LITERATURECKE Ein Fenster zum Leben E. T. A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ als Sinnbild für Leben und Leiden „Meinen armen Vetter trifft gleiches Schicksal mit dem bekannten Scarron.“ So beginnt der Text dieser Erzählung, die in der Berliner Zeitschrift „Der Zuschauer. Zeitblatt für Belehrung und Aufheiterung“ in den Nummern 43 bis 54 vom 23. April bis 4. Mai 1822 erschien. Paul Scarron (1610 - 1660) war seit seinem dreißigsten Lebensjahr gelähmt. Dennoch vermochte er seinem Werk „Roman comique“ (1651/57; einem Komödiantenroman) und anderen volkstümlichen Prosastücken „Glanz und Feuer“ zu geben. Hoffmann kannte den „Roman comique“ mit Sicherheit. Er war bereits während der Zeit Mai/Juni 1818 schwer erkrankt, als er am Märchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“ arbeitete. „Ich bin“, schrieb der Dichter am 13. Juni 1818 an den Schauspieler und Theaterdirektor Franz von Holbein in Hannover, „beinahe drei Wochen hindurch an einer Verhärtung im Unterleibe gefährlich krank gewesen und liege noch im Bette – es geht aber besser – besser – besser – die Munterkeit des Geistes hat mich nie verlassen –“. Bereits im September/Oktober 1821 meldete sich diese Krankheit erneut, die wohl syphilitischen Ursprungs war und den Dichter allmählich auszehrte. Er schuf das Werk „Meister Floh“; am 21. Dezember 1821 schrieb er dem Verleger Wilmans in Frankfurt, dass er „die Folgen einer so schweren Krankheit“ nicht berücksichtigt und seine „Kräfte zu hoch angeschlagen“ habe. Bis zuletzt am Werk Vom Februar 1822 bis zu seinem Tod am 25. Juni 1822 war Hoffmann bettlägerig und in schwerkrankem Zustande, so dass er sich nicht mehr rühren konnte; seine Fantasie ließ ihn jedoch nicht im Stich: Er diktierte weiterhin seine Werke, von denen ein Teil dann Fragment blieb und erst drei Jahre nach seinem Tode im Alter von 46 Jahren zur Ausgabe gelangte. Die hier vorliegende Erzählung wurde im April 1822 diktiert. Die Reinschrift wurde am 14. April an Hitig gesandt, der sie an den Herausgeber der Zeitschrift, Johann 60 Humanes Leben · Humanes Sterben 4/2006 lichen Gemäldes anpries, das er soeben vollendet; – ich geb’s auf, das wirkende, schaffende Leben, welches, zur äußern Form gestaltet, aus mir selbst hinaustritt, sich mit der Welt befreundend! – Mein Geist zieht sich in seine Klause zurück!’ Seit der Zeit ließ sich mein Vetter weder vor mir noch vor irgendeinem andern Menschen sehen.“ – Das Unvermögen, die eigene Projektion die empfangenen Bilder der Welt als neue „Realität“ wieder hervorbringen zu können, dieses Unvermögen raubt dem Dichter die Lebenslust, entzieht ihm alle Gründe des Seins, auf das er Anspruch erheben muss. Der Künstler im Sommer 1812. Bleistiftzeichnung von Wilhelm Hensel. Das einzige gesicherte Bildnis Hoffmanns von fremder Hand. Übernommen aus: Mitteilungen der E.T.A. Hofmann-Gesellschaft, 1. Jg. 1938/ 39, 1. Heft Dezember 1938, vor S. 1. Daniel Symanski, weitergab. In der Erzählung geht der Dichter „medias in res“: Er lässt einen aktiven Ich-Erzähler auftreten, der zunächst die Malaisen seines schwer erkrankten schriftstellernden Vetters schildert, der, wie eben auch E.T.A. Hoffmann, auch am Gendarmenmarkt wohnt, den er gerade zur Marktzeit passiert. Wie es der Zufall will, sitzt sein Vetter am Eckfenster seiner Wohnung mit Blick auf den Markt, bemerkt ihn und winkt ihn zu sich herauf. Vetter und Ich-Erzähler führen ein Gespräch im Dialog, in dem der Vetter als Schriftsteller dem Ich-Erzähler den Blick öffnen will für den Blick des Dichters, also für die wahre Fantasie und Poesie anhand der Szenerien, die sich auf dem Markt unter ihrem Eckfenster auf dem Gendarmenmarkt abspielen. Zu Beginn der Erzählung wird der angemessene ernste Ton ergriffen: „ ‚Vetter’! sprach er eines Tages zu mir, mit einem Ton, der mich erschreckte, ‚Vetter, mit mir ist es aus! Ich komme mir vor wie jener alte, vom Wahnsinn zerrüttete Maler, der tagelang vor einer in den Rahmen gespannten grundierten Leinewand saß und allen, die zu ihm kamen, die mannigfachen Schönheiten des reichen, herr- Der Tod als Wendung Die Erzählung geht weiter: „Das Zimmer war rein gemacht und an dem Bettschirm ein Bogen Papier befestigt, auf dem mit großen Buchstaben die Worte standen: Et si male nunc, non olim sic erit.” Zitiert nach Horaz (65 bis 8 v. Chr.) aus den „Oden“, 2. Buch, X, 17 f.: „Non, si male nunc, et olim sic erit“ in deutsch: „Steht es auch jetzt schlecht, einstmal wird es nicht mehr so sein.“ Dies drückt zum Einen die Erkenntnis aus, dass der Vetter eine Hoffnung zum Besseren sah, zum Andern jedoch, dass auch der Tod eine Wendung zum Guten darstellen kann. „Du glaubst“, fuhr der Vetter fort, ohne auf meine Bewegung zu achten, „du glaubst mich gewiss in voller Besserung oder gar von meinem Übel hergestellt. (...) Aber dies Fenster ist mein Trost, hier ist mir das bunte Leben aufs neue aufgegangen, und ich fühle mich befreundet mit seinem niemals rastenden Treiben. Komm, Vetter, schau hinaus!“ Der Vetter beruhigt den Ich-Erzähler über die Untugenden der Jugend: „Sieh nur, welch einen herrlichen Blumenflor sich der holde Engel ausgewählt hat und von einem rüstigen Burschen nachtragen lässt. Wie? Nein, das will mir nicht ganz gefallen, dass sie im Wandeln Kirschen aus dem kleinen Körbchen nascht; wie wird das feine Batisttuch, das wahrscheinlich darin befindlich, sich mit dem Obst befreunden? LEBENSLAUF Ernst Theodor Amadeus (Wilhelm) Hoffmann wurde am 14. Januar 1776 in Königsberg geboren als Sohn des Advokaten Christoph Ludwig Hoffmann. 1778 folgte die Scheidung der Eltern; seine Mutter nahm ihn auf in ihr Elternhaus. Ab 1782 besuchte er die reformierte Burgschule. Von 1792 bis 1795 studierte er Jura an der Universität Königsberg. Aufgrund der Affäre mit Dora Hatt, deren Familie im Haus wohnte, musste er 1796 zu seinem Onkel fliehen. 1798 wurde er als Referendar nach Berlin versetzt. Er nahm Musikunterricht bei Johann Friedrich Reichardt (17521814). Im Jahre 1800 wurde er als Assessor nach Posen versetzt. 1802 erfolgte eine Strafversetzung nach Plock wegen „ehrverletzender“ Karikaturen. Am 26. Juli 1802 heiratete er Maria Thekla Michalina Rohrer. Im Frühjahr 1804 versetzte man ihn nach Warschau; er änderte seinen Vornamen Wilhelm in Amadeus ab. Am 6. April 1805 fand die Uraufführung der Oper „Die Lustigen Musikanten“ statt. 1806 besetzten die Franzosen Warschau; die preußische Regierung wurde aufgelöst. Die Familie schickte er nach Posen, wo 1807 die Tochter Cäcilia starb. Er begab sich 1808 hungernd nach Berlin. Durch eine Annonce fand er eine Stelle in Bamberg. Er schlug sich dort als Komponist, Maler, Maschinist, Musiklehrer und Musikkritiker durch. Ab 1811 wurde die Zuneigung zur damals 13-jährigen Schülerin Julie Marc zur zerstörenden Liebe. April 1813 verließ er Bamberg in Richtung Dresden. Im Februar 1814 wurde die Stelle gekündigt; er zog nach Berlin, besorgte die Ausgabe der „Fantasiestücke“ und betrieb seine Rückkehr in den Staatsdienst. Am 3. August 1816 wurde die Oper „Undine“ am Schauspielhaus am Gendarmenmarkt uraufgeführt. Es folgte die Ernennung zum „Wirklichen Mitglied des Kriminalsenats“ am Kammergericht mit der Übernahme in den Staatsdienst. Im Jahre 1822 erkrankte er schwer. Am 25. Juni 1822 (morgens halbzehn Uhr) starb Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Sein Grab befindet sich auf dem Jerusalem-Kirchenfriedhof zu Berlin, Mehringdamm. Der Vetter. Der jugendliche Appetit des Augenblicks frägt nicht nach Kirschflecken, für die es Kleesalz und andere probate Hausmittel gibt. Und das ist eben die wahrhaft kindliche Unbefangenheit, dass die Kleine nun von den Drangsalen des bösen Markts sich in wiedererlangter Freiheit ganz gehenlässt.“ Eitles Leben Auch die Eitelkeit des Dichters wird angesprochen und verhöhnt: „Der Vetter. Nach den Blumen dort schau ich nicht gerne hin, lieber Vetter, es hat damit eine eigne Bewandtnis. Die Verkäuferin, (...) ist ein ganz hübsches, artiges Mädchen, strebend nach höherer Kultur des Geistes; denn sowie sie der Handel nicht beschäftigt, liest sie emsig in Büchern. (...) Endlich fasste ich ein Herz, trat hinan und fragte nach dem Preise eines Nelkenstocks, der in einer entfernten Reihe stand. Während dass das Mädchen den Nelkenstock herbeiholte, nahm ich mit den Worten: ‚Was lesen Sie denn da, mein schönes Kind?’ das geklappte Buch zur Hand. Oh! all ihr Himmel, es war wirklich ein Werklein von mir, (...) Aufgeregt, ganz entflammt von den süßesten Autorgefühlen, fragte ich mit anscheinender Gleichgültigkeit, wie denn dem Mädchen das Buch gefalle. ‚I mein lieber Herr’, erwiderte das Mädchen, ‚das ist ein gar schnackisches Buch. Anfangs wird einem ein wenig wirrig im Kopfe; aber dann ist es so, als wenn man mitten darin säße.’ (...) mit dem seligen Lächeln des wonnerfüllten Autors, lispelte ich: ‚Hier, mein süßer Engel, hier steht der Autor des Buchs, welches Sie mit solchem Vergnügen erfüllt hat, vor Ihnen in leibhaftiger Person.’ Das Mädchen starrte mich sprachlos an, mit großen Augen und offnem Munde. (...) und nichts entschlüpfte ihren Lippen als: ‚Hm – so – i das wäre – wie –’ Doch was soll ich dir die tiefe Schmach, (....) Es fand sich, dass das Mädchen niemals daran gedacht, dass die Bücher, welche sie lese, vorher gedichtet werden müssten (...) und ich glaube wahrhaftig, bei näherer Nachfrage wäre der fromme kindliche Glaube ans Licht gekommen, dass der liebe Gott die Bücher wachsen ließe wie die Pilze.“ Solcherart sind die bunten Szenen, die sich aus dem Blick auf den Markt ergeben, sie sprühen vor Leben und Witz. Mit Recht wird von allen Seiten anerkannt, dass dies die reifste poetische Leistung des Dichters war. Am Schluss der Erzählung steht die Wendung: „‚Dieser Markt’, sprach der Vetter, ‚ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Rege Tätigkeit, das Bedürfnis des Augenblicks trieb die Menschenmasse zusammen; in wenigen Augenblicken ist alles verödet, die Stimmen, welche im wirren Getöse durcheinanderströmten, sind verklungen, und jede verlassene Stelle spricht das schauerliche: Es war! nur zu lebhaft aus.’“ Die Erzählung schließt, nachdem der Vetter all sein Elend noch einmal schildert, mit dem bereits genannten Leitsatz aus dem Horaz und den Worten: „Armer Vetter!“ Albert Gehlen Als Hörbücher sind erhältlich in der Versandbuchhandlung Albert Gehlen Margaretenplatz 8, 81373 München Telefon/Fax: 089-777223 Internet: http: //www.vlg-gehlen.de E-Mail: [email protected] Ernst Theodor Amadeus Hoffmann Fantasiestücke in Callots Manier Erster Band (3 CD’s) € 22,75 Don Juan, Ritter Gluck, Kreisleriana, Teile 1-6; ISBN: 3-939682-00-4 Zweiter Band (5 CD’s), € 31,50 Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza; Der Magnetiseur ISBN: 3-939682-01-2 Dritter Band (3 CD’s), € 22,00 Der Goldene Topf ISBN: 3-939682-02-0 Vierter Band (3 CD’s), € 22,50 Die Abenteuer der Silvesternacht Kreisleriana, Teile 7 - 13 ISBN: 3-939682-03-9 Seltsame Leiden eines Theaterdirektors (4 CD’s), € 27,00 ISBN: 3-939682-04-7 Klein Zaches, genannt Zinnober (4 CD’s), € 27,00 ISBN: 3-939682-05-5 Prinzessin Brambilla (7 CD’s), € 40,00 ISBN: 3-939682-06-5 Meister Floh (7 CD’s), € 41,50 ISBN: 3-939682-07-1 Nachtstücke Erster Band (6 CD’s) € 36,50 ISBN: 3-939682-08-X Des Vetters Eckfenster (1 CD) € 7,75 ISBN: 3-939682-34-9 Humanes Leben · Humanes Sterben 4/2006 61