1 Prof. Dr. Dres.h.c. Ulfrid Neumann Sommersemester 2016 Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie Zusammenfassung 1. Stunde (13. April 2016) Thema: Warum ist der Staat keine Räuberbande? 1) Ausgangsfrage: Was ist der Unterschied zwischen der Erzwingung einer Schutzgeldzahlung“ an eine Mafia durch Entführung und Festhalten des Opfers einerseits, der Erzwingung der Abgabe einer Steuerzahlung/-erklärung durch Anordnung und Durchführung von Erzwingungshaft (§ 334 Abgabenordnung [AO]) andererseits? Generell: Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Auf diese Frage gibt es (zunächst) zwei mögliche Antworten. a) Die erste Antwort: Der Unterschied liegt in materialen Kriterien (Gerechtigkeit). Das ist die Antwort von Augustinus (354 – 430), der die rhetorische Frage stellt Was sind Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden? b) Die zweite Antwort: Der Unterschied liegt nicht im Gegenstand, sondern in unseren Deutungsmustern. Wir deuten die Befehle der Polizeibeamten als legitime Anordnungen staatlicher Instanzen. Das ist die Antwort von Kelsen (1881 – 1973). Mord und Todesstrafe unterscheiden sich nicht im Ablauf des Geschehens, sondern in seiner unterschiedlichen Deutung (vgl. Dürrenmatt, Die Panne). 2) Die Antwort von Augustinus hat einerseits mit dem Problem „ungerechter“ Staaten, andererseits mit dem Phänomen „gerechter“ Räuberbanden zu kämpfen. Einerseits gab es jedenfalls in früheren Zeiten Staaten, deren Regierungen eng mit der Mafia zusammenarbeiteten und ein engmaschiges System der Korruption etablierten (z.B. Kuba vor der Revolution). Andererseits gab und gibt es kriminelle Organisationen, die deshalb einen Rückhalt in der Bevölkerung haben, weil sie Teile ihrer illegalen Gewinne zur Verbesserung der sozialen Bedingungen der Unterprivilegierten verwenden (bestimmte Räuberbanden im 18. Jahrhundert; Drogenmafia in bestimmten lateinamerikanischen Staaten). 3) Realistischer ist deshalb wohl die Antwort Kelsens, der eine Orientierung am Kriterium der Gerechtigkeit schon deshalb ablehnen muss, weil er „Gerechtigkeit“ für eine Leerformel hält. Allerdings: es stellt sich dann ein Problem, wenn verschiedene Gruppen um die Anerkennung als legitime Staatsmacht konkurrieren. So haben sich nach 1917 Gerichte in den USA geweigert, Akte der revolutionären russischen Regierung anzuerkennen – mit der Begründung, es handele sich um eine Gangsterbande. Heute stellt sich das Problem in Ländern, die vom Bürgerkrieg zerrissen sind und in denen unterschiedliche Gruppierungen, die jeweils Teile des Territoriums beherrschen, beanspruchen, die legitime Herrschaft auszuüben. 4) Ein weiteres Problem stellt sich (insbesondere) bei der „formellen“ Betrachtungsweise von Kelsen: Warum sollte man (muss man?) die Anordnungen des „Staates“ als legitime Anordnungen und damit als Normsetzungen deuten? 2 5) Diese Frage verweist auf eine dritte mögliche Position zur Ausgangsfrage, die des Anarchismus. Repräsentanten: Proudhon, Bakunin, Kropotkin. Die Grundidee ist: die Beziehungen zwischen den Menschen sind horizontal zu regeln, durch Vertrag, nicht vertikal, durch (staatliche) Anordnungen. Von Ulrich Klug, einem renommierten Strafrechtler und Rechtsphilosophen, wurde die „Geordnete Anarchie“ als „Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaats“ proklamiert (Klug, Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, 1981, S. 88ff). Aber die Frage heißt hier natürlich, wie viel an (staatlicher) Herrschaft in der Voraussetzung der „geordneten“ Anarchie steckt. 6) Historisch und ideengeschichtlich steht der Anarchismus eher in einer „linken“ Tradition. Heute gibt es das Phänomen eines „rechten“, radikalliberalen Anarchismus (Hoppe, Der Wettbewerb der Gauner, 2012). Zentrale Thesen dieser radikalen Schrift, die in allen wichtigen Punkten zum Widerspruch (und damit zum Nachdenken) herausfordert: a) Die Demokratie führe zu einer Negativauswahl der politischen Führung, zur Kumpanei von Politikern und „schwerreichen Familien“ (S. 51); beim „demokratischen Wettbewerb“ handele es sich um einen „Wettbewerb der Gauner“ (S. 23). In der Demokratie sieht H. vor allem die Gefahr der „Umverteilung“ durch Steuergesetze etc. Die Demokratie sei „eine Form des Kommunismus“ (S. 29). H. wendet sich damit gegen den Sozialstaat. Bei dem Sozialstaat handele es sich um „Stehlen und Hehlen“ (S. 59). b) Ein Recht des Staates (dessen Legitimität ja generell bestritten wird) zur Erhebung von Steuern wird strikt verneint. Es ist bei H. gerade ein zentrales Argument gegen den Staat, dass dieser mit den Steuern einen Raub an den Bürgern begehe. „Steuern sind Diebstahl und Räuberei“ (S. 33). Außerdem erhebt H. den Vorwurf, der Staat entscheide durch seine Institutionen selbst auch über Konflikte, die er mit seinen Bürgern habe. Der Hinweis auf die Gewaltenteilung wird beiseite gewischt (S. 31), ebenso der auf den Wechsel der Inhaber der Regierungsgewalt in der Demokratie. c) Als Alternative zum Staat wird eine „Privatrechtsgesellschaft“ angeboten, in der alles vertraglich geregelt ist und kein „öffentliches Recht“ existiert (S. 52, 81). Auch das Sicherheitswesen soll privatisiert werden (Sicherheitsfirmen). Jeder erhalte so viel Sicherheit, wie es seiner Zahlungsbereitschaft entspreche (S. 84). Der Besitz von Waffen sei „sakrosankt“ (S. 82). – Was mit dem Strafrecht geschehen soll, bleibt offen, ebenso, wer die Ermittlungsbefugnisse der Sicherheitsfirmen bei der Aufklärung von Straftaten festlegen soll, ebenso, wer überhaupt definieren soll, was Straftaten sind. – Auch die Justiz soll, in Form von Schiedsgerichten, privatisiert werden. d) Mit der Ablehnung des „etatistischen“ Denkens bezieht H. klar und explizit eine anarchistische Position, und zwar als „libertärer Anarcho-Kapitalist“, S. 12, 56). Dieser Selbstbezeichnung entspricht die Fetischisierung des Eigentums und des Marktes bei H. 7) Die Frage der Legitimation staatlichen Gewalt kann mit Hinweis auf transzendente („Herrscher von Gottes Gnaden“) oder auf immanente Legitimationsmuster (Gesellschaftsvertrag, Demokratie) beantwortet werden (dazu näher nächste Stunde). 3 Literatur: 1. Augustinus, De Civitate Dei, Buch IV, 4-6 2. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 45ff. 3. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, Kap. 7