Chopin vier Balladen und Auffü hrungspraxis Yung-Yu Liang Wissenschaftliche Masterarbeit Universität fü r Musik und darstellende Kunst Graz Institut 15 Alte Musik und Auffü hrungspraxis Betreuer Ao.Univ.Prof. Mag.art. Mag.phil. Dr.phil. Klaus Hubmann Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................................... 2 1. Chopins Biographie, der Einfluss der damaligen Epoche und die Eigenheiten seines Stils .................................................................................................................. 5 2. 1.1. Biographie ..................................................................................................... 5 1.2. Einfluss der damaligen Epoche ..................................................................... 8 1.3. Charakteristika von Chopins Stil .................................................................. 10 Ballade ................................................................................................................ 12 2.1. Ursprung der Ballade (von der Wurzel bis in die Romantik) ......................... 12 2.2. Chopins Balladen ........................................................................................ 13 3. Ein bedeutender Charakter – Adam Mickiewicz .............................................. 16 4. Die vier Balladen ................................................................................................ 21 4.1. Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23 ...................................................................... 21 4.2. Ballade Nr. 2 in F-Dur op. 38 ....................................................................... 24 4.3. Ballade Nr. 3 in As-Dur op. 47 ..................................................................... 28 4.4. Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52 ....................................................................... 31 5. Chopins bevorzugtes Fabrikat – der Pleyel-Flü gel.......................................... 35 6. Auffü hrungspraxis ............................................................................................. 38 6.1. Unterschiede zwischen Hammerflügeln und modernen Flügeln .................. 38 6.2. Das tempo rubato ........................................................................................ 44 6.3. Chopins Artikulation – Legato und Legatissimo ........................................... 53 6.4. Chopins individuelles Fingersatzsystem ...................................................... 56 6.5. Chopin-Akkord............................................................................................. 62 6.6. Musikalische Verzierungen .......................................................................... 65 6.7. Chopins Pedalverwendung .......................................................................... 73 Zusammenfassung ..................................................................................................... 80 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 82 1 Vorwort Der polnische Komponist und Pianist Frédéric Chopin war ein Repräsentant der Romantik. Chopin zeigte groß e Begeisterung für das Klavierspiel und das Komponieren, dies ist anhand seiner kreativen Klavierwerke unschwer zu erkennen. Seine Werke – die zum groß en Teil für Klavier komponiert sind – enthalten szenische Erzählungen, reichhaltige Harmonien, berührende Cantabile-Melodien, bewegte Rhythmen und die Seele der polnischen volkstümlichen Musik. Die musikalischen Merkmale Chopins sind die eigenartige, feine Artikulation, schwierig auszuführende pianistische Spieltechniken, das graziöse Melos, eine inhaltsreiche Imaginationen sowie sehr innerliche emotionale Darstellungen. Chopin kann man nicht nur als „Komponisten“, sondern auch als „pianistischen Dichter“ bezeichnen. Unter seinen Kompositionen gelten die vier Balladen als jene Werke, welche am eindeutigsten zur musikalischen Poetik gezählt werden können. Chopins vier Balladen sind jene Werke, welche die ausgereiften Kompositionstechniken der Blütezeit seines kompositorischen Schaffens (18351842) widerspiegeln. Es ist für einen Pianisten mühevoll, Chopins musikalische Sprache und seine dramatischen, aber auch empfindlichen Emotionen zu interpretieren. Die Ballade erzählt, wie der Name andeutet, eine Geschichte oder eine Begebenheit. Zunächst schien die Ballade als oft verwendetes volkstümliches Tanzlied im hohen Mittelalter auf. Danach entwickelte sich im 19. Jahrhundert die instrumentale Ballade als neue Gattung, deren erste Belege – zunächst von der literarischen Ballade ausgehend – von Chopin komponiert wurden. 2 In Zusammenhang mit Chopins vier Balladen muss man den polnischen Dichter Adam Mickiewicz erwähnen. Chopin war stark von ihm beeinflusst, da er sich mit Mickiewicz’ Gedichten intensiv beschäftigte und sie beispielsweise auch als Kompositionsvorlagen verwendete. Darauf wird im Kapitel über diesen Dichter eingegangen. Eine Besonderheit von Chopins Balladen ist die musikalische Form, die frei wie eine Fantasie ist, die keine Beschränkungen und noch mehr Freiräume hat. Die Stimmung der Balladen Chopins ist vielfältig. Sie weisen starke Charakterzüge und Kontraste auf, wie Tempoänderungen, die dramatische Dynamik, musikalische Szeneänderungen und Chopins individuelle Harmonik mit dem „Chopin-Akkord“. In meiner wissenschaftlichen Arbeit werde ich mich nicht nur mit dem Hintergrund der Balladen Chopins befassen, sondern auch mit der Aufführungspraxis bzw. mit Chopins Artikulationen (Rubato, Legatissimo, Pedal, Verzierung und Chopin-Akkord) und dem Klang des damaligen Hammerflügels. 3 Abb. 1: Frédéric Chopin. Bleistiftzeichnung von Franz Xaver Winterhalter 1847. 4 1. Chopins Biographie, der Einfluss der damaligen Epoche und die Eigenheiten seines Stils 1.1. Biographie Frédéric Chopin war ein polnisch-französischer Komponist, Pianist und Pädagoge, der in der Ortschaft Żelazowa Wola in der Nähe von Warschau am 22. Februar 1810 geboren wurde. Obwohl Chopin in einem aristokratischen Kreis lebte und er oft im höfischen Pariser Salon1 auftrat, war er dennoch nicht von adliger Herkunft, sondern stammte aus einer etablierten Mittelstandsfamilie. Sein Vater Nicolas Chopin, ein Franzose, hatte sich 1787 in Polen niedergelassen und war Lehrer am Warschauer Lyzeum geworden. Er war ein Patriot, er nahm die polnische Staatsbürgerschaft an und kämpfte im RussischPolnischen Krieg (1792) und im Kościuszko-Aufstand (1794) auf polnischer Seite. Nach dem Untergang Polens durch die zweite Teilung verdiente er seinen Unterhalt als Hauslehrer für die französische Sprache beim Grafen Skarbek in Żelazowa Wola. In dieser Zeit lernte Nicolas seine spätere Frau Justyna Krzyżanowska kennen und verliebte sich in sie. Justyna war eine verarmte Verwandte der Skarbeks, die dort als Haushälterin arbeitete. Sie konnte Klavier spielen, verfügte über eine gute Singstimme und hegte groß e Leidenschaften für das polnische Volkslied. Es ist verständlich, dass sich Chopin für die Oper begeisterte, wurde er doch von seiner Mutter mehr oder weniger dahingehend beeinflusst. Auß erdem war er wie sein Vater ein Patriot. Chopins Eltern heirateten im Jahr 1806 und die Familie verlegte ihren Wohnsitz nach Chopins Geburt im Jahr 1810 nach Warschau. 1 Pariser Salon: Der Salon war kultureller Treffpunkt der adeligen Gesellschaft und wurde im 19. Jahrhundert in Frankreich als Mittelpunkt der Kunstausübung ansehen. Ü blicherweise fanden diese Zusammenkünfte in Privatwohnungen statt. 5 Die gesamte Familie war künstlerisch begabt, der junge Chopin zeigte allerdings eine außergewöhnliche Begabung. Das musikalische Talent Frédéric Chopins zeigte sich schon in sehr frühen Jahren. Chopin erhielt seinen ersten Klavierunterricht mit sieben Jahren bei Vojtěch Živný. Schon bald bat man ihn, auf Privatgesellschaften angesehener Warschauer Familien zu spielen. Sein erstes Konzert bestritt er mit acht Jahren mit einem Konzert des böhmischösterreichischen Komponisten Adalbert Gyrowetz. Ab diesem Zeitpunkt trat Chopin in den Salons des polnischen Hochadels und der Aristokratie auf. Seine frühen Tanzstücke lehnten sich stilistisch meist an den Salonstil seiner polnischen Zeitgenossen und deren unmittelbare Vorgänger an. Chopins Stil wurde zum Teil später durch die Kompositionsweise J. S. Bachs und die Wiener Klassik, die ihm durch seinen Lehrer und das Konservatorium vermittelt wurden, stark beeinflusst. Im Jahr 1822 wechselte Chopin zum berühmteren Józef Elsner, um Privatstunden in Musiktheorie und Komposition zu nehmen. Chopin setzte den Unterricht bei ihm auch fort, als er 1826 ins Konservatorium eintrat. Elsner achtete im Unterricht auf die Entwicklung des persönlichen Stils der Studenten, und ermöglichte auch Chopin die gute und freie Entfaltung seines Stils. Chopins künstlerische Reife zeigte sich bereits in den Jahren 1827/28, als er die Variationen über „Là ci darem la mano“ op. 2 komponierte, die er seinem Freund Tytus Woyciechowski widmete. Dieses Werk verhalf Chopin zur Berühmtheit. In der deutschen Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 7. Dezember 1831 schrieb Robert Schumann eine Rezension, die Chopin in den allerhöchsten Tönen lobte: „ Hut ab ihr Herren, ein Genie“. Chopin trat in weiterer Folge zwischen 1829 und 1831 bei vielen Konzerten in Warschau, Paris und Wien auf, und seine Auftritte wurden in vielen Veröffentlichungen hoch geschätzt. Während seinen vielen Konzertreisen zwischen 1829 und 1831 kam es zum 6 Novemberaufstand (Polnisch-Russischer Krieg 1830/1831). Chopin vernahm diese Nachricht, aber er konnte wegen seines schlechten Gesundheitszustands nicht an den Kämpfen der polnischen Truppen teilnehmen. Kurz danach, als er durch Stuttgart fuhr, erfuhr er von der Niederschlagung des Aufstands des Fürstentums Warschau durch die zaristischen Truppen, was Chopin zu dieser Ä uß erung veranlasste: „All dies hat mir viel Schmerz verursacht. Wer hätte es vorgesehen!“.2 In tiefer Trauer komponierte er die kraftvolle und emotionale 12. Etüde „Revolution“ aus den Etüden op. 10. Anhand dieses Werkes kann man erkennen, dass Chopin sich nach seinem Vaterland stark sehnte. Chopin trat oft in Salons auf, wo er viele Künstler kennenlernte. Zu einigen von ihnen, zum Beispiel zum polnischen Dichter Adam Bernard Mickiewicz, zum französischen Maler Ferdinand Victor Eugene Delacroix, zum ungarischen Komponist Franz Liszt und zur französischen Romanschriftstellerin George Sand, entwickelte sich eine gute Freundschaft. Vor allem Mickiewicz und Delacroix waren Inspirationsquellen für Chopins Kompositionen. Die Geschichte von Chopin und Madame George Sand auf Mallorca ist bereits oft erzählt worden. Ab ihrer ersten Begegnung standen Chopin und Sand in engem Kontakt. Ende Oktober 1838 unternahm Chopin mit Sand und ihren zwei Kindern Maurice und Solange eine Reise nach Mallorca, aber schon bald wurde der wunderbare Urlaub durch Chopins Gesundheitszustand, der sich zunehmend verschlechterte, vereitelt. Bei dem ungewöhnlichen feuchtkalten Wetter war er an Tuberkulose erkrankt. Trotz dieser Umstände vollendete Chopin seine 24 Préludes und die zweite Ballade op. 38. Madame Sand sorgte sich um Chopins gesundheitliches Befinden, und so brachte sie Chopin zu ihrem Landsitz Nohant 2 James Huneker: Chopin.The Man and His Music, o.O. 2008, S.30. übers. von Liang Yung-Yu. 7 mit. „Nohant hat Chopins Leben verlängert, denn wohl oder übel muß te er einige Monate des Jahres im Grünen verbringen. Wenn er auch eher ein Stadtmensch war ― hier jedenfalls, in dieser Atmosphäre ländlichen Schloßlebens, war für lange Zeit seine Arbeitsstätte.“3 Während dieser mit George Sand verbrachten Zeit komponierte Chopin viele Meisterwerke, wie die Sonate b-Moll op. 35, das Scherzo op. 39, die zweite der Polonaisen op. 40 u. a. In den folgenden Jahren 1840 bis 1846 hielt sich das Paar regelmäß ig zur Sommerfrische in Nohant auf, und es entstanden die wunderschöne dritte und vierte Ballade. Neben den umfassenden Besuchen der Salons war Chopins Leben in der Winterzeit dem Unterrichten gewidmet. Zu Beginn der 1840er-Jahre wurde Chopin als Klavierlehrer bekannt. Es sind ungefähr 150 Namen derjenigen überliefert, die zum groß en Teil für kurze Zeit bei ihm studiert haben. In Februar 1848 gab Chopin sein letztes Konzert in Paris. Nach diesem Konzert war er schon schwer erkrankt, dennoch reiste er nach England sowie Schottland, und spielte sogar für die englische Königin. Wegen seiner sich zunehmend verschlechternden Erkrankung kehrte er nach Paris zurück, wo er am 17. Oktober 1849 an Tuberkulose starb. 1.2. Einfluss der damaligen Epoche Während der Lebenszeit Chopins fanden einige Ereignisse in Europa statt, die das menschliche Leben und Denken stark beeinflusst haben. In diesem Zusammenhang muss z. B. die Französische Revolution (Ende des 18. Jh.) erwähnt werden, die als Ziel u. a. die Abschaffung des Ständestaates hatte und wo man versuchte, das Motto Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu 3 Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960, S. 89. 8 verwirklichen. Der Widerspruchsgeist breitete sich sehr bald in ganz Europa aus, wobei es natürlich auch Auswirkungen auf die literarischen und künstlerischen Werke gab. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einige patriotische Denker und Musiker, die für Freiheit und Gleichheit eingetreten sind und deren Werke heftige persönliche Emotionen widerspiegeln und einen nationalen Stil aufweisen. In Hinsicht auf die europäische Literatur gelten England, Deutschland und Frankreich als wichtige literarische Entwicklungsorte. Als wichtige Literaten sind beispielsweise der englische Dichter John Keats (1795–1821), der „Beauty is truth, truth beauty, —that is all“4 initiierte, zu nennen; der deutsche Dichter Heinrich Heine (1797–1856), der die Befreiung der Menschheit und den Ausdruck des Gefühls initiierte; die französische Schriftstellerin George Sand (1804–1876), die initiierte, dass Emotion durch die Räson ersetzt wird. In Hinsicht auf die europäische Musik gab es eine Tendenz zur Freiheit, Einzigartigkeit und zum persönlichen emotionalen Ausdruck. Die musikalische Form wurde von den Regeln der Klassik befreit; bezüglich des Rhythmus wurden komplizierte, unregelmäß ige und freie Modelle bevorzugt; in der Harmonik kommen Non-, Undezim- und sogar Tredezimakkorde vor, und es wurde häufig in nicht verwandte Tonarten moduliert. Durch den Anstieg des nationalen Bewusstseins verwendeten viele Komponisten in ihren Werken volksmusikalische Motive. Ü berdies gab es eine häufigere Verwendung von differenzierten Vortragsbezeichnungen und dynamischen Kontrasten, um als Komponist die Emotionen ausdrücken zu können. 4 Aus dem Poem „Ode on a Grecian Urn“ von John Keats. 9 1.3. Charakteristika von Chopins Stil 1.3.1. Einfluss des polnischen Liedes Die Motivik der Werke Chopins wurde zum Groß teil durch das polnische Volkslied beeinflusst, so sind dessen Spuren z. B. in den Etüden, Nocturnes, Mazurkas, Balladen, Scherzi und Fantasien zu finden. Das polnische Volkslied weist in sehr vielen Fällen eine tänzerische Form auf, so liegen auch mehr als einem Viertel von Chopins Werken eine Tanzform bzw. ein Dreiertakt zugrunde. Darüber hinaus stehen polnische Volkslieder oft in Kirchentonarten, deren Spuren in Chopins Mazurkas häufig vorkommen. Obwohl Chopin in jungen Jahren sein Vaterland verließ , kann man in seinen Werke dennoch seine Vaterlandsliebe bemerken. Im folgenden Abschnitt wird auf das polnische Volkslied Mazurka eingegangen, das in Bezug auf Chopins vier Balladen eine wichtige Rolle einnimmt. 1.3.2. Mazurka Der Tanz Mazurka, dessen Name von der polnischen Landschaft Masowien (Polnisch: Mazowsze) hergeleitet wurde, ist eine Synthese der drei polnischen Volkstänze Mazurek, Kujawiak und Oberek. Mazurek ist ein langsamer Volkstanz, der sich in der vornehmen polnischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert groß er Popularität erfreute und sich ab dem 18. Jahrhundert in andere europäische Staaten ausbreitete. Der typische Rhythmus des Mazureks ist oder . Kujawiak ist ein bäuerlicher Tanz, dessen Tempo um einiges langsamer als das des Mazureks ist. Die Musik steht häufig in Moll und deren Melodik weist zum groß en Teil einen empfindsamen Ausdruck auf, weswegen die Musik eine 10 massive melancholische Stimmung. Der typische Rhythmus des Kujawiak ist . Der Oberek ist ein schneller Tanz, der nach dem Kujawiak folgt. Weil sein Tempo schnell ist, weist seine Musik einfache Rhythmen auf. Ein weiteres Charakteristikum sind die groß en Intervallsprünge in der Melodik. Der Rhythmus des Obereks ist . Die drei polnischen Volkstänze, die oben angesprochen wurden, haben als unschwer zu erkennendes gemeinsames Merkmal den Dreiertakt und die ungewöhnlichen Betonungen auf der zweiten oder dritten Zählzeit. Die Mazurka nimmt in Chopins Œuvre den umfangreichsten Platz ein und weist üppige Stimmungen und Eigenarten auf, so zum Beispiel die Synthese des Zweier- und Dreiertaktes (op. 33, Nr. 4), die Verwendung von verschiedenen Kirchentonarten (op. 24, Nr. 2); die Nachahmung des Volksinstruments Dudelsack (op. 6, Nr. 3); die Verwendung chromatischer Wirkungen (op. 56, Nr. 2); die Verwendung symphonischer Wirkungen (op. 41, Nr. 1; op. 59, Nr. 3; op. 63, Nr. 1). Die wichtigste erwähnenswerte Spielweise, die in den Werken Chopins gefordert ist, ist das Tempo Rubato. Dieses beruht auf dem Impuls, der eine wesentliche Rolle in den tanzartigen Werken spielt. Auf dieses Thema wird im Kapitel Aufführungspraxis genauer eingegangen. 1.3.3. Absolute Musik5 Chopins Werke haben quasi keine Titel, in diesem Punkt unterscheidet er sich von der typischen romantischen Praxis. Er beschrieb seine Werke absichtlich 5 Absolute Musik: Eine Instrumentalmusik, die keine auß ermusikalischen Inhalte darstellt, also zweckfrei ist. Im weiteren Sinn bezeichnet der Begriff ein Werturteil über das „Wesen“ der Musik oder eine höchste Qualität von „Reinheit“ und „Vollkommenheit“ in der Musik. 11 nicht, um einen Freiraum für die Vorstellungskraft der Pianisten und Zuhörer zu lassen. Aus diesem Grund gilt er als Komponist absoluter Musik, nicht jedoch der Programmmusik6. 1.3.4. Charakterstück Viele Werke Chopins, wie die Préludes, Nocturnes, Impromptus, Scherzi und Balladen, sind Charakterstücke. Ein Charakterstück besteht nur aus einem einzigen Satz und es weist eine freie dreiteilige, und in manchen Fällen auch zweiteilige Form auf. Es soll ein bestimmtes Temperament, einen Charakterzug nachzeichnen sowie eine bestimmte Stimmung ausdrücken. Manche Werke wurden von ihren Komponisten mit einem Titel versehen, der einen Querverweis auf die Literatur, Poesie oder Erzählung darstellt, z. B. Schumanns Papillons op. 2 und Carnaval op. 9 und andere. 2. Ballade 2.1. Ursprung der Ballade (von der Wurzel bis in die Romantik) Ballade („ballata“, „ballada“, „balada“ = „Tanzlied“) ist im hohen Mittelalter ein einstimmiges Tanzlied, das der okzitanischen Sprache der südfranzösischen mittelalterlichen Trobadordichtung entstammt und dessen feste Form von den Trobadors und Trouvères ausgebildet wurde. Die ersten schriftlichen Ü berlieferungen der Ballade stammen aus dem Roman de Fauvel aus dem 13. Jahrhundert. Dieser weist einen episch-fiktionaler Charakter auf; es gibt zum Teil 6 Programmmusik: Eine Instrumentalmusik, die einem auß ermusikalischen Programm folgt, das eine bestimmte Vorstellung von Bildern oder Geschichten schaffen soll und beispielsweise durch beigegebene Ü berschriften und Titel verdeutlicht wird. 12 refrainartige Bestandteile wie Rondeau, Virelai und Ballata; der Text ist meist gereimt und strophisch. Diese literarische und musikalische Gattung wurde zunächst von Adam de la Halle (1220–1288) und Jehannot de Lescurel (✝1303) seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich gepflegt. Danach war die Blütezeit der Ballade mit Guillaume de Machaut (1300–1377) und Eustache Deschamps (1345–1404) und Anfang des 15. Jahrhunderts mit Christine de Pisan (1364– 1429) und Charles d’Orléans (1394–1465) anzusetzen. Die Ballade entwickelte sich schnell zu einer eigenen unabhängigen literarischen Form, die zunächst einstimmig und dann mehrstimmig vertont wurde. Einer Strophe entsprechen zwei musikalische Perioden: Die erste wird wiederholt (Stollen), die zweite, der am Ende oft der Refrain folgt, erscheint nur einmal (Abgesang). Die Form der Ballade ist demzufolge AAB oder AABR (Refrain). Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich die instrumentale Ballade, die vor allem im Bereich der Klaviermusik angesiedelt ist. Sie ist wie das Charakterstück in ihrer musikalischen Form frei. Die ersten instrumentalen Balladen wurden von Chopin verfasst, weitere Werke dieser Gattung folgten von Johannes Brahms, Franz Liszt und Claude Debussy. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schuf Gabriel Fauré eine Ballade mit einer größ eren Besetzung. Er komponierte die dreisätzige Ballade für Klavier und Orchester op. 19 (1881), deren Bandbreite vom Elegischen bis zum Virtuosen reicht. Sie war Vorbild für die polytonale, kontrastreiche Orchesterballade von Darius Milhaud (1920). 2.2. Chopins Balladen „Das Wort ‚Ballade‘ trug wohl zuerst Chopin in die Musik über“, schrieb R. Schumann am 25. Oktober 1842 in der Neuen Zeitschrift für Musik (Jg. 34, Bd. 17, S. 142). Chopin komponierte insgesamt vier Balladen zwischen 1831 und 13 1842. Diese Balladen gelten als seine Meisterwerke und zählen auf jeden Fall zum Standardrepertoire von Pianisten. Die Werke weisen eine groß e Konzentriertheit, formale und klangliche Originalität sowie dramatische Durchschlagskraft auf. Sie stellen eine Neuschöpfung dar – ein Instrumentalgedicht, in dem es wie bei Chopins Scherzi kein Formgerüst gibt. Es zeigt sich eine enge Beziehung zwischen seinen Balladen und Scherzi, da sie viele inhaltliche Ä hnlichkeiten aufweisen: „Es sind gewaltige, eruptive Werke mit hohem Intensitätsgrad und konvergierendem Charakter. Die Balladen enthalten Scherzoelemente und die Scherzi Balladenelemente.“7 Des Weiteren liegen die Entstehungszeiten der Scherzi und Balladen nahe beieinander: Sowohl das 1. Scherzo als auch die 1. Ballade wurden 1835 komponiert; das 2. Scherzo 1837 und die 2. Ballade 1839; zwischen dem 3. Scherzo aus dem Jahr 1839 und der 3. Ballade aus dem Jahr 1841 liegen nur zwei Jahre; aus dem selben Jahr – 1842 – stammen das 4. Scherzo und die 4. Ballade. Unter anderem Franz Liszt, Johannes Brahms und Edvard Grieg folgten ihm, so z. B. Liszts Balladen in DesDur und h-Moll, Brahms Balladen op. 10 und Griegs Ballade in g-Moll. Die gewichtigsten Werke aus Chopins Balladenzyklus sind die erste und vierte Ballade, die sowohl eine relativ größ ere Struktur aufweisen als auch etwas länger als die beiden mittleren sind: 1. und 4. Ballade dauern neun bis zwölf Minuten; die 2. und 3. Ballade hingegen sieben bis acht Minuten. Chopin beschäftigte sich hier gleichzeitig mit den und gegen die überlieferten Formen, insbesondere mit der Dreiteiligkeit (A-B-A), dem Sonatensatz und der Variation. Am komplexesten zeigt sich dies in der vierten Ballade, denn hier werden „durchkomponierte, richtungsorientierte Strukturen in den Vordergrund [gestellt], bei denen 7 Ulrich Erckenbrecht: Brief über Chopin. Erläuterung einer Vorliebe, 1. Aufl., Kassel 2002. S. 63. 14 Veränderung und Variation Entwicklungsfunktionen erfüllen und Integration und Synthese zwischen Sonatenform und Variationenprinzip als wesentliche Ziele gelten“8. Obwohl die verwendete „Sprache“ in den Balladen die „Musik“ ist, zeigt sich dennoch Chopins polnischer Hintergrund. Seine Balladen, die den Nationalgeist verströmen und Elemente des volkstümlichen Tanzliedes enthalten, werden durch das fließ ende, tanzartige 6/4- bzw. 6/8-Zeitmaß bestimmt. „In diesen Stücken erleben wir jenen Dualismus, der Chopin nicht nur als Musiker prägte, sondern auch als Mensch – Krieger, kampfbereit bis lauernd und im übertragenen Sinne zuschlagend dort. Delacroix hat ihn so gesehen, erkannt und auf die Leinwand gebannt... Da Chopin erst in Paris begann, Balladen zu komponieren, liegt es nahe, dass sich hier seine Sehnsucht nach der Heimat Ausdruck verschafft.“9 Wenn man die Balladen Chopins betrachtet, muss man auch auf den wichtigsten Dichter der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, eingehen. Es ist ein nach wie vor umstrittenes Thema, ob Chopin auf Mickiewicz Bezug nimmt, da es keinen unmittelbaren Beleg dafür gibt und überdies in Chopins Balladen kein Hinweis auf literarische Vorlagen zu finden ist. Die Balladen kann man natürlich auch als absolute Musik ansehen. Aber man ist sich sicher, dass Chopin und Mickiewicz durch eine tiefe Freundschaft verbunden waren und Chopin zweifellos durch Michiewicz’ „Litauische Balladen“ inspiriert wurde; Schumann berichtet, dass Chopin „zu seinen Balladen durch einige Gedichte von Adam Mickiewicz angeregt worden sei“ 10 . Im nächsten Abschnitt wird auf diesen 8 Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 233. 9 Christoph Rueger: Frédéric Chopin. seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 268. 10 Martin Kreisig (Hg.): Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 5. Aufl. Leipzig 1914, Bd.2, S. 32. 15 polnischen Dichter eingegangen. 3. Ein bedeutender Charakter – Adam Mickiewicz Adam Mickiewicz gilt als polnischer Nationaldichter und Hauptvertreter der polnischen Romantik. Mickiewicz wurde am 24. Dezember 1798 in Zaosie (Nowogródek, Litauen) geboren und im Geist eines aufgeklärten Patriotismus erzogen. Mickiewicz’ Kindheit unter dem einfachen Landvolk mit seinen Märchen, seiner Sagenwelt und seinen Sehnsüchten schlug sich später im dichterischen Werk deutlich nieder. Mickiewicz betätigte sich in der Befreiungsbewegung, wurde danach inhaftiert und schließ lich verbannt. In weiterer Folge reiste er durch Westeuropa, begegnete Goethe in Weimar und lehrte schließ lich Slawistik in Paris. Als er mit französischer Unterstützung in Konstantinopel polnische Soldaten für den Krimkrieg gegen Russland anwarb, starb er 1855 an der Cholera. Er lernte in den Salons den Komponisten Chopin kennen, der von seinen Gedichten stark beeinflusst wurde. Die Werke Mickiewicz’ fanden Niederschlag in Chopins instrumentalen Balladen, aber seine Gedichte wurden von Chopin auch als Libretto verwendet, z. B. im Zyklus Polnische Lieder op. 74, Nr. 6 und Nr. 12. Der Text wurde aus dem Polnischen ins Deutsche von Wilhelm Henzen und Max Kalbeck übersetzt. (Notenbsp. 1) 16 Notenbsp. 1: Polnische Lieder op.74, Nr. 6 (Chopin). 17 18 19 Folgende Tabelle listet die Werke Adam Mickiewicz’ chronologisch auf. Jahr 1822 Werke Poezje I (Dichtungen I) Ballady i romansy (Balladen und Romanzen) 1823 Poezje II; Grazyna; Dziady, Część II & IV (Ahnenfeier, Teil II & IV, Drama) 1826 Sonety krymskie (Krimsonette) 1828 Konrad Wallenrod (Drama), Farys 1832 Dziady, Część III; Ksiêgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego (Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft) 1833 Poezje III (Dichtungen III) 1834 Pan Tadeusz (Herr Thaddäus, Versepos) 1845 Cours de la littérature slave (Vorlesungen zur slawischen Literatur) 1849 Mitbegründer und Redakteur von „La Tribune des Peuples“. Les slaves 20 4. Die vier Balladen 4.1. Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23 Abb. 2: Manuskript der ersten Ballade11 Die Arbeit an der ersten Ballade, die dem Hannover’schen Gesandten von Stockhausen gewidmet ist, nahm vier Jahre in Anspruch, bevor Chopin sie im Jahr 1835 vollendete. Diese Komposition ist das erste Instrumentalwerk in der Musikgeschichte mit dem Titel Ballade. Der polnische Volksheld Konrad Wallenrod steht hier an zentraler Stelle, denn er ist Handlungsträger des gleichnamigen Gedichts 12 von Mickiewicz, von dem Chopin möglicherweise inspiriert wurde. „Auf einem ausgelassenen Bankett rühmt Konrad Wallenrod, bereits unter Alkoholeinfluss, die heroischen Mauren, die sich an ihren 11 Ernst Burger: Frédéric Chopin. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, München 1990. 12 Konrad Wallenrod ist ein Versepos, das im Jahr 1828 von Adam Mickiewicz geschrieben wurde und im Litauen des 14. Jahrhunderts spielt. Mickiewicz schrieb dieses Versepos, das den polnisch-litauischen Patriotismus anfachen sollte, vor dem Hintergrund des wachsenden Widerstands der Polen gegen die russische Herrschaft. Im November 1830 kam es dann zum ersten polnischen Aufstand seit dem Wiener Kongress, dem sogenannten Novemberaufstand. 21 Unterdrücken auf folgende grausame Weise rächten: Sie infizieren sich freiwillig, um dann den Spaniern in scheinheiligen Umarmungen Lepra, Pest und andere unheilbare Krankheiten zu bringen. Auch er, Wallenrod, würde im Notfall so handeln, was nach der Unterjochung Polens klar gegen die Russen gemünzt war. Zwischen diesem Stoff und der Musik gibt es keine hörbaren Entsprechungen. Doch Umsetzung ist eine andere Kategorie als Anregung“13. Dafür, dass Chopin dieses Werk als Vorlage genutzt haben könnte, gibt es allerdings keinen Beleg. Die Schaffenszeit dieses Werks fiel mit der Revolution Polens zusammen. Diese unruhige Situation bedrückte Chopin, dies widerspiegelt sich indirekt in diesem dramatischen, spannenden Werk. Die erste Ballade ist ausgesprochen bekannt in der heutigen Zeit. Bereits Robert Schumann bewunderte das Stück. Er schrieb am 14. September 1836 an Heinrich Dorn: „Von Chopin habe ich eine neue Ballade. Sie scheint mir sein genialischstes (nicht genialstes) Werk; auch sagte ich es ihm, daß es mir das Liebste unter allen. Nach einer langen Pause Nachdenken sagte er mit groß em Nachdruck – ‚das ist mir lieb, auch mir ist es mein liebstes‘“14. Am Anfang dieser Ballade in g-Moll steht eine siebentaktige rezitativische Largo-Einleitung, die eine erzählerische, legendenhafte Stimmung evoziert. Erst mit dem Moderato im 6/4-Takt fängt das Hauptthema an. Das Hauptthema ist eine dialogartig aufgebaute Melodie, bei der Frage und Antwort aufeinander folgen. Die zu Beginn noch mürrische Stimmung wird in weiterer Folge durch immer mehr Töne angereichert. Die immer reichhaltigeren Harmonien werden schließ lich zu einer leidenschaftlichen Stimmung gesteigert. Das schöne lyrische Seitenthema (T. 68) steht in einem relativ langsamen Tempo in Es-Dur; bezüglich 13 Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 269. 14 F. Gustav Jansen (Hg.): Robert Schumanns Briefe. Neue Folge, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 78. 22 der Lautstärke – es setzt hier in pianissimo ein – stellt es einen Kontrast dar. Hier zeigt sich ein besonderes Merkmal Chopins: Häufig wird eine graziöse Melodie mit Akkordzerlegungen als Begleitung kombiniert, um die lange Melodielinie herauszustellen. Die Durchführung enthält einen pfiffigen Walzer (T. 138) und ist bezüglich der Stimmung heiter gehalten. Danach kommt die Reprise, wobei hier allerdings zunächst das variierte Seitenthema (T. 166) im Fortissimo folgt; die Töne der Begleitstimme werden verdoppelt und die Begleitung noch flüssiger. Die Coda im Alla-breve-Takt ist durch ungewöhnliche Akzente charakterisiert; es kommt immer schnellere Tongruppen vor, schließ lich wird das Stück mit aufwärtssausenden chromatischen Skalen, weich resignierenden g-MollAkkorden und einer Sextolenfigur im Accelerando und dreifachen Forte in einer stürmischen Stimmung beendet. Diese Ballade weist eine modifizierte Sonatenform auf, deren erstes und zweites Thema in der Reprise vertauscht wird und deren ausgedehnte Coda gleich lang wie die Durchführung ist. Folgende Tabelle zeigt die Formabschnitte, Tempobezeichnungen und Tonarten dieser Ballade. Takt Abschnitt Tempobezeichnung Tonart 1–8 Einleitung Largo 8–68 Hauptthema Moderato g-Moll 68–94 Seitenthema Meno mosso Es-Dur 94–166 Durchführung a tempo – più animato a-Moll, im T. 106 wird nach A-Dur moduliert und im T. 138 nach Es-Dur 166–194 Seitenthema 194–208 Hauptthema Meno mosso g-Moll 208–264 Coda Presto con fuoco g-Moll Keine eindeutige Tonart, es ist ein Neapolitanischer Sextakkord in g-Moll (As-C-Es) Es-Dur 23 4.2. Ballade Nr. 2 in F-Dur op. 38 Abb. 3: Manuskript der zweiten Ballade15 Chopin begann mit der Komposition seiner zweiten Ballade im Jahr 1836 in Nohant, wo er mit George Sand zusammengelebt hat. Er vollendete dieses Werk 1838 nach einer Reise nach Mallorca mit Madame Sand, die er aus gesundheitlichen Gründen antreten musste. Wegen der schweren Krankheit Chopins kehrten sie schließ lich zurück. Diese Ballade wurde von Mickiewicz’ dramatischem Gedicht „Der Switez“ inspiriert, das die Sage des Willisees als Metapher für das Freiheitsstreben der polnischen Frauen verwendet. „Der spiegelglatte Willisee hat eine gespenstische Geschichte. Dort befand sich früher eine polnische Stadt, von den russischen Horden belagert. Die Jungfrauen der Stadt baten den Himmel, sie vor Vergewaltigung zu bewahren – lieber würden sie im Erdboden versinken. Da öffnete sich der Boden unter ihren Füßen, es entstand ein See und die 15 leadingtone.tumblr.com, aktulisiert am 22. Juni 2013 1:54 PM. 24 Mädchen wurden in Uferblumen verwandelt, die jedem, der sie berührt, Verderben bringen.“16 Schumann, dem Chopin das Werk aus Dankbarkeit für dessen Zueignung der Kreisleriana gewidmet hat, erinnert sich, dass der Komponist ihm die Ballade mit einem Schluss in F-Dur vorgespielt hatte, obwohl der veröffentlichte Schluss in a-Moll steht. Anhand dieser Gegebenheit muss die Verwendung der Tonalität in dieser Ballade thematisiert werden: In diesem Werk kommen die Töne a und f oft vor, die gemeinsame Töne des F-Durdreiklangs und dessen Tonikagegenklangs a-Moll sind. Chopin nutzte diese tonale Gemeinsamkeit, um mit der Musik eine unbestimmte und beunruhigende Stimmung zu evozieren. In der europäischen Musikgeschichte gibt es nur wenige Werke, die am Anfang in Dur, am Schluss jedoch in Moll stehen. Das typische Werk der Romantik weist die Monotonalität auf, Chopin hingegen verließ diese Bahnen. Dies zeigt die „progressive“ Anlage der Tonarten, die im zweiten Scherzo und der Fantasie op. 49 zu sehen ist. Das ist ein mutiger Versuch bzw. eine Vorwegnahme der „Pantonalität“, die eigentlich ein harmonisches Verfahren des 20. Jahrhunderts ist. Obwohl das ein neues Experiment ist, schuf Chopin eine recht symmetrische Struktur. Die tonale Ä nderung am Ende dieser Ballade erhöht die dramatische Spannung der Musik sowie ihren tragischen Charakter. Folgende Tabelle stellt die Strukturen und Tonarten dieser Ballade dar. 16 Abschnitt Exposition Durchführung Thema Hauptthema Seitenthema Hauptthema Reprise Coda Seitenthema−neues Thema−Hauptthema Tonart F-Dur a-Moll F-Dur, Modulation d-Moll−a-Moll a-Moll Takt 1–45 46–81 82–139 140–196 196–203 Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 270. 25 Das Hauptthema dieser Ballade entstand aus dem tanzartigen Siciliano, dessen Rhythmus wie folgt ist: Es schreitet immer mit demselben, sich wiederholenden Rhythmus fort. Sein Charakter ist idyllisch und pastoral, der allerdings häufig durch eine ungewöhnliche und unvorhersehbare Harmonie – nämlich die III. Stufe a-Moll – gestört wird. Dies bewirkt, dass die liebliche Stimmung durch Traurigkeit getrübt wird. Nach dem ersten Thema führt ein Trugschluss direkt zu einem leidenschaftlichen „Durchführungsteil“ in a-Moll, der auf dem ersten Thema aufbaut. Am Anfang des stürmischen A-Moll-Themas gibt es eine Gegenbewegung der beiden Hände und einen rhythmischen Kontrapunkt, der in „Sowohl hier als auch beim folgenden Material, wo die zweitaktige Einheit als 4+4+4 6 6 3+3+3+3 + 6 + 6 angeordnet ist, führt zu einer explosionsartigen Energieentladung, die einen denkbar groß en Kontrast zu dem gemächlichen Verlauf des ersten Themas bildet.“ 17 (Notenbsp. 2) Neben dem rhythmischen Kontrapunkt scheinen auch groß e dynamische Veränderungen auf. Die ruhelose, angespannte Stimmung braut sich durch die schnell laufenden Sechzehntel und die Chromatik noch Notenbsp. 2: Chopins Ballade Nr. 2, T. 46–47. 17 Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 242. 26 stärker zusammen, bis der Höhepunkt im Takt 69 mit dem Fortissimo allmählich in das pastorale Hauptthema zurückführt. Beim diesem Aufscheinen des Hauptthemas hat Chopin eine Ü berraschung parat. Eine schöne Hauptmelodie kommt wie vorher in F-Dur vor, aber die Musik hört plötzlich auf. Nach der durch die Fermate zusätzlich verlängerten Pause moduliert Chopin unmittelbar nach aMoll. Es ist eine ganz unnatürliche Stimmung sowie eine Verheiß ung, die den Anschein erweckt, dass einem friedlichen Dorf bald eine schreckliche Invasion bevorsteht. Notenbsp. 3: Chopins Ballade Nr. 2, T. 83–94. Die Reprise weist eine Besonderheit auf. Nach der Durchführung, die aus dem Hauptthema entwickelt wurde, erscheint als Reprise nicht das Hauptthema, sondern ein moduliertes Seitenthema. Das ist eine typische „Chopin’sche Sonatenform“: Zwar weist diese zweite Ballade die klassischen Eigenheiten der Durchführung auf; in der Reprise folgt allerdings nicht – wie auch bei den drei Sonaten, die Chopin in seiner kompositorischen Reife vollendete – das Hauptthema. Die zweite Ballade und die zweite Sonate sind zur gleichen Zeit entstanden und es gibt viele ähnliche Strukturen. Nach dem stürmischen Seitenthema kommt ein neues Thema (agitato), das als schwierigste Passage dieser Ballade gilt. Die aufgeregte Stimmung wird immer stärker ausgebildet. 27 Danach klingt das „Klagelied“ der verzauberten Mädchen in wenigen Takten aus, diesmal allerdings in a-Moll, der Tonart des stürmischen Teiles, und nicht in FDur. Diese Ballade erzählt eine vollkommen tragische Geschichte. 4.3. Ballade Nr. 3 in As-Dur op. 47 Abb. 4: Manuskript der dritten Ballade18 Diese Ballade komponierte Chopin im Jahr 1841 und ließ sie im selben Jahr als op. 47 veröffentlichen. Im Vergleich zu den anderen drei Balladen ist die dritte die kürzeste. Obwohl das Werk nicht lang ist, zeichnet es die aristokratische Atmosphäre der damaligen Oberschicht in Paris dennoch nach. „In dieser dritten Klangdichtung herrscht eine völlig andere Grundstimmung vor. Die thematische Antithese – epische Gewalt und sanfte Schwermut – beruht auf weniger kräftigen Gegenüberstellungen: das Stück ist in seinem ganzen Aufbau zwar vielschichtig, aber von geringerer dramatischer Wucht als die vorigen.“19 Diese Komposition 18 http://www.omifacsimiles.com/brochures/chop_bal47.html 19 Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960, S. 138. 28 wurde von Mickiewicz’ Gedicht „Undine“ inspiriert. Diese Geschichte hat eine Ä hnlichkeit mit der rheinischen Sage „Lorelei“: „ Am Ufer eines Waldsees schwört ein junger Mann seinem Mädchen ewige Treue. Sie ist skeptisch und entfernt sich für kurze Zeit, um in verwandelter Gestalt – als Nixe – wiederzukehren. Der leichtfertige Jüngling entbrennt für die neue Schöne. Nun zieht sie ihn in die Tiefe des Sees. Seine Strafe: Er wird ewig hinter ihr herjagen, ohne sie zu erreichen.“20 Obwohl die musikalische Form der dritten Ballade nicht groß angelegt ist, ist sie dennoch individuell und nicht so einfach einzuordnen wie die Form der ersten und zweiten Ballade. Die erste und zweite Ballade kann man als eine Deformation der Sonatenform auffassen, weil sie sich noch an wesentlichen Schlüsselpunkten der Sonatenform (Exposition – Durchführung – Reprise) orientieren. Chopin stellte lediglich die Themenreihenfolge in der Reprise um. In der dritten Ballade geht Chopin noch einen Schritt weiter, hier überlässt er die Musik einer unaufhörlichen und freien Entwicklung. Es gibt keine symmetrische Entwicklung der Struktur mehr, und die narrative Weise weist ebenfalls Unterschiede zu den vorigen zwei Balladen auf. Der Musikwissenschaftler James Parakilas sprach in diesem Zusammenhang von der dramatischen „Dreistufenform“: Er argumentierte, dass die Struktur der Balladen Chopins nicht als Sonatenform gelten kann. In der folgenden Tabelle wird ein formaler Aufbau dargestellt, der von seinem Standpunkt ausgehend analysiert wurde. 20 Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 271. 29 Dramatische Entw. Stufe 1 Stufe 3 Stufe 2 (hauptsächlicher Plot) (1. Sz.) (Resü mee) 1. Entw. 2. Entw. 3. Entw. Takt 1– 52– 103– 116– 144– 183– 213– 231– Thema 1. Th. 2. Th. u. 2.Th. 3. Th. u. 2. Th. Syn- 1. Th. 3.Th. Ausdeh- Ausdeh- these v. nung nung 1. u. 2. Th. Am Anfang der dritten Ballade steht ein achttaktiger, dialogartig aufgebauter Prolog in einem fließ enden 6/8-Takt. Er weist eine warme, liebliche Stimmung auf. Der französische Pianist Alfred Cortot lieferte mit seinen Ausführungen über den Beginn des Stücks ein schönes Beispiel, wie Chopins Klänge wahrhaftige Poesie auslösen können: „Die acht ersten Takte [...] scheinen den zärtlichen Dialog des imaginären Liebespaares auszudrücken: ‚Wirst du mich immer lieben?‘ – ‚ja, ich schwöre es. Und wirst du mir deine Treue bewahren?‘ – ‚Solange ich lebe.‘ In dieser frühlingsfrischen Atmosphäre macht sich eine rhythmische Durchführung Raum: die Ausbreitung jugendlichen Glücks, die reine Glut eines unschuldigen Gefühls.“21 Ab dem Takt 9 kommen viele Notes inégales vor und es zeigt sich ein größ erer dynamischer Kontrast. Im Takt 50 erscheint ein langer As-Dursextakkord und die einfachen oktavierten Töne in den Takten 52 und 53 führen als Ü berleitung unmittelbar zum graziösen zweiten Thema in F-Dur. Das zweite Thema hat einen tanzartigen Impuls und ungewöhnlich betonte Nachschläge. Die elitäre Stimmung, die eine prachtvolle Wirkung hat, wird durch die Entwicklung der Musik bedingt; allmählich entwickelt sich durch eine ausgedehnte Stimmlage der groß artige Höhepunkt. Im Takt 116 scheint der typisch Chopin’sche Stil auf, der 21 Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 271. 30 leichte Harmonien in der linken Hand mit raschen Sechzehntelgruppen in der rechten Hand kombiniert. Bezüglich der Interpretation ist laut dem Pianisten Alfred Cortot Folgendes wichtig: „spielerische Anmut bewahren und bei aller Behendigkeit durchsichtig-klar bleiben, also jede Hast vermeiden, kurz, sich an die französische Formel des jeu perlé halten.“22 Das heiß t, jeder Ton muss vom Spieler rund und klar wie die Perlen auf einer Schnur interpretiert werden. Das Hauptthema scheint im Verlauf des gesamten Stücks auf. Die Aufregung verschafft sich in einer kraftvollen Flut von Sechzehntelnoten Luft, und diese Ballade schließ t letztendlich in einer dichterischen und beschwingten Stimmung. 4.4. Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52 Abb. 5: Manuskript der vierten Ballade23 Die vierte Ballade komponierte Chopin im Jahr 1842 und widmete sie nach der Veröffentlichung im Jahr 1843 Madame Nathaniel de Rothschild. Diese Ballade 22 Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960, S. 139. 23 http://en.chopin.nifc.pl/chopin/composition/detail/id/115 31 gilt als eines der bedeutendsten, schwierigsten und wertvollsten Meisterwerke des Klavierrepertoires. Die formale Struktur und die Dauer dieser Ballade sind eindeutig ausgedehnter und länger als jede der drei anderen Balladen. Diese Ballade enthält Elemente der Sonatenform, des Rondos und der Variation sowie die schwierigsten Spieltechniken aus Chopins „Etüden“. Das sind beispielsweise chromatische Skalen im Terzabstand, eine ungleichmäß ige Rhythmik, leichtbeschwingte Tongruppen und kontrapunktische Mehrstimmigkeit. Das fantastische Musikwerk wurde von der litauischen Sage der „Drei Brüder Budry“ inspiriert. „Drei Brüder werden vom Vater in die Ferne geschickt, um Schätze nach Hause zu bringen. Das Jahr vergeht, der Vater glaubt sie schon tot – da kehren sie mitten in einem Schneesturm zurück: Ihre Beute – drei Bräute! Auß er dem Schneesturm – den man, falls geneigt, tatsächlich heraushören kann – bieten sich kaum Anhaltspunkte, es fehlen die groß en Gefühle. Wahrscheinlich hat sich Chopin einfach nur in die Dichtung, Atmosphäre, ins Brauchtum, die Sagen- und Märchenwelt seiner für ihn verlorenen Heimat eingefühlt und seinem Sentiment ‚tastig‘ freien Lauf gelassen – Heimatdichtung als kreativer Katalysator. Als solchen wusste Chopin ja sogar eine gescheiterte Liebe zu instrumentalisieren.“24 Die folgende Tabelle stellt den formalen Aufbau dieser Ballade dar, der in Anlehnung an die Sonatenform analysiert wurde. 24 Takt Abschnitt 1–7 Vorspiel 7–37 Exposition Thema Tonart C-Dur 1. Thema + Var. 1 38–57 Erg. (1. Thema) 58–71 1. Thema + Var. 2 f-Moll Ges-Dur f-Moll Christoph Rueger: Frédéric Chopin. seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 272. 32 72–80 Einleitung 80–99 2. Thema 99–128; B-Dur Durchführung Erg. (1. Thema)-Vorspiel g-Moll – A-Dur Reprise 1. Thema + Var. 3 und 4 f-Moll 129–134 135–168 169–191 2. Thema 191–210 Einleitung 211-239 Erg. (2. Thema) Des-Dur f-Moll Diese Ballade, die sich durch eine feurige Leidenschaftlichkeit und eine melancholische Stimmung auszeichnet, wird mit einer hellen idyllischen siebentaktigen Einleitung in C-Dur eröffnet. Es ist so wie die innerlich aufgestaute Empfindung, die allmählich stärker und stärker wird. Dieses Werk enthält vielfältige Musikstile. Das lässige und ungezwungene erste Thema (mezza voce) könnte sowohl das eines Nocturnes als auch jenes eines Walzers sein. Eine kontrapunktische Episode bildet den Grundgedanken in Sechzehntelnoten und leitet strahlend zum zweiten Thema (dolce) über, das an eine Barcarole erinnert. Es ist sinnvoll, dass man das erste Thema bezüglich seiner vier verschiedenen Variationen betrachtet (Abb. 6). Im Takt 23 fängt die erste Variation an, die durch das Hinzufügen einiger Töne, um das Hauptthema zu verzieren, entsteht. Im Takt 58 beginnt die zweite Variation, diese ist polyphon gestaltet. Die Textur der Musik wird verbreitert und die anfängliche ruhige Stimmung wird allmählich furioser. Die dritte Variation fängt im Takt 135 an, die eine kanonische Dreistimmigkeit aufweist und zweimal in unbestimmte Tonarten sequenziert wird. Die letzte Variation (T. 152), die durch eine ausgeprägte Chopin’sche Kompositionsmethode gekennzeichnet ist, ist rhapsodisch. Es scheinen breite Akkordzerlegungen in regelmäß igen Sextolen in der Begleitung auf, die mit der fließ enden, leicht 33 beschwingten Melodie, die aus unregelmäß igen Sechzehntelgruppen besteht, kombiniert wird. Abb. 6: Thematische Variationen25 Nach diesem wogenden rhapsodischen Hauptthema laufen die Sechzehnteltriolen als führende Melodielinien durch, danach erklingt wieder das choralartige Seitenthema. Aber diesmal fungieren die Sechzehnteltriolen als Begleitung, um den Höhepunkt des ganzen Stücks vorzubereiten. Vor dem stürmischen Schlussteil bilden zwischen dem Stretto und dem Agitato fünf ganz leise Akkorde einen eindrucksvollen Ruhepunkt. Jene Kommentatoren, die an die Sage anknüpfen, haben dies folgendermaß en erklärt: Jene geheimnisvollen fünf Akkorde bedeuteten die Rückkehr der Budry-Söhne mit der „Braut aus dem Leschitenland“. Diese Ballade schließ t mit einer leidenschaftlichen, bewegten Coda ab, die den Interpreten vor auß erordentliche technische Schwierigkeiten stellt. Chopins ausgereifte Kompositionstechnik widerspiegelt sich in diesem Werk nicht nur durch die groß e Virtuosität, sondern auch durch die inhaltsreichen Empfindungen und die ausdrückliche Reflexion der Persönlichkeit der slawischen Völker. 25 Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 253. 34 5. Chopins bevorzugtes Fabrikat – der Pleyel-Flü gel Abb. 7: Chopins eigener Flügel (No. 13819, Pleyel & Compie, Paris, 1848)26 Abb. 8: Vater & Sohn Pleyel: meisterlicher Klavierbau in industrieller Fabrikation seit 1807 in Paris.27 Pleyel war eine berühmte französische Klavierfabrik, die im Jahr 1807 in Paris von Ignaz Josef Pleyel unter dem Namen Ignace Pleyel & Compie gegründet wurde. Pleyel war ein hochbegabter österreichisch-französischer Komponist, Verleger und Klavierfabrikant, der in der zweiten Hälfte des 18. und im 26 http://www.cobbecollection.co.uk/collection/33-chopins-own-grand-piano/ 27 Adolf Ehrentraud, Ignaz Joseph Pleyel: Weltbürger aus Niederösterreich, o. O. und o. J., S. 9. 35 angehenden 19. Jahrhundert wirkte. Am 18. Juni 1757 wurde er in Ruppersthal geboren und starb am 14. November 1831 in Paris. Pleyel galt als berühmter und einflussreicher Musiker wie Christoph Willibald Gluck (1714–1787), Joseph Haydn (1732–1809) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791). Sein Œuvre umfasst Kompositionen verschiedenerlei Genres, wobei vor allem kammermusikalische Werke vorherrschen. Ein Brief Mozarts, den er an seinen Vater Leopold geschrieben hat, gibt Auskunft über Pleyels Kompositionen: „Dann sind dermalen Quartetten heraus von einem gewissen Pleyel; dieser ist ein Scolar von Joseph Haydn. Wenn sie selbige noch nicht kennen, dann suchen Sie sie zu bekommen; es ist der Mühe werth. Sie sind sehr gut geschrieben und sehr angenehm. Er wird seinen Meister gleich heraus hören. Gut und glücklich für die Musik, wenn Pleyel seiner Zeit imstande ist, uns Haydn zu remplacieren.“28 Im Jahr 1807 bekam Pleyels Unternehmen Mithilfe von Etienne-Nicolas Méhul und Jean-Henri Pape, alsbald begann seine Unternehmung schnell zu florieren. In einem Jahr stellte er schon fünfzig Instrumente her und bis zum Jahr 1834 wurden 1000 Klaviere Pleyels verkauft. Pleyels Klaviere mit ihrer englischen Mechanik wurden vor allem von den Komponisten der Romantik, z. B. von Chopin, später von Rubinstein, Grieg oder Cortot hoch eingeschätzt. Die sogenannte englische Mechanik ist eine Stoß zungenmechanik, die dem Hammerflügel eine präzise Repetitionsfähigkeit und einen herausragenden Klang verleiht. Franz Liszt beschrieb dies folgendermaßen: „...Die Pleyelschen Instrumente liebte er [Chopin, Anm. d. Verf.] besonders wegen ihres silberhellen, ein wenig verschleierten Klanges und ihres leichten Anschlags.“29 Neben dem 28 W. A. Mozart: Brief an seinen Vater in Salzburg, Wien, 24. April 1784, in: Briefe und Aufzeichnungen – Digitale Mozart-Edition, URL: http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=1355&cat= 29 Uli Molsen: Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. von den Anfängen des Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl.,Balingen 1983, S. 112. 36 Konkurrenten Klavierbau É rard zählte Pleyels Klavierbaubetrieb in den Jahrzehnten bis ca. 1870 zu den groß en europäischen Klavierfabrikanten. „Wenn ich nicht disponirt bin, so spiele ich am liebsten auf einem Erardschen Clavier, wo ich den Ton schon fertig finde. Bin ich aber in der richtigen Verfassung, und kräftig genug, mir meinen eigenen Ton zu bilden, so muss ich ein Pleyelsches Clavier haben“30, sagte Chopin. Nach dem Tod Ignaz Pleyels im Jahr 1831 übernahm dessen Sohn Camille Pleyel das Unternehmen und führte die Manufaktur zum Ruhm. Chopins erster Pariser Auftritt fand im Salon „Salle Pleyel“, der zunächst von Ignaz im Jahr 1827 gegründet und danach als erster eigener größ erer Konzertsaal in der Rue Rochechouart von Camille 1839 ausgebaut wurde, statt. Fortan spielte Chopin ausschließ lich auf Pleyel-Flügeln, die für ihre leichtgängige Mechanik und für ihren warmen, süß -samtigen, sonoren Ton gerühmt wurden. Der Betrieb Pleyel wurde ab 1855 vom Schwiegersohn Camilles – Auguste Wolff – fortgeführt, und danach von Gustave Lyon (1857–1936), der die Firma bis 1930 leitete. Pleyel brachte vor allem vier klassische Flügelmodelle vom P170 Salonflügel bis zum P280 Konzertflügel sowie verschiedene Designerflügel auf den Markt. Etwa ab dem Jahr 1875 zeigte sich eine allmähliche Abschwächungstendenz gegenüber dem größ eren Konkurrenten É rard, der eine verbesserte Mechanik im Klavierbau erfunden hatte – ein „amerikanisches“ System mit Bassüberkreuzung, einteiliger Gussplatte und noch besserer Repetitionsfähigkeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich die Firma Pleyel mit der Wiederbelebung des Baus historischer Tasteninstrumente, insbesondere zweimanualiger Konzertcembali. Ein für die Pariser Weltausstellung 1889 30 Ebd, S. 112. 37 gebautes Modell, in dem die Cembalomechanik mit den Errungenschaften des zeitgenössischen Klavierbaus kombiniert wurde, fand Bewunderung. Im Jahr 1996 wurde eine neue Pleyel-Fabrik im südfranzösischen Alès gebaut, die allerdings schon im Jahr 2007 aufgrund des Produktionsrückganges wieder geschlossen wurde. Die Klaviermanufaktur wurde schließ lich von Hubert Martigny im Jahr 2000 erworben. Die letzten 25 Flügel wurden in der Manufaktur in Saint-Denis gefertigt, bis diese Pleyel-Manufaktur zu Jahresende 2013 geschlossen wurde. 6. Auffü hrungspraxis 6.1. Unterschiede zwischen Hammerflügeln und modernen Flügeln Vor einem Vergleich eines Hammerflügels mit einem modernen Flügel muss man wegen ihrer engen Beziehung zunächst den historischen Hintergrund betrachten. Der Hammerflügel entstand im 18. Jahrhundert und entwickelte sich in weiterer Folge zum modernen Flügel. Das erste Klavier (Fortepiano) der Welt wurde vom italienischen Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori erfunden. Er beschäftigte sich den Groß teil seines Lebens mit der neuartigen Anschlagmechanik des Klaviers. Das Tasteninstrument, das vor dem Hammerklavier in Gebrauch war, war das Cembalo. Seine Saiten wurden mithilfe von Kielen gezupft und aufgrund seiner Mechanik konnten keine Lautstärkenunterschiede realisiert werden. Cristofori erfand eine neue Mechanik für Tasteninstrumente. Durch eine Stoß zunge wurde ein Hammer gegen die Saite geschleudert, welche dadurch ins freie Schwingen gebracht werden konnte. Mit dem Drücken der Taste wurde gleichzeitig ein Dämpfer angehoben, der nach dem Loslassen der Taste die Schwingung der Saite wieder aufhielt. Der Erfinder der Dämpfungsaufhebung 38 war der mitteldeutsche Orgelbauer der Barockzeit Johann Gottfried Silbermann (1683-1753). Diese Technik wurde in der späteren Entwicklungsgeschichte des Fortepianos auch für das Fortepedal übernommen. Silbermann übernahm zunächst die Hammermechanik von Bartolomeo Cristofori, die er anschließ end in eigenständiger Weise umformte. Im Jahr 1740 baute er einen Hammerflügel mit verbesserter Technik, der von Johann Sebastian Bach hochgeschätzt wurde und von denen König Friedrich der Groß e mehrere Exemplare kaufte. Er galt verständlicherweise als eigentlicher Erfinder des Hammerflügels. Die Entwicklung des Hammerflügels bis zum heutigen modernen Flügel ging schnell vonstatten. Aufgrund der weiten Verbreitung des Klavierbaus überall auf der Welt und der verschiedenen Epochen existieren sowohl hinsichtlich des Hammerflügels als auch des modernen Flügels verschiedene Modalitäten. Aus diesem Grund werden nur die typischen Merkmale dieser beiden Instrumente miteinander vergleichen. 6.1.1. Aussehen, Größ e und Ambitus Die Gestalt eines Hammerflügels war eckig, kleiner und leichter als heute. Der Tonumfang reichte in der Frühzeit (zwischen 1795 und 1803) von F1 bis g3 (Mozarts Hammerflügel reichte von F1 – f3, Abb. 9); nach 1803 bis um 1810 war ein Ambitus vom F1 bis zum c4 üblich, diesen weisen zum Beispiel Haydns Leihflügel in London und Beethovens Erard-Flügel (seine Klaviersonaten von der „Waldsteinsonate“ op. 53 bis op. 81a haben diesen Umfang) auf. Abb. 10 zeigt einen Hammerflügel mit erweitertem Tonumfang (C1 – c4), der dem Ambitus von Haydns letzter Klaviersonate entspricht. Mit dem steigenden Bedürfnis der Komponisten, den Tonumfang der Instrumente auszureizen, wurde der Ambitus immer mehr erweitert. Bis ca. 1840 reichte der Tonumfang des süddeutschen 39 Hammerflügels von F1 bis f4 (Beethovens Kompositionen von op. 81a von 1809 bis op.101). Es gab aber auch Instrumente mit einem Tonumfang von C1 – f4 (etwa nach 1816 bis um 1840, z. B. Beethovens Graf-Flügel, für den seine Kompositionen ab op. 101 von 1816 komponiert sind) (Abb.11). Zwischen 1840 und 1850 wurde der Tonumfang auf C1 bis g4 (Schumanns Graf-Flügel) und C1 bis a4 erweitert. In der Blütezeit der Romantik erreichte der Bau des Hammerflügels einen Höhepunkt. Von etwa 1850 bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Tonumfang auf A2 bis a4 erweitert. Um etwa 1970 entstand der moderne Flügel und ein standardisierter Tonumfang von A 2 – c5 konnte sich etablieren. ←Abb. 9: Mozarts Hammerflügel von Anton Walter, Wien 1782.31 →Abb. 10: Hammerflügel von J. Broadwood et Sons – London um 1812, Sammlung Musica (fotografiert am 29. Mai 2015 im Musikinstrumentenmuseum Schloss Kremsegg). 31 Mozarts Originalinstrumente in: Stiftung Mozarteum Salzburg, URL: http://www.mozarteum.at/museen/mozart-instrumente.html 40 ←Abb. 11: Hammerflügel Pleyel et Cie., Paris um 1835, Sammlung Musica (Paul Badura Skoda) (fotografiert am 29. Mai 2015 im Musikinstrumentenmuseum Schloss Kremsegg). 6.1.2. Klaviatur, Konstruktion und Besaitung Ein gemeinsames Kennzeichen von Hammerflügel und modernem Flügel ist das Gehäuse, das bei beiden aus Holz besteht; die Klaviatur ist zweifarbig gestaltet (weiß und schwarz). Die weiß en Tasten bestehen aus Elfenbein oder geeigneten Kunststoffen und die schwarzen Tasten aus schwarz gefärbten Nussbaumhölzern. Ein deutliches Merkmal des frühen Hammerflügels ist, dass die Klaviatur eine umgekehrte Farbgebung aufweist (z. B. Mozarts Hammerflügel) und die Tasten hölzern sind. Die Tasten des Hammerflügels sind im Gegensatz zum modernen Flügel leichter und seichter, weswegen er viel einfacher zu spielen ist. So sind z. B. schwierige Spieltechniken – doppelgriffige Intervalle und Glissando – leichter auszuführen. Die Innenkonstruktion eines Hammerflügels weist ein klassisches Merkmal auf: Er verfügt über einen Rahmen, dessen Aufbau aus Holz besteht. Lediglich einzelne Streben oder Anhangplatten sind aus Metall gefertigt. Im Gegensatz zum Hammerflügel hat der moderne Flügel einen geschlossenen Metallrahmen. Hinsichtlich der Besaitung zeigen sich zwischen Hammerflügel und modernem Flügel ebenfalls Unterschiede. Im Vergleich zum modernen Flügel hat der Hammerflügel weniger Saitenspannung und dünnere Saiten. Auß erdem ist die Anzahl der Saiten bei frühen Instrumenten wegen ihrer Größe und ihres Tonumfangs geringer. Der Saitenbezug in Mittellage und im Diskant wurde 41 zunächst zwei- und erst bei fortschreitender Entwicklung dreichörig definiert. Während alle Saiten des Hammerflügels gleich ausgerichtet waren, wurde erst durch Steinway & Sons die sogenannte Kreuzbesaitung eingeführt, bei der die Basssaiten diagonal über die Saiten der Mittellage geführt werden. Diese Entwicklung stellt einen Grundzug des modernen Flügels dar. 6.1.3. Mechanik Wie vorher erwähnt, existieren vielfältige Konstruktionsweisen des Hammerflügels sowie dessen Mechanik. Dies ist sowohl zeitlich bedingt, denn der Hammerklavierbau fand in unterschiedlichen Epochen statt, als auch durch die groß e Anzahl an Klavierherstellern. Man unterscheidet zwei typische Konstruktionsweisen der Mechanik eines Hammerflügels, nämlich die Prellmechanik (auch „Wiener Mechanik“ oder „Deutsche Mechanik“ genannt), die keine schnellen Repetitionen zuließ , und die Stoß zungenmechanik (auch „Englische Mechanik“ genannt). Die standardisierte Mechanik des modernen Flügels ist eine Weiterführung der Stoß zungenmechanik, die zunächst von deutschen und österreichischen Klavierbauern entwickelt wurde. Danach wurde diese erweiterte Repetitionsmechanik von Sébastien É rard im Jahr 1921 weiter verbessert. Die Wiener Mechanik findet sich heute nur noch in historischen Instrumenten und deren Nachbauten. 6.1.4. Hammerköpfe und Klang Die Hammerköpfe sind beim Hammerflügel kleiner und leichter als beim modernen Flügel. Sie bestanden im 18. Jahrhundert bei manchen frühen Instrumenten nur aus Holz (z. B. Tangentenflügel und Instrumente von Johann Andreas Stein), zum Teil sogar aus Elfenbein, weswegen der damit erzeugte 42 Klang eine Nähe zum Cembalo aufweist. Innerhalb kurzer Zeit wurde das Material der Hammerköpfe schließ lich verändert. Es gab zunächst Experimente, bei denen Filz und Leder kombiniert wurden. Schließ lich etablierte sich im 19. Jahrhundert der Filz als einziges Material, aus dem Hammerköpfe hergestellt wurden. Der Klang des Hammerflügels ist heller, leiser und weniger voluminös als von heutigen Flügeln, aber doch gesanglich und gut verschmelzungsfähig. Aufgrund der damaligen Technik konnten die Dämpfer des Hammerflügels den Klang noch nicht streng abtrennen, vielmehr klang die Saite noch ein wenig nach. Eine Eigenheit des Hammerflügels war dessen helle Basslage, die im Vergleich zum modernen Flügel viel heller, durchsichtiger und gut zeichnend klingt. Aus diesem Grund klingen tiefliegende Akkorde auß ergewöhnlich klar. 6.1.5. Pedal und Klangveränderungen Moderne Flügel und Hammerflügel des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts verfügen üblicherweise über ein Forte- bzw. Dämpfungsaufhebungspedal (rechtes Pedal) und das Una-corda-Pedal (linkes Pedal). Mithilfe des rechten Pedals werden alle Dämpfer aufgehoben, damit die Töne nach dem Loslassen der Tasten weiterklingen können und durch gegenseitige Resonanzen den Klang verstärken. Das linke Pedal verschiebt die Klaviatur und die Mechanik mit den Hämmern. Somit trifft der Hammer nicht mehr auf alle Saiten eines Saitenchors, wodurch sich die Lautstärke verringert und auch die Klangfarbe verändert. Eine Besonderheit des Hammerflügels sind weitere Klangeffekte, die mithilfe von Pedalen bzw. Zügen erzeugt werden können. Es gibt ein Moderatorpedal, wobei der Klang mittels eines Filzstreifens gedämpft wird. Ü ber ein drittes Pedal verfügt auch ein modernes Klavier, das allerdings eine andere Funktion (Sostenutopedal, 43 um einzelne Töne zu halten) hat. Auß erdem sind Hammerklaviere manchmal mit einem Fagott-Zug (schnarrende Klangfarbe), einem Janitscharen-Zug (marschmusikartiger Schlagzeugeffekt) und einem Harfenzug (durch einen Filzkeil wird der Klang einer Harfe imitiert) ausgestattet. Dieser ist dem Lautenzug des Cembalos ähnlich. 6.2. Das tempo rubato Die wörtliche Ü bersetzung des Begriffs tempo rubato lautet die gestohlene Zeit, geraubter Zeitwert. Er bezeichnet seit etwa 1720 eine Vortrags- oder Satzweise, bei der sich eine Melodiestimme durch Veränderung einzelner Notenwerte (verlängert oder verkürzt) mit nachfolgender Regulation von den Begleitstimmen abhebt. Berühmte Komponisten, die auf diese Technik zurückgegriffen haben, waren Wolfgang Amadeus Mozart und Frédéric Chopin. Von Mozart ist diesbezüglich ein Brief an seinen Vater vom 23./24. Oktober 1777 erhalten geblieben: „Daß ich immer accurat im tact bleybe. über das verwundern sie sich alle. Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß , können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach.“32 6.2.1. Tempo rubato im 17. und 18. Jahrhundert Der Musikwissenschaftler Richard Hudson (1924– ) unterteilte das tempo rubato aufgrund der unterschiedlichen Regeln in zwei Epochen, die er als „earlier rubato“ und „later rubato“33 bezeichnete. Das „frühe“ tempo rubato (des 17. und 18. Jahrhunderts) kommt als Verlagerung zwischen Melodie und Begleitung vor. Es ist das Resultat einer Verzierung – Vorschlag oder Nachschlag, um die 32 Brief Mozarts auf zeno.org 33 Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 1. 44 Rhythmik zu verändern, weswegen die Rhythmik der Musik verwirrt erscheint. Wichtig hierbei ist, dass das eigentliche Tempo regelmäß ig beibehalten wird. Die Theoretiker Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) und Daniel Gottlob Türk (1756–1813) haben gemeint, dass das tempo rubato auf synkopische Weise deutlich und gut ausgedrückt werden kann und mit seiner Hilfe die Melodie mit mehr Emotion vorgetragen werden kann (Notenbsp. 4-1 und 4-2). Diese minimale Veränderung zwischen Melodie und Zeit wird durch den Spieler entschieden. ↑Notenbsp. 4-1: originale Melodie. ↑Notenbsp. 4-2: synkopierte Melodie. Auß er der synkopischen Veränderung gibt es noch andere Arten, das tempo rubato darzustellen. Die Komponisten des Barocks und der Klassik haben häufig Verzierungen in die Hauptmelodie des langsamen Satzes eingefügt. Vor allem in der Barockzeit scheint dies bei Vokalwerken häufiger auf. Der Komponist fügte einige Töne in die Melodie, um eine Gruppierung mit irregulärer Tonanzahl zu erhalten. Während reguläre Gruppierungen eine gerade Anzahl an Tönen aufweisen (z. B. Sextolen oder Oktolen), die man einfach und gleichmäß ig spielen kann, können irreguläre Gruppierungen (z. B. Quintolen, Septolen oder Novemolen) im Gegensatz dazu nicht symmetrisch unterteilt werden, weswegen jene Töne eine elastische Spannung besitzen. Diese Situation zieht das tempo rubato nach sich (Notenbsp. 5-1 und 5-2). ↑Notenbsp. 5-1: originale Melodie. ↑Notenbsp. 5-2: Melodie in Septolen. 45 Folgendes Notenbeispiel zeigt die andere Art des tempo rubatos in der Barockzeit – Rhythmik verändern und Verzierungen hinzufügen (Notenbsp. 6-1 und 6-2). ↑Notenbsp. 6-1: J. S. Bach, Englische Suite Nr. 2 in a-Moll, BWV 807, Sarabande, T. 1–5. ↑Notenbsp. 6-2: verzierte Wiederholung bei J. S. Bach, Englische Suite Nr. 2 in a-Moll, BWV 807, Sarabande T. 1–5. 6.2.2. Tempo rubato im 19. Jahrhundert Bezüglich des „späten“ tempo rubato verweist Türk auf zwei Bedeutungen: Zum einen meint dieser Terminus ungezwungenes Spiel; zum anderen Tempoänderungen, indem das Spiel schneller oder langsamer wird. 34 Das Einsatzgebiet der ersten Art ist das freie tempo rubato im Sprechgesang (Rezitativ) und der vom Interpreten frei auszuführenden Improvisation der Cadenza. Da es hier keine Beschränkung durch die Begleitstimme gibt, verfügt die Melodiestimme in Hinsicht auf das Tempo viel mehr Freiheit. Die zweite Art ist eine Ä nderung des Tempos (schneller oder langsamer werden), um die 34 Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 142. 46 musikalische Spannung und Emotion auszudrücken. Der Pianist muss wegen der musikalischen Richtung, der Empfindung und der harmonischen Ä nderung darauf reagieren, welche Stelle mehr oder weniger Zeit braucht. Der berühmte Komponist, Pianist und Klavierpädagoge Carl Czerny brachte diesbezüglich folgenden Gesichtspunkt ein: „We have almost entirely forgotten the strict keeping of time, as the tempo rubato (that is, the arbitrary retardation or quickening of the degree of movement) is now often employed even to caricature… In this way a soild composition is often disfigured as not to be recognizable, and, although in the present day, a higher degree of expression is certainly required and can be introduced, we must nevertheless make a distinction between a fantasia and a regularly constructed work of art …“35 Czernys Ansicht beweist, dass man in der Romantik des 19. Jahrhunderts zu einem freien uneingeschränkten Stil tendierte, weshalb das tempo rubato häufig falsch verwendet wurde und wird. Die Musikwissenschaftlerin Sandra P. Rosenblum (1928– ) ist der Auffassung, dass die „Agogik rubato“, die in der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts eine übliche rhythmische Gattung ist, die zeitliche Wesenheit beeinflusst. Das konnte entweder eine Verlängerung einer Note oder eines Akkords sein bzw. für eine emotionale Darstellung eingesetzt werden.36 In der Epoche Liszts (1811– 1886) ist die „Agogik rubato“ das beste Medium für den emotionale Ausdruck. Richard Wagner (1813–1883) beispielsweise war ein Komponist, der auf die Verwendung der „Agogik rubato“ Wert gelegt hat. Auf der anderen Seite steht Johannes Brahms (1833–1897), der eine relativ konservative Verwendung der „Agogik rubato“ an den Tag gelegt hat. Wagner urteilte aufgrund dessen, dass 35 Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S.147. 36 Sandra P. Rosenblum, The Uses of Rubato in Music, Eighteenth to Twentieth Centuries, 1994, Performance Practice Review 7, no. 1, S. 47. 47 der musikalische Ausdruck von Brahms zurückhaltend, sogar unbeweglich und langweilig war.37 Anhand der vorhergehenden Erläuterung kann man verstehen, dass in der Epoche der Romantik auf reichhaltige Empfindungen extra geachtet wurde und eine Tempoänderung verständlich sein musste. Während zum Beispiel im 17. oder 18. Jahrhundert sich das Tempo eines üblichen Tanzes – beispielsweise eines Menuetts – in einem bestimmten Rahmen hält und man den musikalischen Stil des Tanzes leicht begreifen kann, ist die Musik des 19. Jahrhunderts hingegen schon dramatischer, die Musikform komplexer und narrativer als vorher. Der Pianist muss zunächst die wesentliche Bedeutung der Musik, die musikalische Struktur und alle Zeichen verstehen, die in den Noten stehen. Danach erst werden Tempoänderungen vollzogen, wobei diese Interpretation und Ausdruckweise an das Werk angepasst sein muss. Die Intentionen des Komponisten müssen verstanden und berücksichtigt werden. Auf dieser Basis kann man schließ lich eine hochwertige und verständliche Musik spielen. 6.2.3. Das Chopin’sche Tempo Rubato Von Chopin selbst existieren folgende Erläuterungen über das tempo rubato: „Die singende Hand darf abweichen, die begleitende Hand muss den Takt halten. Man stelle sich einen Baum vor, dessen Zweige sich im Winde wiegen; die Bewegung des Stammes repräsentiert das gleichformige Metrum, die zitternden Blätter sind die melodisch-rhythmischen Verschiebungen.“38 Als die berühmten stilistischen Merkmale von Chopins Musik gelten seit jeher 37 Ebd., S. 49. 38 Helmut K. H. Lange, Allgemeine Musiklehre und musikalische Ornamentik, Stuttgart 1991, S. 49. 48 die reichhaltigen Harmonien und die graziösen Melodien. Wenn man seine Werke interpretiert, muss man sich neben dem tempo rubato auch mit der Artikulation, der Verwendung des Pedals sowie der Dynamik beschäftigen und sich um durchsichtige Klangfarben bemühen. Interpreten können die Werke Chopins nicht mühelos wie Werke der Klassik behandeln, die in einem präzisen Tempo einen bestimmten musikalischen Charakter darstellen, weil Chopins Werke eine Freiheit und Elastizität in der Melodielinie aufweisen. Hinsichtlich der Ausführung unterscheiden sich tempo rubato und das genaue Spiel im Tempo nur marginal. Einzelne Notenwerte werden beim tempo rubato lediglich ungefähr 30 Millisekunden verlängert oder verkürzt. Es gibt aber viele Pianisten, die Chopins Werken ihre eigene persönliche Emotion auferlegen wollen und das tempo rubato diesbezüglich als Interpretationsmittel leider missverstehen. Auf diese Weise geht der Grundimpuls der Musik verloren. Allerdings enthält die Musik ursprünglich ein konstanten Impuls. Wenn dieser auf zweckmäß ige Weise behandelt wird, wird die Musik vitalisiert; ist das Gegenteil der Fall, wird die Musik wie ein Mensch, der den regelmäß igen Herzschlag verliert, nicht leben können. Chopin war ein Meister der Romantik. Er bevorzugte es, das persönliche Gefühl auszudrücken; aber er hielt sich dennoch an die Gesinnung des Barocks und der Klassik: Der Grundschlag der Musik muss eingehalten werden, die Verzierungen, mit denen die Melodie versehen wurde, ist eine Erweiterung der barocken Praxis. Die auf diese Weise entstehenden geraden oder ungeraden Tongruppierungen werden mit der fixen Figur des Basses kombiniert, wodurch ein fließ endes natürliches tempo rubato (Notenbsp. 7) erzeugt wird. Sowohl anhand der Aussage von Mozart als auch von Chopin hinsichtlich des tempo rubatos lässt sich ein springender Punkt erkennen: Das tempo rubato ist keine Veränderung des Tempos. Vielmehr werden die 49 Passagen „stehlen, aber bald zurückgeben“ und „nicht bemerkbar“ hervorgehoben. ↑Notenbsp. 7: Chopin, Ballade Nr. 4 in f-moll op. 52, T. 152–155. Natürlich stehen die Tempobezeichnungen selten in den Noten der Werke Chopins, die Anweisungen für die Interpreten sind somit undeutlich. Allerdings gerät Chopins Musik aus der Balance, wenn ein Interpret zu viel tempo rubato verwendet oder es an einer falschen Stelle einsetzt. Eine schöne graziöse Melodielinie wird wegen eines unangemessen Rhythmus zerstört. Das heiß t, dass die Essenz der Chopin’schen Musik zum groß en Teil im Tempo liegt. Karol Mikuli (1821–1897) war einer von Chopins Schülern, von dem folgende Erläuterungen stammen: „Im Halten des Tempo [sic] war Chopin unbeugsam, und viele werden überrascht sein zu hören, daß das Metronom nie sein Klavier verließ . Selbst im so verrufenen Tempo rubato spielte eine Hand – diejenige, welche begleitete – streng im Tempo weiter, während die andere – diejenige, welche die Melodie singt, den wahren musikalischen Ausdruck von allem metrischen Zwang befreite.“39 In weiterer Folge muss die sinnvolle Frage gestellt werden, wie man ein gutes 39 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. Von den Anfängen des Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl., Balingen 1982, S. 114–115. 50 tempo rubato erhält. Der polnische Violoncellist, Komponist und Musikschriftsteller Maurycy Karasowski (1823–1892), der die erste Biographie Chopins verfasste, erläuterte diesbezüglich im Jahr 1877 Folgendes: „The tempo rubato was a special characteristic of Chopin’s playing. He would keep the bass quiet and steady, while the right hand moved in free tempo, sometimes with the left hand, and sometimes quiet independently, as, for example, when it plays quavers, trills or those magic, rhythmical runs and fioritures peculiar to Chopin. ‚The left hand‘, he used to say, ‚should be like a bandmaster, and never for a moment become unsteady or falter‘. By this means his playing was free from the trammels of measure and acquired its peculiar charm.“40 Diese Frage wird von einem weiteren Beleg auch so beantwortet. Ein anderer Schüler Chopins, Georges Mathias, sagte um 1838: „Chopin […] often required simultaneously that the left hand, playing the accompaniment, should maintain strict time, while the melodic line should enjoy freedom of expression with fluctuations of speed. This is quite feasible: you can be early, you can be late, the two hands are not in phase [en valeur]; then you make a compensation which reestablishes the ensemble.“41 Daraus wird ersichtlich, dass man das Chopin’sche tempo rubato auch als eine agogische Melodiestimme bezeichnen kann. Es gab einen bestimmten Anspruch und Maß regeln, weshalb man nicht unbegründet von der persönlichen Neigung geleitet spielen sollte. Eine andere spezielle Art des tempo rubato ist die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit des Spiels, worauf die obengenannte Aussage von Georges Mathias bereits eingeht. Diese Spielweise ist aufgrund der Klangresonanz (Oberton) entstanden. Im didaktischen Buch „The Leschetizky Method: A Guide to Fine and Correct Piano Playing“ wird diese Spielweise analysiert: „Der Bass (linke Hand) und die Hauptmelodie (rechte Hand) müssen 40 Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 192. 41 Zitiert nach Hudson, Stolen Time, S. 193. 51 nicht unbedingt gleichzeitig spielen, vielmehr sollten die Noten der Melodie erst nach dem Vorschein des Basses angeschlagen werden; dadurch wird die Melodielinie noch deutlicher und der Klang noch schöner.“ 42 Im folgenden Notenbeispiel (Notenbsp. 8) wurden jene Stellen gekennzeichnet, an denen in den meisterhaften Chopin-Interpretationen von Krystian Zimerman, Vladimir Horowitz und Maurizio Pollini eine Zeitverzögerung um bis zu 30 Millisekunden aufscheint, sodass die Melodie beim ungleichzeitigen Spiel nach hinten versetzt ist. Solche ungleichzeitige Spielweise „kann man nur zum großen Teil bei der Hauptnote oder beim Grundschlag verwenden.“43 ↑Notenbsp. 8: Chopin, Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52, T. 21–32. Die Verwendung des tempo rubato kann nicht einfach festgelegt werden. Es gibt keine Situation, in der es zwingend verwendet werden muss. Aus diesem 42 Malwine Brée, The Leschetizky Method: A Guide to Fine and Correct Piano Playing, New York 1913, S. 55–56, übers. von Yung-Yu Liang. 43 Ebd. 52 Grund ist es frei; was jedoch nicht bedeutet, dass es unlimitiert eingesetzt werden kann. Man kann seine Verwendung anhand von Dokumentensammlungen oder Aufnahmen beweisen und diese Quellen im Zuge des Vorbereitungsprozesses, um zu einer eigenen Interpretation zu gelangen, erforschen. Der Interpret macht während des Ü beprozesses seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich der Ausführung des tempo rubato, diese werden kumuliert und dienen in weiterer Folge als Basis für eine schöne und verständliche Interpretation von Chopins Werken. 6.3. Chopins Artikulation – Legato und Legatissimo Legato (ital. = gebunden) bedeutet, dass die Noten gebunden gespielt werden. Die Ausführung erfolgt so, dass der Druck jenes Fingers, der einen Ton angeschlagen hat, erst nachlässt, wenn der nächste Ton angespielt wird. Eine legato gespielte Note wird mit einem Strich über bzw. unter der einzelnen Note oder mit einem Bindebogen über bzw. unter einer Notengruppe gekennzeichnet. Das Legatospiel weist bei Tasteninstrumenten eine besondere Herausforderung auf, denn jeder Ton ist aufgrund der zugrundeliegenden Mechanik unabhängig von den anderen. Ein schönes Legatospiel bei Tasteninstrumenten ist mühevoll zu erreichen und nicht so einfach zu realisieren wie beim Gesang und bei Blasoder Streichinstrumenten, bei welchen die Verbindung der Töne durch den Atem oder den Bogenstrich realisiert werden kann. Eine Legatowirkung wird bei Tasteninstrumenten einerseits mithilfe der „Fingerbindung“ erreicht. Dieselbe Wirkung erzielt man andererseits auch mithilfe des Dämpfungspedals (rechtes Pedal) oder des Sostenutopedals (mittleres Pedal). Diese Möglichkeiten kommen vor allem dann zur Anwendung, wenn eine „Fingerbindung“ nicht mehr möglich ist, z. B. aufgrund eines groß en Sprungs bei weit auseinanderliegenden 53 Intervallen oder wegen einer zu groß en Stimmenanzahl. Das Legato entwickelte sich insbesondere durch den Einfluss Beethovens im 19. Jahrhundert zu einer üblichen Artikulationsart beim Klavierspiel: „[...] in der stärkeren Hervorhebung des Legatospiels deutet sich ein grundlegender Wandel der Ä sthetik des Klavierspiels im Verhältnis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. Nach zeitgenössischen Berichten fielen an Beethovens Spiel selbst neben der phantastischen Improvisationskunst vor allem der singende Ton, das weitgehende Legato – auch im Unterricht nach Carl Czerny ein zentraler Punkt der Unterweisung – und der reiche Pedalgebrauch auf.“44 Legatissimo bedeutet, dass Töne äuß erst gebunden werden. Diese Artikulationsart wird auf Tasteninstrumenten mithilfe des überlappenden Anschlags der Tasten realisiert. So wird das Legatissimo laut Carl Czerny folgendermaß en gespielt: „[...] wobei jeder Finger länger als die Dauer der Note vorschreibt, auf den Tasten liegen bleibt. Dieses ist nur bei gebrochenen Accorden eigentlich anwendbar, und man hat wohl darauf zu achten, dass nur consonierende, (das heisst wohlklingende, zum Accord gehörige) Töne auf solche Art gehalten werden.“45 Legatissimo nennt man auch „Fingerlegato“ oder „Fingerpedal“, da man bei dieser Technik das Pedal nicht verwenden muss, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Auch bei der Orgel ist diese Spielweise realisierbar. Allerdings ist es erforderlich, dem Ü bergang zwischen zwei Tönen besondere Beachtung zu schenken, da die Mechanik der Orgel bedingt, dass das Absetzen zwischen zwei Tönen sehr deutlich zu hören ist. Neben der polnischen Volksmusik wurde Chopin vom italienischen Belcanto stark beeinfluß t. Seine Vorbilder waren Giovanni Paisiello und Gioachino Rossini, ab seiner Pariser Zeit hauptsächlich Vincenzo Bellini. In seiner Frühzeit 44 Ebd., S. 116. 45 Carl Czerny, Pianoforte-Schule op. 500, Wien 1839, Band 4, S. 19. 54 übernahm er für seine Kompositionen Themen von Rossini, ein Beispiel dafür ist die frühe Polonaise in b-Moll WoO aus dem Jahr 1826. Chopin bevorzugte den italienischen Belcanto, weswegen er „ein kantables Spiel“ für wichtig hielt. „Wenn man ein gutes und natürliches Spiel anstreben will, dann geht man einfach häufig zu italienischen Sängern, um ihnen zuzuhören. Es gab viele solche Meister [wie Giuditta Pasta, Giovanni Battista Rubini, Maria Malibran usw., Anm. d. Verf.] in damaliger Zeit in Paris.“46 Chopin sagte sogar zur seinen Schülern: „Wenn du Klavierspielen lernen willst, dann musst du zunächst singen lernen.“47 In der Tat gibt es eine enge Beziehung zwischen dem Chopin’schen Legatospiel und dem italienischen Belcanto. Die musikalischen Phrasen Chopins sind graziös und lang. In seiner Musik verschmolz Chopin Virtuosität, Verzierungen und auch den italienischen Belcanto. Daraus resultiert, dass seine Klavierwerke nicht nur Charakteristika des Gesangsstils aufweisen, sondern eine absolut pianistische, brillante Virtuosität. Aus diesem Grund gilt die Spieltechnik des Legatos als eine der wichtigsten Artikulationsarten Chopins. Bindebögen durchziehen seine Werke; und es kommt vor, dass Phrasen über acht Takte gebunden werden. Ein gutes Legatospiel ist davon geprägt, dass alle Töne durchsichtig und schön, aber trotzdem wie eine gebundene Linie klingen. Dies erfordert Geduld und Achtsamkeit beim Ü ben. Man muss zunächst ganz langsam spielen, um eine gleichmäß ige Tonqualität zu erreichen. Danach fügt man die Dynamik dazu, und zugleich achtet man darauf, dass das Handgelenk und der ganze Arm locker und frei sind. Chopin schrieb in seiner eigenen Klavierschule: „Das Handgelenk: Der 46 Jean-Jacques Eigeldinger: Chopin: Pianist and Teacher as seen by his pupils, New York 1986, S. 44, übers. von Yung-Yu Liang. 47 Ebd., S. 45, übers. von Yung-Yu Liang. 55 Atem der Stimme“48. „Ebenso viele Klänge als Finger; Im ganzen geht es darum, seine Finger gut zu gebrauchen. Hummel [1778-1837, österreichischer Komponist und Pianist] wuß te hierin am meisten. Wie man die Eigenheit der Finger ausnützen muß , darf man den Rest der Hand, d. h. das Handgelenk, den Unterarm, den Arm, nicht weniger gebrauchen. Man muß nicht alles aus dem Handgelenk spielen wollen, wie Kalkbrenner [1785-1849, deutschfranzösischer Pianist und Komponist] behauptet.“49 Wenn man Chopins Musik gut artikulieren bzw. ein ausgewogenes Legatospiel und eine schöne Klangfarbe erreichen möchte, muss man sich zunächst mit Chopins Fingersatzsystem auseinandersetzen. Dieses Thema wird im nächsten Abschnitt erläutert. 6.4. Chopins individuelles Fingersatzsystem Von Chopin ist folgende Ansicht hinsichtlich des Fingersatzes überliefert: „Man hat lange Zeit gegen die Natur gehandelt, indem man die Finger trainiert hat um ihnen gleiche Kraft zu geben. Da jeder Finger unterschiedlich gebaut ist, ist es besser, nicht den Zauber des speziellen Anschlags jedes Fingers zu zerstören, sondern sie entwickeln.“50 Chopin war nicht nur ein herausragender Pianist und Komponist. Er entwickelte auch unter Berücksichtigung des pianistischen Spielprinzips ein eigenes innovatives System der Spieltechnik, das sich in seinen pädagogischen Ansätzen sowie in seinen Werken widerspiegelt. Dieses beeinflusste die Auffassungen seiner Zeitgenossen sowie der Nachwelt hinsichtlich des Klavierspiels sehr stark. Seine pianistischen technischen Neuerungen wurden allerdings nur in Form seiner Werke und den Hinweisen, die er in diesen gibt, seiner Aufzeichnungen 48 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. Von den Anfängen des Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl., Balingen 1982, S. 117. 49 Ebd., S. 117. 50 Ebd., S. 116. 56 und seiner Pädagogik bis heute überliefert. Zwar kam Chopin zum Entschluss, sein technisches System niederzuschreiben. Allerdings kam diese Schrift vor seinem Tod nicht über das Entwurfsstadium hinaus. So existieren davon nur einige Notizen und Entwürfe, die den Anfang eines systematischen pädagogischen Werks darstellen. Diese Manuskripte sind erfreulicherweise unversehrt erhalten. Obwohl sie schwierig zu lesen sind, bemühten sich viele Wissenschaftler und Expertinnen darum, diese Niederschriften zu ordnen. In weiterer Folge wurden sie als „Projet de méthode“ veröffentlicht. Der Musikwissenschaftler Jean-Jacques Eigeldinger verfasste das Buch „Chopin: Pianist and Teacher: As Seen by his Pupils“, das sowohl eine korrigierte meisterliche Ausgabe des „Projet de méthode“ ist als auch eine umfangreiche Sammlung von Kommentaren der Schüler Chopins und der damaligen Zeitgenossen in Bezug auf das Chopin’sche Spiel. Das Buch gilt als ein unentbehrliches Meisterwerk für das Verständnis von Chopins Klavierspiel; und es stellt auch eine wichtige Grundlage für die folgenden Ausführungen dar. Die Chopin’sche Spieltechnik kann aus einer Vielzahl an Perspektiven diskutiert werden, aber die grundlegendste Voraussetzung stellt der Fingersatz dar. Vor Chopin haben bereits einige groß artige Pianisten wie Carl Czerny einen systematischen Fingersatz entwickelt. Czerny behauptete, dass der Fingersatz ein hauptsächlicher Bestandteil des Klavierspiels ist und dass der behaglichste Fingersatz der beste Fingersatz ist. Der Czerny’sche Fingersatz zielt nicht nur auf ein handliches Spiel ab, sondern umfasst auch die Artikulation. Der Fingersatz Czernys ist ziemlich regelmäß ig. Er stellte in seiner Klavierschule „Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule“ drei Hauptregeln der Fingersetzung auf, nämlich den „traditionellen“ Fingersatz des Klavierspiels: 57 1. „Die 4 längeren Finger jeder Hand, (nämlich der 2te, 3te, 4te und 5te) dürfen nicht über einander schlagen werden. 2. Ein Finger darf nicht auf zwei oder mehrere Tasten nach einander gebraucht werden. 3. Der Daumen und der kleine (5te) Finger dürfen in fortlaufenden Tonleitern niemals auf die schwarzen Obertasten kommen.“51 Im darauffolgenden Paragraphen 5 räumt Czerny ein, dass es von den soeben aufgestellten Regeln viele Ausnahmen geben würde, die allerdings immer begründbar sind.52 Auf Chopin geht eine individuelle Innovation des Fingersatzes zurück, indem er mit diesen traditionellen Voraussetzungen gebrochen hat. Obwohl seine Gedanken hierzu bald von der Nachwelt übernommen wurden, entrüsteten sich in der ersten Zeit viele Autoritäten darüber, z. B. Friedrich Kalkbrenner. Chopins Schüler Karol Mikuli hat daraufhin Chopins Erneuerungen folgendermaßen geordnet und sie als Regeln formuliert: 1. „Chopin benutzte anstandslos den ersten Finger auf den schwarzen Tasten, untersetzte ihn, freilich mit ausgesprochener Einwärtshaltung des Handgelenks, selbst unter den fünften Finger, wenn dies die Ausführung erleichtern, ihr mehr Ruhe und Gleichheit verleihen konnte. 2. Mit ein und demselben Finger nahm er oft zwei aufeinander folgende Tasten (und das nicht nur im Herabgleiten von einer schwarzen Taste auf die nächste weiß e), ohne daß die mindeste Unterbrechung der Tonfolge zu merken sein durfte. 3. Das Ü bersetzen der längeren Finger übereinander, ohne Zuhilfenahme des Daumens [siehe Etüde Nr. 2, op. 10, Anm. d. Verf.].“53 Die Hände Chopins waren nicht groß , verfügten aber über eine gute Dehnbarkeit. 51 Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule, Bd. 2, S. 2. 52 Vgl. Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule, Bd. 2, S. 2. 53 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 117–118. 58 Der Pianist Stephen Heller drückte dies folgendermaßen aus: „[Die Dehnbarkeit der Hände Chopins ist, Anm. d. Verf.] [...] wie wenn eine Schlange den Rachen öffne, um ein Kaninchen zu verschlingen.“ 54 Nicht nur die Hände, sondern Chopins ganzer Körper war auß ergewöhnlich schmiegsam. Sein Schüler Adolf Gutmann berichtete: „[...] Chopin [konnte] wie ein Clown die Beine über die Schultern legen ...“55 Um dehnbare Hände zu erhalten, müssen zunächst eine zutreffende Handhaltung und der bewegliche Mittelpunkt gefunden werden. Die zutreffende Handhaltung von Chopin war die Positionierung des Daumens. Im Czerny’schen Fingersystem wurde der Daumen als beweglicher Mittelpunkt aufgefasst. Er muss stabil sein, weswegen kann ihn nicht auf den schwarzen Obertasten verwendet; die anderen Finger sollten auch nicht überkreuzt werden, da die Handfläche sonst nach oben oder unten verschoben wird und der Mittelpunkt des Daumens verloren geht. Im Chopin’schen Fingersystem hingegen gilt der Mittelfinger als beweglicher Mittelpunkt, da der Mittelfinger der Kern der ganzen Hand ist. Es wird eine freie Beweglichkeit der Hand erreicht, wenn die Handfläche sich ausdehnen oder das Handgelenk sich drehen kann. Das folgende Notenbeispiel stammt aus Chopins erster Ballade und stellt ein Musterbeispiel für Chopins Technik dar, den Mittelfinger der linken Hand als beweglichen Mittelpunkt aufzufassen. ↑Notenbsp. 9: Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, T. 166–168. 54 Ebd, S. 119. 55 Ebd. 59 „Die Ausführung der schwierigsten Arpeggien, die aus den entferntesten Noten bestanden, realisierte er [Chopin, Anm. d. Verf.] legato, denn sein Handgelenk, nicht sein Arm, war laufend in Bewegung“56, sagte Karol Mikuli. Ein interessanter pädagogischer Ansatz Chopins ist, dass er seine Schüler unterwies, zunächst nicht die C-Durtonleiter, sondern jene in H-Dur zu spielen, weil ab dem vierten Ton von H-Dur die von Chopin als zutreffend bezeichnete Handhaltung zustande kommt: Die fünf Finger der rechten Hand greifen vom Daumen ausgehend nacheinander die Tasten E, Fis, Gis, Ais und H. Dadurch entsteht die natürlichste und angenehmste Handhaltung. Mikuli berichtet: „Im Notieren des Fingersatzes, besonders des ihm eigenthümlichen, war Chopin nicht sparsam.“ 57 Folgende Notenbeispiele aus den Balladen Chopins, deren Notentext sich an die originale Fassung hält (Herausgeber: Ignacy J. Paderewski), lassen seinen andersartigen kreativen Fingersatz erkennen. ↑Notenbsp. 10: Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, T. 5–10. Im Notenbeispiel 10 wird gezeigt, dass der kleine Finger von einer schwarzen Taste auf die nächste weiß e herabgleitet, damit eine schöne Legatomelodie und gleichzeitig eine Fingerpedalwirkung erreicht wird, obwohl in dieser Figur der Daumen sowie zweiter und dritter Finger die Tasten gedrückt halten. 56 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 116. 57 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 117. 60 ↑Notenbsp. 11: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 13–16. Der im Notenbeispiel 11 ersichtliche Fingersatz Chopins zeigt, dass die Melodie mit verschiedenen Fingern nacheinander gespielt wird, um sowohl ein schönes Legato als auch unterschiedliche Klangfarben jedes einzelnen Tones zu erreichen. Zusätzlich lässt sich mit diesem Fingersatz auch die geforderte Artikulation der Phrasen realisieren. ↑Notenbsp. 12: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 37– 40. Im Notenbeispiel 12 wird eine lange in Oktaven verdoppelte Legatomelodie in der linken Hand gezeigt. Chopin hat an dieser Stelle einen eigenartigen Fingersatz realisiert, der eine hohe Flexibilität des Handgelenks voraussetzt. ↑Notenbsp. 13: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 103. Anhand des Notenbeispiels 13 wird gezeigt, dass Chopins Fingersatz die dynamischen Ä nderungen und Artikulationen widerspiegelt. Die Passagen der hier gezeigten Notenbeispiele weisen eigentlich keine 61 wesentlichen Schwierigkeiten auf. Chopin notierte den Fingersatz auf eine Weise, die zeigt, dass Chopin die Musik auf Basis der Klangfarben und Artikulationen überdachte und dafür die jeweiligen Eigenheiten aller fünf Finger auszunutzen wusste, um einen Fingersatz zu entwickeln, der seinen Vorstellungen Rechnung trägt. 6.5. Chopin-Akkord Der polnische Musikwissenschaftler Ludwik Bronarski beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit der Erforschung von Chopins Musik. Sein Forschungsprojekt umfasst ästhetische, analytische und redaktionelle Probleme und Chopins Verwendung der Harmonik. Bronarski arbeitete auch mit Ignacy Jan Paderewski und Józef Turczyński zusammen, um alle Werke Chopins herauszugegeben. Vor allem konstituierte Bronarski den sogenannten „Chopin-Akkord“, der in diesem Kapitel thematisiert wird. Bei diesem Akkord handelt es sich um einen Typ, den Chopin in seinen Kompositionen häufig verwendete. Es ist ein Dominantseptakkord, dessen Quint durch die Sext ersetzt wird. Die Wurzel dieser Sext lässt sich auf die Tredezime (auch Chopin-Sext genannt) zurückführen, die fast immer in der obersten Stimme liegt. Die Auflösung der Chopin-Sext ist ein Terzsprung abwärts, weswegen mit diesem Akkord eine zunächst höchst angespannte, aber bald gelöste Wirkung erzeugt wird (Notenbsp. 14). ↑Notenbsp. 14: Chopin-Akkord in C-Dur (c-moll). 62 Das folgende Beispiel aus der F-Dur-Ballade op. 38 zeigt eine intensive Verwendung des Chopin-Akkords: ↑Notenbsp. 15: Chopin-Akkorde und ihre Auflösungen aus Chopins Ballade Nr. 2 in FDur op. 38, T. 42–46. Hierdurch unterscheidet sich die typische Verwendung des Chopin-Akkords von der „routinemäßigen“ Aufbereitung als Sextvorhalt vor der Quint, wie sie in dem folgenden Beispiel von Adolf Jensen vorliegt. ↑Notenbsp. 16: Adolf Jensen: Wanderbilder op.17, Nr. 2: Froher Wanderer, T. 17–20. Der Chopin-Akkord gilt als einer der neuen Akkordtypen, deren Verwendung sich durch das gesamte 19. Jahrhundert zog. Es kann eine Weiterentwicklung dieses Akkordes ausgehend von Chopin über Edvard Grieg bis zu Alexander Skrjabin erkannt werden. Ein anderer verwandter Akkordtyp ist der Septnonenakkord (mit groß er None) – ein Fünfklang, der mit dem Namen Schumanns verbunden wurde. Dieser wurde vor allem in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts bei französischen Komponisten bzw. im Impressionismus hochgeschätzt, so zeigt sich eine häufige Verwendung dieses Fünfklangs in den Werken dieser Epoche. Der Chopin-Akkord hatte einen Einfluss auf die Nachwelt. So wurde beispielsweise Skrjabin von den Klangfarben Chopins inspiriert, der in seinem 63 Prélude in A-Dur op.15/1 den „Chopin-Akkord“ (Notenbsp. 17) verwendete. ↑Notenbsp. 17: Skrjabins Prélude in A-Dur op.15/1, T. 28–31. Ein berühmter mystischer Akkord Skrjabins wird als „Prometheus- Akkord“ bezeichnet. Er besteht nicht mehr aus der traditionellen Terzschichtung, sondern aus einer sechstönigen Quartenschichtung (c-fis-b-e-a-d). Von der polnischen Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa wurde anhand der Lage der charakteristischen Sext im Akkord bestätigt, dass der Prometheus-Akkord aus dem Chopin-Akkord hergeleitet werden kann. Tatsächlich zeigt sich schon in Skrjabins früher Schaffensperiode eine Tendenz, den Akkord in Quarten statt in Terzen zu schichten (Notenbsp. 18). Skrjabin verfuhr wie Chopin, indem er die Sext als obersten Ton verwendete, als Akkordgrundlage dient mit zwei übereinander geschichteten Quarten eine Septim. Diese Tatsache verweist darauf, dass man bei einigen „prometheischen“ Klängen der späten Schaffensperiode Skrjabins noch tonale Spuren finden kann. ↑Notenbsp. 18: Skrjabins Mazurka in E-Dur op. 3/4. T. 62–66. Die Töne des Zwischendominantseptakkords sind g (=Septime) – cis1 (Terz) – f1 (Sextvorhalt) – b1 (Sekundvorhalt). 64 6.6. Musikalische Verzierungen Die Verzierungen sind ein relevantes Thema in Hinblick auf die Interpretation von Chopins Werken. Sie dienen dazu, den Wert einer schönen Melodie zu erhöhen, und führen zu einer höheren Reichhaltigkeit. In diesem Kapitel werden zunächst bestimmte Aspekte der frühen Entwicklungsgeschichte der Verzierungen aufgegriffen, da sich Chopin an klassischen Vorbildern – z. B. Bach und Mozart – orientierte. Dementsprechend hielt er viele typische Regeln der damaligen Zeit ein. Eine Vorgehensweise, die im Verlauf dieses Kapitels ebenso dargestellt wird. 6.6.1. Entwicklung der Verzierungen Die Instrumente erfüllten in der Renaissance (1400–1600) zunächst hauptsächlich die Begleitfunktion, während dem Gesang der Vorrang eingeräumt wurde. Kurz danach kam es zu einem Aufblühen der Instrumentalwerke. Im Vergleich zum Gesang wiesen die damaligen Tasteninstrumente aufgrund ihrer Bauweise einige Beschränkungen auf. So war es beispielsweise nicht möglich, lange Tondauern zu halten. Man begann daher, die Melodie mit Verzierungen zu versehen, sodass lange Notenwerte in kürzere unterteilt wurden. Durch die Verwendung der musikalischen Ornamentik wurden damalige Instrumente wie Clavichord, Cembalo, Virginal oder Spinett allmählich unabhängiger und streiften ihre Rolle als Begleitinstrument ab. Im Barock kam es zu einer Blütezeit der musikalischen Ornamentik. Improvisierte Verzierungen sowie vorgegebene Ornamente, die durch bestimmte Symbole notiert waren, florierten. Zudem charakterisierten sie den damaligen musikalischen Stil. Bedingt ist dies durch die Bauweise der barocken Tasteninstrumente wie Cembalo und Clavichord. Da ihre Töne nach dem Anschlag der Taste sehr bald ausklingen und keine dynamischen Ä nderungen 65 möglich sind, haben Musiker extrem häufig auf Verzierungen zurückgegriffen, um für diese Mängel zu entschädigen. Diese Praxis zeigt sich beispielweise beim letzten Ton eines Barockstückes. Normalerweise wird an dieser Stelle keine Fermate notiert. Vom Interpreten wird ein Triller oder Mordent gespielt, um den Klang fortzusetzen. Diese Vorgehensweise wird „Diminution“ genannt (Notenbsp. 19). ↑Notenbsp. 19: Diminution. Es gab zunächst keine einheitlichen Verzierungsymbole, so gab es allerdings im Spiel auch keine bestimmten Regeln, wie verziert werden soll. Erst nach dem Jahr 1650 zeigten sich bezüglich der improvisierten Verzierungen einige Ä nderungen. So gibt es zunächst Stellen, bei denen der Spieler frei improvisierend verzieren durfte. In weiterer Folge begannen Komponisten allerdings, diese Verzierungen konkret zu notieren. In dieser Zeit wurden massenhaft bestimmte Verzierungsymbole entwickelt, die in Kompositionen für Laute, Viola da gamba, Cembalo und Orgel verwendet wurden. In diesem Bezug federführend war der französische Komponist François Couperin (1668–1733), der verzierte Noten in Symbole umwandelte. Nach und nach übernahmen die europäischen Komponisten diese vereinheitlichen Symbole. Vor der vollständigen systematischen Aufzeichnung kursierten viele verschiedene Varianten dieser Symbole, wobei es Bedeutungsunterschiede zwischen den einzelnen Komponisten gab. Der englische Musikwissenschaftler Robert Donington (1907–1990) hat die barocken Verzierungen in vier Kategorien eingeteilt: „Appoggiatura Family, Shake Family, Division Family und Compound 66 Ornaments“ 58 . Folgende Tabelle gibt einen Ü berblick über die ersten drei Kategorien der Ornamente in der Barockzeit. Die vierte Kategorie stellt kombinierte Verzierungen der ersten drei Kategorien dar, weswegen sie hier ausgelassen wird. Kategorien Appoggiatura Family Arten Shake Division Family Family (Vorschlag) (Bebung) (Division) Vorschlag Tremolo Doppelschlag Doppelvorschlag Vibrato Arpeggio Schleifer Triller Zusammenschlag Mordent Praller Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Verzierungen auch Manieren genannt. Carl Philipp Emanuel Bach widmet diesen in seinem Buch „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ ein umfassendes Kapitel. In der Wiener Klassik (ca. 1780–1827) entstanden viele Schriften, die Verzierungen abhandeln, beispielsweise „Versuch einer gründlichen Violinschule“ von Leopold Mozart, „Klavierschule“ von Daniel Gottlob Türk und „Klavierschule“ von Muzio Clementi. Die Ausführungen, die in diesen Schriften zu finden sind, wurden von den damaligen Wissenschaftlern hochgeschätzt. Aber wegen der Evolution der Instrumente zeigen sich bezüglich der Ausführung der musikalischen Ornamentik schon in der Klassik Ä nderungen. Als das Hammerklavier im 18. Jahrhundert aufkam, wurden Cembalo und Clavichord verdrängt, und das Hammerklavier galt als gängiges Tasteninstrument. Da es 58 Robert Donington, The Interpretation of Early Music, London 1963, S.131–132. 67 hinsichtlich Tonlänge, Klang und Dynamik über mehr Möglichkeiten als Cembalo und Clavichord verfügte, gab es keinen Bedarf mehr, die Verzierungen aufgrund des schnell ausklingenden Tons zu verwenden. Vielmehr wurde die Verzierung nun zu einem Teil der Melodielinie. Die Verzierungen wurden nun ausgeschrieben, weswegen es nicht mehr nötig war, auf die barocken Symbole zurückzugreifen. In der Klassik verringerte sich die Anzahl der Symbole, so gab es im Wesentlichen nur (Triller), (Mordent), (Doppelschlag) und (Arpeggio). In der Romantik (1825–1900) stand die kompositorische Freiheit und der Ausdruck der persönlichen Empfindung an vorderster Stelle. Dieselbe Tendenz zeigt sich hinsichtlich der Darstellung der Verzierungen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es bezüglich der Weiterentwicklung des Hammerklaviers groß e Fortschritte (siehe Kapitel 6.1.), wodurch sowohl Interpreten als auch Komponisten inspiriert wurden. Diese Zeit gilt als eine wichtige pianistische Epoche. Bezüglich der Ausführung der Verzierungssymbole gibt es keinen groß en Unterschied zwischen Romantik und Wiener Klassik, vielmehr zeigen sich nun stilistische Unterschiede zwischen den einzelnen Komponisten. Als pianistische Repräsentanten der Romantik gelten Chopin, Schumann und Liszt. Im Folgenden werden die Charakteristika von Chopins Verzierungen dargelegt. 6.6.2. Chopin’sche Verzierungen Ein charakteristisches Merkmal der Werke Chopins sind die reichhaltigen Verzierungen, die man in zwei Kategorien einteilen kann. Eine Kategorie umfasst die konservativen Verzierungen, z. B. Triller; die zweite beinhaltet Chopins individuell verzierte Tongruppen. Normalerweise begann der Triller in der 68 Romantik mit der Hauptnote. Um einen Triller mit der oberen Nebennote zu beginnen, musste dies mithilfe einer kleinstichigen Vorhaltsnote notiert werden (Notenbsp. 20). Diese Ausführungsweise wurde allerdings erst von Johann Nepomuk Hummel in seiner Klavierschule von 1828 gelehrt und verbreitete sich allmählich. Bei vielen Beethoven’schen Trillern gilt die Regel, mit der Hauptnote zu beginnen, wenn die Vorschlagsnote fehlt. Notenbsp. 20: Triller mit einer oberen Nebennote. Bei Chopin zeigen sich diesbezüglich Unterschiede, denn er zog die älteren Verzierungsformen vor. So zum beispiel den barocken Triller, der „von unten“ anfängt und mit den älteren Zeichen und notiert wird. Diese Zeichen waren zu Chopins Zeit längst auß er Gebrauch. Waren die gerade erwähnten Triller erforderlich, so wurden sie von späteren Komponisten außer Chopin gemäß Notenbsp. 21 – A notiert. Chopin hingegegen notierte diesen Triller immer auf jene Weise, die in Notenbsp. 21 – B ersichtlich ist. Er hat das dritte Nötchen ausgelassen, da der Triller bei ihm mit der Obernote beginnt: „Bei Chopin muß te der Triller...mit der Obernote beginnen. Wenn ihm eine Stichnote vorausgeht (die mit der Hauptnote identisch ist) heißt das nicht, daß diese Note verdoppelt werden muß ; das bedeutet nur, daß der Triller auf der Hauptnote beginnen soll und nicht, wie üblich, mit der Obernote.“59 Notenbsp. 21: Triller. In Hinblick auf das Zusammenspiel von Melodie und Begleitung sollte man aufpassen, dass die Verzierung am Schlag beginnt. Interessant ist diesbezüglich, dass aufgrund der Durchgangsnoten bei dieser Vorgangsweise ein neuer konsonanter oder dissonanter Klang erzeugt wird (Notenbsp. 22 und 23). 59 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels. S. 120. 69 „Dieser für ihn [Chopin; Anm. d. Verf.] so charakteristische Triller von unten wird fast immer falsch gespielt, nämlich mit Vorausnahme der zwei Sechzehntelnötchen. Der gleiche barocke Triller von unten wird im 3. Takt von Beethovens Appassionata fast immer richtig gespielt, mit Einsatz auf dem schweren Taktteil. Was aber Beethoven recht ist, ist Chopin billig.“60 ↑Notenbsp. 22: Chopins Ballade Nr. 3, T. 25–27. ↑Notenbsp. 23: Chopins Ballade Nr. 1, T. 113.61 Die individuellen verzierten Tongruppen Chopins, die häufig in Form von Stichnoten notiert wurden, nannte der schottische Pianist und Musikwissenschaftler John Petrie Dunn „Cadenzas“ 62 . Im Kapitel 6.3. wurde schon erwähnt, dass Chopins Kompositionen und deren Artikulation vom italienischen Belcanto stark beeinflusst sind. Die Cadenzas Chopins stellen eine Imitation der Fiorituren italienischer Opernarien dar. Diese sind nicht nur vom 60 Walter Georgii, Die Verzierungen in der Musik. Theorie und Praxis für Musiker und Musikfreunde, Zürich 1957, S. 31. 61 Adolf Beyschlag, Die Ornamentik der Musik, Leipzig 1908, S. 272. 62John Petrie Dunn, Ornamentation in the works of Frederick Chopin, New York 1971, S. 57. 70 „stile brillante“ beeinflusst. Zusätzlich weisen sie chromatische Figuren auf, die von der menschlichen Stimme nicht mehr zu singen sind. Diese Cadenzas stellen sowohl eine musikalische Dekoration als auch eine perfekte Synthese von Verzierung und Melodie dar. Dadurch wurde es möglich, die menschliche Gesanglichkeit am Klavier umzusetzen. Folgende Notenbeispiele zeigen Chopins verzierte Melodiefiguren und deren strukturelle Wurzeln. Die gewundene Figur ↑Notenbsp. 24-1: Arie von Rossini „La Cenerentola“. ↑Notenbsp. 24-2: Chopins Ballade Nr. 1, T. 32. Die gleitende Figur ↑Notenbsp. 25-1: Arie „Casta Diva“ aus Bellinis Norma. ↑Notenbsp. 25-2: Chopins Ballade Nr. 1, T. 246–248. 71 Die bogenfö rmige Figur ↑Notenbsp. 26-1: Duetto aus Rossinis „Semiramide“ ↑Notenbsp. 26-2: Chopins Nocturne op. 9 Nr. 3 in B-Dur, T. 27 (gesangliche Figur). ↑Notenbsp. 26-3: Chopins Ballade Nr. 4, T. 134 (pianistische Figur). Den „pianistischen“ Belcanto, der bereits vor Chopin vorhanden war, kann man überall in Chopins Nocturnes finden. Als Erfinder des Nocturnes gilt der irische Komponist, Pianist und Klavierpädagoge John Field (1782–1837), der zur damals berühmten „London Pianoforte School“63 gehört. Chopin wurde zum Teil von ihm inspiriert. Dennoch weisen die Werke Chopins ein eigenes Charakteristikum auf, weil Chopin die Kantabilität der „London Pianoforte School“, die Virtuosität des 63 London Pianoforte School: Dieser Zeitabschnitt reichte von 1766 bis 1860 und wurde vom Musikwissenschaftler Nicholas Temperley definiert. Die Erscheinung dieses Worts hängt mit der Konstruktion der damaligen Klaviere in London zusammen. Aufgrund der englischen Mechanik des Klaviers (tiefer Anschlag und langsame Reaktion der Taste) wurde ein Musikstil entwickelt, der durch kantable, leichte und zarte Melodien geprägt ist. Dieser Musikstil beeinflusste Komponisten der Romantik, z. B. Chopin. Vertreter dieses Stils waren Muzio Clementi, John Baptist Cramer, Jan Ladislav Dussek, John Field und George Frederick Pinto. 72 „stile brillante“ und die Schönheit des italienischen Belcanto übernahm und diese zu einer Einheit zusammenführte. 6.7. Chopins Pedalverwendung Vom berühmten Pianisten Anton Rubinstein ist bezüglich des Pedals folgende Aussage überliefert: „The more I play, the more I am throughly convinced that the pedal is the soul of the piano. There are cases where the pedal is everything.“64 Anhand dieser Aussage kann man erkennen, wie wichtig die Pedalverwendung in der Klaviermusik ist. In der Epoche Chopins zeigten sich hinsichtlich der Aufführungspraxis des Klaviers groß e Fortschritte. Von Chopin stammen nicht nur Innovationen die Artikulation sowie seine Art der Musik bzw. die neue Gattung Ballade betreffend, sondern er reformierte neben dem Fingersatzsystem, der typischen Harmonie und der klassischen Ornamentik auch die Pedalverwendung. Sein Verdienst ist der differenzierte Einsatz des Pedals. Vor Chopin war die Pedalfunktion einerseits noch im frühen Entwicklungsstadium (Kniepedal), andererseits konzentrierten sich weder Komponisten noch Pianisten besonders darauf, das Pedal und dessen Spieltechnik gezielt anzuwenden. Deswegen spielte die Pedalverwendung lange Zeit eine stiefmütterliche Rolle. Beethoven gilt diesbezüglich als Pionier, der die Wichtigkeit des Pedals entdeckte. In weiterer Folge integrierte er die Pedalwirkung in seine Kompositionen. Seine Planungen der Pedalverwendung waren für die damalige Zeit sehr kühn.65 Bis in die erste 64 Anton Rubinstein; Teresa Carreno: The Art of Piano Pedaling. Two Classic Guides. New York 2003, S. xi. 65 Details hinsichtlich der Pedalverwendung Beethovens kann man in William Neumen, „Beethoven’s Use of the Pedals“ in: The Pianist’s Guide to Pedaling, Bloomington 1985, S.142– 166 nachlesen. 73 Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Pedale von vielen Komponisten im Wesentlichen nicht differenziert eingesetzt. Chopin galt unter seinen Zeitgenossen als erster Komponist, der sich mit der Pedalverwendung intensiv auseinandersetzte. Er entwickelte alle Pedalwirkungen und Pedaltechniken. In den Werken Chopins bedeuten die Symbole Ped. und betätigen und es wieder wegzunehmen. Die das Pedal zu Pedalzeichen in den Notenbeispielen dieser wissenschaftlichen Arbeit wurden aus den originalen Fassungen übernommen. Diesbezüglich muss man die interessante Tatsache beachten, dass man zunächst die erste Edition (herausgegeben von Maurice Schlesinger, Paris) konsultieren muss. Die Pedalverwendung notierte Chopin generell sehr ausführlich; dennoch ließ er sie manchmal offen, um den Spieler selbst entscheiden zu lassen. So schrieb Chopin beispielsweise gar keine Pedalzeichen in der Etüde op. 10, Nr. 12 „Revolution“. Dies impliziert sicher nicht, dass Chopin dem Spieler keine Pedalverwendung in diesen Werken erlaubte. Eine berechtigte Erklärung ist vielmehr, dass es hinsichtlich der Pedalverwendung in diesen Werken viele Möglichkeiten gibt. In Abhängigkeit von der Ö rtlichkeit und vom verwendeten Klavier werden mithilfe des Pedals unterschiedliche Wirkungen erzeugt, weswegen Chopin keine Pedalzeichen notierte. Da Chopin die Struktur des Klaviers und die Pedalverwendung sehr gut kannte, erreichte er mithilfe des Pedals sehr viele feine Nuancen. Diese Anweisungen waren zwar auf den damaligen Hammerflügel abgestimmt. Obwohl es zwischen diesem und dem heutigen Flügel Unterschiede diesbezüglich gibt, lassen sich die von Chopin beabsichtigten Wirkungen dennoch auch auf einem modernen Flügel erzielen. Zu Chopins Spiel ist vom französischen Komponisten Antoine Marmontel in seinem Buch „Histoire du piano“ Folgendes überliefert: 74 „Chopin bediente sich der Pedale mit wundervollem Feinsinn. Er koppelte sie oft, um einen vollweichen, verschleierten Klang zu erreichen, aber noch häufiger benützte er sie getrennt bei glänzenden Passagen, bei gehaltenen Harmonien, bei tiefen Bässen, bei grellen, knallenden Akkorden (stridents, éclatants), [...].“66 Für die Verwendung des linken Pedals (una corda) hatte Chopin auch einen individuellen Standpunkt. In all seinen Klavierwerken scheint kein Zeichen für das linke Pedal auf. Der Grund ist derselbe wie vorhin. Es ist möglich, dass er das linke Pedal als Möglichkeit für klangliche Ä nderungen erachtete, und nicht als dynamische Reduzierung. Chopin sagte diesbezüglich: „Learn to make a diminuendo without the help of the [una corda] pedal; you can add it later.“67 Der polnische Pianist und Komponist Jan Kleczyński berichtete: „[...] Chopin wechselte oft und ohne Ü bergang vom Forte-Pedal aufs andere, vor allem in enharmonischen Modulationen. Diese Passagen hatten einen ganz besonderen Reiz, vor allem auf den Klavieren von Pleyel. [...] viele Passagen gewinnen durch einfaches Spiel ohne jeglichen Pedalgebrauch...oft begleitet das una-corda-Pedal wirklich gottvolle Melodien, die uns von der Erde erheben. Beispiele: Trio des Prelude op.28/13 (Takt 21–28), Walzer op. 64/2 (Takt 65–96) [...].“68 Chopin hatte bezüglich des Klanges eine scharfsinnige Wahrnehmung. Seine fein ausdifferenzierten Klangempfindungen spiegeln sich sowohl in seinen Kompositionen als auch hinsichtlich des Pedalgebrauchs wieder. Der sogenannte Klang enthält die Grundfrequenz und die Obertöne. So besteht grundsätzlich jeder Ton, den man hört, aus einer Grundfrequenz und bestimmten Obertöne. Die geringste Sinusschwingung ist die wahrnehmbare Tonhöhe; die anderen, die schneller schwingen, bestimmen die Klangfarbe. Daraus resultiert 66 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 120. 67 Jean-Jacques Eigeldinger, Chopin: Pianist and Teacher as seen by his pupils, New York 1986, S. 57. 68 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 120. 75 die Tatsache, dass die gleiche Tonhöhe, die von zwei ungleichen Instrumenten gespielt wird, unterschiedliche Klangfarben hat; wenn nun auf einem Instrument unterschiedliche Klangfarben hervorgebracht werden, wird dies durch das sich ändernde Verhältnis der Obertöne bestimmt. Folgendes Notenbeispiel (Notenbsp. 27) zeigt eine Obertonreihe. Der siebente, der elfte, der dreizehnte und der vierzehnte Teilton sind nicht im abendländischen Tonsystem enthalten, d. h. auf einem Klavier nicht spielbar. Sie sind tiefer als die entsprechenden Töne auf dem Klavier, weil dieses anders gestimmt ist. ↑Notenbsp. 27: Obertonreihe auf dem Grundton C mit 15 Obertönen. Die Obertontheorie wurde vom Mathematiker Joseph Fourier (1768–1830) im Jahr 1822 veröffentlicht. In diesem Jahr war Chopin ein 12-jähriger Junge. Es gibt keinen Beweis, dass Chopin diese fortschrittliche und professionelle Theorie kennengelernt haben könnte. Seine Kompositionen zeigen allerdings, dass Chopin selbst die Obertonwirkung bemerkte und diese dem Klang seiner Werke zugrundelegte. So erreichen Chopins Werke auch am modernen Klavier groß artige Klangwirkungen, obwohl es einen groß en Unterschied zwischen den Möglichkeiten des modernen Klaviers und des Hammerflügels gibt. Ein berühmtes Merkmal der Werke Chopins ist jene begleitende Figur, die eine breite Akkordzerlegung in der linken Hand darstellt. Diese folgt einem Grundprinzip, das der natürlichen harmonischen Resonanz entspricht. Chopin schrieb manchmal sogar eine Figur der Obertonreihe in der Begleitung (Notenbsp. 28). 76 ↑Notenbsp. 28: Chopins Ballade Nr. 1, T. 190–192, 175–177. Bezüglich der Pedalverwendung führte Chopin viele Ä nderungen ein. Neben der einfachsten Verwendung – das Pedal wird getreten und wieder losgelassen – kann das Pedal auch nur zur Hälfte bzw. in vielen weiteren Abstufungen getreten werden, wodurch viele unterschiedliche Klangfarben erzeugt werden können. Auch wenn es sich um die einfachste Verwendung handelt, gibt es schon vier unterschiedliche grundsätzliche Klangwirkungen: 1. das Spiel ohne Pedal; 2. die Verwendung des Pedals nach dem Anschlag der Töne; 3. gleichzeitiges Spiel der Töne und des Pedals; 4. Anschlag der Töne nach der Pedalverwendung. Diese vierte Klangwirkung wird beispielsweise am Anfang der Barcarolle op. 60 verlangt. Chopin notiert das Pedalsymbol vor dem ersten Ton, das heiß t, der erste Ton sollte erst nach der Pedalverwendung gespielt werden (Notenbsp. 29). Allerdings gab es viele Herausgeber, die Chopins Pedalwirkungen nicht beachtet haben, weswegen seine Planung, Töne und Pedal gleichzeitig zu spielen, vielfach falsch geändert wurde. ↑Notenbsp. 29: Chopins Barcarolle op. 60, T. 1–2. 77 „Selbstverständlich hat jeder hervorragende Pianist seine besondere Art des Pedalgebrauchs. Was Chopins besonderen Stil betrifft, so ist uns darüber leider nichts Näheres bekannt, und dies ist um so mehr zu bedauern, als er mit seinen Pedal-Bezeichnungen äusserst sorglos war. Rubinstein erklärt, dass die meisten Pedal-Bezeichnungen in Chopins Compositionen an unrichtiger Stelle stehen. Soviel wissen wir wenigstens: ‚Kein Clavierspieler hat vor ihm die Pedale wechselweise oder gleichzeitig mit solchem Geschmack und Geschicklichkeit gebraucht‘ und ‚durch beständigen Gebrauch des Pedals erreichte er des ‚harmonies ravissantes, des bruissements melodiques qui etonnaient et charmaient‘.‘ (Marmontel).“69 Die folgenden Notenbeispiele, die aus Chopins Balladen stammen, beweisen Chopins individuelle Planung der Pedalverwendung. ↑Notenbsp. 30: Chopins Ballade Nr. 2, T. 94–101. Die übliche Pedalverwendung ist: Das einmalige Niederdrücken des Pedals ist nur möglich, solange die Harmonie gleich bleibt. Wenn sich die Harmonie ändert, muss das Pedal nochmals niedergedrückt werden, weil die Harmonie ansonsten trüb wird. Chopin hingegen hielt sich nicht immer an diese Regel, was die Pedalwirkungen zeigen, die er in seinen Werken notierte. Das Notenbeispiel 30 zeigt einen Klangeffekt, bei dem zwei unterschiedliche Harmonien vermischt werden. Dieser Effekt zeigt sich vor allem im Takt 99 noch deutlicher. 69 Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 124–125. 78 ↑Notenbsp. 31: Chopins Ballade Nr. 3, T. 54–58. Das Notenbeispiel 31 zeigt eine ganz besondere Artikulation, die durch die inkonsistente Planung zwischen der harmonischen Phrase, der rhythmischen Phrase und dem Pedalgebrauch entsteht. Dieser 6/8-Takt verfügt aus diesem Grund über einen einzigartigen Impuls. ↑Notenbsp. 32: Chopins Ballade Nr. 4, T. 203–210. Im Notenbeispiel 32 wird gezeigt, dass Chopin im Takt 210 das Symbol auf den vierten Schlag notiert, während die Tonlänge schon auf dem ersten Schlag aufhört. Die daraus resultierende Klangwirkung ist, dass der lange Akkord (T. 207–210) allmählich leiser wird, bis er schließ lich ganz verschwindet. Die hier gezeigten Beispiele verdeutlichen Chopins feine Planungen der Klangwirkungen. Die Interpreten sollten Chopins Anweisungen richtig und genau lesen, dann kann man die Musik so darstellen, dass sie den originalen Intentionen des Komponisten entspricht. Chopin sagte bezüglich des Pedals auch öfters zu seinen Schülern: „The correct employment of it [use of the pedal, Anm. d. Verf.] remains a study for life.“70 70 Frederick Niecks, Frederick Chopin as a Man and Musician, 2. Aufl., Bd. 2, London und New York 1890, S. 341. 79 Zusammenfassung Chopin war ein absoluter Künstler, der sein eigenes musikalisches Talent, seine Empfindung und seine Gedanken völlig der Klaviermusik gewidmet hat. Durch die Essenz der Romantik schuf Chopin einen musikalischen Stil, der durch eine völlige Kantabilität und Virtuosität geprägt ist. Er hat das Klavier zur Blütezeit sowohl in der Musikgeschichte als auch in der Entwicklungsgeschichte des Klaviers geführt. Seine Musik hat eine eigene Attraktivität, so wurde beispielsweise die Melodik des italienischen Belcanto auf das Klavier übertragen und es kam zu einer Gleichstellung von Melodie und Begleitung. Chopin änderte die Art der Begleitung, indem er typische Begleitungen wie den Alberti-Bass bzw. die Akkordzerlegungen in enger Lage durch breite Akkordzerlegungen ersetzte. Des Weiteren nutzte er die Besonderheiten des Pedals aus, um zahlreiche Klangfarben und harmonische Klangwirkungen zu erzeugen. Chopin verehrte die beiden Komponisten J. S. Bach und W. A. Mozart sehr. Er übernahm mit der Polyphonie und der Stabilität die kompositorischen Gedanken von Bach sowie den graziösen und feinen Musikstil von Mozart. In Chopins Werken zeigt sich einerseits der zierliche und ausgewogene Musikstil der Klassik, andererseits der persönliche emotionale Ausdruck der Romantik. Chopin brach mit der althergebrachten Tradition, dass jedes Stück nur eine einzelne musikalische Form aufweist. Vielmehr kombinierte er Sonatenform, Rondoform und Variationsform zu einer Einheit, und diese Errungenschaften zeigen sich in seinen Kompositionen, z. B. den vier Balladen, durchaus. Chopins vier Balladen weisen jeweils unterschiedliche Spezialitäten, eine anders geartete Virtuosität und verschiedene musikalische Bedeutungsgehalte auf. Es ist mühevoll, diese vier Balladen gut zu interpretieren. Schwierigkeiten 80 ergeben sich auch bezüglich der Spieltechnik, denn der Anschlag des modernen Klaviers ist schwerer als jener der damaligen Klaviere. Chopins bevorzugtes Klavier – der Pleyel-Flügel – hat einen leichten Anschlag und einen durchsichtigen Klang. Die schwierigen Stellen, z. B. der schnelle Schlussteil der vierten Ballade, sind auf den damaligen Instrumenten nicht so beschwerlich zu spielen. In der Lebenszeit Chopins gab es noch keine Möglichkeit, Tonaufnahmen anzufertigen. So kann man nur auf seine eigenen schriftlichen Ü berlieferungen zurückgreifen oder auf die Aufzeichnungen seiner Schüler, um zu rekonstruieren, wie das Klavierspiel des groß artigen Pianisten Chopin charakterisiert war. Auf jeden Fall muss der heutige Interpret genau wissen, dass man sich im eigenen persönlichen Spiel noch an originale Meinungen des Komponisten halten sollte. Der französische Komponist Pierre Zimmermann (1785–1853), der auch Klavierprofessor am Conservatoire de Paris war, brachte dies auf den Punkt: „[...] his [Chopin, Anm. d. Verf.] music has a character that allows one to slightly relax from the strict observation of the measure. However, one must use sparingly the indication we give here, because it only concerns, in certain pieces of this master, a certain abandon filled with an indescribable charm under the author’s fingers. Chopin, like every original talent, cannot be imitated; however one must strive to enter into the spirit of his compositions so as to not make nonsense of them.“71 71 Jonathan Bellman, „Chopin and his Imitators: Notated Emulations of the ‚True Style‘ of Performance“ in: 19th-Century Music, Bd. 24, Nr. 2, Autumn 2000, S. 152. 81 Literaturverzeichnis Bü cher – Agay, Denes: Teaching Piano. A Comprehensive Guide and Reference Book for the Instructor, New York 1981. Anton Rubinstein; Teresa Carreno: The Art of Piano Pedaling. Two Classic Guides. New York 2003. Bellman, Jonathan: „Chopin and his Imitators: Notated Emulations of the ‘True Style’ of Performance“ in: 19th-Century Music, Bd. 24 Nr. 2, Autumn 2000, S. 149-60. Beyschlag, Adolf: Die Ornamentik der Musik, Leipzig 1908. Bourniquel, Camille: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960. Brée, Malwine: The Leschetizky Method: A Guide to Fine and Correct Piano Playing, New York 1913. 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