Chopin vier Balladen und Aufführungspraxis

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Chopin vier Balladen und Auffü hrungspraxis
Yung-Yu Liang
Wissenschaftliche Masterarbeit
Universität fü r Musik und darstellende Kunst Graz
Institut 15 Alte Musik und Auffü hrungspraxis
Betreuer
Ao.Univ.Prof. Mag.art. Mag.phil. Dr.phil. Klaus Hubmann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ......................................................................................................................... 2
1.
Chopins Biographie, der Einfluss der damaligen Epoche und die Eigenheiten
seines Stils .................................................................................................................. 5
2.
1.1.
Biographie ..................................................................................................... 5
1.2.
Einfluss der damaligen Epoche ..................................................................... 8
1.3.
Charakteristika von Chopins Stil .................................................................. 10
Ballade ................................................................................................................ 12
2.1.
Ursprung der Ballade (von der Wurzel bis in die Romantik) ......................... 12
2.2.
Chopins Balladen ........................................................................................ 13
3.
Ein bedeutender Charakter – Adam Mickiewicz .............................................. 16
4.
Die vier Balladen ................................................................................................ 21
4.1.
Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23 ...................................................................... 21
4.2.
Ballade Nr. 2 in F-Dur op. 38 ....................................................................... 24
4.3.
Ballade Nr. 3 in As-Dur op. 47 ..................................................................... 28
4.4.
Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52 ....................................................................... 31
5.
Chopins bevorzugtes Fabrikat – der Pleyel-Flü gel.......................................... 35
6.
Auffü hrungspraxis ............................................................................................. 38
6.1.
Unterschiede zwischen Hammerflügeln und modernen Flügeln .................. 38
6.2.
Das tempo rubato ........................................................................................ 44
6.3.
Chopins Artikulation – Legato und Legatissimo ........................................... 53
6.4.
Chopins individuelles Fingersatzsystem ...................................................... 56
6.5.
Chopin-Akkord............................................................................................. 62
6.6.
Musikalische Verzierungen .......................................................................... 65
6.7.
Chopins Pedalverwendung .......................................................................... 73
Zusammenfassung ..................................................................................................... 80
Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 82
1
Vorwort
Der polnische Komponist und Pianist Frédéric Chopin war ein Repräsentant der
Romantik. Chopin zeigte groß e Begeisterung für das Klavierspiel und das
Komponieren, dies ist anhand seiner kreativen Klavierwerke unschwer zu
erkennen. Seine Werke – die zum groß en Teil für Klavier komponiert sind –
enthalten
szenische
Erzählungen,
reichhaltige
Harmonien,
berührende
Cantabile-Melodien, bewegte Rhythmen und die Seele der polnischen
volkstümlichen Musik. Die musikalischen Merkmale Chopins sind die eigenartige,
feine Artikulation, schwierig auszuführende pianistische Spieltechniken, das
graziöse Melos, eine inhaltsreiche Imaginationen sowie sehr innerliche
emotionale Darstellungen.
Chopin kann man nicht nur als „Komponisten“, sondern auch als „pianistischen
Dichter“ bezeichnen. Unter seinen Kompositionen gelten die vier Balladen als
jene Werke, welche am eindeutigsten zur musikalischen Poetik gezählt werden
können. Chopins vier Balladen sind jene Werke, welche die ausgereiften
Kompositionstechniken der Blütezeit seines kompositorischen Schaffens (18351842) widerspiegeln. Es ist für einen Pianisten mühevoll, Chopins musikalische
Sprache und seine dramatischen, aber auch empfindlichen Emotionen zu
interpretieren.
Die Ballade erzählt, wie der Name andeutet, eine Geschichte oder eine
Begebenheit. Zunächst schien die Ballade als oft verwendetes volkstümliches
Tanzlied im hohen Mittelalter auf. Danach entwickelte sich im 19. Jahrhundert die
instrumentale Ballade als neue Gattung, deren erste Belege – zunächst von der
literarischen Ballade ausgehend – von Chopin komponiert wurden.
2
In Zusammenhang mit Chopins vier Balladen muss man den polnischen
Dichter Adam Mickiewicz erwähnen. Chopin war stark von ihm beeinflusst, da er
sich mit Mickiewicz’ Gedichten intensiv beschäftigte und sie beispielsweise auch
als Kompositionsvorlagen verwendete. Darauf wird im Kapitel über diesen
Dichter eingegangen.
Eine Besonderheit von Chopins Balladen ist die musikalische Form, die frei wie
eine Fantasie ist, die keine Beschränkungen und noch mehr Freiräume hat. Die
Stimmung der Balladen Chopins ist vielfältig. Sie weisen starke Charakterzüge
und Kontraste auf, wie Tempoänderungen, die dramatische Dynamik,
musikalische Szeneänderungen und Chopins individuelle Harmonik mit dem
„Chopin-Akkord“.
In meiner wissenschaftlichen Arbeit werde ich mich nicht nur mit dem
Hintergrund
der
Balladen
Chopins
befassen,
sondern
auch
mit
der
Aufführungspraxis bzw. mit Chopins Artikulationen (Rubato, Legatissimo, Pedal,
Verzierung und Chopin-Akkord) und dem Klang des damaligen Hammerflügels.
3
Abb. 1: Frédéric Chopin. Bleistiftzeichnung von Franz Xaver Winterhalter 1847.
4
1. Chopins Biographie, der Einfluss der damaligen Epoche und
die Eigenheiten seines Stils
1.1. Biographie
Frédéric Chopin war ein polnisch-französischer Komponist, Pianist und
Pädagoge, der in der Ortschaft Żelazowa Wola in der Nähe von Warschau am
22. Februar 1810 geboren wurde. Obwohl Chopin in einem aristokratischen Kreis
lebte und er oft im höfischen Pariser Salon1 auftrat, war er dennoch nicht von
adliger Herkunft, sondern stammte aus einer etablierten Mittelstandsfamilie.
Sein Vater Nicolas Chopin, ein Franzose, hatte sich 1787 in Polen
niedergelassen und war Lehrer am Warschauer Lyzeum geworden. Er war ein
Patriot, er nahm die polnische Staatsbürgerschaft an und kämpfte im RussischPolnischen Krieg (1792) und im Kościuszko-Aufstand (1794) auf polnischer Seite.
Nach dem Untergang Polens durch die zweite Teilung verdiente er seinen
Unterhalt als Hauslehrer für die französische Sprache beim Grafen Skarbek in
Żelazowa Wola. In dieser Zeit lernte Nicolas seine spätere Frau Justyna
Krzyżanowska kennen und verliebte sich in sie. Justyna war eine verarmte
Verwandte der Skarbeks, die dort als Haushälterin arbeitete. Sie konnte Klavier
spielen, verfügte über eine gute Singstimme und hegte groß e Leidenschaften für
das polnische Volkslied. Es ist verständlich, dass sich Chopin für die Oper
begeisterte, wurde er doch von seiner Mutter mehr oder weniger dahingehend
beeinflusst. Auß erdem war er wie sein Vater ein Patriot. Chopins Eltern heirateten
im Jahr 1806 und die Familie verlegte ihren Wohnsitz nach Chopins Geburt im
Jahr 1810 nach Warschau.
1
Pariser Salon: Der Salon war kultureller Treffpunkt der adeligen Gesellschaft und wurde im 19.
Jahrhundert in Frankreich als Mittelpunkt der Kunstausübung ansehen. Ü blicherweise fanden
diese Zusammenkünfte in Privatwohnungen statt.
5
Die gesamte Familie war künstlerisch begabt, der junge Chopin zeigte
allerdings eine außergewöhnliche Begabung. Das musikalische Talent Frédéric
Chopins zeigte sich schon in sehr frühen Jahren. Chopin erhielt seinen ersten
Klavierunterricht mit sieben Jahren bei Vojtěch Živný. Schon bald bat man ihn,
auf Privatgesellschaften angesehener Warschauer Familien zu spielen. Sein
erstes Konzert bestritt er mit acht Jahren mit einem Konzert des böhmischösterreichischen Komponisten Adalbert Gyrowetz. Ab diesem Zeitpunkt trat
Chopin in den Salons des polnischen Hochadels und der Aristokratie auf. Seine
frühen Tanzstücke lehnten sich stilistisch meist an den Salonstil seiner
polnischen Zeitgenossen und deren unmittelbare Vorgänger an. Chopins Stil
wurde zum Teil später durch die Kompositionsweise J. S. Bachs und die Wiener
Klassik, die ihm durch seinen Lehrer und das Konservatorium vermittelt wurden,
stark beeinflusst. Im Jahr 1822 wechselte Chopin zum berühmteren Józef Elsner,
um Privatstunden in Musiktheorie und Komposition zu nehmen. Chopin setzte
den Unterricht bei ihm auch fort, als er 1826 ins Konservatorium eintrat. Elsner
achtete im Unterricht auf die Entwicklung des persönlichen Stils der Studenten,
und ermöglichte auch Chopin die gute und freie Entfaltung seines Stils. Chopins
künstlerische Reife zeigte sich bereits in den Jahren 1827/28, als er die
Variationen über „Là ci darem la mano“ op. 2 komponierte, die er seinem Freund
Tytus Woyciechowski widmete. Dieses Werk verhalf Chopin zur Berühmtheit. In
der deutschen Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 7. Dezember 1831
schrieb Robert Schumann eine Rezension, die Chopin in den allerhöchsten
Tönen lobte: „ Hut ab ihr Herren, ein Genie“. Chopin trat in weiterer Folge
zwischen 1829 und 1831 bei vielen Konzerten in Warschau, Paris und Wien auf,
und seine Auftritte wurden in vielen Veröffentlichungen hoch geschätzt.
Während seinen vielen Konzertreisen zwischen 1829 und 1831 kam es zum
6
Novemberaufstand (Polnisch-Russischer Krieg 1830/1831). Chopin vernahm
diese Nachricht, aber er konnte wegen seines schlechten Gesundheitszustands
nicht an den Kämpfen der polnischen Truppen teilnehmen. Kurz danach, als er
durch Stuttgart fuhr, erfuhr er von der Niederschlagung des Aufstands des
Fürstentums Warschau durch die zaristischen Truppen, was Chopin zu dieser
Ä uß erung veranlasste: „All dies hat mir viel Schmerz verursacht. Wer hätte es
vorgesehen!“.2 In tiefer Trauer komponierte er die kraftvolle und emotionale 12.
Etüde „Revolution“ aus den Etüden op. 10. Anhand dieses Werkes kann man
erkennen, dass Chopin sich nach seinem Vaterland stark sehnte.
Chopin trat oft in Salons auf, wo er viele Künstler kennenlernte. Zu einigen von
ihnen, zum Beispiel zum polnischen Dichter Adam Bernard Mickiewicz, zum
französischen Maler Ferdinand Victor Eugene Delacroix, zum ungarischen
Komponist Franz Liszt und zur französischen Romanschriftstellerin George Sand,
entwickelte sich eine gute Freundschaft. Vor allem Mickiewicz und Delacroix
waren Inspirationsquellen für Chopins Kompositionen.
Die Geschichte von Chopin und Madame George Sand auf Mallorca ist bereits
oft erzählt worden. Ab ihrer ersten Begegnung standen Chopin und Sand in
engem Kontakt. Ende Oktober 1838 unternahm Chopin mit Sand und ihren zwei
Kindern Maurice und Solange eine Reise nach Mallorca, aber schon bald wurde
der wunderbare Urlaub durch Chopins Gesundheitszustand, der sich zunehmend
verschlechterte, vereitelt. Bei dem ungewöhnlichen feuchtkalten Wetter war er an
Tuberkulose erkrankt. Trotz dieser Umstände vollendete Chopin seine 24
Préludes und die zweite Ballade op. 38. Madame Sand sorgte sich um Chopins
gesundheitliches Befinden, und so brachte sie Chopin zu ihrem Landsitz Nohant
2
James Huneker: Chopin.The Man and His Music, o.O. 2008, S.30. übers. von Liang Yung-Yu.
7
mit. „Nohant hat Chopins Leben verlängert, denn wohl oder übel muß te er einige
Monate des Jahres im Grünen verbringen. Wenn er auch eher ein Stadtmensch
war ― hier jedenfalls, in dieser Atmosphäre ländlichen Schloßlebens, war für
lange Zeit seine Arbeitsstätte.“3 Während dieser mit George Sand verbrachten
Zeit komponierte Chopin viele Meisterwerke, wie die Sonate b-Moll op. 35, das
Scherzo op. 39, die zweite der Polonaisen op. 40 u. a. In den folgenden Jahren
1840 bis 1846 hielt sich das Paar regelmäß ig zur Sommerfrische in Nohant auf,
und es entstanden die wunderschöne dritte und vierte Ballade.
Neben den umfassenden Besuchen der Salons war Chopins Leben in der
Winterzeit dem Unterrichten gewidmet. Zu Beginn der 1840er-Jahre wurde
Chopin als Klavierlehrer bekannt. Es sind ungefähr 150 Namen derjenigen
überliefert, die zum groß en Teil für kurze Zeit bei ihm studiert haben.
In Februar 1848 gab Chopin sein letztes Konzert in Paris. Nach diesem Konzert
war er schon schwer erkrankt, dennoch reiste er nach England sowie Schottland,
und spielte sogar für die englische Königin. Wegen seiner sich zunehmend
verschlechternden Erkrankung kehrte er nach Paris zurück, wo er am 17. Oktober
1849 an Tuberkulose starb.
1.2. Einfluss der damaligen Epoche
Während der Lebenszeit Chopins fanden einige Ereignisse in Europa statt, die
das menschliche Leben und Denken stark beeinflusst haben. In diesem
Zusammenhang muss z. B. die Französische Revolution (Ende des 18. Jh.)
erwähnt werden, die als Ziel u. a. die Abschaffung des Ständestaates hatte und
wo man versuchte, das Motto Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu
3
Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960,
S. 89.
8
verwirklichen. Der Widerspruchsgeist breitete sich sehr bald in ganz Europa aus,
wobei es natürlich auch Auswirkungen auf die literarischen und künstlerischen
Werke gab. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einige patriotische
Denker und Musiker, die für Freiheit und Gleichheit eingetreten sind und deren
Werke heftige persönliche Emotionen widerspiegeln und einen nationalen Stil
aufweisen. In Hinsicht auf die europäische Literatur gelten England, Deutschland
und Frankreich als wichtige literarische Entwicklungsorte. Als wichtige Literaten
sind beispielsweise der englische Dichter John Keats (1795–1821), der „Beauty
is truth, truth beauty, —that is all“4 initiierte, zu nennen; der deutsche Dichter
Heinrich Heine (1797–1856), der die Befreiung der Menschheit und den
Ausdruck des Gefühls initiierte; die französische Schriftstellerin George Sand
(1804–1876), die initiierte, dass Emotion durch die Räson ersetzt wird. In Hinsicht
auf die europäische Musik gab es eine Tendenz zur Freiheit, Einzigartigkeit und
zum persönlichen emotionalen Ausdruck. Die musikalische Form wurde von den
Regeln der Klassik befreit; bezüglich des Rhythmus wurden komplizierte,
unregelmäß ige und freie Modelle bevorzugt; in der Harmonik kommen Non-,
Undezim- und sogar Tredezimakkorde vor, und es wurde häufig in nicht
verwandte Tonarten moduliert. Durch den Anstieg des nationalen Bewusstseins
verwendeten viele Komponisten in ihren Werken volksmusikalische Motive.
Ü berdies
gab
es
eine
häufigere
Verwendung
von
differenzierten
Vortragsbezeichnungen und dynamischen Kontrasten, um als Komponist die
Emotionen ausdrücken zu können.
4
Aus dem Poem „Ode on a Grecian Urn“ von John Keats.
9
1.3. Charakteristika von Chopins Stil
1.3.1. Einfluss des polnischen Liedes
Die Motivik der Werke Chopins wurde zum Groß teil durch das polnische Volkslied
beeinflusst, so sind dessen Spuren z. B. in den Etüden, Nocturnes, Mazurkas,
Balladen, Scherzi und Fantasien zu finden. Das polnische Volkslied weist in sehr
vielen Fällen eine tänzerische Form auf, so liegen auch mehr als einem Viertel
von Chopins Werken eine Tanzform bzw. ein Dreiertakt zugrunde. Darüber
hinaus stehen polnische Volkslieder oft in Kirchentonarten, deren Spuren in
Chopins Mazurkas häufig vorkommen. Obwohl Chopin in jungen Jahren sein
Vaterland verließ , kann man in seinen Werke dennoch seine Vaterlandsliebe
bemerken. Im folgenden Abschnitt wird auf das polnische Volkslied Mazurka
eingegangen, das in Bezug auf Chopins vier Balladen eine wichtige Rolle
einnimmt.
1.3.2. Mazurka
Der Tanz Mazurka, dessen Name von der polnischen Landschaft Masowien
(Polnisch: Mazowsze) hergeleitet wurde, ist eine Synthese der drei polnischen
Volkstänze Mazurek, Kujawiak und Oberek. Mazurek ist ein langsamer Volkstanz,
der sich in der vornehmen polnischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert groß er
Popularität erfreute und sich ab dem 18. Jahrhundert in andere europäische
Staaten ausbreitete. Der typische Rhythmus des Mazureks ist
oder
.
Kujawiak ist ein bäuerlicher Tanz, dessen Tempo um einiges langsamer als das
des Mazureks ist. Die Musik steht häufig in Moll und deren Melodik weist zum
groß en Teil einen empfindsamen Ausdruck auf, weswegen die Musik eine
10
massive melancholische Stimmung. Der typische Rhythmus des Kujawiak ist
.
Der Oberek ist ein schneller Tanz, der nach dem Kujawiak folgt. Weil sein Tempo
schnell ist, weist seine Musik einfache Rhythmen auf. Ein weiteres
Charakteristikum sind die groß en Intervallsprünge in der Melodik. Der Rhythmus
des Obereks ist
.
Die drei polnischen Volkstänze, die oben angesprochen wurden, haben als
unschwer zu erkennendes gemeinsames Merkmal den Dreiertakt und die
ungewöhnlichen Betonungen auf der zweiten oder dritten Zählzeit. Die Mazurka
nimmt in Chopins Œuvre den umfangreichsten Platz ein und weist üppige
Stimmungen und Eigenarten auf, so zum Beispiel die Synthese des Zweier- und
Dreiertaktes (op. 33, Nr. 4), die Verwendung von verschiedenen Kirchentonarten
(op. 24, Nr. 2); die Nachahmung des Volksinstruments Dudelsack (op. 6, Nr. 3);
die Verwendung chromatischer Wirkungen (op. 56, Nr. 2); die Verwendung
symphonischer Wirkungen (op. 41, Nr. 1; op. 59, Nr. 3; op. 63, Nr. 1). Die
wichtigste erwähnenswerte Spielweise, die in den Werken Chopins gefordert ist,
ist das Tempo Rubato. Dieses beruht auf dem Impuls, der eine wesentliche Rolle
in den tanzartigen Werken spielt. Auf dieses Thema wird im Kapitel
Aufführungspraxis genauer eingegangen.
1.3.3. Absolute Musik5
Chopins Werke haben quasi keine Titel, in diesem Punkt unterscheidet er sich
von der typischen romantischen Praxis. Er beschrieb seine Werke absichtlich
5
Absolute Musik: Eine Instrumentalmusik, die keine auß ermusikalischen Inhalte darstellt, also
zweckfrei ist. Im weiteren Sinn bezeichnet der Begriff ein Werturteil über das „Wesen“ der Musik
oder eine höchste Qualität von „Reinheit“ und „Vollkommenheit“ in der Musik.
11
nicht, um einen Freiraum für die Vorstellungskraft der Pianisten und Zuhörer zu
lassen. Aus diesem Grund gilt er als Komponist absoluter Musik, nicht jedoch der
Programmmusik6.
1.3.4. Charakterstück
Viele Werke Chopins, wie die Préludes, Nocturnes, Impromptus, Scherzi und
Balladen, sind Charakterstücke. Ein Charakterstück besteht nur aus einem
einzigen Satz und es weist eine freie dreiteilige, und in manchen Fällen auch
zweiteilige Form auf. Es soll ein bestimmtes Temperament, einen Charakterzug
nachzeichnen sowie eine bestimmte Stimmung ausdrücken. Manche Werke
wurden von ihren Komponisten mit einem Titel versehen, der einen Querverweis
auf die Literatur, Poesie oder Erzählung darstellt, z. B. Schumanns Papillons op.
2 und Carnaval op. 9 und andere.
2. Ballade
2.1. Ursprung der Ballade (von der Wurzel bis in die Romantik)
Ballade („ballata“, „ballada“, „balada“ = „Tanzlied“) ist im hohen Mittelalter ein
einstimmiges Tanzlied, das der okzitanischen Sprache der südfranzösischen
mittelalterlichen Trobadordichtung entstammt und dessen feste Form von den
Trobadors
und
Trouvères
ausgebildet
wurde.
Die
ersten
schriftlichen
Ü berlieferungen der Ballade stammen aus dem Roman de Fauvel aus dem 13.
Jahrhundert. Dieser weist einen episch-fiktionaler Charakter auf; es gibt zum Teil
6
Programmmusik: Eine Instrumentalmusik, die einem auß ermusikalischen Programm folgt, das
eine bestimmte Vorstellung von Bildern oder Geschichten schaffen soll und beispielsweise
durch beigegebene Ü berschriften und Titel verdeutlicht wird.
12
refrainartige Bestandteile wie Rondeau, Virelai und Ballata; der Text ist meist
gereimt und strophisch. Diese literarische und musikalische Gattung wurde
zunächst von Adam de la Halle (1220–1288) und Jehannot de Lescurel (✝1303)
seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich gepflegt. Danach war die Blütezeit der
Ballade mit Guillaume de Machaut (1300–1377) und Eustache Deschamps
(1345–1404) und Anfang des 15. Jahrhunderts mit Christine de Pisan (1364–
1429) und Charles d’Orléans (1394–1465) anzusetzen. Die Ballade entwickelte
sich schnell zu einer eigenen unabhängigen literarischen Form, die zunächst
einstimmig und dann mehrstimmig vertont wurde. Einer Strophe entsprechen
zwei musikalische Perioden: Die erste wird wiederholt (Stollen), die zweite, der
am Ende oft der Refrain folgt, erscheint nur einmal (Abgesang). Die Form der
Ballade ist demzufolge AAB oder AABR (Refrain).
Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich die instrumentale Ballade, die vor
allem im Bereich der Klaviermusik angesiedelt ist. Sie ist wie das Charakterstück
in ihrer musikalischen Form frei. Die ersten instrumentalen Balladen wurden von
Chopin verfasst, weitere Werke dieser Gattung folgten von Johannes Brahms,
Franz Liszt und Claude Debussy. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
schuf Gabriel Fauré eine Ballade mit einer größ eren Besetzung. Er komponierte
die dreisätzige Ballade für Klavier und Orchester op. 19 (1881), deren Bandbreite
vom Elegischen bis zum Virtuosen reicht. Sie war Vorbild für die polytonale,
kontrastreiche Orchesterballade von Darius Milhaud (1920).
2.2. Chopins Balladen
„Das Wort ‚Ballade‘ trug wohl zuerst Chopin in die Musik über“, schrieb R.
Schumann am 25. Oktober 1842 in der Neuen Zeitschrift für Musik (Jg. 34, Bd.
17, S. 142). Chopin komponierte insgesamt vier Balladen zwischen 1831 und
13
1842. Diese Balladen gelten als seine Meisterwerke und zählen auf jeden Fall
zum Standardrepertoire von Pianisten. Die Werke weisen eine groß e
Konzentriertheit, formale und klangliche Originalität sowie dramatische
Durchschlagskraft
auf.
Sie
stellen
eine
Neuschöpfung
dar
–
ein
Instrumentalgedicht, in dem es wie bei Chopins Scherzi kein Formgerüst gibt. Es
zeigt sich eine enge Beziehung zwischen seinen Balladen und Scherzi, da sie
viele inhaltliche Ä hnlichkeiten aufweisen: „Es sind gewaltige, eruptive Werke mit
hohem Intensitätsgrad und konvergierendem Charakter. Die Balladen enthalten
Scherzoelemente und die Scherzi Balladenelemente.“7 Des Weiteren liegen die
Entstehungszeiten der Scherzi und Balladen nahe beieinander: Sowohl das 1.
Scherzo als auch die 1. Ballade wurden 1835 komponiert; das 2. Scherzo 1837
und die 2. Ballade 1839; zwischen dem 3. Scherzo aus dem Jahr 1839 und der
3. Ballade aus dem Jahr 1841 liegen nur zwei Jahre; aus dem selben Jahr – 1842
– stammen das 4. Scherzo und die 4. Ballade. Unter anderem Franz Liszt,
Johannes Brahms und Edvard Grieg folgten ihm, so z. B. Liszts Balladen in DesDur und h-Moll, Brahms Balladen op. 10 und Griegs Ballade in g-Moll. Die
gewichtigsten Werke aus Chopins Balladenzyklus sind die erste und vierte
Ballade, die sowohl eine relativ größ ere Struktur aufweisen als auch etwas länger
als die beiden mittleren sind: 1. und 4. Ballade dauern neun bis zwölf Minuten;
die 2. und 3. Ballade hingegen sieben bis acht Minuten. Chopin beschäftigte sich
hier gleichzeitig mit den und gegen die überlieferten Formen, insbesondere mit
der Dreiteiligkeit (A-B-A), dem Sonatensatz und der Variation. Am komplexesten
zeigt sich dies in der vierten Ballade, denn hier werden „durchkomponierte,
richtungsorientierte Strukturen in den Vordergrund [gestellt], bei denen
7
Ulrich Erckenbrecht: Brief über Chopin. Erläuterung einer Vorliebe, 1. Aufl., Kassel 2002. S. 63.
14
Veränderung und Variation Entwicklungsfunktionen erfüllen und Integration und
Synthese zwischen Sonatenform und Variationenprinzip als wesentliche Ziele
gelten“8. Obwohl die verwendete „Sprache“ in den Balladen die „Musik“ ist, zeigt
sich dennoch Chopins polnischer Hintergrund. Seine Balladen, die den
Nationalgeist verströmen und Elemente des volkstümlichen Tanzliedes enthalten,
werden durch das fließ ende, tanzartige 6/4- bzw. 6/8-Zeitmaß bestimmt. „In
diesen Stücken erleben wir jenen Dualismus, der Chopin nicht nur als Musiker
prägte, sondern auch als Mensch – Krieger, kampfbereit bis lauernd und im
übertragenen Sinne zuschlagend dort. Delacroix hat ihn so gesehen, erkannt und
auf die Leinwand gebannt... Da Chopin erst in Paris begann, Balladen zu
komponieren, liegt es nahe, dass sich hier seine Sehnsucht nach der Heimat
Ausdruck verschafft.“9
Wenn man die Balladen Chopins betrachtet, muss man auch auf den
wichtigsten Dichter der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, eingehen. Es ist
ein nach wie vor umstrittenes Thema, ob Chopin auf Mickiewicz Bezug nimmt,
da es keinen unmittelbaren Beleg dafür gibt und überdies in Chopins Balladen
kein Hinweis auf literarische Vorlagen zu finden ist. Die Balladen kann man
natürlich auch als absolute Musik ansehen. Aber man ist sich sicher, dass Chopin
und Mickiewicz durch eine tiefe Freundschaft verbunden waren und Chopin
zweifellos durch Michiewicz’ „Litauische Balladen“ inspiriert wurde; Schumann
berichtet, dass Chopin „zu seinen Balladen durch einige Gedichte von Adam
Mickiewicz angeregt worden sei“ 10 . Im nächsten Abschnitt wird auf diesen
8
Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 233.
9
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 268.
10
Martin Kreisig (Hg.): Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 5. Aufl. Leipzig 1914,
Bd.2, S. 32.
15
polnischen Dichter eingegangen.
3. Ein bedeutender Charakter – Adam Mickiewicz
Adam Mickiewicz gilt als polnischer Nationaldichter und Hauptvertreter der
polnischen Romantik. Mickiewicz wurde am 24. Dezember 1798 in Zaosie
(Nowogródek, Litauen) geboren und im Geist eines aufgeklärten Patriotismus
erzogen. Mickiewicz’ Kindheit unter dem einfachen Landvolk mit seinen Märchen,
seiner Sagenwelt und seinen Sehnsüchten schlug sich später im dichterischen
Werk deutlich nieder. Mickiewicz betätigte sich in der Befreiungsbewegung,
wurde danach inhaftiert und schließ lich verbannt. In weiterer Folge reiste er durch
Westeuropa, begegnete Goethe in Weimar und lehrte schließ lich Slawistik in
Paris. Als er mit französischer Unterstützung in Konstantinopel polnische
Soldaten für den Krimkrieg gegen Russland anwarb, starb er 1855 an der Cholera.
Er lernte in den Salons den Komponisten Chopin kennen, der von seinen
Gedichten stark beeinflusst wurde. Die Werke Mickiewicz’ fanden Niederschlag
in Chopins instrumentalen Balladen, aber seine Gedichte wurden von Chopin
auch als Libretto verwendet, z. B. im Zyklus Polnische Lieder op. 74, Nr. 6 und
Nr. 12. Der Text wurde aus dem Polnischen ins Deutsche von Wilhelm Henzen
und Max Kalbeck übersetzt. (Notenbsp. 1)
16
Notenbsp. 1: Polnische Lieder op.74, Nr. 6 (Chopin).
17
18
19
Folgende Tabelle listet die Werke Adam Mickiewicz’ chronologisch auf.
Jahr
1822
Werke
Poezje I (Dichtungen I)
Ballady i romansy (Balladen und Romanzen)
1823
Poezje II; Grazyna; Dziady, Część II & IV (Ahnenfeier, Teil II & IV, Drama)
1826
Sonety krymskie (Krimsonette)
1828
Konrad Wallenrod (Drama), Farys
1832
Dziady, Część III; Ksiêgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego
(Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft)
1833
Poezje III (Dichtungen III)
1834
Pan Tadeusz (Herr Thaddäus, Versepos)
1845
Cours de la littérature slave (Vorlesungen zur slawischen Literatur)
1849
Mitbegründer und Redakteur von „La Tribune des Peuples“. Les slaves
20
4. Die vier Balladen
4.1. Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23
Abb. 2: Manuskript der ersten Ballade11
Die Arbeit an der ersten Ballade, die dem Hannover’schen Gesandten von
Stockhausen gewidmet ist, nahm vier Jahre in Anspruch, bevor Chopin sie im
Jahr 1835 vollendete. Diese Komposition ist das erste Instrumentalwerk in der
Musikgeschichte mit dem Titel Ballade. Der polnische Volksheld Konrad
Wallenrod steht hier an zentraler Stelle, denn er ist Handlungsträger des
gleichnamigen Gedichts 12 von Mickiewicz, von dem Chopin möglicherweise
inspiriert wurde. „Auf einem ausgelassenen Bankett rühmt Konrad Wallenrod,
bereits unter Alkoholeinfluss, die heroischen Mauren, die sich an ihren
11
Ernst Burger: Frédéric Chopin. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, München
1990.
12
Konrad Wallenrod ist ein Versepos, das im Jahr 1828 von Adam Mickiewicz geschrieben wurde
und im Litauen des 14. Jahrhunderts spielt. Mickiewicz schrieb dieses Versepos, das den
polnisch-litauischen Patriotismus anfachen sollte, vor dem Hintergrund des wachsenden
Widerstands der Polen gegen die russische Herrschaft. Im November 1830 kam es dann zum
ersten polnischen Aufstand seit dem Wiener Kongress, dem sogenannten Novemberaufstand.
21
Unterdrücken auf folgende grausame Weise rächten: Sie infizieren sich freiwillig,
um dann den Spaniern in scheinheiligen Umarmungen Lepra, Pest und andere
unheilbare Krankheiten zu bringen. Auch er, Wallenrod, würde im Notfall so
handeln, was nach der Unterjochung Polens klar gegen die Russen gemünzt war.
Zwischen diesem Stoff und der Musik gibt es keine hörbaren Entsprechungen.
Doch Umsetzung ist eine andere Kategorie als Anregung“13. Dafür, dass Chopin
dieses Werk als Vorlage genutzt haben könnte, gibt es allerdings keinen Beleg.
Die Schaffenszeit dieses Werks fiel mit der Revolution Polens zusammen. Diese
unruhige Situation bedrückte Chopin, dies widerspiegelt sich indirekt in diesem
dramatischen, spannenden Werk.
Die erste Ballade ist ausgesprochen bekannt in der heutigen Zeit. Bereits
Robert Schumann bewunderte das Stück. Er schrieb am 14. September 1836 an
Heinrich Dorn: „Von Chopin habe ich eine neue Ballade. Sie scheint mir sein
genialischstes (nicht genialstes) Werk; auch sagte ich es ihm, daß es mir das
Liebste unter allen. Nach einer langen Pause Nachdenken sagte er mit groß em
Nachdruck – ‚das ist mir lieb, auch mir ist es mein liebstes‘“14.
Am Anfang dieser Ballade in g-Moll steht eine siebentaktige rezitativische
Largo-Einleitung, die eine erzählerische, legendenhafte Stimmung evoziert. Erst
mit dem Moderato im 6/4-Takt fängt das Hauptthema an. Das Hauptthema ist
eine dialogartig aufgebaute Melodie, bei der Frage und Antwort aufeinander
folgen. Die zu Beginn noch mürrische Stimmung wird in weiterer Folge durch
immer mehr Töne angereichert. Die immer reichhaltigeren Harmonien werden
schließ lich zu einer leidenschaftlichen Stimmung gesteigert. Das schöne lyrische
Seitenthema (T. 68) steht in einem relativ langsamen Tempo in Es-Dur; bezüglich
13
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 269.
14
F. Gustav Jansen (Hg.): Robert Schumanns Briefe. Neue Folge, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 78.
22
der Lautstärke – es setzt hier in pianissimo ein – stellt es einen Kontrast dar. Hier
zeigt sich ein besonderes Merkmal Chopins: Häufig wird eine graziöse Melodie
mit Akkordzerlegungen als Begleitung kombiniert, um die lange Melodielinie
herauszustellen. Die Durchführung enthält einen pfiffigen Walzer (T. 138) und ist
bezüglich der Stimmung heiter gehalten. Danach kommt die Reprise, wobei hier
allerdings zunächst das variierte Seitenthema (T. 166) im Fortissimo folgt; die
Töne der Begleitstimme werden verdoppelt und die Begleitung noch flüssiger.
Die Coda im Alla-breve-Takt ist durch ungewöhnliche Akzente charakterisiert; es
kommt immer schnellere Tongruppen vor, schließ lich wird das Stück mit
aufwärtssausenden chromatischen Skalen, weich resignierenden g-MollAkkorden und einer Sextolenfigur im Accelerando und dreifachen Forte in einer
stürmischen Stimmung beendet.
Diese Ballade weist eine modifizierte Sonatenform auf, deren erstes und
zweites Thema in der Reprise vertauscht wird und deren ausgedehnte Coda
gleich lang wie die Durchführung ist. Folgende Tabelle zeigt die Formabschnitte,
Tempobezeichnungen und Tonarten dieser Ballade.
Takt
Abschnitt
Tempobezeichnung
Tonart
1–8
Einleitung
Largo
8–68
Hauptthema
Moderato
g-Moll
68–94
Seitenthema
Meno mosso
Es-Dur
94–166
Durchführung
a tempo –
più animato
a-Moll, im T. 106 wird nach A-Dur moduliert und
im T. 138 nach Es-Dur
166–194
Seitenthema
194–208
Hauptthema
Meno mosso
g-Moll
208–264
Coda
Presto con fuoco
g-Moll
Keine eindeutige Tonart, es ist ein
Neapolitanischer Sextakkord in g-Moll (As-C-Es)
Es-Dur
23
4.2. Ballade Nr. 2 in F-Dur op. 38
Abb. 3: Manuskript der zweiten Ballade15
Chopin begann mit der Komposition seiner zweiten Ballade im Jahr 1836 in
Nohant, wo er mit George Sand zusammengelebt hat. Er vollendete dieses Werk
1838 nach einer Reise nach Mallorca mit Madame Sand, die er aus
gesundheitlichen Gründen antreten musste. Wegen der schweren Krankheit
Chopins kehrten sie schließ lich zurück.
Diese
Ballade
wurde
von
Mickiewicz’
dramatischem
Gedicht
„Der
Switez“ inspiriert, das die Sage des Willisees als Metapher für das
Freiheitsstreben der polnischen Frauen verwendet. „Der spiegelglatte Willisee
hat eine gespenstische Geschichte. Dort befand sich früher eine polnische Stadt,
von den russischen Horden belagert. Die Jungfrauen der Stadt baten den Himmel,
sie vor Vergewaltigung zu bewahren – lieber würden sie im Erdboden versinken.
Da öffnete sich der Boden unter ihren Füßen, es entstand ein See und die
15
leadingtone.tumblr.com, aktulisiert am 22. Juni 2013 1:54 PM.
24
Mädchen wurden in Uferblumen verwandelt, die jedem, der sie berührt,
Verderben bringen.“16
Schumann, dem Chopin das Werk aus Dankbarkeit für dessen Zueignung der
Kreisleriana gewidmet hat, erinnert sich, dass der Komponist ihm die Ballade mit
einem Schluss in F-Dur vorgespielt hatte, obwohl der veröffentlichte Schluss in
a-Moll steht. Anhand dieser Gegebenheit muss die Verwendung der Tonalität in
dieser Ballade thematisiert werden: In diesem Werk kommen die Töne a und f oft
vor, die gemeinsame Töne des F-Durdreiklangs und dessen Tonikagegenklangs
a-Moll sind. Chopin nutzte diese tonale Gemeinsamkeit, um mit der Musik eine
unbestimmte und beunruhigende Stimmung zu evozieren.
In der europäischen Musikgeschichte gibt es nur wenige Werke, die am Anfang
in Dur, am Schluss jedoch in Moll stehen. Das typische Werk der Romantik weist
die Monotonalität auf, Chopin hingegen verließ diese Bahnen. Dies zeigt die
„progressive“ Anlage der Tonarten, die im zweiten Scherzo und der Fantasie op.
49 zu sehen ist. Das ist ein mutiger Versuch bzw. eine Vorwegnahme der
„Pantonalität“, die eigentlich ein harmonisches Verfahren des 20. Jahrhunderts
ist. Obwohl das ein neues Experiment ist, schuf Chopin eine recht symmetrische
Struktur. Die tonale Ä nderung am Ende dieser Ballade erhöht die dramatische
Spannung der Musik sowie ihren tragischen Charakter. Folgende Tabelle stellt
die Strukturen und Tonarten dieser Ballade dar.
16
Abschnitt
Exposition
Durchführung
Thema
Hauptthema Seitenthema
Hauptthema
Reprise
Coda
Seitenthema−neues
Thema−Hauptthema
Tonart
F-Dur
a-Moll
F-Dur,
Modulation
d-Moll−a-Moll
a-Moll
Takt
1–45
46–81
82–139
140–196
196–203
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 270.
25
Das Hauptthema dieser Ballade entstand aus dem tanzartigen Siciliano, dessen
Rhythmus
wie
folgt
ist:
Es
schreitet immer mit demselben, sich wiederholenden Rhythmus fort. Sein
Charakter ist idyllisch und pastoral, der allerdings häufig durch eine
ungewöhnliche und unvorhersehbare Harmonie – nämlich die III. Stufe a-Moll –
gestört wird. Dies bewirkt, dass die liebliche Stimmung durch Traurigkeit getrübt
wird. Nach dem ersten Thema führt ein Trugschluss direkt zu einem
leidenschaftlichen „Durchführungsteil“ in a-Moll, der auf dem ersten Thema
aufbaut.
Am
Anfang
des
stürmischen
A-Moll-Themas
gibt
es
eine
Gegenbewegung der beiden Hände und einen rhythmischen Kontrapunkt, der in
„Sowohl hier als auch beim folgenden Material, wo die zweitaktige Einheit als
4+4+4
6
6
3+3+3+3
+ 6
+ 6
angeordnet ist, führt zu einer explosionsartigen Energieentladung, die einen
denkbar groß en Kontrast zu dem gemächlichen Verlauf des ersten Themas
bildet.“ 17 (Notenbsp. 2) Neben dem rhythmischen Kontrapunkt scheinen auch
groß e dynamische Veränderungen auf. Die ruhelose, angespannte Stimmung
braut sich durch die schnell laufenden Sechzehntel und die Chromatik noch
Notenbsp. 2: Chopins Ballade Nr. 2, T. 46–47.
17
Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 242.
26
stärker zusammen, bis der Höhepunkt im Takt 69 mit dem Fortissimo allmählich
in das pastorale Hauptthema zurückführt. Beim diesem Aufscheinen des
Hauptthemas hat Chopin eine Ü berraschung parat. Eine schöne Hauptmelodie
kommt wie vorher in F-Dur vor, aber die Musik hört plötzlich auf. Nach der durch
die Fermate zusätzlich verlängerten Pause moduliert Chopin unmittelbar nach aMoll. Es ist eine ganz unnatürliche Stimmung sowie eine Verheiß ung, die den
Anschein erweckt, dass einem friedlichen Dorf bald eine schreckliche Invasion
bevorsteht.
Notenbsp. 3: Chopins Ballade Nr. 2, T. 83–94.
Die Reprise weist eine Besonderheit auf. Nach der Durchführung, die aus dem
Hauptthema entwickelt wurde, erscheint als Reprise nicht das Hauptthema,
sondern ein moduliertes Seitenthema. Das ist eine typische „Chopin’sche
Sonatenform“: Zwar weist diese zweite Ballade die klassischen Eigenheiten der
Durchführung auf; in der Reprise folgt allerdings nicht – wie auch bei den drei
Sonaten, die Chopin in seiner kompositorischen Reife vollendete – das
Hauptthema. Die zweite Ballade und die zweite Sonate sind zur gleichen Zeit
entstanden und es gibt viele ähnliche Strukturen. Nach dem stürmischen
Seitenthema kommt ein neues Thema (agitato), das als schwierigste Passage
dieser Ballade gilt. Die aufgeregte Stimmung wird immer stärker ausgebildet.
27
Danach klingt das „Klagelied“ der verzauberten Mädchen in wenigen Takten aus,
diesmal allerdings in a-Moll, der Tonart des stürmischen Teiles, und nicht in FDur. Diese Ballade erzählt eine vollkommen tragische Geschichte.
4.3. Ballade Nr. 3 in As-Dur op. 47
Abb. 4: Manuskript der dritten Ballade18
Diese Ballade komponierte Chopin im Jahr 1841 und ließ sie im selben Jahr als
op. 47 veröffentlichen. Im Vergleich zu den anderen drei Balladen ist die dritte die
kürzeste. Obwohl das Werk nicht lang ist, zeichnet es die aristokratische
Atmosphäre der damaligen Oberschicht in Paris dennoch nach. „In dieser dritten
Klangdichtung herrscht eine völlig andere Grundstimmung vor. Die thematische
Antithese – epische Gewalt und sanfte Schwermut – beruht auf weniger kräftigen
Gegenüberstellungen: das Stück ist in seinem ganzen Aufbau zwar vielschichtig,
aber von geringerer dramatischer Wucht als die vorigen.“19 Diese Komposition
18
http://www.omifacsimiles.com/brochures/chop_bal47.html
19
Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg
1960, S. 138.
28
wurde von Mickiewicz’ Gedicht „Undine“ inspiriert. Diese Geschichte hat eine
Ä hnlichkeit mit der rheinischen Sage „Lorelei“: „ Am Ufer eines Waldsees schwört
ein junger Mann seinem Mädchen ewige Treue. Sie ist skeptisch und entfernt
sich für kurze Zeit, um in verwandelter Gestalt – als Nixe – wiederzukehren. Der
leichtfertige Jüngling entbrennt für die neue Schöne. Nun zieht sie ihn in die Tiefe
des Sees. Seine Strafe: Er wird ewig hinter ihr herjagen, ohne sie zu erreichen.“20
Obwohl die musikalische Form der dritten Ballade nicht groß angelegt ist, ist
sie dennoch individuell und nicht so einfach einzuordnen wie die Form der ersten
und zweiten Ballade. Die erste und zweite Ballade kann man als eine
Deformation der Sonatenform auffassen, weil sie sich noch an wesentlichen
Schlüsselpunkten der Sonatenform (Exposition – Durchführung – Reprise)
orientieren. Chopin stellte lediglich die Themenreihenfolge in der Reprise um. In
der dritten Ballade geht Chopin noch einen Schritt weiter, hier überlässt er die
Musik einer unaufhörlichen und freien Entwicklung. Es gibt keine symmetrische
Entwicklung der Struktur mehr, und die narrative Weise weist ebenfalls
Unterschiede zu den vorigen zwei Balladen auf. Der Musikwissenschaftler James
Parakilas
sprach
in
diesem
Zusammenhang
von
der
dramatischen
„Dreistufenform“: Er argumentierte, dass die Struktur der Balladen Chopins nicht
als Sonatenform gelten kann. In der folgenden Tabelle wird ein formaler Aufbau
dargestellt, der von seinem Standpunkt ausgehend analysiert wurde.
20
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 271.
29
Dramatische
Entw.
Stufe 1
Stufe 3
Stufe 2 (hauptsächlicher Plot)
(1. Sz.)
(Resü mee)
1. Entw.
2. Entw.
3. Entw.
Takt
1–
52–
103–
116–
144–
183–
213–
231–
Thema
1. Th.
2. Th. u.
2.Th.
3. Th. u.
2. Th.
Syn-
1. Th.
3.Th.
Ausdeh-
Ausdeh-
these v.
nung
nung
1. u. 2.
Th.
Am Anfang der dritten Ballade steht ein achttaktiger, dialogartig aufgebauter
Prolog in einem fließ enden 6/8-Takt. Er weist eine warme, liebliche Stimmung auf.
Der französische Pianist Alfred Cortot lieferte mit seinen Ausführungen über den
Beginn des Stücks ein schönes Beispiel, wie Chopins Klänge wahrhaftige Poesie
auslösen können: „Die acht ersten Takte [...] scheinen den zärtlichen Dialog des
imaginären Liebespaares auszudrücken: ‚Wirst du mich immer lieben?‘ – ‚ja, ich
schwöre es. Und wirst du mir deine Treue bewahren?‘ – ‚Solange ich lebe.‘ In
dieser frühlingsfrischen Atmosphäre macht sich eine rhythmische Durchführung
Raum: die Ausbreitung jugendlichen Glücks, die reine Glut eines unschuldigen
Gefühls.“21
Ab dem Takt 9 kommen viele Notes inégales vor und es zeigt sich ein größ erer
dynamischer Kontrast. Im Takt 50 erscheint ein langer As-Dursextakkord und die
einfachen oktavierten Töne in den Takten 52 und 53 führen als Ü berleitung
unmittelbar zum graziösen zweiten Thema in F-Dur. Das zweite Thema hat einen
tanzartigen Impuls und ungewöhnlich betonte Nachschläge. Die elitäre
Stimmung, die eine prachtvolle Wirkung hat, wird durch die Entwicklung der
Musik bedingt; allmählich entwickelt sich durch eine ausgedehnte Stimmlage der
groß artige Höhepunkt. Im Takt 116 scheint der typisch Chopin’sche Stil auf, der
21
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben, Berlin 2009, S. 271.
30
leichte Harmonien in der linken Hand mit raschen Sechzehntelgruppen in der
rechten Hand kombiniert. Bezüglich der Interpretation ist laut dem Pianisten
Alfred Cortot Folgendes wichtig: „spielerische Anmut bewahren und bei aller
Behendigkeit durchsichtig-klar bleiben, also jede Hast vermeiden, kurz, sich an
die französische Formel des jeu perlé halten.“22 Das heiß t, jeder Ton muss vom
Spieler rund und klar wie die Perlen auf einer Schnur interpretiert werden.
Das Hauptthema scheint im Verlauf des gesamten Stücks auf. Die Aufregung
verschafft sich in einer kraftvollen Flut von Sechzehntelnoten Luft, und diese
Ballade schließ t letztendlich in einer dichterischen und beschwingten Stimmung.
4.4. Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52
Abb. 5: Manuskript der vierten Ballade23
Die vierte Ballade komponierte Chopin im Jahr 1842 und widmete sie nach der
Veröffentlichung im Jahr 1843 Madame Nathaniel de Rothschild. Diese Ballade
22
Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg
1960, S. 139.
23
http://en.chopin.nifc.pl/chopin/composition/detail/id/115
31
gilt als eines der bedeutendsten, schwierigsten und wertvollsten Meisterwerke
des Klavierrepertoires. Die formale Struktur und die Dauer dieser Ballade sind
eindeutig ausgedehnter und länger als jede der drei anderen Balladen. Diese
Ballade enthält Elemente der Sonatenform, des Rondos und der Variation sowie
die schwierigsten Spieltechniken aus Chopins „Etüden“. Das sind beispielsweise
chromatische
Skalen
im
Terzabstand,
eine
ungleichmäß ige
Rhythmik,
leichtbeschwingte Tongruppen und kontrapunktische Mehrstimmigkeit.
Das fantastische Musikwerk wurde von der litauischen Sage der „Drei Brüder
Budry“ inspiriert. „Drei Brüder werden vom Vater in die Ferne geschickt, um
Schätze nach Hause zu bringen. Das Jahr vergeht, der Vater glaubt sie schon tot
– da kehren sie mitten in einem Schneesturm zurück: Ihre Beute – drei Bräute!
Auß er dem Schneesturm – den man, falls geneigt, tatsächlich heraushören kann
– bieten sich kaum Anhaltspunkte, es fehlen die groß en Gefühle. Wahrscheinlich
hat sich Chopin einfach nur in die Dichtung, Atmosphäre, ins Brauchtum, die
Sagen- und Märchenwelt seiner für ihn verlorenen Heimat eingefühlt und seinem
Sentiment ‚tastig‘ freien Lauf gelassen – Heimatdichtung als kreativer Katalysator.
Als
solchen
wusste
Chopin
ja
sogar
eine
gescheiterte
Liebe
zu
instrumentalisieren.“24 Die folgende Tabelle stellt den formalen Aufbau dieser
Ballade dar, der in Anlehnung an die Sonatenform analysiert wurde.
24
Takt
Abschnitt
1–7
Vorspiel
7–37
Exposition
Thema
Tonart
C-Dur
1. Thema + Var. 1
38–57
Erg. (1. Thema)
58–71
1. Thema + Var. 2
f-Moll
Ges-Dur
f-Moll
Christoph Rueger: Frédéric Chopin. seine Musik - sein Leben, Berlin 2009, S. 272.
32
72–80
Einleitung
80–99
2. Thema
99–128;
B-Dur
Durchführung
Erg. (1. Thema)-Vorspiel
g-Moll – A-Dur
Reprise
1. Thema + Var. 3 und 4
f-Moll
129–134
135–168
169–191
2. Thema
191–210
Einleitung
211-239
Erg. (2. Thema)
Des-Dur
f-Moll
Diese Ballade, die sich durch eine feurige Leidenschaftlichkeit und eine
melancholische Stimmung auszeichnet, wird mit einer hellen idyllischen
siebentaktigen Einleitung in C-Dur eröffnet. Es ist so wie die innerlich aufgestaute
Empfindung, die allmählich stärker und stärker wird. Dieses Werk enthält
vielfältige Musikstile. Das lässige und ungezwungene erste Thema (mezza voce)
könnte sowohl das eines Nocturnes als auch jenes eines Walzers sein. Eine
kontrapunktische Episode bildet den Grundgedanken in Sechzehntelnoten und
leitet strahlend zum zweiten Thema (dolce) über, das an eine Barcarole erinnert.
Es ist sinnvoll, dass man das erste Thema bezüglich seiner vier verschiedenen
Variationen betrachtet (Abb. 6). Im Takt 23 fängt die erste Variation an, die durch
das Hinzufügen einiger Töne, um das Hauptthema zu verzieren, entsteht. Im Takt
58 beginnt die zweite Variation, diese ist polyphon gestaltet. Die Textur der Musik
wird verbreitert und die anfängliche ruhige Stimmung wird allmählich furioser. Die
dritte Variation fängt im Takt 135 an, die eine kanonische Dreistimmigkeit aufweist
und zweimal in unbestimmte Tonarten sequenziert wird. Die letzte Variation (T.
152),
die
durch
eine
ausgeprägte
Chopin’sche
Kompositionsmethode
gekennzeichnet ist, ist rhapsodisch. Es scheinen breite Akkordzerlegungen in
regelmäß igen Sextolen in der Begleitung auf, die mit der fließ enden, leicht
33
beschwingten Melodie, die aus unregelmäß igen Sechzehntelgruppen besteht,
kombiniert wird.
Abb. 6: Thematische Variationen25
Nach
diesem
wogenden
rhapsodischen
Hauptthema
laufen
die
Sechzehnteltriolen als führende Melodielinien durch, danach erklingt wieder das
choralartige Seitenthema. Aber diesmal fungieren die Sechzehnteltriolen als
Begleitung, um den Höhepunkt des ganzen Stücks vorzubereiten. Vor dem
stürmischen Schlussteil bilden zwischen dem Stretto und dem Agitato fünf ganz
leise Akkorde einen eindrucksvollen Ruhepunkt. Jene Kommentatoren, die an
die Sage anknüpfen, haben dies folgendermaß en erklärt: Jene geheimnisvollen
fünf Akkorde bedeuteten die Rückkehr der Budry-Söhne mit der „Braut aus dem
Leschitenland“. Diese Ballade schließ t mit einer leidenschaftlichen, bewegten
Coda ab, die den Interpreten vor auß erordentliche technische Schwierigkeiten
stellt.
Chopins ausgereifte Kompositionstechnik widerspiegelt sich in diesem Werk
nicht nur durch die groß e Virtuosität, sondern auch durch die inhaltsreichen
Empfindungen und die ausdrückliche Reflexion der Persönlichkeit der slawischen
Völker.
25
Jim Samson: Reclams Musikführer Frédéric Chopin, Stuttgart 1991, S. 253.
34
5. Chopins bevorzugtes Fabrikat – der Pleyel-Flü gel
Abb. 7: Chopins eigener Flügel (No. 13819, Pleyel & Compie, Paris, 1848)26
Abb. 8: Vater & Sohn Pleyel: meisterlicher Klavierbau in industrieller Fabrikation seit
1807 in Paris.27
Pleyel war eine berühmte französische Klavierfabrik, die im Jahr 1807 in Paris
von Ignaz Josef Pleyel unter dem Namen Ignace Pleyel & Compie gegründet
wurde. Pleyel war ein hochbegabter österreichisch-französischer Komponist,
Verleger und Klavierfabrikant, der in der zweiten Hälfte des 18. und im
26
http://www.cobbecollection.co.uk/collection/33-chopins-own-grand-piano/
27
Adolf Ehrentraud, Ignaz Joseph Pleyel: Weltbürger aus Niederösterreich, o. O. und o. J.,
S. 9.
35
angehenden 19. Jahrhundert wirkte. Am 18. Juni 1757 wurde er in Ruppersthal
geboren und starb am 14. November 1831 in Paris. Pleyel galt als berühmter und
einflussreicher Musiker wie Christoph Willibald Gluck (1714–1787), Joseph
Haydn (1732–1809) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791). Sein Œuvre
umfasst
Kompositionen
verschiedenerlei
Genres,
wobei
vor
allem
kammermusikalische Werke vorherrschen. Ein Brief Mozarts, den er an seinen
Vater Leopold geschrieben hat, gibt Auskunft über Pleyels Kompositionen:
„Dann sind dermalen Quartetten heraus von einem gewissen Pleyel;
dieser ist ein Scolar von Joseph Haydn. Wenn sie selbige noch nicht
kennen, dann suchen Sie sie zu bekommen; es ist der Mühe werth. Sie
sind sehr gut geschrieben und sehr angenehm. Er wird seinen Meister
gleich heraus hören. Gut und glücklich für die Musik, wenn Pleyel seiner
Zeit imstande ist, uns Haydn zu remplacieren.“28
Im Jahr 1807 bekam Pleyels Unternehmen Mithilfe von Etienne-Nicolas Méhul
und Jean-Henri Pape, alsbald begann seine Unternehmung schnell zu florieren.
In einem Jahr stellte er schon fünfzig Instrumente her und bis zum Jahr 1834
wurden 1000 Klaviere Pleyels verkauft. Pleyels Klaviere mit ihrer englischen
Mechanik wurden vor allem von den Komponisten der Romantik, z. B. von
Chopin, später von Rubinstein, Grieg oder Cortot hoch eingeschätzt. Die
sogenannte englische Mechanik ist eine Stoß zungenmechanik, die dem
Hammerflügel eine präzise Repetitionsfähigkeit und einen herausragenden
Klang verleiht. Franz Liszt beschrieb dies folgendermaßen: „...Die Pleyelschen
Instrumente liebte er [Chopin, Anm. d. Verf.] besonders wegen ihres silberhellen,
ein wenig verschleierten Klanges und ihres leichten Anschlags.“29 Neben dem
28
W. A. Mozart: Brief an seinen Vater in Salzburg, Wien, 24. April 1784, in: Briefe und
Aufzeichnungen – Digitale Mozart-Edition,
URL: http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=1355&cat=
29
Uli Molsen: Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. von den Anfängen des
Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl.,Balingen 1983, S. 112.
36
Konkurrenten Klavierbau É rard zählte Pleyels Klavierbaubetrieb in den
Jahrzehnten bis ca. 1870 zu den groß en europäischen Klavierfabrikanten. „Wenn
ich nicht disponirt bin, so spiele ich am liebsten auf einem Erardschen Clavier,
wo ich den Ton schon fertig finde. Bin ich aber in der richtigen Verfassung, und
kräftig genug, mir meinen eigenen Ton zu bilden, so muss ich ein Pleyelsches
Clavier haben“30, sagte Chopin.
Nach dem Tod Ignaz Pleyels im Jahr 1831 übernahm dessen Sohn Camille
Pleyel das Unternehmen und führte die Manufaktur zum Ruhm. Chopins erster
Pariser Auftritt fand im Salon „Salle Pleyel“, der zunächst von Ignaz im Jahr 1827
gegründet und danach als erster eigener größ erer Konzertsaal in der Rue
Rochechouart von Camille 1839 ausgebaut wurde, statt. Fortan spielte Chopin
ausschließ lich auf Pleyel-Flügeln, die für ihre leichtgängige Mechanik und für
ihren warmen, süß -samtigen, sonoren Ton gerühmt wurden. Der Betrieb Pleyel
wurde ab 1855 vom Schwiegersohn Camilles – Auguste Wolff – fortgeführt, und
danach von Gustave Lyon (1857–1936), der die Firma bis 1930 leitete. Pleyel
brachte vor allem vier klassische Flügelmodelle vom P170 Salonflügel bis zum
P280 Konzertflügel sowie verschiedene Designerflügel auf den Markt. Etwa ab
dem Jahr 1875 zeigte sich eine allmähliche Abschwächungstendenz gegenüber
dem größ eren Konkurrenten É rard, der eine verbesserte Mechanik im Klavierbau
erfunden hatte – ein „amerikanisches“ System mit Bassüberkreuzung, einteiliger
Gussplatte und noch besserer Repetitionsfähigkeit.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich die Firma Pleyel mit der
Wiederbelebung des Baus historischer Tasteninstrumente, insbesondere
zweimanualiger Konzertcembali. Ein für die Pariser Weltausstellung 1889
30
Ebd, S. 112.
37
gebautes Modell, in dem die Cembalomechanik mit den Errungenschaften des
zeitgenössischen Klavierbaus kombiniert wurde, fand Bewunderung. Im Jahr
1996 wurde eine neue Pleyel-Fabrik im südfranzösischen Alès gebaut, die
allerdings schon im Jahr 2007 aufgrund des Produktionsrückganges wieder
geschlossen wurde. Die Klaviermanufaktur wurde schließ lich von Hubert
Martigny im Jahr 2000 erworben. Die letzten 25 Flügel wurden in der Manufaktur
in Saint-Denis gefertigt, bis diese Pleyel-Manufaktur zu Jahresende 2013
geschlossen wurde.
6. Auffü hrungspraxis
6.1. Unterschiede zwischen Hammerflügeln und modernen Flügeln
Vor einem Vergleich eines Hammerflügels mit einem modernen Flügel muss man
wegen ihrer engen Beziehung zunächst den historischen Hintergrund betrachten.
Der Hammerflügel entstand im 18. Jahrhundert und entwickelte sich in weiterer
Folge zum modernen Flügel. Das erste Klavier (Fortepiano) der Welt wurde vom
italienischen Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori erfunden. Er beschäftigte
sich den Groß teil seines Lebens mit der neuartigen Anschlagmechanik des
Klaviers. Das Tasteninstrument, das vor dem Hammerklavier in Gebrauch war,
war das Cembalo. Seine Saiten wurden mithilfe von Kielen gezupft und aufgrund
seiner Mechanik konnten keine Lautstärkenunterschiede realisiert werden.
Cristofori erfand eine neue Mechanik für Tasteninstrumente. Durch eine
Stoß zunge wurde ein Hammer gegen die Saite geschleudert, welche dadurch ins
freie Schwingen gebracht werden konnte. Mit dem Drücken der Taste wurde
gleichzeitig ein Dämpfer angehoben, der nach dem Loslassen der Taste die
Schwingung der Saite wieder aufhielt. Der Erfinder der Dämpfungsaufhebung
38
war der mitteldeutsche Orgelbauer der Barockzeit Johann Gottfried Silbermann
(1683-1753). Diese Technik wurde in der späteren Entwicklungsgeschichte des
Fortepianos auch für das Fortepedal übernommen. Silbermann übernahm
zunächst die Hammermechanik von Bartolomeo Cristofori, die er anschließ end
in eigenständiger Weise umformte. Im Jahr 1740 baute er einen Hammerflügel
mit verbesserter Technik, der von Johann Sebastian Bach hochgeschätzt wurde
und von denen König Friedrich der Groß e mehrere Exemplare kaufte. Er galt
verständlicherweise
als
eigentlicher
Erfinder
des
Hammerflügels.
Die
Entwicklung des Hammerflügels bis zum heutigen modernen Flügel ging schnell
vonstatten. Aufgrund der weiten Verbreitung des Klavierbaus überall auf der Welt
und
der
verschiedenen
Epochen
existieren
sowohl
hinsichtlich
des
Hammerflügels als auch des modernen Flügels verschiedene Modalitäten. Aus
diesem Grund werden nur die typischen Merkmale dieser beiden Instrumente
miteinander vergleichen.
6.1.1. Aussehen, Größ e und Ambitus
Die Gestalt eines Hammerflügels war eckig, kleiner und leichter als heute. Der
Tonumfang reichte in der Frühzeit (zwischen 1795 und 1803) von F1 bis g3
(Mozarts Hammerflügel reichte von F1 – f3, Abb. 9); nach 1803 bis um 1810 war
ein Ambitus vom F1 bis zum c4 üblich, diesen weisen zum Beispiel Haydns
Leihflügel in London und Beethovens Erard-Flügel (seine Klaviersonaten von der
„Waldsteinsonate“ op. 53 bis op. 81a haben diesen Umfang) auf. Abb. 10 zeigt
einen Hammerflügel mit erweitertem Tonumfang (C1 – c4), der dem Ambitus von
Haydns letzter Klaviersonate entspricht. Mit dem steigenden Bedürfnis der
Komponisten, den Tonumfang der Instrumente auszureizen, wurde der Ambitus
immer mehr erweitert. Bis ca. 1840 reichte der Tonumfang des süddeutschen
39
Hammerflügels von F1 bis f4 (Beethovens Kompositionen von op. 81a von 1809
bis op.101). Es gab aber auch Instrumente mit einem Tonumfang von C1 – f4
(etwa nach 1816 bis um 1840, z. B. Beethovens Graf-Flügel, für den seine
Kompositionen ab op. 101 von 1816 komponiert sind) (Abb.11). Zwischen 1840
und 1850 wurde der Tonumfang auf C1 bis g4 (Schumanns Graf-Flügel) und C1
bis a4 erweitert. In der Blütezeit der Romantik erreichte der Bau des
Hammerflügels einen Höhepunkt. Von etwa 1850 bis gegen Ende des 20.
Jahrhunderts wurde der Tonumfang auf A2 bis a4 erweitert. Um etwa 1970
entstand der moderne Flügel und ein standardisierter Tonumfang von A 2 – c5
konnte sich etablieren.
←Abb. 9: Mozarts Hammerflügel von Anton Walter, Wien
1782.31
→Abb. 10: Hammerflügel von J. Broadwood et Sons –
London um 1812, Sammlung Musica (fotografiert am
29. Mai 2015 im Musikinstrumentenmuseum Schloss
Kremsegg).
31
Mozarts Originalinstrumente in: Stiftung Mozarteum Salzburg,
URL: http://www.mozarteum.at/museen/mozart-instrumente.html
40
←Abb. 11: Hammerflügel Pleyel et Cie., Paris um 1835,
Sammlung Musica (Paul Badura Skoda) (fotografiert am
29. Mai 2015 im Musikinstrumentenmuseum Schloss
Kremsegg).
6.1.2.
Klaviatur, Konstruktion und Besaitung
Ein gemeinsames Kennzeichen von Hammerflügel
und modernem Flügel ist das Gehäuse, das bei
beiden aus Holz besteht; die Klaviatur ist zweifarbig
gestaltet (weiß und schwarz). Die weiß en Tasten
bestehen aus Elfenbein oder geeigneten Kunststoffen
und die schwarzen Tasten aus schwarz gefärbten Nussbaumhölzern. Ein
deutliches Merkmal des frühen Hammerflügels ist, dass die Klaviatur eine
umgekehrte Farbgebung aufweist (z. B. Mozarts Hammerflügel) und die Tasten
hölzern sind. Die Tasten des Hammerflügels sind im Gegensatz zum modernen
Flügel leichter und seichter, weswegen er viel einfacher zu spielen ist. So sind
z. B. schwierige Spieltechniken – doppelgriffige Intervalle und Glissando –
leichter auszuführen. Die Innenkonstruktion eines Hammerflügels weist ein
klassisches Merkmal auf: Er verfügt über einen Rahmen, dessen Aufbau aus
Holz besteht. Lediglich einzelne Streben oder Anhangplatten sind aus Metall
gefertigt. Im Gegensatz zum Hammerflügel hat der moderne Flügel einen
geschlossenen Metallrahmen.
Hinsichtlich der Besaitung zeigen sich zwischen Hammerflügel und modernem
Flügel ebenfalls Unterschiede. Im Vergleich zum modernen Flügel hat der
Hammerflügel weniger Saitenspannung und dünnere Saiten. Auß erdem ist die
Anzahl der Saiten bei frühen Instrumenten wegen ihrer Größe und ihres
Tonumfangs geringer. Der Saitenbezug in Mittellage und im Diskant wurde
41
zunächst zwei- und erst bei fortschreitender Entwicklung dreichörig definiert.
Während alle Saiten des Hammerflügels gleich ausgerichtet waren, wurde erst
durch Steinway & Sons die sogenannte Kreuzbesaitung eingeführt, bei der die
Basssaiten diagonal über die Saiten der Mittellage geführt werden. Diese
Entwicklung stellt einen Grundzug des modernen Flügels dar.
6.1.3. Mechanik
Wie
vorher
erwähnt,
existieren
vielfältige
Konstruktionsweisen
des
Hammerflügels sowie dessen Mechanik. Dies ist sowohl zeitlich bedingt, denn
der Hammerklavierbau fand in unterschiedlichen Epochen statt, als auch durch
die groß e Anzahl an Klavierherstellern. Man unterscheidet zwei typische
Konstruktionsweisen
der
Mechanik
eines
Hammerflügels,
nämlich
die
Prellmechanik (auch „Wiener Mechanik“ oder „Deutsche Mechanik“ genannt), die
keine schnellen Repetitionen zuließ , und die Stoß zungenmechanik (auch
„Englische Mechanik“ genannt). Die standardisierte Mechanik des modernen
Flügels ist eine Weiterführung der Stoß zungenmechanik, die zunächst von
deutschen und österreichischen Klavierbauern entwickelt wurde. Danach wurde
diese erweiterte Repetitionsmechanik von Sébastien É rard im Jahr 1921 weiter
verbessert. Die Wiener Mechanik findet sich heute nur noch in historischen
Instrumenten und deren Nachbauten.
6.1.4. Hammerköpfe und Klang
Die Hammerköpfe sind beim Hammerflügel kleiner und leichter als beim
modernen Flügel. Sie bestanden im 18. Jahrhundert bei manchen frühen
Instrumenten nur aus Holz (z. B. Tangentenflügel und Instrumente von Johann
Andreas Stein), zum Teil sogar aus Elfenbein, weswegen der damit erzeugte
42
Klang eine Nähe zum Cembalo aufweist. Innerhalb kurzer Zeit wurde das
Material der Hammerköpfe schließ lich verändert. Es gab zunächst Experimente,
bei denen Filz und Leder kombiniert wurden. Schließ lich etablierte sich im 19.
Jahrhundert der Filz als einziges Material, aus dem Hammerköpfe hergestellt
wurden.
Der Klang des Hammerflügels ist heller, leiser und weniger voluminös als von
heutigen Flügeln, aber doch gesanglich und gut verschmelzungsfähig. Aufgrund
der damaligen Technik konnten die Dämpfer des Hammerflügels den Klang noch
nicht streng abtrennen, vielmehr klang die Saite noch ein wenig nach. Eine
Eigenheit des Hammerflügels war dessen helle Basslage, die im Vergleich zum
modernen Flügel viel heller, durchsichtiger und gut zeichnend klingt. Aus diesem
Grund klingen tiefliegende Akkorde auß ergewöhnlich klar.
6.1.5. Pedal und Klangveränderungen
Moderne Flügel und Hammerflügel des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts
verfügen üblicherweise über ein Forte- bzw. Dämpfungsaufhebungspedal
(rechtes Pedal) und das Una-corda-Pedal (linkes Pedal). Mithilfe des rechten
Pedals werden alle Dämpfer aufgehoben, damit die Töne nach dem Loslassen
der Tasten weiterklingen können und durch gegenseitige Resonanzen den Klang
verstärken. Das linke Pedal verschiebt die Klaviatur und die Mechanik mit den
Hämmern. Somit trifft der Hammer nicht mehr auf alle Saiten eines Saitenchors,
wodurch sich die Lautstärke verringert und auch die Klangfarbe verändert. Eine
Besonderheit des Hammerflügels sind weitere Klangeffekte, die mithilfe von
Pedalen bzw. Zügen erzeugt werden können. Es gibt ein Moderatorpedal, wobei
der Klang mittels eines Filzstreifens gedämpft wird. Ü ber ein drittes Pedal verfügt
auch ein modernes Klavier, das allerdings eine andere Funktion (Sostenutopedal,
43
um einzelne Töne zu halten) hat. Auß erdem sind Hammerklaviere manchmal mit
einem
Fagott-Zug
(schnarrende
Klangfarbe),
einem
Janitscharen-Zug
(marschmusikartiger Schlagzeugeffekt) und einem Harfenzug (durch einen
Filzkeil wird der Klang einer Harfe imitiert) ausgestattet. Dieser ist dem Lautenzug
des Cembalos ähnlich.
6.2. Das tempo rubato
Die wörtliche Ü bersetzung des Begriffs tempo rubato lautet die gestohlene Zeit,
geraubter Zeitwert. Er bezeichnet seit etwa 1720 eine Vortrags- oder Satzweise,
bei der sich eine Melodiestimme durch Veränderung einzelner Notenwerte
(verlängert oder verkürzt) mit nachfolgender Regulation von den Begleitstimmen
abhebt. Berühmte Komponisten, die auf diese Technik zurückgegriffen haben,
waren Wolfgang Amadeus Mozart und Frédéric Chopin. Von Mozart ist
diesbezüglich ein Brief an seinen Vater vom 23./24. Oktober 1777 erhalten
geblieben: „Daß ich immer accurat im tact bleybe. über das verwundern sie sich
alle. Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß ,
können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach.“32
6.2.1. Tempo rubato im 17. und 18. Jahrhundert
Der Musikwissenschaftler Richard Hudson (1924– ) unterteilte das tempo rubato
aufgrund der unterschiedlichen Regeln in zwei Epochen, die er als „earlier
rubato“ und „later rubato“33 bezeichnete. Das „frühe“ tempo rubato (des 17. und
18. Jahrhunderts) kommt als Verlagerung zwischen Melodie und Begleitung vor.
Es ist das Resultat einer Verzierung – Vorschlag oder Nachschlag, um die
32
Brief Mozarts auf zeno.org
33
Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 1.
44
Rhythmik zu verändern, weswegen die Rhythmik der Musik verwirrt erscheint.
Wichtig hierbei ist, dass das eigentliche Tempo regelmäß ig beibehalten wird. Die
Theoretiker Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) und Daniel Gottlob Türk
(1756–1813) haben gemeint, dass das tempo rubato auf synkopische Weise
deutlich und gut ausgedrückt werden kann und mit seiner Hilfe die Melodie mit
mehr Emotion vorgetragen werden kann (Notenbsp. 4-1 und 4-2). Diese
minimale Veränderung zwischen Melodie und Zeit wird durch den Spieler
entschieden.
↑Notenbsp. 4-1: originale Melodie.
↑Notenbsp. 4-2: synkopierte Melodie.
Auß er der synkopischen Veränderung gibt es noch andere Arten, das tempo
rubato darzustellen. Die Komponisten des Barocks und der Klassik haben häufig
Verzierungen in die Hauptmelodie des langsamen Satzes eingefügt. Vor allem in
der Barockzeit scheint dies bei Vokalwerken häufiger auf. Der Komponist fügte
einige Töne in die Melodie, um eine Gruppierung mit irregulärer Tonanzahl zu
erhalten. Während reguläre Gruppierungen eine gerade Anzahl an Tönen
aufweisen (z. B. Sextolen oder Oktolen), die man einfach und gleichmäß ig
spielen kann, können irreguläre Gruppierungen (z. B. Quintolen, Septolen oder
Novemolen) im Gegensatz dazu nicht symmetrisch unterteilt werden, weswegen
jene Töne eine elastische Spannung besitzen. Diese Situation zieht das tempo
rubato nach sich (Notenbsp. 5-1 und 5-2).
↑Notenbsp. 5-1: originale Melodie.
↑Notenbsp. 5-2: Melodie in Septolen.
45
Folgendes Notenbeispiel zeigt die andere Art des tempo rubatos in der
Barockzeit – Rhythmik verändern und Verzierungen hinzufügen (Notenbsp. 6-1
und 6-2).
↑Notenbsp. 6-1: J. S. Bach, Englische Suite Nr. 2 in a-Moll, BWV 807, Sarabande,
T. 1–5.
↑Notenbsp. 6-2: verzierte Wiederholung bei J. S. Bach, Englische Suite Nr. 2 in a-Moll,
BWV 807, Sarabande T. 1–5.
6.2.2. Tempo rubato im 19. Jahrhundert
Bezüglich des „späten“ tempo rubato verweist Türk auf zwei Bedeutungen: Zum
einen
meint
dieser
Terminus
ungezwungenes
Spiel;
zum
anderen
Tempoänderungen, indem das Spiel schneller oder langsamer wird. 34 Das
Einsatzgebiet der ersten Art ist das freie tempo rubato im Sprechgesang
(Rezitativ) und der vom Interpreten frei auszuführenden Improvisation der
Cadenza. Da es hier keine Beschränkung durch die Begleitstimme gibt, verfügt
die Melodiestimme in Hinsicht auf das Tempo viel mehr Freiheit. Die zweite Art
ist eine Ä nderung des Tempos (schneller oder langsamer werden), um die
34
Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 142.
46
musikalische Spannung und Emotion auszudrücken. Der Pianist muss wegen der
musikalischen Richtung, der Empfindung und der harmonischen Ä nderung
darauf reagieren, welche Stelle mehr oder weniger Zeit braucht. Der berühmte
Komponist, Pianist und Klavierpädagoge Carl Czerny brachte diesbezüglich
folgenden Gesichtspunkt ein:
„We have almost entirely forgotten the strict keeping of time, as the tempo
rubato (that is, the arbitrary retardation or quickening of the degree of
movement) is now often employed even to caricature… In this way a soild
composition is often disfigured as not to be recognizable, and, although in
the present day, a higher degree of expression is certainly required and
can be introduced, we must nevertheless make a distinction between a
fantasia and a regularly constructed work of art …“35
Czernys Ansicht beweist, dass man in der Romantik des 19. Jahrhunderts zu
einem freien uneingeschränkten Stil tendierte, weshalb das tempo rubato häufig
falsch verwendet wurde und wird.
Die Musikwissenschaftlerin Sandra P. Rosenblum (1928– ) ist der Auffassung,
dass die „Agogik rubato“, die in der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts
eine übliche rhythmische Gattung ist, die zeitliche Wesenheit beeinflusst. Das
konnte entweder eine Verlängerung einer Note oder eines Akkords sein bzw. für
eine emotionale Darstellung eingesetzt werden.36 In der Epoche Liszts (1811–
1886) ist die „Agogik rubato“ das beste Medium für den emotionale Ausdruck.
Richard Wagner (1813–1883) beispielsweise war ein Komponist, der auf die
Verwendung der „Agogik rubato“ Wert gelegt hat. Auf der anderen Seite steht
Johannes Brahms (1833–1897), der eine relativ konservative Verwendung der
„Agogik rubato“ an den Tag gelegt hat. Wagner urteilte aufgrund dessen, dass
35
Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S.147.
36
Sandra P. Rosenblum, The Uses of Rubato in Music, Eighteenth to Twentieth Centuries,
1994, Performance Practice Review 7, no. 1, S. 47.
47
der musikalische Ausdruck von Brahms zurückhaltend, sogar unbeweglich und
langweilig war.37
Anhand der vorhergehenden Erläuterung kann man verstehen, dass in der
Epoche der Romantik auf reichhaltige Empfindungen extra geachtet wurde und
eine Tempoänderung verständlich sein musste. Während zum Beispiel im 17.
oder 18. Jahrhundert sich das Tempo eines üblichen Tanzes – beispielsweise
eines Menuetts – in einem bestimmten Rahmen hält und man den musikalischen
Stil des Tanzes leicht begreifen kann, ist die Musik des 19. Jahrhunderts
hingegen schon dramatischer, die Musikform komplexer und narrativer als vorher.
Der Pianist muss zunächst die wesentliche Bedeutung der Musik, die
musikalische Struktur und alle Zeichen verstehen, die in den Noten stehen.
Danach erst werden Tempoänderungen vollzogen, wobei diese Interpretation
und Ausdruckweise an das Werk angepasst sein muss. Die Intentionen des
Komponisten müssen verstanden und berücksichtigt werden. Auf dieser Basis
kann man schließ lich eine hochwertige und verständliche Musik spielen.
6.2.3. Das Chopin’sche Tempo Rubato
Von Chopin selbst existieren folgende Erläuterungen über das tempo rubato: „Die
singende Hand darf abweichen, die begleitende Hand muss den Takt halten. Man
stelle sich einen Baum vor, dessen Zweige sich im Winde wiegen; die Bewegung
des Stammes repräsentiert das gleichformige Metrum, die zitternden Blätter sind
die melodisch-rhythmischen Verschiebungen.“38
Als die berühmten stilistischen Merkmale von Chopins Musik gelten seit jeher
37
Ebd., S. 49.
38
Helmut K. H. Lange, Allgemeine Musiklehre und musikalische Ornamentik, Stuttgart 1991,
S. 49.
48
die reichhaltigen Harmonien und die graziösen Melodien. Wenn man seine
Werke interpretiert, muss man sich neben dem tempo rubato auch mit der
Artikulation, der Verwendung des Pedals sowie der Dynamik beschäftigen und
sich um durchsichtige Klangfarben bemühen. Interpreten können die Werke
Chopins nicht mühelos wie Werke der Klassik behandeln, die in einem präzisen
Tempo einen bestimmten musikalischen Charakter darstellen, weil Chopins
Werke eine Freiheit und Elastizität in der Melodielinie aufweisen. Hinsichtlich der
Ausführung unterscheiden sich tempo rubato und das genaue Spiel im Tempo
nur marginal. Einzelne Notenwerte werden beim tempo rubato lediglich ungefähr
30 Millisekunden verlängert oder verkürzt. Es gibt aber viele Pianisten, die
Chopins Werken ihre eigene persönliche Emotion auferlegen wollen und das
tempo rubato diesbezüglich als Interpretationsmittel leider missverstehen. Auf
diese Weise geht der Grundimpuls der Musik verloren. Allerdings enthält die
Musik ursprünglich ein konstanten Impuls. Wenn dieser auf zweckmäß ige Weise
behandelt wird, wird die Musik vitalisiert; ist das Gegenteil der Fall, wird die Musik
wie ein Mensch, der den regelmäß igen Herzschlag verliert, nicht leben können.
Chopin war ein Meister der Romantik. Er bevorzugte es, das persönliche Gefühl
auszudrücken; aber er hielt sich dennoch an die Gesinnung des Barocks und der
Klassik: Der Grundschlag der Musik muss eingehalten werden, die Verzierungen,
mit denen die Melodie versehen wurde, ist eine Erweiterung der barocken Praxis.
Die auf diese Weise entstehenden geraden oder ungeraden Tongruppierungen
werden mit der fixen Figur des Basses kombiniert, wodurch ein fließ endes
natürliches tempo rubato (Notenbsp. 7) erzeugt wird. Sowohl anhand der
Aussage von Mozart als auch von Chopin hinsichtlich des tempo rubatos lässt
sich ein springender Punkt erkennen: Das tempo rubato ist keine Veränderung
des
Tempos.
Vielmehr
werden
die
49
Passagen
„stehlen,
aber
bald
zurückgeben“ und „nicht bemerkbar“ hervorgehoben.
↑Notenbsp. 7: Chopin, Ballade Nr. 4 in f-moll op. 52, T. 152–155.
Natürlich stehen die Tempobezeichnungen selten in den Noten der Werke
Chopins, die Anweisungen für die Interpreten sind somit undeutlich. Allerdings
gerät Chopins Musik aus der Balance, wenn ein Interpret zu viel tempo rubato
verwendet oder es an einer falschen Stelle einsetzt. Eine schöne graziöse
Melodielinie wird wegen eines unangemessen Rhythmus zerstört. Das heiß t,
dass die Essenz der Chopin’schen Musik zum groß en Teil im Tempo liegt. Karol
Mikuli (1821–1897) war einer von Chopins Schülern, von dem folgende
Erläuterungen stammen:
„Im Halten des Tempo [sic] war Chopin unbeugsam, und viele werden
überrascht sein zu hören, daß das Metronom nie sein Klavier verließ .
Selbst im so verrufenen Tempo rubato spielte eine Hand – diejenige,
welche begleitete – streng im Tempo weiter, während die andere –
diejenige, welche die Melodie singt, den wahren musikalischen Ausdruck
von allem metrischen Zwang befreite.“39
In weiterer Folge muss die sinnvolle Frage gestellt werden, wie man ein gutes
39
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. Von den Anfängen des
Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl., Balingen 1982, S. 114–115.
50
tempo
rubato
erhält.
Der
polnische
Violoncellist,
Komponist
und
Musikschriftsteller Maurycy Karasowski (1823–1892), der die erste Biographie
Chopins verfasste, erläuterte diesbezüglich im Jahr 1877 Folgendes:
„The tempo rubato was a special characteristic of Chopin’s playing. He
would keep the bass quiet and steady, while the right hand moved in free
tempo, sometimes with the left hand, and sometimes quiet independently,
as, for example, when it plays quavers, trills or those magic, rhythmical
runs and fioritures peculiar to Chopin. ‚The left hand‘, he used to say,
‚should be like a bandmaster, and never for a moment become unsteady
or falter‘. By this means his playing was free from the trammels of
measure and acquired its peculiar charm.“40
Diese Frage wird von einem weiteren Beleg auch so beantwortet. Ein anderer
Schüler Chopins, Georges Mathias, sagte um 1838:
„Chopin […] often required simultaneously that the left hand, playing the
accompaniment, should maintain strict time, while the melodic line should
enjoy freedom of expression with fluctuations of speed. This is quite
feasible: you can be early, you can be late, the two hands are not in phase
[en valeur]; then you make a compensation which reestablishes the
ensemble.“41
Daraus wird ersichtlich, dass man das Chopin’sche tempo rubato auch als eine
agogische Melodiestimme bezeichnen kann. Es gab einen bestimmten Anspruch
und Maß regeln, weshalb man nicht unbegründet von der persönlichen Neigung
geleitet spielen sollte. Eine andere spezielle Art des tempo rubato ist die
ungleichzeitige Gleichzeitigkeit des Spiels, worauf die obengenannte Aussage
von Georges Mathias bereits eingeht. Diese Spielweise ist aufgrund der
Klangresonanz (Oberton) entstanden. Im didaktischen Buch „The Leschetizky
Method: A Guide to Fine and Correct Piano Playing“ wird diese Spielweise
analysiert: „Der Bass (linke Hand) und die Hauptmelodie (rechte Hand) müssen
40
Richard Hudson, Stolen Time: the history of tempo rubato, New York 1994, S. 192.
41
Zitiert nach Hudson, Stolen Time, S. 193.
51
nicht unbedingt gleichzeitig spielen, vielmehr sollten die Noten der Melodie erst
nach dem Vorschein des Basses angeschlagen werden; dadurch wird die
Melodielinie noch deutlicher und der Klang noch schöner.“ 42 Im folgenden
Notenbeispiel (Notenbsp. 8) wurden jene Stellen gekennzeichnet, an denen in
den meisterhaften Chopin-Interpretationen von Krystian Zimerman, Vladimir
Horowitz und Maurizio Pollini eine Zeitverzögerung um bis zu 30 Millisekunden
aufscheint, sodass die Melodie beim ungleichzeitigen Spiel nach hinten versetzt
ist. Solche ungleichzeitige Spielweise „kann man nur zum großen Teil bei der
Hauptnote oder beim Grundschlag verwenden.“43
↑Notenbsp. 8: Chopin, Ballade Nr. 4 in f-Moll op. 52, T. 21–32.
Die Verwendung des tempo rubato kann nicht einfach festgelegt werden. Es
gibt keine Situation, in der es zwingend verwendet werden muss. Aus diesem
42
Malwine Brée, The Leschetizky Method: A Guide to Fine and Correct Piano Playing, New
York 1913, S. 55–56, übers. von Yung-Yu Liang.
43
Ebd.
52
Grund ist es frei; was jedoch nicht bedeutet, dass es unlimitiert eingesetzt werden
kann. Man kann seine Verwendung anhand von Dokumentensammlungen oder
Aufnahmen beweisen und diese Quellen im Zuge des Vorbereitungsprozesses,
um zu einer eigenen Interpretation zu gelangen, erforschen. Der Interpret macht
während des Ü beprozesses seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich der
Ausführung des tempo rubato, diese werden kumuliert und dienen in weiterer
Folge als Basis für eine schöne und verständliche Interpretation von Chopins
Werken.
6.3. Chopins Artikulation – Legato und Legatissimo
Legato (ital. = gebunden) bedeutet, dass die Noten gebunden gespielt werden.
Die Ausführung erfolgt so, dass der Druck jenes Fingers, der einen Ton
angeschlagen hat, erst nachlässt, wenn der nächste Ton angespielt wird. Eine
legato gespielte Note wird mit einem Strich über bzw. unter der einzelnen Note
oder mit einem Bindebogen über bzw. unter einer Notengruppe gekennzeichnet.
Das Legatospiel weist bei Tasteninstrumenten eine besondere Herausforderung
auf, denn jeder Ton ist aufgrund der zugrundeliegenden Mechanik unabhängig
von den anderen. Ein schönes Legatospiel bei Tasteninstrumenten ist mühevoll
zu erreichen und nicht so einfach zu realisieren wie beim Gesang und bei Blasoder Streichinstrumenten, bei welchen die Verbindung der Töne durch den Atem
oder den Bogenstrich realisiert werden kann. Eine Legatowirkung wird bei
Tasteninstrumenten einerseits mithilfe der „Fingerbindung“ erreicht. Dieselbe
Wirkung erzielt man andererseits auch mithilfe des Dämpfungspedals (rechtes
Pedal) oder des Sostenutopedals (mittleres Pedal). Diese Möglichkeiten kommen
vor allem dann zur Anwendung, wenn eine „Fingerbindung“ nicht mehr möglich
ist, z. B. aufgrund eines groß en Sprungs bei weit auseinanderliegenden
53
Intervallen oder wegen einer zu groß en Stimmenanzahl. Das Legato entwickelte
sich insbesondere durch den Einfluss Beethovens im 19. Jahrhundert zu einer
üblichen Artikulationsart beim Klavierspiel:
„[...] in der stärkeren Hervorhebung des Legatospiels deutet sich ein
grundlegender Wandel der Ä sthetik des Klavierspiels im Verhältnis zur
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. Nach zeitgenössischen Berichten
fielen
an
Beethovens
Spiel
selbst
neben
der
phantastischen
Improvisationskunst vor allem der singende Ton, das weitgehende Legato
– auch im Unterricht nach Carl Czerny ein zentraler Punkt der
Unterweisung – und der reiche Pedalgebrauch auf.“44
Legatissimo bedeutet, dass Töne äuß erst gebunden werden. Diese
Artikulationsart wird auf Tasteninstrumenten mithilfe des überlappenden
Anschlags der Tasten realisiert. So wird das Legatissimo laut Carl Czerny
folgendermaß en gespielt: „[...] wobei jeder Finger länger als die Dauer der Note
vorschreibt, auf den Tasten liegen bleibt. Dieses ist nur bei gebrochenen
Accorden eigentlich anwendbar, und man hat wohl darauf zu achten, dass nur
consonierende, (das heisst wohlklingende, zum Accord gehörige) Töne auf
solche Art gehalten werden.“45 Legatissimo nennt man auch „Fingerlegato“ oder
„Fingerpedal“, da man bei dieser Technik das Pedal nicht verwenden muss, um
die gewünschte Wirkung zu erreichen. Auch bei der Orgel ist diese Spielweise
realisierbar. Allerdings ist es erforderlich, dem Ü bergang zwischen zwei Tönen
besondere Beachtung zu schenken, da die Mechanik der Orgel bedingt, dass das
Absetzen zwischen zwei Tönen sehr deutlich zu hören ist.
Neben der polnischen Volksmusik wurde Chopin vom italienischen Belcanto
stark beeinfluß t. Seine Vorbilder waren Giovanni Paisiello und Gioachino Rossini,
ab seiner Pariser Zeit hauptsächlich Vincenzo Bellini. In seiner Frühzeit
44
Ebd., S. 116.
45
Carl Czerny, Pianoforte-Schule op. 500, Wien 1839, Band 4, S. 19.
54
übernahm er für seine Kompositionen Themen von Rossini, ein Beispiel dafür ist
die frühe Polonaise in b-Moll WoO aus dem Jahr 1826. Chopin bevorzugte den
italienischen Belcanto, weswegen er „ein kantables Spiel“ für wichtig hielt. „Wenn
man ein gutes und natürliches Spiel anstreben will, dann geht man einfach häufig
zu italienischen Sängern, um ihnen zuzuhören. Es gab viele solche Meister [wie
Giuditta Pasta, Giovanni Battista Rubini, Maria Malibran usw., Anm. d. Verf.] in
damaliger Zeit in Paris.“46 Chopin sagte sogar zur seinen Schülern: „Wenn du
Klavierspielen lernen willst, dann musst du zunächst singen lernen.“47 In der Tat
gibt es eine enge Beziehung zwischen dem Chopin’schen Legatospiel und dem
italienischen Belcanto. Die musikalischen Phrasen Chopins sind graziös und lang.
In seiner Musik verschmolz Chopin Virtuosität, Verzierungen und auch den
italienischen Belcanto. Daraus resultiert, dass seine Klavierwerke nicht nur
Charakteristika des Gesangsstils aufweisen, sondern eine absolut pianistische,
brillante Virtuosität. Aus diesem Grund gilt die Spieltechnik des Legatos als eine
der wichtigsten Artikulationsarten Chopins. Bindebögen durchziehen seine
Werke; und es kommt vor, dass Phrasen über acht Takte gebunden werden. Ein
gutes Legatospiel ist davon geprägt, dass alle Töne durchsichtig und schön, aber
trotzdem wie eine gebundene Linie klingen. Dies erfordert Geduld und
Achtsamkeit beim Ü ben. Man muss zunächst ganz langsam spielen, um eine
gleichmäß ige Tonqualität zu erreichen. Danach fügt man die Dynamik dazu, und
zugleich achtet man darauf, dass das Handgelenk und der ganze Arm locker und
frei sind. Chopin schrieb in seiner eigenen Klavierschule: „Das Handgelenk: Der
46
Jean-Jacques Eigeldinger: Chopin: Pianist and Teacher as seen by his pupils, New York
1986, S. 44, übers. von Yung-Yu Liang.
47
Ebd., S. 45, übers. von Yung-Yu Liang.
55
Atem der Stimme“48.
„Ebenso viele Klänge als Finger; Im ganzen geht es darum, seine Finger
gut zu gebrauchen. Hummel [1778-1837, österreichischer Komponist und
Pianist] wuß te hierin am meisten. Wie man die Eigenheit der Finger
ausnützen muß , darf man den Rest der Hand, d. h. das Handgelenk, den
Unterarm, den Arm, nicht weniger gebrauchen. Man muß nicht alles aus
dem Handgelenk spielen wollen, wie Kalkbrenner [1785-1849, deutschfranzösischer Pianist und Komponist] behauptet.“49
Wenn man Chopins Musik gut artikulieren bzw. ein ausgewogenes Legatospiel
und eine schöne Klangfarbe erreichen möchte, muss man sich zunächst mit
Chopins Fingersatzsystem auseinandersetzen. Dieses Thema wird im nächsten
Abschnitt erläutert.
6.4. Chopins individuelles Fingersatzsystem
Von Chopin ist folgende Ansicht hinsichtlich des Fingersatzes überliefert:
„Man hat lange Zeit gegen die Natur gehandelt, indem man die Finger
trainiert hat um ihnen gleiche Kraft zu geben. Da jeder Finger
unterschiedlich gebaut ist, ist es besser, nicht den Zauber des speziellen
Anschlags jedes Fingers zu zerstören, sondern sie entwickeln.“50
Chopin war nicht nur ein herausragender Pianist und Komponist. Er entwickelte
auch unter Berücksichtigung des pianistischen Spielprinzips ein eigenes
innovatives System der Spieltechnik, das sich in seinen pädagogischen Ansätzen
sowie in seinen Werken widerspiegelt. Dieses beeinflusste die Auffassungen
seiner Zeitgenossen sowie der Nachwelt hinsichtlich des Klavierspiels sehr stark.
Seine pianistischen technischen Neuerungen wurden allerdings nur in Form
seiner Werke und den Hinweisen, die er in diesen gibt, seiner Aufzeichnungen
48
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten. Von den Anfängen des
Hammerklaviers bis Brahms, 2. Aufl., Balingen 1982, S. 117.
49
Ebd., S. 117.
50
Ebd., S. 116.
56
und seiner Pädagogik bis heute überliefert. Zwar kam Chopin zum Entschluss,
sein technisches System niederzuschreiben. Allerdings kam diese Schrift vor
seinem Tod nicht über das Entwurfsstadium hinaus. So existieren davon nur
einige
Notizen
und
Entwürfe,
die
den
Anfang
eines
systematischen
pädagogischen Werks darstellen. Diese Manuskripte sind erfreulicherweise
unversehrt erhalten. Obwohl sie schwierig zu lesen sind, bemühten sich viele
Wissenschaftler und Expertinnen darum, diese Niederschriften zu ordnen. In
weiterer Folge wurden sie als „Projet de méthode“ veröffentlicht. Der
Musikwissenschaftler Jean-Jacques Eigeldinger verfasste das Buch „Chopin:
Pianist and Teacher: As Seen by his Pupils“, das sowohl eine korrigierte
meisterliche Ausgabe des „Projet de méthode“ ist als auch eine umfangreiche
Sammlung von Kommentaren der Schüler Chopins und der damaligen
Zeitgenossen in Bezug auf das Chopin’sche Spiel. Das Buch gilt als ein
unentbehrliches Meisterwerk für das Verständnis von Chopins Klavierspiel; und
es stellt auch eine wichtige Grundlage für die folgenden Ausführungen dar.
Die Chopin’sche Spieltechnik kann aus einer Vielzahl an Perspektiven
diskutiert werden, aber die grundlegendste Voraussetzung stellt der Fingersatz
dar. Vor Chopin haben bereits einige groß artige Pianisten wie Carl Czerny einen
systematischen Fingersatz entwickelt. Czerny behauptete, dass der Fingersatz
ein hauptsächlicher Bestandteil des Klavierspiels ist und dass der behaglichste
Fingersatz der beste Fingersatz ist. Der Czerny’sche Fingersatz zielt nicht nur
auf ein handliches Spiel ab, sondern umfasst auch die Artikulation. Der
Fingersatz Czernys ist ziemlich regelmäß ig. Er stellte in seiner Klavierschule
„Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule“ drei Hauptregeln der
Fingersetzung auf, nämlich den „traditionellen“ Fingersatz des Klavierspiels:
57
1. „Die 4 längeren Finger jeder Hand, (nämlich der 2te, 3te, 4te und 5te)
dürfen nicht über einander schlagen werden.
2. Ein Finger darf nicht auf zwei oder mehrere Tasten nach einander
gebraucht werden.
3. Der Daumen und der kleine (5te) Finger dürfen in fortlaufenden
Tonleitern niemals auf die schwarzen Obertasten kommen.“51
Im darauffolgenden Paragraphen 5 räumt Czerny ein, dass es von den soeben
aufgestellten Regeln viele Ausnahmen geben würde, die allerdings immer
begründbar sind.52
Auf Chopin geht eine individuelle Innovation des Fingersatzes zurück, indem
er
mit diesen traditionellen Voraussetzungen gebrochen hat. Obwohl seine
Gedanken hierzu bald von der Nachwelt übernommen wurden, entrüsteten sich
in der ersten Zeit viele Autoritäten darüber, z. B. Friedrich Kalkbrenner. Chopins
Schüler Karol Mikuli hat daraufhin Chopins Erneuerungen folgendermaßen
geordnet und sie als Regeln formuliert:
1. „Chopin benutzte anstandslos den ersten Finger auf den schwarzen
Tasten, untersetzte ihn, freilich mit ausgesprochener Einwärtshaltung
des Handgelenks, selbst unter den fünften Finger, wenn dies die
Ausführung erleichtern, ihr mehr Ruhe und Gleichheit verleihen
konnte.
2. Mit ein und demselben Finger nahm er oft zwei aufeinander folgende
Tasten (und das nicht nur im Herabgleiten von einer schwarzen Taste
auf die nächste weiß e), ohne daß die mindeste Unterbrechung der
Tonfolge zu merken sein durfte.
3. Das
Ü bersetzen
der
längeren
Finger
übereinander,
ohne
Zuhilfenahme des Daumens [siehe Etüde Nr. 2, op. 10, Anm. d.
Verf.].“53
Die Hände Chopins waren nicht groß , verfügten aber über eine gute Dehnbarkeit.
51
Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule, Bd. 2, S. 2.
52
Vgl. Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule, Bd. 2, S. 2.
53
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 117–118.
58
Der Pianist Stephen Heller drückte dies folgendermaßen aus: „[Die Dehnbarkeit
der Hände Chopins ist, Anm. d. Verf.] [...] wie wenn eine Schlange den Rachen
öffne, um ein Kaninchen zu verschlingen.“ 54 Nicht nur die Hände, sondern
Chopins ganzer Körper war auß ergewöhnlich schmiegsam. Sein Schüler Adolf
Gutmann berichtete: „[...] Chopin [konnte] wie ein Clown die Beine über die
Schultern legen ...“55
Um dehnbare Hände zu erhalten, müssen zunächst eine zutreffende
Handhaltung und der bewegliche Mittelpunkt gefunden werden. Die zutreffende
Handhaltung von Chopin war die Positionierung des Daumens. Im Czerny’schen
Fingersystem wurde der Daumen als beweglicher Mittelpunkt aufgefasst. Er
muss stabil sein, weswegen kann ihn nicht auf den schwarzen Obertasten
verwendet; die anderen Finger sollten auch nicht überkreuzt werden, da die
Handfläche sonst nach oben oder unten verschoben wird und der Mittelpunkt des
Daumens verloren geht. Im Chopin’schen Fingersystem hingegen gilt der
Mittelfinger als beweglicher Mittelpunkt, da der Mittelfinger der Kern der ganzen
Hand ist. Es wird eine freie Beweglichkeit der Hand erreicht, wenn die Handfläche
sich ausdehnen oder das Handgelenk sich drehen kann. Das folgende
Notenbeispiel stammt aus Chopins erster Ballade und stellt ein Musterbeispiel
für Chopins Technik dar, den Mittelfinger der linken Hand als beweglichen
Mittelpunkt aufzufassen.
↑Notenbsp. 9: Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, T. 166–168.
54
Ebd, S. 119.
55
Ebd.
59
„Die Ausführung der schwierigsten Arpeggien, die aus den entferntesten Noten
bestanden, realisierte er [Chopin, Anm. d. Verf.] legato, denn sein Handgelenk,
nicht sein Arm, war laufend in Bewegung“56, sagte Karol Mikuli. Ein interessanter
pädagogischer Ansatz Chopins ist, dass er seine Schüler unterwies, zunächst
nicht die C-Durtonleiter, sondern jene in H-Dur zu spielen, weil ab dem vierten
Ton von H-Dur die von Chopin als zutreffend bezeichnete Handhaltung zustande
kommt: Die fünf Finger der rechten Hand greifen vom Daumen ausgehend
nacheinander die Tasten E, Fis, Gis, Ais und H. Dadurch entsteht die natürlichste
und angenehmste Handhaltung.
Mikuli berichtet: „Im Notieren des Fingersatzes, besonders des ihm
eigenthümlichen, war Chopin nicht sparsam.“ 57 Folgende Notenbeispiele aus
den Balladen Chopins, deren Notentext sich an die originale Fassung hält
(Herausgeber: Ignacy J. Paderewski), lassen seinen andersartigen kreativen
Fingersatz erkennen.
↑Notenbsp. 10: Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, T. 5–10.
Im Notenbeispiel 10 wird gezeigt, dass der kleine Finger von einer schwarzen
Taste auf die nächste weiß e herabgleitet, damit eine schöne Legatomelodie und
gleichzeitig eine Fingerpedalwirkung erreicht wird, obwohl in dieser Figur der
Daumen sowie zweiter und dritter Finger die Tasten gedrückt halten.
56
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 116.
57
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 117.
60
↑Notenbsp. 11: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 13–16.
Der im Notenbeispiel 11 ersichtliche Fingersatz Chopins zeigt, dass die Melodie
mit verschiedenen Fingern nacheinander gespielt wird, um sowohl ein schönes
Legato als auch unterschiedliche Klangfarben jedes einzelnen Tones zu
erreichen. Zusätzlich lässt sich mit diesem Fingersatz auch die geforderte
Artikulation der Phrasen realisieren.
↑Notenbsp. 12: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 37– 40.
Im Notenbeispiel 12 wird eine lange in Oktaven verdoppelte Legatomelodie in der
linken Hand gezeigt. Chopin hat an dieser Stelle einen eigenartigen Fingersatz
realisiert, der eine hohe Flexibilität des Handgelenks voraussetzt.
↑Notenbsp. 13: Chopins Ballade Nr. 4 in g-Moll op. 52, T. 103.
Anhand des Notenbeispiels 13 wird gezeigt, dass Chopins Fingersatz die
dynamischen Ä nderungen und Artikulationen widerspiegelt.
Die Passagen der hier gezeigten Notenbeispiele weisen eigentlich keine
61
wesentlichen Schwierigkeiten auf. Chopin notierte den Fingersatz auf eine Weise,
die zeigt, dass Chopin die Musik auf Basis der Klangfarben und Artikulationen
überdachte und dafür die jeweiligen Eigenheiten aller fünf Finger auszunutzen
wusste, um einen Fingersatz zu entwickeln, der seinen Vorstellungen Rechnung
trägt.
6.5. Chopin-Akkord
Der polnische Musikwissenschaftler Ludwik Bronarski beschäftigte sich Zeit
seines Lebens mit der Erforschung von Chopins Musik. Sein Forschungsprojekt
umfasst ästhetische, analytische und redaktionelle Probleme und Chopins
Verwendung der Harmonik. Bronarski arbeitete auch mit Ignacy Jan Paderewski
und Józef Turczyński zusammen, um alle Werke Chopins herauszugegeben. Vor
allem konstituierte Bronarski den sogenannten „Chopin-Akkord“, der in diesem
Kapitel thematisiert wird.
Bei diesem Akkord handelt es sich um einen Typ, den Chopin in seinen
Kompositionen häufig verwendete. Es ist ein Dominantseptakkord, dessen Quint
durch die Sext ersetzt wird. Die Wurzel dieser Sext lässt sich auf die Tredezime
(auch Chopin-Sext genannt) zurückführen, die fast immer in der obersten Stimme
liegt. Die Auflösung der Chopin-Sext ist ein Terzsprung abwärts, weswegen mit
diesem Akkord eine zunächst höchst angespannte, aber bald gelöste Wirkung
erzeugt wird (Notenbsp. 14).
↑Notenbsp. 14: Chopin-Akkord in C-Dur (c-moll).
62
Das folgende Beispiel aus der F-Dur-Ballade op. 38 zeigt eine intensive
Verwendung des Chopin-Akkords:
↑Notenbsp. 15: Chopin-Akkorde und ihre Auflösungen aus Chopins Ballade Nr. 2 in FDur op. 38, T. 42–46.
Hierdurch unterscheidet sich die typische Verwendung des Chopin-Akkords von
der „routinemäßigen“ Aufbereitung als Sextvorhalt vor der Quint, wie sie in dem
folgenden Beispiel von Adolf Jensen vorliegt.
↑Notenbsp. 16: Adolf Jensen: Wanderbilder op.17, Nr. 2: Froher Wanderer, T. 17–20.
Der Chopin-Akkord gilt als einer der neuen Akkordtypen, deren Verwendung sich
durch das gesamte 19. Jahrhundert zog. Es kann eine Weiterentwicklung dieses
Akkordes ausgehend von Chopin über Edvard Grieg bis zu Alexander Skrjabin
erkannt werden. Ein anderer verwandter Akkordtyp ist der Septnonenakkord (mit
groß er None) – ein Fünfklang, der mit dem Namen Schumanns verbunden wurde.
Dieser wurde vor allem in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts bei
französischen Komponisten bzw. im Impressionismus hochgeschätzt, so zeigt
sich eine häufige Verwendung dieses Fünfklangs in den Werken dieser Epoche.
Der Chopin-Akkord hatte einen Einfluss auf die Nachwelt. So wurde
beispielsweise Skrjabin von den Klangfarben Chopins inspiriert, der in seinem
63
Prélude in A-Dur op.15/1 den „Chopin-Akkord“ (Notenbsp. 17) verwendete.
↑Notenbsp. 17: Skrjabins Prélude in A-Dur op.15/1, T. 28–31.
Ein
berühmter
mystischer
Akkord
Skrjabins
wird
als
„Prometheus-
Akkord“ bezeichnet. Er besteht nicht mehr aus der traditionellen Terzschichtung,
sondern aus einer sechstönigen Quartenschichtung (c-fis-b-e-a-d). Von der
polnischen Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa wurde anhand der Lage der
charakteristischen Sext im Akkord bestätigt, dass der Prometheus-Akkord aus
dem Chopin-Akkord hergeleitet werden kann. Tatsächlich zeigt sich schon in
Skrjabins früher Schaffensperiode eine Tendenz, den Akkord in Quarten statt in
Terzen zu schichten (Notenbsp. 18). Skrjabin verfuhr wie Chopin, indem er die
Sext als obersten Ton verwendete, als Akkordgrundlage dient mit zwei
übereinander geschichteten Quarten eine Septim. Diese Tatsache verweist
darauf, dass man bei einigen „prometheischen“
Klängen der späten
Schaffensperiode Skrjabins noch tonale Spuren finden kann.
↑Notenbsp. 18: Skrjabins Mazurka in E-Dur op. 3/4. T. 62–66. Die Töne des
Zwischendominantseptakkords sind g (=Septime) – cis1 (Terz) – f1 (Sextvorhalt) – b1
(Sekundvorhalt).
64
6.6. Musikalische Verzierungen
Die Verzierungen sind ein relevantes Thema in Hinblick auf die Interpretation von
Chopins Werken. Sie dienen dazu, den Wert einer schönen Melodie zu erhöhen,
und führen zu einer höheren Reichhaltigkeit. In diesem Kapitel werden zunächst
bestimmte Aspekte der frühen Entwicklungsgeschichte der Verzierungen
aufgegriffen, da sich Chopin an klassischen Vorbildern – z. B. Bach und Mozart
– orientierte. Dementsprechend hielt er viele typische Regeln der damaligen Zeit
ein. Eine Vorgehensweise, die im Verlauf dieses Kapitels ebenso dargestellt wird.
6.6.1. Entwicklung der Verzierungen
Die Instrumente erfüllten in der Renaissance (1400–1600) zunächst
hauptsächlich die Begleitfunktion, während dem Gesang der Vorrang eingeräumt
wurde. Kurz danach kam es zu einem Aufblühen der Instrumentalwerke. Im
Vergleich zum Gesang wiesen die damaligen Tasteninstrumente aufgrund ihrer
Bauweise einige Beschränkungen auf. So war es beispielsweise nicht möglich,
lange Tondauern zu halten. Man begann daher, die Melodie mit Verzierungen zu
versehen, sodass lange Notenwerte in kürzere unterteilt wurden. Durch die
Verwendung der musikalischen Ornamentik wurden damalige Instrumente wie
Clavichord, Cembalo, Virginal oder Spinett allmählich unabhängiger und streiften
ihre Rolle als Begleitinstrument ab.
Im Barock kam es zu einer Blütezeit der musikalischen Ornamentik.
Improvisierte Verzierungen sowie vorgegebene Ornamente, die durch bestimmte
Symbole notiert waren, florierten. Zudem charakterisierten sie den damaligen
musikalischen Stil. Bedingt ist dies durch die Bauweise der barocken
Tasteninstrumente wie Cembalo und Clavichord. Da ihre Töne nach dem
Anschlag der Taste sehr bald ausklingen und keine dynamischen Ä nderungen
65
möglich sind, haben Musiker extrem häufig auf Verzierungen zurückgegriffen, um
für diese Mängel zu entschädigen. Diese Praxis zeigt sich beispielweise beim
letzten Ton eines Barockstückes. Normalerweise wird an dieser Stelle keine
Fermate notiert. Vom Interpreten wird ein Triller oder Mordent gespielt, um den
Klang fortzusetzen. Diese Vorgehensweise wird „Diminution“ genannt (Notenbsp.
19).
↑Notenbsp. 19: Diminution.
Es gab zunächst keine einheitlichen Verzierungsymbole, so gab es allerdings im
Spiel auch keine bestimmten Regeln, wie verziert werden soll. Erst nach dem
Jahr 1650 zeigten sich bezüglich der improvisierten Verzierungen einige
Ä nderungen. So gibt es zunächst Stellen, bei denen der Spieler frei
improvisierend verzieren durfte. In weiterer Folge begannen Komponisten
allerdings, diese Verzierungen konkret zu notieren. In dieser Zeit wurden
massenhaft bestimmte Verzierungsymbole entwickelt, die in Kompositionen für
Laute, Viola da gamba, Cembalo und Orgel verwendet wurden. In diesem Bezug
federführend war der französische Komponist François Couperin (1668–1733),
der verzierte Noten in Symbole umwandelte. Nach und nach übernahmen die
europäischen
Komponisten
diese
vereinheitlichen
Symbole.
Vor
der
vollständigen systematischen Aufzeichnung kursierten viele verschiedene
Varianten dieser Symbole, wobei es Bedeutungsunterschiede zwischen den
einzelnen Komponisten gab. Der englische Musikwissenschaftler Robert
Donington (1907–1990) hat die barocken Verzierungen in vier Kategorien
eingeteilt: „Appoggiatura Family, Shake Family, Division Family und Compound
66
Ornaments“ 58 . Folgende Tabelle gibt einen Ü berblick über die ersten drei
Kategorien der Ornamente in der Barockzeit. Die vierte Kategorie stellt
kombinierte Verzierungen der ersten drei Kategorien dar, weswegen sie hier
ausgelassen wird.
Kategorien Appoggiatura
Family
Arten
Shake
Division
Family
Family
(Vorschlag)
(Bebung)
(Division)
Vorschlag
Tremolo
Doppelschlag
Doppelvorschlag
Vibrato
Arpeggio
Schleifer
Triller
Zusammenschlag Mordent
Praller
Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Verzierungen auch Manieren
genannt. Carl Philipp Emanuel Bach widmet diesen in seinem Buch „Versuch
über die wahre Art das Clavier zu spielen“ ein umfassendes Kapitel.
In der Wiener Klassik (ca. 1780–1827) entstanden viele Schriften, die
Verzierungen
abhandeln,
beispielsweise
„Versuch
einer
gründlichen
Violinschule“ von Leopold Mozart, „Klavierschule“ von Daniel Gottlob Türk und
„Klavierschule“ von Muzio Clementi. Die Ausführungen, die in diesen Schriften
zu finden sind, wurden von den damaligen Wissenschaftlern hochgeschätzt. Aber
wegen der Evolution der Instrumente zeigen sich bezüglich der Ausführung der
musikalischen Ornamentik schon in der Klassik Ä nderungen. Als das
Hammerklavier im 18. Jahrhundert aufkam, wurden Cembalo und Clavichord
verdrängt, und das Hammerklavier galt als gängiges Tasteninstrument. Da es
58
Robert Donington, The Interpretation of Early Music, London 1963, S.131–132.
67
hinsichtlich Tonlänge, Klang und Dynamik über mehr Möglichkeiten als Cembalo
und Clavichord verfügte, gab es keinen Bedarf mehr, die Verzierungen aufgrund
des schnell ausklingenden Tons zu verwenden. Vielmehr wurde die Verzierung
nun
zu
einem
Teil
der
Melodielinie.
Die
Verzierungen
wurden
nun
ausgeschrieben, weswegen es nicht mehr nötig war, auf die barocken Symbole
zurückzugreifen. In der Klassik verringerte sich die Anzahl der Symbole, so gab
es im Wesentlichen nur
(Triller),
(Mordent),
(Doppelschlag) und
(Arpeggio).
In der Romantik (1825–1900) stand die kompositorische Freiheit und der
Ausdruck der persönlichen Empfindung an vorderster Stelle. Dieselbe Tendenz
zeigt sich hinsichtlich der Darstellung der Verzierungen. In der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts gab es bezüglich der Weiterentwicklung des Hammerklaviers
groß e Fortschritte (siehe Kapitel 6.1.), wodurch sowohl Interpreten als auch
Komponisten inspiriert wurden. Diese Zeit gilt als eine wichtige pianistische
Epoche. Bezüglich der Ausführung der Verzierungssymbole gibt es keinen
groß en Unterschied zwischen Romantik und Wiener Klassik, vielmehr zeigen
sich nun stilistische Unterschiede zwischen den einzelnen Komponisten. Als
pianistische Repräsentanten der Romantik gelten Chopin, Schumann und Liszt.
Im Folgenden werden die Charakteristika von Chopins Verzierungen dargelegt.
6.6.2. Chopin’sche Verzierungen
Ein charakteristisches Merkmal der Werke Chopins sind die reichhaltigen
Verzierungen, die man in zwei Kategorien einteilen kann. Eine Kategorie umfasst
die konservativen Verzierungen, z. B. Triller; die zweite beinhaltet Chopins
individuell verzierte Tongruppen. Normalerweise begann der Triller in der
68
Romantik mit der Hauptnote. Um einen Triller mit der oberen Nebennote zu
beginnen, musste dies mithilfe einer kleinstichigen Vorhaltsnote notiert werden
(Notenbsp. 20). Diese Ausführungsweise wurde allerdings erst von Johann
Nepomuk Hummel in seiner Klavierschule von 1828 gelehrt und verbreitete sich
allmählich. Bei vielen Beethoven’schen Trillern gilt die Regel, mit der Hauptnote
zu beginnen, wenn die Vorschlagsnote fehlt.
Notenbsp. 20: Triller mit einer oberen Nebennote.
Bei Chopin zeigen sich diesbezüglich Unterschiede, denn er zog die älteren
Verzierungsformen vor. So zum beispiel den barocken Triller, der „von
unten“ anfängt und mit den älteren Zeichen
und
notiert wird. Diese
Zeichen waren zu Chopins Zeit längst auß er Gebrauch. Waren die gerade
erwähnten Triller erforderlich, so wurden sie von späteren Komponisten außer
Chopin gemäß Notenbsp. 21 – A notiert. Chopin hingegegen notierte diesen
Triller immer auf jene Weise, die in Notenbsp. 21 – B ersichtlich ist. Er hat das
dritte Nötchen ausgelassen, da der Triller bei ihm mit der Obernote beginnt:
„Bei Chopin muß te der Triller...mit der Obernote beginnen. Wenn ihm eine
Stichnote vorausgeht (die mit der Hauptnote identisch ist) heißt das nicht,
daß diese Note verdoppelt werden muß ; das bedeutet nur, daß der Triller
auf der Hauptnote beginnen soll und nicht, wie üblich, mit der Obernote.“59
Notenbsp. 21: Triller.
In Hinblick auf das Zusammenspiel von Melodie und Begleitung sollte man
aufpassen, dass die Verzierung am Schlag beginnt. Interessant ist diesbezüglich,
dass aufgrund der Durchgangsnoten bei dieser Vorgangsweise ein neuer
konsonanter oder dissonanter Klang erzeugt wird (Notenbsp. 22 und 23).
59
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels. S. 120.
69
„Dieser für ihn [Chopin; Anm. d. Verf.] so charakteristische Triller von
unten wird fast immer falsch gespielt, nämlich mit Vorausnahme der zwei
Sechzehntelnötchen. Der gleiche barocke Triller von unten wird im 3. Takt
von Beethovens Appassionata fast immer richtig gespielt, mit Einsatz auf
dem schweren Taktteil. Was aber Beethoven recht ist, ist Chopin billig.“60
↑Notenbsp. 22: Chopins Ballade Nr. 3, T. 25–27.
↑Notenbsp. 23: Chopins Ballade Nr. 1, T. 113.61
Die individuellen verzierten Tongruppen Chopins, die häufig in Form von
Stichnoten
notiert
wurden,
nannte
der
schottische
Pianist
und
Musikwissenschaftler John Petrie Dunn „Cadenzas“ 62 . Im Kapitel 6.3. wurde
schon erwähnt, dass Chopins Kompositionen und deren Artikulation vom
italienischen Belcanto stark beeinflusst sind. Die Cadenzas Chopins stellen eine
Imitation der Fiorituren italienischer Opernarien dar. Diese sind nicht nur vom
60
Walter Georgii, Die Verzierungen in der Musik. Theorie und Praxis für Musiker und
Musikfreunde, Zürich 1957, S. 31.
61
Adolf Beyschlag, Die Ornamentik der Musik, Leipzig 1908, S. 272.
62John
Petrie Dunn, Ornamentation in the works of Frederick Chopin, New York 1971, S. 57.
70
„stile brillante“ beeinflusst. Zusätzlich weisen sie chromatische Figuren auf, die
von der menschlichen Stimme nicht mehr zu singen sind. Diese Cadenzas stellen
sowohl eine musikalische Dekoration als auch eine perfekte Synthese von
Verzierung und Melodie dar. Dadurch wurde es möglich, die menschliche
Gesanglichkeit am Klavier umzusetzen. Folgende Notenbeispiele zeigen
Chopins verzierte Melodiefiguren und deren strukturelle Wurzeln.
Die gewundene Figur
↑Notenbsp. 24-1: Arie von Rossini „La Cenerentola“.
↑Notenbsp. 24-2: Chopins Ballade Nr. 1, T. 32.
Die gleitende Figur
↑Notenbsp. 25-1: Arie „Casta Diva“ aus Bellinis Norma.
↑Notenbsp. 25-2: Chopins Ballade Nr. 1, T. 246–248.
71
Die bogenfö rmige Figur
↑Notenbsp. 26-1: Duetto aus Rossinis „Semiramide“
↑Notenbsp. 26-2: Chopins Nocturne op. 9 Nr. 3 in B-Dur, T. 27 (gesangliche Figur).
↑Notenbsp. 26-3: Chopins Ballade Nr. 4, T. 134 (pianistische Figur).
Den „pianistischen“ Belcanto, der bereits vor Chopin vorhanden war, kann man
überall in Chopins Nocturnes finden. Als Erfinder des Nocturnes gilt der irische
Komponist, Pianist und Klavierpädagoge John Field (1782–1837), der zur damals
berühmten „London Pianoforte School“63 gehört. Chopin wurde zum Teil von ihm
inspiriert. Dennoch weisen die Werke Chopins ein eigenes Charakteristikum auf,
weil Chopin die Kantabilität der „London Pianoforte School“, die Virtuosität des
63
London Pianoforte School: Dieser Zeitabschnitt reichte von 1766 bis 1860 und wurde vom
Musikwissenschaftler Nicholas Temperley definiert. Die Erscheinung dieses Worts hängt mit der
Konstruktion der damaligen Klaviere in London zusammen. Aufgrund der englischen Mechanik
des Klaviers (tiefer Anschlag und langsame Reaktion der Taste) wurde ein Musikstil entwickelt,
der durch kantable, leichte und zarte Melodien geprägt ist. Dieser Musikstil beeinflusste
Komponisten der Romantik, z. B. Chopin. Vertreter dieses Stils waren Muzio Clementi, John
Baptist Cramer, Jan Ladislav Dussek, John Field und George Frederick Pinto.
72
„stile brillante“ und die Schönheit des italienischen Belcanto übernahm und diese
zu einer Einheit zusammenführte.
6.7. Chopins Pedalverwendung
Vom berühmten Pianisten Anton Rubinstein ist bezüglich des Pedals folgende
Aussage überliefert: „The more I play, the more I am throughly convinced that the
pedal is the soul of the piano. There are cases where the pedal is everything.“64
Anhand dieser Aussage kann man erkennen, wie wichtig die Pedalverwendung
in der Klaviermusik ist.
In der Epoche Chopins zeigten sich hinsichtlich der Aufführungspraxis des
Klaviers groß e Fortschritte. Von Chopin stammen nicht nur Innovationen die
Artikulation sowie seine Art der Musik bzw. die neue Gattung Ballade betreffend,
sondern er reformierte neben dem Fingersatzsystem, der typischen Harmonie
und der klassischen Ornamentik auch die Pedalverwendung. Sein Verdienst ist
der differenzierte Einsatz des Pedals. Vor Chopin war die Pedalfunktion
einerseits noch im frühen Entwicklungsstadium (Kniepedal), andererseits
konzentrierten sich weder Komponisten noch Pianisten besonders darauf, das
Pedal und dessen Spieltechnik gezielt anzuwenden. Deswegen spielte die
Pedalverwendung lange Zeit eine stiefmütterliche Rolle. Beethoven gilt
diesbezüglich als Pionier, der die Wichtigkeit des Pedals entdeckte. In weiterer
Folge integrierte er die Pedalwirkung in seine Kompositionen. Seine Planungen
der Pedalverwendung waren für die damalige Zeit sehr kühn.65 Bis in die erste
64
Anton Rubinstein; Teresa Carreno: The Art of Piano Pedaling. Two Classic Guides. New York
2003, S. xi.
65
Details hinsichtlich der Pedalverwendung Beethovens kann man in William Neumen,
„Beethoven’s Use of the Pedals“ in: The Pianist’s Guide to Pedaling, Bloomington 1985, S.142–
166 nachlesen.
73
Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Pedale von vielen Komponisten im
Wesentlichen
nicht
differenziert
eingesetzt.
Chopin
galt
unter
seinen
Zeitgenossen als erster Komponist, der sich mit der Pedalverwendung intensiv
auseinandersetzte. Er entwickelte alle Pedalwirkungen und Pedaltechniken.
In den Werken Chopins bedeuten die Symbole Ped. und
betätigen
und
es
wieder
wegzunehmen.
Die
das Pedal zu
Pedalzeichen
in
den
Notenbeispielen dieser wissenschaftlichen Arbeit wurden aus den originalen
Fassungen übernommen. Diesbezüglich muss man die interessante Tatsache
beachten, dass man zunächst die erste Edition (herausgegeben von Maurice
Schlesinger, Paris) konsultieren muss. Die Pedalverwendung notierte Chopin
generell sehr ausführlich; dennoch ließ er sie manchmal offen, um den Spieler
selbst entscheiden zu lassen. So schrieb Chopin beispielsweise gar keine
Pedalzeichen in der Etüde op. 10, Nr. 12 „Revolution“. Dies impliziert sicher nicht,
dass Chopin dem Spieler keine Pedalverwendung in diesen Werken erlaubte.
Eine
berechtigte
Erklärung
ist
vielmehr,
dass
es
hinsichtlich
der
Pedalverwendung in diesen Werken viele Möglichkeiten gibt. In Abhängigkeit von
der Ö rtlichkeit und vom verwendeten Klavier werden mithilfe des Pedals
unterschiedliche Wirkungen erzeugt, weswegen Chopin keine Pedalzeichen
notierte. Da Chopin die Struktur des Klaviers und die Pedalverwendung sehr gut
kannte, erreichte er mithilfe des Pedals sehr viele feine Nuancen. Diese
Anweisungen waren zwar auf den damaligen Hammerflügel abgestimmt. Obwohl
es zwischen diesem und dem heutigen Flügel Unterschiede diesbezüglich gibt,
lassen sich die von Chopin beabsichtigten Wirkungen dennoch auch auf einem
modernen Flügel erzielen. Zu Chopins Spiel ist vom französischen Komponisten
Antoine Marmontel in seinem Buch „Histoire du piano“ Folgendes überliefert:
74
„Chopin bediente sich der Pedale mit wundervollem Feinsinn. Er
koppelte sie oft, um einen vollweichen, verschleierten Klang zu
erreichen, aber noch häufiger benützte er sie getrennt bei glänzenden
Passagen, bei gehaltenen Harmonien, bei tiefen Bässen, bei grellen,
knallenden Akkorden (stridents, éclatants), [...].“66
Für die Verwendung des linken Pedals (una corda) hatte Chopin auch einen
individuellen Standpunkt. In all seinen Klavierwerken scheint kein Zeichen für das
linke Pedal auf. Der Grund ist derselbe wie vorhin. Es ist möglich, dass er das
linke Pedal als Möglichkeit für klangliche Ä nderungen erachtete, und nicht als
dynamische Reduzierung. Chopin sagte diesbezüglich: „Learn to make a
diminuendo without the help of the [una corda] pedal; you can add it later.“67 Der
polnische Pianist und Komponist Jan Kleczyński berichtete:
„[...] Chopin wechselte oft und ohne Ü bergang vom Forte-Pedal aufs
andere, vor allem in enharmonischen Modulationen. Diese Passagen
hatten einen ganz besonderen Reiz, vor allem auf den Klavieren von
Pleyel. [...] viele Passagen gewinnen durch einfaches Spiel ohne
jeglichen Pedalgebrauch...oft begleitet das una-corda-Pedal wirklich
gottvolle Melodien, die uns von der Erde erheben. Beispiele: Trio des
Prelude op.28/13 (Takt 21–28), Walzer op. 64/2 (Takt 65–96) [...].“68
Chopin hatte bezüglich des Klanges eine scharfsinnige Wahrnehmung. Seine
fein ausdifferenzierten Klangempfindungen spiegeln sich sowohl in seinen
Kompositionen als auch hinsichtlich des Pedalgebrauchs wieder. Der
sogenannte Klang enthält die Grundfrequenz und die Obertöne. So besteht
grundsätzlich jeder Ton, den man hört, aus einer Grundfrequenz und bestimmten
Obertöne. Die geringste Sinusschwingung ist die wahrnehmbare Tonhöhe; die
anderen, die schneller schwingen, bestimmen die Klangfarbe. Daraus resultiert
66
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 120.
67
Jean-Jacques Eigeldinger, Chopin: Pianist and Teacher as seen by his pupils, New York
1986, S. 57.
68
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 120.
75
die Tatsache, dass die gleiche Tonhöhe, die von zwei ungleichen Instrumenten
gespielt wird, unterschiedliche Klangfarben hat; wenn nun auf einem Instrument
unterschiedliche Klangfarben hervorgebracht werden, wird dies durch das sich
ändernde Verhältnis der Obertöne bestimmt. Folgendes Notenbeispiel (Notenbsp.
27) zeigt eine Obertonreihe. Der siebente, der elfte, der dreizehnte und der
vierzehnte Teilton sind nicht im abendländischen Tonsystem enthalten, d. h. auf
einem Klavier nicht spielbar. Sie sind tiefer als die entsprechenden Töne auf dem
Klavier, weil dieses anders gestimmt ist.
↑Notenbsp. 27: Obertonreihe auf dem Grundton C mit 15 Obertönen.
Die Obertontheorie wurde vom Mathematiker Joseph Fourier (1768–1830) im
Jahr 1822 veröffentlicht. In diesem Jahr war Chopin ein 12-jähriger Junge. Es
gibt keinen Beweis, dass Chopin diese fortschrittliche und professionelle Theorie
kennengelernt haben könnte. Seine Kompositionen zeigen allerdings, dass
Chopin selbst die Obertonwirkung bemerkte und diese dem Klang seiner Werke
zugrundelegte. So erreichen Chopins Werke auch am modernen Klavier
groß artige Klangwirkungen, obwohl es einen groß en Unterschied zwischen den
Möglichkeiten des modernen Klaviers und des Hammerflügels gibt. Ein
berühmtes Merkmal der Werke Chopins ist jene begleitende Figur, die eine breite
Akkordzerlegung in der linken Hand darstellt. Diese folgt einem Grundprinzip, das
der natürlichen harmonischen Resonanz entspricht. Chopin schrieb manchmal
sogar eine Figur der Obertonreihe in der Begleitung (Notenbsp. 28).
76
↑Notenbsp. 28: Chopins Ballade Nr. 1, T. 190–192, 175–177.
Bezüglich der Pedalverwendung führte Chopin viele Ä nderungen ein. Neben
der einfachsten Verwendung – das Pedal wird getreten und wieder losgelassen
– kann das Pedal auch nur zur Hälfte bzw. in vielen weiteren Abstufungen
getreten werden, wodurch viele unterschiedliche Klangfarben erzeugt werden
können. Auch wenn es sich um die einfachste Verwendung handelt, gibt es schon
vier unterschiedliche grundsätzliche Klangwirkungen: 1. das Spiel ohne Pedal; 2.
die Verwendung des Pedals nach dem Anschlag der Töne; 3. gleichzeitiges Spiel
der Töne und des Pedals; 4. Anschlag der Töne nach der Pedalverwendung.
Diese vierte Klangwirkung wird beispielsweise am Anfang der Barcarolle op. 60
verlangt. Chopin notiert das Pedalsymbol vor dem ersten Ton, das heiß t, der erste
Ton sollte erst nach der Pedalverwendung gespielt werden (Notenbsp. 29).
Allerdings gab es viele Herausgeber, die Chopins Pedalwirkungen nicht beachtet
haben, weswegen seine Planung, Töne und Pedal gleichzeitig zu spielen,
vielfach falsch geändert wurde.
↑Notenbsp. 29: Chopins Barcarolle op. 60, T. 1–2.
77
„Selbstverständlich hat jeder hervorragende Pianist seine besondere
Art des Pedalgebrauchs. Was Chopins besonderen Stil betrifft, so ist
uns darüber leider nichts Näheres bekannt, und dies ist um so mehr
zu bedauern, als er mit seinen Pedal-Bezeichnungen äusserst sorglos
war. Rubinstein erklärt, dass die meisten Pedal-Bezeichnungen in
Chopins Compositionen an unrichtiger Stelle stehen. Soviel wissen
wir wenigstens: ‚Kein Clavierspieler hat vor ihm die Pedale
wechselweise oder gleichzeitig mit solchem Geschmack und
Geschicklichkeit gebraucht‘ und ‚durch beständigen Gebrauch des
Pedals erreichte er des ‚harmonies ravissantes, des bruissements
melodiques qui etonnaient et charmaient‘.‘ (Marmontel).“69
Die folgenden Notenbeispiele, die aus Chopins Balladen stammen, beweisen
Chopins individuelle Planung der Pedalverwendung.
↑Notenbsp. 30: Chopins Ballade Nr. 2, T. 94–101.
Die übliche Pedalverwendung ist: Das einmalige Niederdrücken des Pedals ist
nur möglich, solange die Harmonie gleich bleibt. Wenn sich die Harmonie ändert,
muss das Pedal nochmals niedergedrückt werden, weil die Harmonie ansonsten
trüb wird. Chopin hingegen hielt sich nicht immer an diese Regel, was die
Pedalwirkungen zeigen, die er in seinen Werken notierte. Das Notenbeispiel 30
zeigt einen Klangeffekt, bei dem zwei unterschiedliche Harmonien vermischt
werden. Dieser Effekt zeigt sich vor allem im Takt 99 noch deutlicher.
69
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels, S. 124–125.
78
↑Notenbsp. 31: Chopins Ballade Nr. 3, T. 54–58.
Das Notenbeispiel 31 zeigt eine ganz besondere Artikulation, die durch die
inkonsistente Planung zwischen der harmonischen Phrase, der rhythmischen
Phrase und dem Pedalgebrauch entsteht. Dieser 6/8-Takt verfügt aus diesem
Grund über einen einzigartigen Impuls.
↑Notenbsp. 32: Chopins Ballade Nr. 4, T. 203–210.
Im Notenbeispiel 32 wird gezeigt, dass Chopin im Takt 210 das Symbol
auf
den vierten Schlag notiert, während die Tonlänge schon auf dem ersten Schlag
aufhört. Die daraus resultierende Klangwirkung ist, dass der lange Akkord (T.
207–210) allmählich leiser wird, bis er schließ lich ganz verschwindet.
Die hier gezeigten Beispiele verdeutlichen Chopins feine Planungen der
Klangwirkungen. Die Interpreten sollten Chopins Anweisungen richtig und genau
lesen, dann kann man die Musik so darstellen, dass sie den originalen
Intentionen des Komponisten entspricht. Chopin sagte bezüglich des Pedals
auch öfters zu seinen Schülern: „The correct employment of it [use of the pedal,
Anm. d. Verf.] remains a study for life.“70
70
Frederick Niecks, Frederick Chopin as a Man and Musician, 2. Aufl., Bd. 2, London und New
York 1890, S. 341.
79
Zusammenfassung
Chopin war ein absoluter Künstler, der sein eigenes musikalisches Talent, seine
Empfindung und seine Gedanken völlig der Klaviermusik gewidmet hat. Durch
die Essenz der Romantik schuf Chopin einen musikalischen Stil, der durch eine
völlige Kantabilität und Virtuosität geprägt ist. Er hat das Klavier zur Blütezeit
sowohl in der Musikgeschichte als auch in der Entwicklungsgeschichte des
Klaviers geführt. Seine Musik hat eine eigene Attraktivität, so wurde
beispielsweise die Melodik des italienischen Belcanto auf das Klavier übertragen
und es kam zu einer Gleichstellung von Melodie und Begleitung. Chopin änderte
die Art der Begleitung, indem er typische Begleitungen wie den Alberti-Bass bzw.
die Akkordzerlegungen in enger Lage durch breite Akkordzerlegungen ersetzte.
Des Weiteren nutzte er die Besonderheiten des Pedals aus, um zahlreiche
Klangfarben und harmonische Klangwirkungen zu erzeugen. Chopin verehrte die
beiden Komponisten J. S. Bach und W. A. Mozart sehr. Er übernahm mit der
Polyphonie und der Stabilität die kompositorischen Gedanken von Bach sowie
den graziösen und feinen Musikstil von Mozart. In Chopins Werken zeigt sich
einerseits der zierliche und ausgewogene Musikstil der Klassik, andererseits der
persönliche emotionale Ausdruck der Romantik. Chopin brach mit der
althergebrachten Tradition, dass jedes Stück nur eine einzelne musikalische
Form aufweist. Vielmehr kombinierte er Sonatenform, Rondoform und
Variationsform zu einer Einheit, und diese Errungenschaften zeigen sich in
seinen Kompositionen, z. B. den vier Balladen, durchaus.
Chopins vier Balladen weisen jeweils unterschiedliche Spezialitäten, eine
anders geartete Virtuosität und verschiedene musikalische Bedeutungsgehalte
auf. Es ist mühevoll, diese vier Balladen gut zu interpretieren. Schwierigkeiten
80
ergeben sich auch bezüglich der Spieltechnik, denn der Anschlag des modernen
Klaviers ist schwerer als jener der damaligen Klaviere. Chopins bevorzugtes
Klavier – der Pleyel-Flügel – hat einen leichten Anschlag und einen
durchsichtigen Klang. Die schwierigen Stellen, z. B. der schnelle Schlussteil der
vierten Ballade, sind auf den damaligen Instrumenten nicht so beschwerlich zu
spielen.
In der Lebenszeit Chopins gab es noch keine Möglichkeit, Tonaufnahmen
anzufertigen. So kann man nur auf seine eigenen schriftlichen Ü berlieferungen
zurückgreifen oder auf die Aufzeichnungen seiner Schüler, um zu rekonstruieren,
wie das Klavierspiel des groß artigen Pianisten Chopin charakterisiert war. Auf
jeden Fall muss der heutige Interpret genau wissen, dass man sich im eigenen
persönlichen Spiel noch an originale Meinungen des Komponisten halten sollte.
Der französische Komponist Pierre Zimmermann (1785–1853), der auch
Klavierprofessor am Conservatoire de Paris war, brachte dies auf den Punkt:
„[...] his [Chopin, Anm. d. Verf.] music has a character that allows one to
slightly relax from the strict observation of the measure. However, one
must use sparingly the indication we give here, because it only concerns,
in certain pieces of this master, a certain abandon filled with an
indescribable charm under the author’s fingers. Chopin, like every original
talent, cannot be imitated; however one must strive to enter into the spirit
of his compositions so as to not make nonsense of them.“71
71
Jonathan Bellman, „Chopin and his Imitators: Notated Emulations of the ‚True Style‘ of
Performance“ in: 19th-Century Music, Bd. 24, Nr. 2, Autumn 2000, S. 152.
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