Vom «Gibraltar des Nordens» zur EU-Metropole Zur historischen und urbanistischen Entwicklung Luxemburgs Die über Jahrhunderte ständig verstärkten Festungsanlagen, deren Reste als UNESCO-Weltkulturerbe eingestuft sind, bestimmen das Bild Luxemburgs noch heute. Mit einer geordneten Entwicklung ausserhalb der Mauern hat sich die Stadt lange Zeit schwer getan. Text: Hubertus Adam Eine der frühen literarischen Beschreibungen, welche von der Faszination der Stadt Luxemburg zeugt, stammt von Johann Wolfgang von Goethe. Als Begleiter des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach hatte er im Herbst 1792 zusammen mit den Truppen der antirevolutionären Allianz am Feldzug gegen die französischen Revolutionsarmeen teilgenommen. Die Kanonade von Valmy führte zur Niederlage der Koalitionsarmee, die daraufhin den Rückzug antrat. Goethe verbrachte Mitte Oktober einige Tage in Luxemburg – nachweislich beeindruckt von dem Zusammenwirken von Natur und Architektur, welches die Festungsstadt offenbarte. In seinem Reisebericht Campagne in Frankreich schilderte er seine Eindrücke der Nachwelt: «Wer Luxemburg nicht gesehen hat wird sich keine Vorstellung von diesem an und übereinander gefügten Kriegsgebäude machen. Die Einbildungskraft verwirrt sich, wenn man die seltsame Mannichfaltigkeit wieder hervorrufen will, mit der sich das Auge des hin und hergehenden Wanderers kaum befreunden konnte. Plan und Grundriß vor sich zu nehmen wird nöthig seyn, nachstehendes nur einigermaßen verständlich zu finden. Ein Bach, Petrus genannt, erst allein, dann verbunden mit dem entgegen kommenden Fluß, der Elze, schlingt sich mäanderartig zwischen Felsen durch und um sie herum, bald im natürlichen Lauf, bald durch Kunst genöthigt. Auf dem linken Ufer liegt hoch und flach die alte Stadt; sie, mit ihren Festungswerken nach dem offenen Lande zu, ist andern befestigten Städten ähnlich. Als man nun für die Sicherheit derselben nach Westen Sorge getragen, sah man wohl ein, daß man sich auch gegen die Tiefe, wo das Wasser fließt, zu 1 Blick von der Unterstadt Grund auf die Oberstadt (Fotos: Hubertus Adam) verwahren habe; bei zunehmender Kriegskunst war auch das nicht hinreichend, man mußte, auf dem rechten Ufer des Gewässers, nach Süden, Osten und Norden, auf ein- und ausspringenden Winkeln unregelmäßiger Felspartien neue Schanzen vorschieben, nöthig immer eine zur Beschützung der andern. Hieraus entstand nun eine Verkettung unübersehbarer Bastionen, Redouten, halber Monde und solches Zangen- und Krakelwerk als nur die Vertheidigungskunst im seltsamsten Falle zu leisten vermochte. Nichts kann deßhalb einen wunderlichern Anblick gewähren als das mitten durch dieß alles am Flusse sich hinabziehende enge Thal, dessen wenige Flächen, dessen sanft oder steil aufsteigende Höhen zu Gärten angelegt, in Terrassen abgestuft und mit Lusthäusern belebt sind; von wo aus man 28 archithese 4.2009 2 auf die steilsten Felsen, auf hochgethürmte Mauern rechts und links hinaufschaut. Hier findet sich so viel Größe mit Anmuth, so viel Ernst mit Lieblichkeit verbunden, daß wohl zu wünschen wäre, Poussin hätte sein herrliches Talent in solchen Räumen besthätigt.» Goethe sah Luxemburg nicht aus dem Blickwinkel des Strategen oder Militäringenieurs, sondern – wie der Verweis auf Poussin bezeugt – mit den Augen eines Malers. Mehrere 3 Tage verbrachte er, soweit es das Festungsreglement er- 4 laubte, zeichnend «in diesen Labyrinthen, wo Naturfels und Kriegsgebäu wetteifernd seltsam steile Schluchten gegen- von 1815. Ein niederländisches Königreich als Bollwerk ge- einander aufgethürmt und daneben Pflanzen=Wachsthum, gen Frankreich war ein Ziel der Grossmächte; Luxemburg Baumzucht und Lustgebüsch nicht ausgeschlossen». avancierte zum Grossherzogtum, das dem König der Niederlande – in Personalunion Grossherzog von Luxemburg – Historischer Abriss zufiel. Dieser Orientierung zum Trotz trat Luxemburg dem Luxemburg, wie es sich Goethe darbot, war ein Produkt Deutschen Bund bei, sodass eine preussische Garnison in Lu- wechselnder Herrschaftsverhältnisse und daraus resultie- xemburg einzog. Luxemburg wurde zu einer Bundesfestung render baulicher Sukzession. Die Keimzelle der Stadt bildete ausgebaut. Die Gründung des belgischen Staates 1830 blieb im 10. Jahrhundert ein kleines Kastell auf dem Bockfelsen, ei- auch für Luxemburg nicht ohne Bedeutung: Waren 1815 die nem Sporn über dem Alzettetal. Erst langsam indes gelang es westlichen Landesteile an Preussen abgetreten worden, so den Grafen von Luxemburg, einen einheitlichen Territorial- gelangte der Westen 1839 an Belgien. Das verbliebene Rest- staat im Westen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Luxemburg mit seinen gut 2500 Quadratkilometern wurde Nation aufzubauen, der sich schon damals in den deutschen autonom, war de facto aber weiterhin durch die Mitglied- und französischen Sprachbereich erstreckte. Durch Heirat schaft an den Deutschen Bund und dynastisch an die Nie- war im 14. Jahrhundert die böhmische Königskrone an die derlande gebunden. Eine Lösung fand sich erst infolge der Luxemburger Dynastie gefallen, doch schon 1443 wurde Lu- Auflösung des Deutschen Bundes 1866. Preussen und Frank- xemburg von den Burgundern erobert und als Provinz an die reich rangelten um das Territorium, und der auf dem Lon- Niederlande angeschlossen. Nach dem Tod Karls des Küh- doner Vertrag vom 1. Mai 1867 ausgehandelte Kompromiss nen fielen diese an die Habsburger. 1684 wurde Luxemburg bestand in der ewigen Neutralität des Staates Luxemburg. erneut eingenommen – diesmal von Ludwig XIV. – und stand Preussen verliess die Garnison, gemäss den Bedingungen für kurze Zeit unter französischer Herrschaft, bevor es 1715, des Vertrags wurde die Festung geschleift. 2 Luxemburg, Blick auf das Plateau SaintEsprit, seit jüngstem Standort der Cité Judiciaire von Rob Krier 3 Fort Obergruenwald 4 Grundriss der Festung Luxemburg im 18. Jahrhundert. Braun markiert sind die Überschwemmungsgebiete, welche mithilfe der 1733 von den Österreichern angelegten Schleuse hätten entstehen können nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, der österreichischen Linie der Habsburger zugeschlagen wurde. Ein neuer Be- Ausbau der Festung sitzwechsel ereignete sich 1795, als die französischen Re- Die Befestigungsanlagen, welche den Ort Luxemburg mit volutionsarmeen einmarschierten. Entscheidend wurde für seiner zerklüfteten Topografie prägten, waren aus Furcht vor die staatliche Neuordnung schliesslich der Wiener Kongress einem französischen Angriff von dem Ingenieur Louvignies 29 5, 6 5 Schloss Vianden 6 Partie im Müllerthal im 17. Jahrhundert massiv ausgebaut worden. Die Belage- Als Engländer kam Turner aus dem Land, das im 18. Jahr- rung der Stadt übertrug Ludwig XIV. seinem Militäringeni- hundert den Tourismus gleichsam erfunden hat – indem bis- eur und Festungsbaumeister Sébastien le Prestre de Vauban. lang gemiedene Orte (Alpen, Küsten, Ruinen) im Sinne einer Anfang Juni 1684 kapitulierte die Festung Luxemburg, die sich entwickelnden Zivilisationskritik positiv uminterpretiert nun für Frankreich als Bollwerk und Operationsbasis erheb- wurden. Als Zwischenstation auf dem Weg an den Rhein liche strategische Bedeutung besass. Kern des neuen, von wurde nun – wie es Turner vorexerziert hatte – auch Luxem- Vauban erarbeiteten Verteidigungskonzepts, war die massiv burg attraktiv. Allerdings lockten als Reiseziele zunächst die durch Bastionen gesicherte Zitadelle auf dem Plateau Saint- waldreichen Ardennen mit ihren Schlossruinen, das roman- Esprit, welche den Zusammenfluss von Petrusse und Alzette tische Müllerthal südlich von Echternach oder das 1847 ge- überragt. Ausserdem liess der Militärarchitekt einen neuen, gründete in Moselnähe gelegene Bad Mondorf, während die aus mehreren Linien bestehenden Verteidigungsgürtel rings hinter Festungsmauern verschanzte Hauptstadt abseits der um die Stadt anlegen, der heute noch – nicht zuletzt dank Reiserouten blieb. Einer der prominentesten Besucher des denkmalpflegerischer Rekonstruktionsmassnahmen der ver- Grossherzogtums war Victor Hugo, der nach der Niederschla- gangenen Jahre – in grösseren Teilen erlebbar ist. Vauban gung der Commune 1871 nach Luxemburg flüchtete und wie legte damit die eigentliche Grundlage für einen Festungsbau, Goethe ebenfalls zum Zeichenstift griff. In Clerf, Vianden, der später als «Gibraltar des Nordens» tituliert wurde. Die Falkenstein, Bourscheid oder Schengen begeisterte er sich Österreicher knüpften im 18. Jahrhundert an seine Arbeit für die pittoresken Schlösser und Burgruinen. Erste Initiati- an: Sie befestigten den Bockfelsen neu und errichteten um ven zum Erhalt des Kulturerbes entstanden schon Mitte des die Befestigungen herum einen Kranz von Einzelforts. Zu die- 19. Jahrhunderts – und gingen einher mit der romantischen sen zählt das am Hang des Kirchberg-Plateaus gelegene Fort Konstruktion einer «Nation» Luxemburg. «Mir wëlle bleiwe Thüngen, das gleichsam im Vorfeld des unter Vauban errich- wat mir sin», heisst es in einem der in dieser Zeit entstande- ten Forts Obergrünewald liegt. Die fortschreitende Entwick- nen patriotischen Lieder. Doch welche Identität besitzt der lung der Artilleriewaffen zwang im 19. Jahrhundert, nunmehr junge Staat, dessen Territorium über Jahrhunderte von aus- unter der Ägide der Preussen, zu einer weiteren Phase des ländischen Landesherren beherrscht wurde und sich an der Festungsausbaus. Mit ausgedehnten Kasematten und mit Schnittstelle von deutscher und französischer Kultur befin- starken Erdschichten über den Festungswerken suchte man det? Reich war Luxemburg zu jener Zeit nicht: In der zweiten die Auswirkungen des Munitionseinschlags zu begrenzen. Hälfte des 19. Jahrhunderts verliessen mehr als 70 000 Bewohner ihr Heimatland (die Gesamteinwohnerzahl betrug im Romantische Perspektiven Jahr 1891 213 000 Personen), zumeist Richtung Übersee. Dazu Goethes romantisch geprägter Blick auf die «übereinander zählte auch die Familie des später als Fotograf zu Weltruhm gefügten Kriegsgebäude» präludierte eine Wahrnehmung der gelangten Edward Steichen. Stadt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch William Turner folgte. Auf seinen Reisen entlang Maas, Mosel und 30 archithese 4.2009 Nach dem Ende der Festung Rhein machte er 1824 und 1839 in Luxemburg Station. Wie schon Für die Stadt Luxemburg bedeutete die Niederlegung des Goethe konnte er vor Ort nur flüchtige Skizzen anfertigen, die aus insgesamt 24 Forts bestehenden Festungsgürtels 1867 dann in seinem Londoner Atelier in Aquarelle und Ölgemälde den Ausbruch aus dem urbanistischen Korsett, der von Con- umgesetzt wurden und die Festung beinahe noch dräuender rad Rosbach vorbereitet wurde. Die Stadt erhielt ein System und gewaltiger wiedergeben als sie es in Wirklichkeit war. aus Ringstrassen, der französische Landschaftsarchitekt 7 Edouard André: Parkanlage auf dem ehemaligen Festungsglacis 8 Bockfelsen mit Huelen Zant von Edouard André 9 Place de Metz mit Achse der Avenue de la Liberté. Links das Gebäude der Sparkasse, rechts die Eisenbahnverwaltung. Im Hintergrund der Turm des 1907 eröffneten neuen Bahnhofsgebäudes 7 8, 9 Edouard André, bekannt geworden vor allem durch den Pari- und Bahnhof, doch in den Seitenstrassen folgte Stübben mit ser Parc des Buttes Chaumont, arbeitete 1871 bis 1878 an der gekrümmten Strassenverläufen eher einem städtebaulichen Gestaltung der neu entstandenen Freiflächen. Als sein Meis- Verständnis im Sinne von Camillo Sitte. Den Auftakt auf der terwerk kann der an den Boulevard Royal angrenzende, im Südseite des Pont Adolphe macht die monumentale, die Bereich des früheren Festungsglacis gelegene grosse Park Place de Metz flankierende Bebauung von Sparkasse und westlich des Stadtzentrums gelten, dessen ondulierende Eisenbahnverwaltung, es folgt an der Place des Martyrs der Wegeführung und lange Sichtachsen an Prinzipien des eng- Neorenaissance-Palast aus dem Jahr 1922, den der 1911 durch lischen Landschaftsgartens orientiert sind. André widmete Fusion entstandene Stahlkonzern Arbed für sich errichten sich auch dem zunächst ebenfalls entfestigten Bockfelsen. liess. Der Allee-artige Strassenausbau weicht an der weiter Wo sich einst die Keimzelle Luxemburgs befand, errichtete er südlich gelegenen Place de Metz einem eher konventionellen den Huelen Zant, eine pittoreske Turmruine, eigentlich einen Profil: Die Monumentalkonzeption der Achse scheiterte an pseudohistorischen Staffagebau, eine Phantasmagorie des den Bauvorschriften der damals noch selbstständigen Nach- Mittelalters aus dem Geist der Spätromantik. bargemeinde, auf deren Territorium der Bahnhof lag. Die wichtigste Herausforderung indes stellte die Bebau- So blieb Stübbens Planung Stückwerk. Der Mangel an ung des Plateau Bourbon dar, der Fläche zwischen dem städtebaulich übergreifenden Konzepten sollte Luxemburg Petrusse-Tal und dem schon 1859 ausserhalb der Festung auch weiterhin bestimmen, sieht man einmal von der Zeit der erbauten Bahnhof. Massgeblich geht die städtebauliche Fi- deutschen Besatzung ab. Auch die neue Rolle als einer der gur (1901) auf Hermann Josef Stübben zurück, den promi- EU-Hauptorte war städtebaulich lange Zeit von Konzeptions- nenten deutschen Stadtplaner, der zwischen 1881 und 1898 losigkeit geprägt: Städtische und staatliche Planungsbehör- die Stadterweiterung Kölns nach Niederlegung der preussi- den, im Interessenskonflikt sich gegenseitig neutralisierend, schen Befestigungsanlagen ins Werk gesetzt hatte. 1903 war wurden zu Erfüllungsgehilfen einer übernationalen Verwal- der das Tal überspannende Pont Adolphe nach Entwurf von tungsbürokratie, anstatt initiativ den eigenen Spielraum zu Paul Séjourné eingeweiht worden, im Jahr darauf begann definieren. Man kann die Entwicklungen auf dem Kirchberg- die Bebauung des Plateau Bourbon. Schnurgerade verbindet Plateau auch als sukzessive, mal mehr, mal weniger gelun- die Avenue de la Liberté den Boulevard Royal, Pont Adolphe gene Kompensation angeborener Defizite verstehen. 31