 war zuerst eine neue Antwort auf die immer wieder spannende Frage: „Deutschland? aber wo liegt es?"102 Das neue Reich war aber zuerst nur ein geographisch definiertes Werk. Wie Massimo d'Azeglio schon ein Jahrzehnt früher über seine eigene neu gegründete Nation 94 MILIEUS kommentierte: „Wir haben Italien, jetzt müssen wir noch Italiener schaffen."103 Die gleiche Aufgabe galt auch für das neue Deutsche Reich: diese neue „Nation" der Deutschen mußte nun konstruiert werden: Was soll das Wesen der neuen Nation sein, was sind ihre Merkmale, und wer sind ihre Mitglieder? In diesem Themenkomplex war eines der kompliziertesten Probleme die konfessionelle Frage. Der Ausschluß der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie bedeutete, daß diese neue deutsche Nation zu etwa zwei Dritteln protestantisch und zu einem Drittel katholisch, also von Anfang an auch eine überwiegend (und bewußt) protestantische Nation war. Schon der preußische Sieg über Osterreich und seine Verbündeten 1866 hatte in mehreren Städten zu katholischen Aufständen geführt.104 Katholiken in Preußen, Württemberg und anderswo fühlten sich weniger vereinigt als vom protestantischen Preußen belagert. Der neue Staat mit Sitz in Berlin wiederum empfand die Katholiken als Abtrünnige. Deutsche Einheit und der Kulturprotestantismus Auch wenn Protestanten im Vergleich zu ihren katholischen Mitbürgern immer ein weniger aktiv religiöses Leben führten, blieb im neuen Deutschen Reich dennoch eine dominante Form der Konfession als säkulare Kultur erhalten. Was Historiker und Theologen den „Kulturprotestantismus" nennen, war insbesondere ein Phänomen der bürgerlichen Klassen105 und, da das Bürgertum im weiteren Sinn vor allem die Öffentlichkeit dominierte, auch ein fester Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur.106 Zwei Merkmale gehören zum Begriff: erstens die Formel: deutsche Kultur ist protestantische Kultur (siehe unten). Die Vereinigung Deutschlands 1871 unter preußischer Herrschaft war demnach der endgültige „Sieg der Reformation" und so der von Martin Luther geprägten deutschen Kultur in Mitteleuropa. Zweitens gehörte dazu auch ein gewisser Fortschrittsglaube, der vor allem mit der „rückständigen Volksfrömmigkeit" des Katholizismus kontrastiert werden sollte. „Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel [...] waren für Liberale keine unangenehme Erfahrung; es war vielmehr ein Prozeß an den sie glaubten und den sie voranzutreiben suchten."107 Was bedeutete der Kulturprotestantismus im neuen Deutschen Reich? Trotz überkonfessionellen Bemühungen bei der Reichsgründung - die berühmten Bilder der Krönungszeremonie in Versailles zeigen zum Beispiel einen sehr bewußt unreligiösen Akt108 - waren schon bald deutlich protestantische Melodien im nationalen Chor zu hören. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Entstehungsgeschichte des Sedantags. Ursprünglich als überkonfessioneller Feiertag zur Erinnerung an die französische Niederlage gedacht, wurde der Sedantag bald als Erinnerung an den, so die kulturprotestantischen Untertöne, „für Religion und Vaterland" und „durch Gottes Führung" gewonnenen Krieg begangen, der den Sieg gegen die katholische Großmacht Frankreich zelebrierte.109 MILIEUS RELIGION UND POLITIK 95 icr schaffen."103 : neue „Nation" ?sen der neuen Deutsche Einheit und päpstliche Unfehlbarkeit •der? In diesem Die „andere Hälfte" der Auseinandersetzung zwischen Fortschrittsglauben und Volksfrömmigkeit darf nicht vergessen werden. Für die katholische Perspektive ergab sich 1870/71 aus zwei zentralen Ereignissen, der deutschen Einheit und konfessionelle absburgermonDritteln proteh eine überwie- iische Sieg über idten zu kathoerg und anders;n belagert. Der als Abtrünnige. ismus bürgern immer putschen Reich ir erhalten. Was L, war insbeson- •gertum im weister Bestandteil mm Begriff: er- •he unten). Die ir demnach der ther geprägten n gewisser Fortnigkeit" des Ka'sellschaftlicher es war vielmehr ten."107 der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit im Ersten Vatikanischen Kon- zil (1869-1870), eine fast kuriose Kongruenz. Schon im Dezember 1869 kamen 774 Bischöfe aus aller Welt nach Rom, um erstmals seit dem Konzil von Trient (1545-1563) gemeinsam zu beraten. Ergebnis war die Konstitution über die katholische Kirche Pastor aeternus, die die berühmte Klausel enthielt: „Wenn der römische Bischof ,ex cathedra' spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, daß eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte." Die Konstitution wurde am IS.Juli 1870 entgegen lauten Proteststimmen vieler katholischer Bischöfe, Priester und Laien, unter anderem aus den deutschsprachigen Ländern, verabschiedet. Einen Tag später erklärte Frankreich Preußen den Krieg, dessen Resultat sowohl die Gründung des Deutschen Reiches unter preußischer Herrschaft als auch die „Entweltlichung" des Papstes war französische Truppen, die seit 1860 das noch päpstliche Rom verteidigten, mußten während des Krieges zurück nach Frankreich; innerhalb von wenigen Tagen rückten italienische Truppen in die Ewige Stadt vor.110 Das zeitliche Zusammentreffen dieser Ereignisse hatte wichtige Folgen: Für das neue Deutsche Reich und auch für die österreichische Regierung, wie noch zu sehen sein wird, verstärkte die Deklaration der päpstlichen Unfehlbarkeit den Druck zur Ausweitung der Kulturkämpfe. Der Krieg gegen Frankreich wurde von liberalen Publizisten auch als eine „geistige Kriegserklärung" gegen den jesuitisch dominierten Katholizismus gedeutet, da Napoleon III. und Frankreich als offizi- elle Schutzmacht des Papstes füngierten.111 Für Katholiken im neuen, protestantisch dominierten Deutschen Reich wurden die neuen Maßnahmen zu einer Provokation. Zwar war die päpstliche Unfehlbarkeit auch für viele Katholiken :n Reich? Trotz die berühmten inakzeptabel; als aber eine protestantische Regierung die Entscheidung aus Rom l einen sehr beische Melodien ie EntstehungsFeiertag zur Erdantag bald als zu erlassen, erschien dies als eine Provokation. Fast noch schwieriger war die ir Religion und angen, der den zum Anlaß nahm, grundlegende Gesetze zum Nachteil der katholischen Kirche Situation der deutsch-liberal gesinnten Katholiken in Österreich. Innerhalb von vierzehn Monaten hatte zuerst die katholische Kirche ihre Ansichten ignoriert und sie dogmatisch zur Seite gedrängt; danach hatte sich ihre „Nation" ohne sie vereinigt. In diesem Sinn hatte die zeitliche Übereinstimmung von päpstlicher Unfehlbarkeit und deutscher Einheit für den deutschen Liberalismus in beiden Ländern wichtige Konsequenzen: Der Sieg des liberal-deutschen (und protestantischen) Nationskonzeptes wurde gleichzeitig auch zur Kriegserklärung gegen alles Konservativ-Katholische gedeutet. 96 MILIEUS Kulturkämpfe, 1860-1880 Dieser Antagonismus zwischen Liberalismus und Katholizismus hatte schon ältere Wurzeln: In den sechziger Jahren begann die liberale Politik wieder Fuß zu fassen, und eines der ersten Opfer war die katholische Kirche. Die Kirche erschien als Antibild einer fortschrittlichen Gesellschaft: streng hierarchisch strukturiert und selbst nach Maßstäben der Zeit undemokratisch, reaktionär und anti-national. Der 1864 von Papst Pius IX. verkündete Syllabus errorum schien das ganze reaktionäre Wesen der Kirche in konzentrierter Form wiederzugeben: der Text enthielt insgesamt achtzig Thesen, die der Papst als Irrtümer bezeichnete, einschließlich: 19. Die Kirche ist keine wahre, vollkommene und völlig freie Gesellschaft. Sie besitzt nicht ihre eigenen und beständigen, von ihrem göttlichen Gründer verliehenen Rechte. Es ist eine Angelegenheit der staatlichen Gewalt, die Rechte der Kirche und ihre Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sie diese Rechte ausüben darf. 77. In unserer Zeit ist es nicht mehr denkbar, daß die katholische Religion als einzige Staatsreligion anerkannt und alle anderen Arten der Gottesverehrung ausgeschlossen werden. 78. Es ist daher lobenswert, in gewissen katholischen Ländern, den Einwanderern gesetzlich die öffentliche Ausübung ihres Kultes zu garantieren. 79. Es ist falsch, daß die staatliche Freiheit für jeden Kult und die allen gewährte Befugnis, frei und öffentlich ihre Meinungen und Gedanken kundzugeben, dazu führen, Geist und Sitte der Völker zu verderben und zur Verbreitung der Seuche des Indifferentismus führen. 80. Der Römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vereinigen.112 Innerhalb der liberal-protestantischen Gesellschaft wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts der Antikatholizismus immer „salonfähiger". Schon Hegel vertrat die Ansicht, „daß mit der katholischen Religion keine vernünftige Verfassung möglich ist", und in den siebziger und achtzigerJahren des 19. Jahrhunderts erhielten antijesuitische Klageschriften meistens mehrere hunderttausend Unterschriften.113 Die liberale Öffentlichkeit war empört über die wachsende und vor allem öffentliche Macht der Kirche, die immer pompösere Art der Priester und Prozessionen, die enge Disziplin der Hierarchie, das wachsende Vereinsnetz und das „nichtdeutsche" Haupt der Institution, den Papst in Rom. In einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus am 17. Januar 1873, gab der bekannte Berliner Arzt und Protestant Rudolf Virchow diesem Konflikt zwischen liberaler Öffentlichkeit, Staat und katholischer Kirche seinen Namen: „Kulturkampf. „Was uns interessiert", erklärte er, „das ist die Freiheit der individuellen, religiösen Überzeugung oder des religiösen Glaubens. Wir verlangen die Garantie, daß jedermann in seinem Glauben frei sei, aber, meine Herren, wir leugnen, daß zu diesem Glauben die Hierarchie gehört."114 Man darf aber nicht vergessen, daß bei konservativen (und ultramontanen) Katholiken eine ebenso ausgeprägte Antipathie gegenüber Liberalismus und einem liberalen Staat existierte. Die wachsende Macht (und der Machtanspruch) MILIEUS is hatte schon ältik wieder Fuß zu e. Die Kirche ererarchisch struk, reaktionär und rrorum schien das 'derzugeben: der ner bezeichnete, reie Gesellschaft, ihrem göttlichen it der staatlichen mmen, innerhalb lolische Religion \rten der Gottesern, den Einwans zu garantieren, und die allen gei und Gedanken •u verderben und n. chritt, dem Libei vereinigen.112 aufe des 19.JahrHegel vertrat die Verfassung mögunderts erhielten [tausend Unterichsende und vor der Priester und ' Vereinsnetz und In einer Rede im ekannte Berliner liberaler Öffentkampf". „Was uns , religiösen Überrantie, daß jederen, daß zu diesem ultramontanen) jberalismus und Machtanspruch) RELIGION UND POLITIK 97 des Staates - gott- und herzlos in seiner zunehmend bürokratischen und nationalen Gestaltung — war ein Verstoß gegen die göttliche Form. Für konservative Katholiken existierte eine „natürliche Ordnung", von Gott gegeben und von ihm mit einer natürlichen gesellschaftlichen Hierarchie ausgestattet, die der liberale Staat nun zu zerstören versuchte. Schon 1838 schrieb der Tübinger Theologe Johann Adam Möhler, „wenn es in Europa keine höhere Macht als den Staat gibt, dann ist die Freiheit des Menschen zu Ende".115 Für ultramontane Katholiken konnte und durfte der Staat nicht das „letzte Gericht" einer Gesellschaft sein; auch die staatliche Moral müsse sich an etwas Höheres richten. Für liberale Politiker und Staatsbeamte der verschiedenen Länder ergab sich wiederum die genau entgegensetzende Überlegung: die Regierung kann den Staat nur leiten, wenn sie den Anspruch hat, die höchste Macht und das letzte Gericht zu sein. Die Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und weltlicher Regierung begann in den kleineren deutschen Staaten, vor allem in Baden, wo schon 1864 der Kirche die geistliche Schulaufsicht genommen wurde. Der eigentliche „Kulturkampf fand aber erst nach der Gründung des Deutschen Reiches in Preußen statt. Zwischen 1871 und 1874 wurden im Reichstag mehrere Gesetze mit dem Ziel verabschiedet, die katholische Kirche unter staatliche Gewalt zu bringen: 1871 kam der sogenannte Kanzelparagraph, der den Mißbrauch der Kanzel für politische Zwecke verbot; 1872 folgte das Jesuitengesetz, das den Jesuitenorden im Deutschen Reich auflöste; den Höhepunkt bildeten dann 1873 die sogenannten „Maigesetze", in denen dem Staat die Kontrolle über die Ausbildung und Ernennung von katholischen Geistlichen zugesprochen wurde; und 1875 folgte letztendlich das „Brotkorbgesetz" welches bei gesetzeswidrigem Verhalten die Beschlagnahme von Kirchenbesitz und die Vertreibung von rebellierenden Priestern ermöglichte. Der Kulturkampf war aber keineswegs ausschließlich Politik eines protestantisch-deutschen Staates. In Bayern und in der Habsburgermonarchie waren Kirche und Staat in ähnliche Streitigkeiten verwickelt. Nach der österreichischen Niederlage bei Solferino 1859 wuchs auch in der Habsburgermonarchie der liberale politische Einfluß, und schon die Dezemberverfassung 1867 enthielt die ersten Schritte eines österreichischen Kulturkampfes: Sie deklarierte die Glaubens- und Gewissensfreiheit und gab dem Staat die oberste Aufsicht über die Schulen, ein schwerer Schlag gegen die im Konkordat festgelegte Bevorzugung der katholischen Kirche. 1868 folgten weitere Gesetze zu Schulaufsicht, Zivilehe und den interkonfessionellen Verhältnissen. Die Kirchenoberhäupter reagierten entsetzt; es folgte eine regelrechte Flut von Hirtenbriefen, Reden und Flugschriften: Das Konkordat ist ein Vertrag, ein Vertrag ist Gesetz, das neue Gesetz ist gegen den Vertrag und deshalb nicht rechtens.116 Ein Bischof, Franz Joseph Rudigier in Linz, wurde sogar wegen seines Hirtenbriefes vor Gericht gestellt, zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt und vom Kaiser begnadigt. Zwei Jahre später bot die Deklaration der päpstlichen Unfehlbarkeit einen erneuten Anlaß, das Konkordat als endgültig aufgehoben zu erklären. Letztendlich wich der Ablauf in Wien von dem in Berlin ab. Wegen ihrer josephinischen Vergangenheit und des engen Verhältnisses zum Kaiserhaus ließ sich die katholische Kirche in der westlichen Habsburgermonarchie nicht so leicht vom Staat trennen. Im Jahre 1874 folgten die letzten Gesetze des „österreichischen Kulturkampfes", in denen die 98 MILIEUS politische und finanzielle Struktur der Kirche wieder ausdrücklich unter staatliche Aufsicht gestellt wurde. In mancher Hinsicht mag diese Entwicklung als eine Rückkehr zum Josephinismus erscheinen. Es gab aber einen wichtigen Unterschied: die katholische Kirche war nicht mehr offizieller Teil der Staatsmaschinerie; sie war, so die offizielle Definition, „eine [der] Souverainität [des Staates] unterworfene privilegierte Corporation".117 Wie Peter Leisching bemerkte, nahm 1874 der Staat „für sich das einseitige Recht in Anspruch, zu bestimmen, was als innere Angelegenheit in den Autonomiebereich der Kirche und was als äußeres Rechtsverhältnis in die Zuständigkeit des Staates" fiel.118 Wie reagierte nun die katholische Bevölkerung auf die Kulturkämpfe? In Deutschland, vor allem in Preußen, wurden durch die Eingriffe des Staates die katholischen Priester zu Volkshelden; der Staat als legitimes Machtinstrument war für große Teile der katholischen Bevölkerung vollkommen diskreditiert. Priester, die den Treueid der Maigesetze ignorierten und daher aus ihrer Pfarrei vertrieben wurden, kehrten in Verkleidung zurück und ließen sich von der Bevölkerung verstecken; Gottesdienste und andere Rituale von Taufen bis Beerdigungen wurden geheim abgehalten. Viele Priester wurden wegen ihrer Aktivitäten zeitweilig inhaftiert. Die Streitigkeiten führten letztendlich zu einer ungeheuren konfessionellen Polarisierung im erst kürzlich gegründeten Deutschen Reich. Während Protestanten ihre religiöse Affinität zunehmend als zweitrangig erschien und sie sich selbst zuerst in verschiedene gesellschaftliche Milieus einordneten - sozialdemokratisch, liberal-national oder konservativ -, blieben für Katholiken die Konfession und der religiöse Glaube das zentrale Merkmal ihrer politischen und sozialen Identität. In der politischen Landschaft wurde die katholische Zentrumspartei zu einer der wichtigsten und konstantesten politischen Kräfte im Kaiserreich und darüber hinaus bis in die Weimarer Republik.119 Auch in der Habsburgermonarchie begann sich nach den Maigesetzen aus dem Jahr 1868 eine katholische Volksbewegung zu bilden. Konservative Katholiken - mit der Zeit wurde sogar das Ultramontane unwichtig -, vor allem außerhalb der Städte, fühlten sich in ihrem Glauben vom liberalen Staat unterdrückt. Vereinzelt wurden auch hier Priester festgenommen und verurteilt, und auch in Österreich bildete sich ein neues dichtes Netzwerk von Vereinen, die vor allem in ihrer Mitgliederzahl schnell die liberalen Vereine überholten und bald eine immense politische Kraft darstellten. Die Kulturkämpfe waren letztendlich im Deutschen Reich wie in der Habsburgermonarchie kontraproduktiv: Statt durch antikatholische, antiklerikale Ressentiments eine liberale (oder im Deutschen Reich eine bunte mit Bismarck regierende) Mehrheit in der Politik zu schaffen, führten die Maßnahmen zur Konsolidierung eines konservativ-katholischen Milieus. Wie schon erwähnt, wurde mit zirka 25 Prozent der Mandate in jeder Legislaturperiode das katholische Zentrum eine der stärksten und beständigsten Parteien im Deutschen Reich. Die katholische Kirche wurde Pate eines dichten Netzwerkes von Vereinen, die vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, in den Zeiten des Kulturkampfes, enormen Druck auf Staat und Öffentlichkeit ausübten. MILIEUS dich unter staatlitwicklung als eine wichtigen Unterder Staatsmaschilität [des Staates] l bemerkte, nahm estimmen, was als id was als äußeres Kulturkämpfe? 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Die Liberalen, die „Kulturprotestanten", glaubten vor allem an Fortschritt und Wissenschaft, betonten Moralität und Vernunft und wollten ihre Kirchen, auch wenn sie sie selbst immer seltener besuchten, mit den Bedürfnissen und Gegebenheiten der „modernen" Welt gleichschalten. Der liberale Protestantismus neigte zum Agnostizismus, konservative Protestanten, meist Unionisten und Pietisten, betonten wiederum Dogma und Offenbarung, Glaube und persönliches Engagement. Diese orthodoxen Strömungen waren aber eher begrenzt: der Pietismus geographisch begrenzt auf Württemberg und Schlesien, das Sauerland und, später, auch auf das Ruhrgebiet; und der konservative Protestantismus politisch begrenzt durch sein nahes Verhältnis zu Thron und Staatskirchentum.120 Dennoch darf man die tragende Kraft des Protestantismus im Deutschen Reich nicht unterschätzen. „Deutsche Kultur", „deutsche Wissenschaft", „deutsche Politik", also die „deutschen" Erfolge in der (modernen) Welt seit der Reformation schienen für Protestanten vor allem protestantische Erfolge zu sein. Anders formuliert: die Erfolgsgeschichte des Deutschen Reiches, vor und nach 1871, schien in der Lebensgeschichte Martin Luthers und in der Reformation ein bedeutsames Ur-Narrativ für sich selbst gefunden zu haben. Auch wenn sich viele Bildungsbürger selber als „religiös unmusikalisch" bezeichneten, so Max Webers berühmte Formulierung, blieb der Glaube an eine protestantisch-(geprägte) deutsche Kultur groß. So gab es einen gewissen Kulturprotestantismus als sozialpolitische Leitkraft im Kaiserreich, eine Leitkraft, die durch ihre kulturelle Vergesellschaftung die Strukturen des Reiches prägte.121 Kulturprotestantismus war in dieser Hinsicht ein Geflecht aus Theologie, öffentlicher Kultur, Politik und Wissenschaft, und das beste Beispiel dafür liefert die Figur Adolf von Harnacks (1851-1930). 1851 als Sohn eines Theologieprofessors in Ostpreußen geboren, war Harnack erst Theologieprofessor in Marburg, bevor er 1888 gegen heftigen Widerstand konservativer Theologen nach Berlin berufen wurde. Über die nächsten zwanzigjahre wurde Harnack zu einer Schlüsselfigur von Politik und Theologie. Sein 1900 veröffentlichtes Buch Das Wesen des Christentums deutete das Christentum als Kampf gegen die ständige Dogmatisierung (und so auch Verfälschung) eines ursprünglichen Evangeliums. Die Reformation, Ursprung des Protestantismus, war in dieser Hinsicht ein erster Versuch, zum eigentlichen Ursprung des Christentums zurückzukehren. Das Buch wurde ein Massenerfolg, bis 1927 erlebte es vierzehn Auflagen und wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Aber Harnack war nicht nur Theologe. Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde er ein enger Berater Kaiser Wilhelms II. (1859-1941, Kaiser 1888-1918) und so zu einem Träger der wissenschaftlichen Strukturen im wilhelminischen Kaiserreich, wofür er auch 1914 geadelt wurde. Er war Mitbegründer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Vorgänger der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, deren Präsident er von der Gründung 1911 bis zu seinem Tod 1930 blieb. 100. MILIEUS Der Katholizismus um 1890 Die Strömungen innerhalb des Katholizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich nicht so leicht zusammenfassen. Zwischen 1840 und 1880 kann man von einer Feminisierung der Religion sprechen, deren Entwicklung am besten mit einer Reihe Gegenüberstellungen dargestellt werden kann: War die liberale politische Öffentlichkeit „männlich" und „frei", so wurde die katholische Kirche als „weiblich" und von den „schwächeren" Gesellschaftsschichten, Frauen und der ländlichen Bevölkerung, geprägt. Der Beichtstuhl, das intime und private „Reich" des katholischen Priesters, wurde zum Gegenstand des Spotts der liberalen Tagespresse; Beichtstuhlaffären wurden fast zu einem eigenen Pressegenre.122 Zeitgleich wurde diese Entwicklung auch von der katholischen Hierarchie vorangetrieben. Maria, Jungfrau und Mutter zugleich, wurde Leitfigur der Kirche, und die Marienverehrung wurde vor allem von Papst Pius IX. in seinem 1854 verkündeten Dogma der Unbefleckten Empfängnis angetrieben. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann sich aber das Blatt zu wenden. Im Gegensatz zu Pius IX. griff sein Nachfolger Leo XIII. nach einer neuen Leitfigur für die Kirche: nach dem mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin. Durch die mit Thomas verbundene Methode des Neothomismus versuchte Leo XIII. der Kirche eine neue wissenschaftliche Grundlage zu schaffen: Im Gegensatz zu der Verehrung Marias und einer direkten Verbindung zwischen Papst und katholischem Volk, also einer weiblichen Frömmigkeit mit Massen-Appeal, beruhte das Konzept Leos XIII. auf ganz anderen Prinzipien: Jesus und der Papst als Oberhaupt einer organisierten und auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhenden Kirche. Diese Philosophie, so Leo XIII., sollte von den Gelehrten der Kirche bewahrt, bearbeitet und verkündet werden. Die männliche Hierarchie wurde nun ins Zentrum gestellt; Frauen und Laien, Pilgerreisen und populäre Strömungen sollten eine deutlich verminderte Rolle spielen. Verschwunden war die Weiblichkeit, aber auch der Massen-Appeal; nach Mitte der achtziger Jahre verlor die Kirche, das heißt die kirchliche Hierarchie, immer mehr die Kontrolle über die Vereine und Massenbewegungen, die sie selber in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts mühselig aufgebaut hatte. Massenbewegungen wie die Christlichsoziale Partei in der Habsburgermonarchie wurden von engagierten Laien geführt und gerieten des öfteren in Konflikt mit der katholischen Hierarchie.123 Dies waren also katholische Bewegungen; sie waren aber nicht mehr eng eingebundene Teile der katholischen Kirche. Zusammen und getrennt: Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Die politische Religionsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts wird häufig als ein „zweites konfessionelles Zeitalter" interpretiert. Wie im 16. und 17. Jahrhun- MILIEUS RELIGION UND POLITIK 101 dert, so das Argument, wurde die konfessionelle Polarisierung im 19. Jahrhundert des 19. Jahr10 und 1880 Entwicklung n kann: War le die kathoFtsschichten, , das intime id des Spotts igenen Presischen HierLeitfigur der X. in seinem sn. ' das Blatt zu . nach einer gen Thomas othomismus ige zu schafVerbindung imigkeit mit i Prinzipien: schaftlichen illte von den e männliche ;rreisen und spielen. Verch Mitte der chie, immer sie selber in ig aufgebaut Habsburger:s öfteren in lische Bewekatholischen zu einem zentralen Merkmal der Gesellschaft, zu dessen Höhepunkten der Kulturkampf der siebziger Jahre gehörte. Eine neue Tagespresse, für die breite Öffentlichkeit konzipiert, machte diesen „Kulturkrieg"124 - zum zentralen Tagesereignis. Dichte Netzwerke von (Massen-)Vereinen auf protestantischer wie katholischer Seite verliehen den Konfessionen jeweils ein gewisses „Eigenleben" und schufen zwei oft nur in sich selbst existierende und auf sich selbst bezogene Kulturen, jeweils mit eigener Literatur, eigener Musik und eigenen Geschäften. Die neuen Formen einer quasi-Massenpolitik nach 1890 - eine differenziertere und engagiertere Parteienlandschaft und neue Massenvereine, die, wie heutige Lobby-Gruppen, sich heftig in einzelne Themen der Politik einmischten - riefen erneut konfessionellen Streit hervor. 1886 wurde der Protestantische Bund gegründet, der eine Massenorganisation der (kultur-) protestantischen Mittelschichten wurde. 1891 verfügte der Verein bereits über 60000 Mitglieder, 1911 waren es 470000. Gleichzeitig konzentrierte sich der Gustav-Adolph-Verein auf die Unterstützung der „protestantischen Diaspora", also auf finanzielle Leistung für oft noch im Aufbau befindliche protestantische Gemeinden in überwiegend katholischen Ländern und Gebieten. Solche Vereine, so Nipperdey, entstammten „dem eigentümlichen Gefühl, daß der Protestantismus trotz seiner Modernität und seiner Nahstellung zum Reich dem Katholizismus mit wachsender Machtlosigkeit gegenüberstehe". Zwar hatten Protestanten vor dem Bund ein ausgedehntes Vereinswesen; dieses war aber mehr sittlich ausgerichtet: Es existierten Vereine gegen Trunksucht, Unsittlichkeit, für entlassene Strafgefangene und so weiter. Sie waren also weniger politisch-mobilisierend in ihrer Ausrichtung.125 Die Katholiken wiederum verfügten über ein enges und von Anfang an auch politisch mobilisierbares Netzwerk von Organisationen und Vereinen. Die Konfessionen, auch als Nachbarn, waren wie durch eine „unsichtbare Grenze" entzweit, gleichzeitig zusammen und getrennt.126 Eine solche Argumentation hat eine gewisse Logik. Dennoch: man sollte auch die Unterschiede zum „früheren" konfessionellen Zeitalter im 16. und 17. Jahrhundert nicht vergessen. Die Kulturkämpfe und konfessionelle Streitigkeiten des 19. Jahrhunderts wurden zwar mit scheinbar ähnlicher Intensität geführt; sie waren aber, wie Margaret Anderson jüngst bemerkte, keine wirklichen Kriege.127 Es durchquerten nicht Soldaten aus religiösen Gründen das Land, und es wurden nicht ganze Bevölkerungsgruppen aus religiösen Gründen gewaltsam umgesie- delt. Wie schon erwähnt, zog Frankreich 1870 seine Truppen aus dem Vatikan zurück. Warum? Um im Krieg gegen Preußen die Nation zu retten. Ein passendes Bild für die veränderten Prioritäten eines neuen Zeitalters: in den neuen Kriegen wurde für Staat, Nation und Vaterland gekämpft. Gott war bestenfalls sekundär. rd häufig als I7.jahrhun-