Streiken für gerechte Löhne. Große Teile der Bevölkerung finden die Forderung der Lokführer gerechtfertigt. Die Manager der Bahn sollten ihnen bessere Arbeitsbedingungen und ein höheres Entgelt anbieten. Dies soll zumindest die Geldentwertung der letzten Jahre und die politisch erzeugte zusätzliche Belastung an Gebühren und Mehrwertsteuern ausgleichen. Aber es soll sie auch fair an den Gewinnsteigerungen des Unternehmens beteiligen. Ärgerlich finden viele, dass die bisherigen Streiks vor allem die Pendler getroffen haben, wenngleich dies dem dummen Urteil des Chemnitzer Arbeitsgerichts zu verdanken war. Respekt gebührt den Lokführern, denen es erstmals seit langem gelungen ist, dem Arbeitgeber die Macht abhängig Beschäftigter zu demonstrieren, wenn sie solidarisch auftreten. Aber in diese Empfindung mischt sich eine Empörung darüber, dass diese Macht um den Preis einer Entsolidarisierung gegenüber den übrigen Kollegen der Bahn gewonnen wurde. Ist das Ausscheren der Lokführer aus der Tarifeinheit mit den Kollegen und Kolleginnen verwerflich? Die Lokführer sind mit den Stellwerkern der strategische Kern der Streikfähigkeit. Wenn sie Solidarität üben, können auch für die Kollegen am unteren Ende der Lohnskala gute Ergebnisse erstritten werden. Allerdings ist für sie als die Stärkeren der Preis der Solidarität besonders hoch. Getrennt von den anderen könnten sie für sich allein mehr durchsetzen, als wenn sie für die schwächeren Kollegen mitkämpfen. Wem muss nun die Zersetzung der Arbeitersolidarität zugerechnet werden? Wenn die Arbeitgeber gerade jetzt für die Einheit des Tarifvertrags eintreten, klingt dies ehrenwert, ist aber heuchlerisch. Denn es waren Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung geflüchtet sind, die aus einem einheitlichen Unternehmen Betriebsteile, Filetstücke und Risikopakete ausgegrenzt und abweichenden Arbeitsregelungen unterworfen haben. Die von ihnen durchgesetzte Flexibilisierung und Differenzierung hat allgemein höhere Arbeitszeiten und sinkende Löhne erzeugt. Wenn nun Berufsgruppen und kleinere Gewerkschaften 1 aus dem bunten Gemisch von Mega-Gewerkschaften ausbrechen, weil sie sich darin nicht vertreten fühlen, sollten die Wirkungen nicht zur Ursache erklärt werden. Die tarifliche Zersplitterung von Unternehmen und Branchen rückgängig zu machen, ist zu allererst Aufgabe der Arbeitgeber. Wer bestimmt den gerechten Lohn? "Leistung muss sich wieder lohnen", heißt es. Aber wie soll in einem arbeitsteiligen Prozess eine einzelne Arbeitsleistung identifiziert werden? Um wieviel Euro soll das Entgelt der Klofrau, des Zugbegleiters, des Stellwerkers oder des weiblichen Vorstandsmitglieds voneinander abweichen? Die Erwartung, dass allein die bessere Qualifikation zu mehr Verantwortung, zu höherer Stellung und zu mehr Einkommen führt, ist ein frommes Märchen. In der katholischen Sozialethik wird der gerechte Lohn dadurch bestimmt, dass er für den eigenen Lebensunterhalt und den der Familie ausreicht. Aber dies gilt nur solange, als an der Ein-Ernährerfamilie und der Nur-Hausfrau festgehalten wird. Wirtschaftsexperten halten eine Lohnforderung für gerechtfertigt, solange er unterhalb der Produktivitätsrate und der Inflationsrate bleibt, die von der Zentralbank angepeilt wird. Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft wird der Arbeitslohn um den Anteil verringert, den die Kapitaleigner oder deren Manager zur Finanzierung jener Investitionen zurückbehalten, die das zukünftige Wohlstandniveau aller erhöhen sollen. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass diese bloß dazu verwendet werden, das eigene Geldvermögen anzuhäufen. Der gerechte Lohn lässt sich nicht inhaltlich, nur formal bestimmen. Sobald eine paritätische Verhandlungsposition zwischen den Tarifpartnern besteht, also auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird, kann zu Recht vermutet werden, dass das Verhandlungsergebnis fair ist. Ohne wirksame Streikdrohung blieben die Lokführer kollektive Bettler. Frankfurter Neue Presse, 8.11.07, 4. 2 3