Gefluss der typisch russischefl Art

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Genuss der typisch russischen Art
Genuss der typisch russischen Art
Arthaus präsentiert die DVD-Box „The Bolshoi Ballet II“
Veröffentlicht am 08.05.2008, von Volkmar Draeger
Berlin - Schon farblich ist das DVD Box-Set „The Bolshoi Ballet II“ von Arthaus Musik ein Augenschmaus. Man nimmt jenen Schuber
mit den vier aufgezeichneten Balletten Juri Grigorowitschs gern in die Hand, ehe man sich an die Signaturwerke des bedeutenden
russischen Choreografen verliert. Dass sie gleichsam Bolschoi-Historie wie persönliche Entwicklungsgeschichte dieses wichtigsten
Tanzerfinders zu Zeiten der Weltenteilung in Ost und West spiegeln, erhebt sie, über den Tanz hinaus, zum Zeitdokument. Fast
drei Jahrzehnte individuellen choreografischen Schaffens blättern sich vor dem Betrachter auf, die bei aller Bewunderung für soviel
Schöpfertum auch dessen Grenzen aufscheinen lassen: Grigorowitschs Handschrift hatte sich derart perfektioniert, dass ein
Weiter, eine Steigerung kaum mehr möglich schien. Folgerichtig kamen Palastrevolte im Bolschoi und, 1995, die
Demissionierung.
Am Beginn dieser beispiellosen Karriere steht, bei der Uraufführung 1954 in Moskau noch durchgefallen, „Die steinerne Blume“,
Prokofjews letztes Ballett. Grigorowitschs auf drei Akte gestraffte, sehr erfolgreiche Leningrader Fassung von 1957 wurde nicht nur
zwei Jahre später vom Bolschoi übernommen; sie half beiden, Werk und Choreografen, sich zu etablieren. Mag er die
vorliegende Version, wie die übrigen Werke der Box 1990 aufgezeichnet, überarbeitet haben, so gibt sie dennoch einen
Einblick in seine Herkunft von der Folklore. Ganz russisches Märchen ist nicht nur, was da von dem Idealen nachjagenden
Steinschneider Danila, seiner unfreiwilligen Lehrzeit bei der Herrin des Kupferbergs und der jedes Hindernis überwindenden Liebe
seiner Braut Katerina erzählt wird, sondern ebenfalls, wie Grigorowitsch das nationale Sujet in Szene gesetzt hat: bei aller
Virtuosität der klassischen Grundsprache schlicht und volksnah. Die kristalline Kulisse im Kupferberg korrespondiert dabei mit
Danilas wahrer Heimat, dem Wald. Grigorowitschs Bemühen um eine Dramatisierung des Balletts, fort von der tradierten
Pantomime, hin zu glaubhaften, präzis tänzerisch umrissenen Charakteren, auch sein Geschick, plastisch ornamentale Tableaux
zu entwerfen - sie finden hier ihre Ausprägung. In dieser späten Aufnahme jenes Balletts brillieren Ludmilla Semenjaka als
Naturmädchen Katerina, Nina Semisorowa als auch gestisch starke Herrin des Kupferbergs mit bizarrem Posenarsenal, der bei
uns weniger bekannte Nikolai Dorochow als drehflinker Sausewind Danila, Juri Wetrow als grotesker Bösewicht Sewerjan,
Gediminas Taranda als feuriger Zigeunerbursche - und, wie in allen weiteren Aufzeichnungen, das gesamte Bolschoi-Ballett sowie
das Orchester des berühmten Hauses.
Fast zehn Jahre später, 1968, datiert mit „Spartacus“ Grigorowitschs international vielleicht meistumjubelte Inszenierung. Ob jenes
Hohelied auf die Revolution Rom sagt und die damalige Sowjetunion meint, sei dahingestellt. Fakt bleibt, dass man sich dem Sog
dieses Heldenepos nicht entziehen kann, selbst wenn manchen die westeuropäischer Nüchternheit zuwiderlaufende Überdramatik
befremden mag: Die russische Seele pocht eben anders. Mit der Wucht von Chatschaturjans Partitur wetteifert die Choreografie
einzigartigen Höhepunkten entgegen, den kolossalen Schlachtengemälden etwa, die Grigorowitsch eben nicht als Gemetzel,
vielmehr als gigantisch straffe Aufmärsche und Formationen anlegt. Kalkuliert wechseln solche Massenszenen mit inneren
Monologen der Hauptakteure und Liebesduetten. Crassus, aufragend aus einem Wald aus Schildern und Standarten gleich zu
Anfang; Spartacus, am Ende wie gekreuzigt im Lanzenpulk der siegreichen Römer hängend - sie wurden ebenso zu Bildikonen
von suggestiver Wirkung wie Béjarts „Sacre“-Blume. Das Bolschoi zeigt sich hier auf dem Gipfel seines vielzitierten Athletizismus,
mit Akteuren einer heutigen, nicht minder eindrucksvollen Generation. Irek Muchamedov dürfte als muskelbewehrter Titelheld von
beinah tierischer Geschmeidigkeit, brachialer Flugkraft und singulärer Persönlichkeit nicht zu übertreffen sein und hat im Crassus
des jungen Alexander Wetrow einen elegant ungestüm springenden, kaum weniger präsenten Widerpart. Ähnlich treffend sind
die weiblichen Parts besetzt: Semenjakas filigran schmalgliedriger Phrygia steht, schneidend scharf in Technik und Ausstrahlung,
Maria Bilowa als verführerisch schöne Aegina gegenüber.
Muchamedows Triumph setzt sich in einem weiteren Historienballett fort: „Iwan der Schreckliche“, einer düsteren Reminiszenz an
den Stalin des russischen Mittelalters, mit Eisensteins legendärem Film als Hintergrund und einer aus über 370 Schnipseln
fragmentierten Partitur Prokofjews als musikalischer Folie. Trotz wieder imposanter Ensembleszenen lebt dieses Monumentalwerk
ganz von der dramatischen Gestaltungswucht der Titelfigur, die in der Tat einem Eisenstein-Streifen entstiegen scheint und
stummfilmhaft überzeichnet wirkt. Muchamedow als phänomenaler Tänzerdarsteller beherrscht die Szene, ob inmitten dynamischer
Ballungen von Massen, im anrührenden, reich mit Stemmhebungen gespickten Liebesduett mit Anastasia oder im Geworfensein
auf sich selbst. Das Kreuz, auf der Brust getragen, aus Stab und Zepter oder gar Menschen geformt, wird zum dominierenden
Symbol. Im Finale wieder ein echter Grigorowitsch: Iwan hängt hoch über allen gebieterisch in den verwundenen Seilen der
Kirchenglocken. Anastasia, der Grigorowitschs unlängst verstorbene Gattin Natalja Bessmertnowa überragend Gestalt gibt, ist da
bereits dem Gifttod erlegen, ihr Mörder Kurbski, den Gediminas Taranda mit fulminanter Virtuosität ausstattet, gehetzt auf der
Flucht.
Ein gänzlich anderer Grigorowitsch präsentiert sich in der 1984 entstandenen „Raymonda“, die auf Petipa basiert und, wie alle
Ballette des damaligen Bolschoi-Chefs, auch von Simon Wirsaladses prachtvoller Ausstattung zehrt. Viel mehr als eine
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Genuss der typisch russischen Art
mittelalterliche Räuberpistole im orientalisierenden Gewand, das sich die Kunst um die Wende zum 20. Jahrhundert so gern
überstreifte, gibt es nicht zu berichten - das indes mit allem Feinschliff der klassischen Linie und einem Schuss ungarischem
Temperament im Schlusssakt. Traumsicher, mit perfektem Stil, wunderbarer Pirouettenkultur und relativ niedrigen Battements verleiht
Bessmertnova, damals schon nicht mehr jung, der Titelfigur den Adel einer ganzen Epoche. Vornehm, gediegen als Partner und
hoch im Raumflug ist Juri Wassjutschenkos Jean de Brienne unter einem Lohengrin-Helm, hat jedoch in seiner Blässe gegen den
schillernden Sarazenen Abderachman, dem Taranda mit fulminantem Sprungwirbel unverwechselbaren Charakter gibt, wenig
Chance. Geleckt bis in die gelackten Haare agiert das Corps in bestechend sauberen Formationen. Gefilmt wird vielfach die
Totale der Gesamtszene, unterbrochen von Nahaufnahmen bei Soli und Duetten. Ein Genuss der typisch russischen Art.
Arthaus Musik, The Bolshoi Ballet II, 4 DVD Box-Set, 52,99 Euro
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