Beauvoir Thema 2: Was ist Macht? Macht über andere entsteht immer dann, wenn jemand mehr von etwas hat. Mehr körperliche Kraft, mehr Geld, mehr Land, mehr Intelligenz, mehr Autorität. Wenn jemand Macht hat, dann steht er eine Stufe über dem anderen; wir kennen das aus dem täglichen Leben. Auch wenn es in unserer Gesellschaft keine gottgegebenen Kasten mehr gibt, in die man hineingeboren wird und die zu dem Menschen gehören, ein ganzes Leben lang, wie sein Name oder seine Augenfarbe, so wäre es doch ein großer Irrtum zu glauben, wir stünden alle auf derselben Stufe. Dies beginnt schon bei der Geburt: Die Eltern haben Macht über das Kind, weil sie mehr Lebenserfahrung besitzen, mehr Geld um für die Bedürfnisse des Nachwuchses aufzukommen. Später sind es die Lehrer, die über uns Schülern stehen, weil sie die Macht haben unseren Lebensweg mit kleinen Nummern auf glänzendem Papier zu beeinflussen. Im Arbeitsleben schließlich der Chef, dem die Macht gegeben wurde seine Mitarbeiter zu belohnen oder sie auf die Straße zu setzen. Macht bedeutet auch immer Unterwerfung auf der anderen Seite. Wer etwas möchte, muss sich den Spielregeln unserer Gesellschaft unterwerfen und diese Regeln machen die Mächtigen. Natürlich könnte man einwerfen, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Grundsätze nach denen wir leben von uns allen mitgestaltet werden, aber um überhaupt in die Position zu kommen gestalten zu können, muss man sich dennoch zuvor den bereits bestehenden Regeln fügen oder auf eine andere Weise die Macht erlangen das bestehende System von außen zu stürzen. Wer aber in unserer Gesellschaft tatsächlich die Macht will, sie von innen zu verändern, der begibt sich auf das politische Paket. Hier stellt sich aber zum ersten Mal heraus, wie es wirklich um Macht bestellt ist: Eine demokratische Gesellschaft gibt ihren Vertretern Macht, Entscheidungen zu treffen, wenn sich die Vertreter vorher bewährt haben – was bewährt bedeutete ist dabei dem einzelnen Wähler überlassen. Sie stimmen zu, sich der Macht einiger weniger zu unterwerfen, damit diese im Sinne aller handeln. Ist das gerechte Macht? Sie scheint auf den ersten Blick auf jeden Fall gerechter oder gerechtfertigter als die selbstgerechte Macht von Diktatoren und Alleinherrschern, die damit nach ihrem Belieben verfahren ohne einen Gedanken an ihre Untergebenen zu verschwenden. Wenn aber die demokratische Macht eine gerechtere ist, warum ist die Macht der demokratischen Vertreter dann stets nur eine eingeschränkte? Die Aufteilung des Staates in Exekutive, Legislative und Judikative hat den Hintergrund zu verhindern, dass einer allein zu viel Macht anhäufen kann. Aber sollten wir nicht wollen, dass die gerechte Macht mächtig ist? Pascal scheint dieser Meinung zu sein, er sagt „Die Gerechtigkeit ohne Macht ist abzulehnen, da es ja immer auch böse Menschen gibt“. Warum beschränken wir also die Macht unserer Vertreter? Die Antwort ist ganz einfach: Auf diese Weise wollen wir sicher gehen, das die Macht auch tatsächlich gerecht ist und die Mächtigen in unserem Sinne handeln. Durch die Wahlen gewinnen wir als Kollektiv Macht über die Mächtigen und sie müssen uns überzeugen, dass sie tatsächlich gerecht sind. Doch selbst wenn die schließlich gewählt sind, ist ihre Macht nicht vollkommen. Beauvoir Wie lässt sich dies erklären? Ich würde mangelndes Vertrauen als Grund nennen. Würden wir unseren Vertretern vollkommen vertrauen, dass sie immer die richtige Entscheidung im Sinne des Volkes treffen, so spräche nichts dagegen sie mit einer vollkommenen Macht auszustatten. Ja, es wäre sogar sinnvoll, denn ohne Hürden wie Opposition oder Verfassung wäre es sogar wesentlich einfacher zu regieren. Ein solcher Vertreter müsste über jeden menschlichen Fehler erhaben sein, selbstlos, gerecht, allwissend. In letzter Konsequenz schließlich allmächtig. Es ist nicht schwer zu erkennen, auf was dies hinaus läuft: Ein solcher Herrscher, wäre kein Mensch, sondern ein gottähnliches Wesen. Seine gesamte Macht an einen solchen allwissenden und allgütigen Gott abzugeben, wäre eine weise Entscheidung. Unter einem solchen Herrscher kann ein Land, ja die ganze Welt und ihre Bewohner gedeihen! Das erklärt auch warum sich Menschen früher und teilweise auch heute noch breitwillige einem Stellvertreter Gottes auf Erden unterwerfen. In unserer säkularen Gesellschaft ist die allerdings keine Option mehr. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen, was „Gerechtigkeit “ denn nun wirklich ist und viele sind der Meinung, dass sich die Lösung von Problemen nicht einfach in einem jahrhundertealten Buch nachschlagen lässt. Als Menschen kennen wir außerdem unsere Fehler und Schwächen und um Missbrauch zu verhindern, muss die Macht geteilt und beschränkt werden. Aber was wenn es den „perfekten Menschen“ nun wirklich gebe? Machen wir ein Gedankenexperiment: Eines Tages spaziert das Gerechte in Form eines Menschen über unsere schöne Erde. Dieser Mensch hat alle Eigenschaften eines Gottes, ist allwissend, allgütig und gerecht. Nur das allmächtig fehlt noch. Also entscheidet sich dieser Mensch, der in einem Land mit einem demokratischen System wie dem unsrigen lebt, in die Politik einzusteigen. Vielleicht gründet er seine eigene Partei, scharrt Unterstützer um sich und kann schließlich bei den Wahlen antreten. Jetzt gilt es die Wähler zu überzeugen. Welche Art von Wahlkampf für ein Gott? Vielleicht hängt er Plakate auf, die für Nächstenliebe werben (allerdings im Gegensatz zu einer gewissen österreichischen Partei für solche Nächstenliebe die über die Landesgrenzen hinausgeht) oder er hält ergreifende Reden, in denen er in Gleichnissen beschreibt, wie die EU einem verlorenen Sohn gleicht. Vielleicht verzichtet er (oder sie natürlich) auch ganz auf den Wahlkampf und spendet das Geld lieber einer Organisation zur Heilung von Leprakranken in anderen Teilen der Welt. Da der perfekte Mensch allwissend ist, wüsste er genau auf welche manipulativen Strategien er zurückgreifen müsste, um die Stimme der Wähler zu erlangen. Aber ließe sich Manipulation mit seinem Allgütig-Sein vereinbaren? Hier stellt sich die Frage ob der Zweck wirklich die Mittel heiligt und schon befindet sich Gott aufgrund der Demokratie in einem Gewissenskonflikt. Nehmen wir aber an, er schafft es ohne Manipulation in die Regierung, vielleicht gelingt ihm auch das Wunder, die absolute Mehrheit zu erringen. Doch selbst dann ist er nicht allmächtig, denn absolute Mehrheit bedeutet nicht absolute Macht. Würde er diese anstreben, müsste er erst die Demokratie aushebeln oder gleich einen bewaffneten Putschversuch starten (was sich wiederum nicht so toll mit der Güte verträgt). Also schließen wir: Einem perfekten Herrscher/Mensch/Gott ist es zwar theoretisch möglich, Macht zu erlangen, allerdings nur Beauvoir vorausgesetzt das Volk erkennt ihn als solchen. Und selbst in diesem unwahrscheinlichen Fall, würde ihm unser demokratisches System nicht die Macht garantieren, die nötig wäre um aus unserer Welt einen „Himmel auf Erden“ zu machen. Wenn wir also davon ausgehen, dass „das Gerechte“ (und ich lasse absichtlich dahingestellt was genau dieses Gerechte ist) existiert, so verbauen wir uns mit der Demokratie jede Chance tatsächlich davon zu profitieren! Das mag auf den ersten Blick erschreckend wirken, aber drehen wir das Gedankenexperiment doch einmal um: Jetzt ist es nicht mehr das personifizierte Gerechte, das in die Politik einsteigt, sondern das Ungerechte (bzw. ich definiere das Ungerechte in diesem Kontext als die Abwesenheit von Gerechtigkeit). Der Teufel, wenn man sich zu Veranschaulichung der christlichen Mythologie bedienen will. Wir nehmen an, der Teufel ist genauso allwissend wie Gott, aber er will nicht den „Himmel auf Erden“ sondern einfach nur das Verderben für die Welt. Unter lügen und betrügen, vortäuschen falscher Tatsachen und Manipulation gelingt es ihm (oder ihr um konsequent zu bleiben) in die Regierung zu kommen. Doch – der Leser ahnt es bereits – auch da ist es mit der Allmacht nicht weit her. Bestimmt könnte jemand der „Macht ohne Gerechtigkeit“ gebraucht, viel Schaden anrichten, aber vor dem absoluten Verderben, wenn man so will, hätte sich die Demokratie erfolgreich geschützt. Wir Menschen gehen üblicherweise nicht davon aus, dass das durch und durch Gerechte – zumindest in Menschenform – existiert, aber wir gehen davon aus (und diese Annahme wird durch viele Beispiele aus der Geschichte und der Gegenwart bestätigt), dass zumindest das „wenig-Gerechte“, wenn nicht gar Ungerechte existiert . Um uns davor zu schützen, schränken wir die Macht, die jemand – ob gerecht oder ungerecht - erlangen kann gleich als solches ein. Denn beides ist nur schwer voneinander zu unterscheiden, unmöglich es gar vollständig zu trennen. Pascal ist der Meinung, man müsse die Gerechtigkeit und die Macht zusammenbringen, aber ich komme zu dem Schluss, dass solange es keine Möglichkeit gibt einwandfrei zu erkennen, was Gerechtigkeit ist und was nicht, solange ist es abzulehnen, all unsere individuelle Macht vollkommen abzugeben und nur noch zu folgen. Zweifellos wäre diese Art der Erkenntnis ein großer Segen für die Menschheit und obgleich wir uns nicht sicher sein können, ob wir diese jemals erlange, so erscheint es mir doch richtig als Individuum und als Gesellschaft immer danach zu streben, zu erkennen was Gut und Böse, Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist. Ich halte die Philosophie für ein brauchbares Mittel um dieses Streben zu unterstützen.