© Maximilian Kofler 13.04.2017 Bertrand Russel – Das ich im Röntgenschirm Das 20. Jahrhundert war in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit: (a) vernichtende Kriege (b) Verfolgung (c) Umsturz (d) Völkermord (e) Atombomben (f) Bedrohliche Bevölkerungsvermehrungen (g) Umweltgefährdung (h) Einzigartiger Aufschwung in der Wissenschaft Der letzte Punkt vermehrte nicht nur immens unser Wissen, sondern erschütterte vielmehr die Grundfesten unseres Weltbildes und nicht zuletzt die Sicherheit unseres Ichs. Im besagten Jahrhundert lockerte sich, wie sich bereits im 19. Jahrhundert abzeichnete, das Verhältnis zwischen Mathematik und Philosophie. Das kommt daher, dass viele neue Philosophen, wie auch Russel, sehr eng mit der Mathematik verbunden waren, welche eine kopernikanische Wende erlebt hatte ( nichteuklidische Geometrie1). Diese enge Verbundenheit beider Wissenschaften erkannte man zuletzt im „seculum mathematicum“ unter Descartes und Leibnitz. Revolutionäre Erkenntnisse, vor allem im Bereich der Physik2 leiteten eine Verwissenschaftlichung der Philosophie ein, welche auch die Biologie mit einbezieht. Als dann im frühen 20. Jahrhundert Einstein der Relativitätstheorie3, welche mit der nichteuklidischen Geometrie unser Weltbild stark verändert (Raum und Zeit sollen ja ganz anders sein, wie bisher immer angenommen; endlos, zusammenhängend in 4 Dimensionen und gekrümmt), eine praktische Bedeutung gibt, findet ein folgenreicher Paradigmenwechsel in der Philosophie statt. Weiters wird unser Weltbild sehr stark erschüttert, da die Physik in ein Atom eingedrungen ist und erkannte, dass der Atomkern nicht das Urprodukt der Welt und somit unserer und aller Existenz ist. Nach Einstein ist Materie ja, nach seiner berühmten Formel, ein Synonym für Energie: E mc 2 Der vom Marxismus4 begründete Materialismus5 ist damit unbrauchbar und wer dogmatisch an diesem festhält, missachtet Jahrzehnte von naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 1 Gauß, Boljai, Lobatschewskij Einsteins Relativitätstheorie, Max Plancks Quantenhypothese 3 Spezielle (1905) und allgemeine (1915) Relativitätstheorie 4 Von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie 5 Eine Lehre, nach der die gesamte Existenz auf Materie berüht 2 5b 2004/2005 © Maximilian Kofler 13.04.2017 Durch die Unendlichkeit der Materie erhält das Raum-Zeit-Verhältnis, das ohnehin durch Einsteins Relativitätstheorie geschwächt ist, eine neue Bedeutung. Das bedeutet auf unsere Welt bezogen, dass sie weder einen Anfand, noch ein Ende hat. Die Urknalltheorie sowie ihr Wärmetod sind nicht mehr denkbar wenn man den neuen Erkenntnissen trauen will. Auch die Kausalität6 wird neu diskutiert, wodurch man zum Begriff Wahrscheinlichkeit gelangt, welcher die Kausalität in ihrer Bezeichnung ersetzen soll. Eng verbunden und unter Berücksichtigung all dieser Veränderungen kommt es zu einer neuen Denkweise in Bezug auf Gesetze wie z.B. der Naturgesetze, welche nur mehr als menschliche Erfindungen und Konstruktionen unseres Denkens gelten. Der daraus entstehende Unsicherheitsfaktor relativiert den Begriff der Kausalität. Diese neu entstandene Denkweise wird als Konstruktivismus, auch bekannt unter der Bezeichnung Wirklichkeitsforschung, bezeichnet, dessen im deutschen Sprachraum bekanntester Vertreter Paul Watzlawick ist. Der Urvater aller Konstruktivisten ist sicherlich Kant, der uns im 1. Abschnitt der Unterrichtseinheit bereits ausführlich begegnet ist („Wir sind die Baumeister unserer Welt, jedoch das DING AN SICH ist unerreichbar für uns“). Die Grundfrage mit der sich der Konstruktivismus lautet daher erklärlicherweise: Ist das, was wir als „Wirklichkeit“ – auf Grund unserer Sinneseindrücke und deren Verarbeitung im Denkapparat – vorzufinden glauben, vielleicht in Wahrheit etwas von uns Erfundenes, eine Konstruktion? Wir wissen also weder, wie die Natur beschaffen ist, noch wie ihre Gesetze lauten. Es macht sich also eine große Unsicherheit breit, welche am Vorabend des 1. Weltkrieges sicher nicht gerade sehr aufmunternd ist. Nach dieser, mehr oder weniger kurzen Einleitung, möchte ich aber zum eigentlichen Thema des Abschnittes der Unterrichtseinheit kommen: Der Philosoph Bertrand Russel. Von manchen wird er ja gesagt, dass „ […]ein wesentlicher Teil der Geschichte der Philosophie die Geschichte der Entwicklung der Gedanken Russels war[…]“7. Bertrand Arthur William Russel wurde nach seinem Studium zuerst als Mathematiker bekannt, da er zusammen mit Alfred North Whitehead8 das monumentale Werk principia mathematica9 schuf, in welchem er nach den neuen Grundlagen der „revolutionierten“ Mathematik sucht. Seinen Bekanntheitsgrad erweiterte Russel im 1. Weltkrieg, als er durch seinen stark ausgeprägten Pazifismus und der Verweigerung des Kriegsdienstes für Aufruhr sorgte, für welchen er aber im Gefängnis büßen sollte. 6 Ursache-Wirkung-Prinzip Quelle: Ch. Helferich, Geschichte der Philosophie, 383 8 Professor Russels 9 3 Bände, 1910-1913 7 5b 2004/2005 © Maximilian Kofler 13.04.2017 Philosophische Bekanntheit erlangte Russel durch seinen logischen Atomismus, welcher besagt, dass das einzig leistungsfähige Erkenntnismittel die Naturwissenschaft sei und dass die Philosophie dieser ihre Fragestellung zu entnehmen habe. Die Philosophie sollte nach Russel metawissenschaftlich10 sein und nur Bereiche bearbeiten, welche der naturwissenschaftlichen Forschung (noch) nicht zugänglich sind, wobei sie aber bloß Probleme stellen, aber nicht lösen könne. Russel war also ein Musterbeispiel für einen Positivisten11. Nach ihm gibt es weder Materie, noch einen Geist (und somit auch keinen Gott) und auch kein Ich, sondern nur Sinnesdaten. Diese Einstellung trat vermehrt auf und wird durch das Aufleben des Positivismus als Neopositivismus bezeichnet und erreichte in einer machtvollen und geschlossenen Schule unter dem „Wiener Kreis“12 ihren Höhepunkt. Gegner dieses blinden Vertrauens an die Naturwissenschaft waren der Amerikaner Thomas Samuel Kuhn und der Österreicher Paul Karl Feyrabend. Erstgenannter sagt, dass die Wissenschaft sich nicht schrittweise, sondern in Sprüngen weiterentwickelt, die durch Anomalitäten hervorgerufen werden, die frühere Axiome widerlegen (sollen wir also an eine Wissenschaft glauben, die nicht richtig ist und ständig „verbessert“ wird). Er fordert auf, den Mut zu haben um neue Wege zu gehen. Feyrabend geht die ganze Sache noch krasser an ( sein Werk: Wider den Methodenzwang13), der sagt, dass man nur zu neuer Erkenntnis gelangt, wenn man sich nicht streng rigoristisch an vorgegebene Methoden hält. Er wirft den Neopositivisten ein Holzscheit zwischen die Beine. Beide Philosophen verursachen durch ihre Ansicht heftige Diskussionen mit anderen Wissenschaftstheoretikern, vor allem mit dem in Wien geborenen Karl Popper, der mit dem „Wiener Kreis“ in enger Verbindung stand, ohne diesem aber anzugehören. Ein weiterer Mann, Kurt Gödel14, sagte ausgehend von Russels „principia mathematica“, dass die Wissenschaft keine exakte Möglichkeit hat eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit zu schaffen. Damit wäre bewiesen, dass die Erkenntnis der Wissenschaft begrenzt ist. Im Zeitalter nach dem 2. Weltkrieg wird aber auch die Forderung stärker, die Wissenschaft zu beschränken, ihrer Erkenntnis Schranken zu setzen. Dabei soll nicht nur an die Atombombe, sondern auch unter anderem an Gentechnik gedacht werden. Nach der Wissenschaft tätig sein Metaphysik Positivismus, philosophische Strömung, die Erkenntnis ausschließlich aus Erfahrung und empirischem Wissen über Naturphänomene ableitet, Metaphysik und Theologie hingegen als zur Erkenntnisgewinnung unangemessen betrachtet 12 Auch Wiener Schule, eine Gruppe von neopositivistischen Wissenschaftlern und Philosophen, die um 1923 aus einer Diskussionsrunde um Moritz Schlick an der Universität Wien hervorging 13 Mit dem Untertitel: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie 14 (1906-1987), österreichischer Mathematiker und Logiker 10 11 5b 2004/2005