Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft

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Lothar Burchardt
Einleitung
»Aufregende Tage und Wochen liegen hinter uns, und noch aufregendere
stehen uns vielleicht noch bevor.« Diese Sätze fi nden sich im ersten Eintrag des hier vorgelegten Tagebuches. Gemeint war der Einmarsch französischer Truppen in Konstanz am Nachmitt ag des 26.April 1945. Als der
Autor Herbert Holzer einige Tage später den oben zitierten Satz niederschrieb, hatte er erste Eindrücke von den Ereignissen und Veränderungen
gewonnen, die den Übergang vom NS-Staat zum Besatzungsregime und
letztlich zur Bundesrepublik markierten. Seine Eindrücke waren stark genug, ihn zum Beginn eines Tagebuches zu veranlassen, und sie ließen ihn
fortan regelmäßige Einträge vornehmen. Diese Gepflogenheit behielt der
Verfasser (mit Unterbrechungen) während der folgenden Jahre bei: Erst
einige Wochen nach der Währungsreform von 1948 brach er seine Aufzeichnungen endgültig ab.
Herbert Holzers Familie stammte aus dem südlichen Schwarzwald,
doch wurde er selbst am 7. November 1889 in Heidelberg geboren 1. Da
sein Vater wenig später nach Konstanz versetzt wurde, besuchte Holzer
die Konstanzer Oberrealschule und legte dort 1908 die Reifeprüfung ab.
Anschließend begann er ein Architekturstudium an der Technischen
Hochschule Karlsruhe. Im Oktober 1913 kehrte er nach Konstanz zurück,
um seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger im Konstanzer Hausregiment, dem 6. Badischen Infanterie-Regiment Nr. 114 abzuleisten 2. Ehe
er ihn beendet hatte, brach der Erste Weltkrieg aus, und Holzer ging mit
seinem Regiment an die Westfront. In dessen 10. Kompanie erlebte er die
ersten Kriegsmonate, bis er spät Abends am 22. Oktober 1914 bei Givenchy
am Kanal La Bassée verwundet wurde: Er erhielt einen Schuss durch den
Kiefer und die rechte Schulter3. Bei einer der Konstanzer Austauschaktionen während des Ersten Weltkriegs lernte er knapp vier Jahre später den
französischen Soldaten kennen, der ihm vermutlich diese Verwundung
beigebracht hatte4.
Nach der Erstversorgung kam Holzer in ein Aachener Lazarett , wurde
dann aber Anfang 1915 nach Konstanz verlegt. Hier heilte er seine Verwundungen aus, doch blieb eine Versteifung der Schulter zurück, die jeden
weiteren militärischen Einsatz ausschloss. Bei einem geselligen Abend für
Konstanzer Lazarett-Insassen lernte Holzer Direktor Burger kennen, den
damaligen Leiter der Konstanzer Friedrich-Luisen-Schule. Die FriedrichLuisen-Schule war eine Oberschule für Mädchen, und da Burger Gefallen
an Holzer und seinen kreativen Fähigkeiten gefunden hatte, überredete er
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ihn dazu, als Zeichenlehrer an seine Schule zu kommen. Holzer legte daraufh in in Karlsruhe die erforderliche Prüfung als »Wilder« ab, also ohne
die an sich erforderliche Ausbildung absolviert zu haben. Er bestand diese Prüfung und trat wenig später in das Kollegium der Friedrich-LuisenSchule ein.
Da er keine pädagogische Ausbildung genossen hatte, fiel Holzer der
Anfang an seiner neuen Wirkungsstätte nicht immer leicht, doch fand er
in seinem Kollegen Professor Albert Zechiel einen Mentor, dem er »die
Einführung in die mir damals völlig neue Welt der Schule und geistigen
Bildung verdankte«5. Zechiel blieb er jahrzehntelang in Freundschaft verbunden. 1918 heiratete Holzer Johanna Einhart, und im folgenden Jahr
wurde beider Tochter Gretel geboren. Ihr verdanken wir es, dass sich das
Tagebuch von Herbert Holzer erhalten hat.
Fortan unterrichtete Holzer an der Friedrich-Luisen-Schule. Dort
verbrachte er sein gesamtes berufl iches Leben, zunächst unter Direktor
Burger, dann unter Direktor Kappler und nach Kriegsende 1945 unter
verschiedenen Interimsdirektoren, seit 1948 schließlich unter Direktor
Gersbach6. Wegen seiner Verwundung entging er während des Ersten
Weltkriegs, aufgrund seines fortgeschrittenen Lebensalters auch im Zweiten Weltkrieg einer nochmaligen militärischen Verwendung. Selbst zum
Volkssturm von 1945 wurde er nicht einberufen. So konnte er relativ ungestört seinen Lehrberuf ausüben, bis er Anfang der fünfziger Jahre in den
Ruhestand trat. Ihn genoss er noch über fast drei Jahrzehnte hinweg, und
dieser Zeit verdanken wir unter anderem sein handgeschriebenes Erinnerungsbuch mit Zeichnungen, das sich glücklicher Weise im Familienbesitz erhalten hat. Holzer starb im Jahr 1980.
Herbert Holzer liebte es, Aufzeichnungen über sein Leben und seine
Gedanken anzufertigen. Einiges davon wurde vom Verfasser vernichtet
oder ging verloren, aber neben Holzers bereits erwähntem Erinnerungsbuch blieben wenigstens seine vermutlich interessantesten Aufzeichnungen erhalten – die beiden Tagebücher über die ersten drei Nachkriegsjahre. Sie wurden handschrift lich in zwei alten Schulheften von schlechter
Kriegsqualität geführt, in einer ebenso präzisen wie kleinen Handschrift ,
die sich nicht immer leicht entziffern lässt. Als Holzer seine Aufzeichnungen begann, motivierte ihn wohl nur der Wunsch, jene »aufregenden
Tage und Wochen« in irgend einer Form zu dokumentieren. An eine spätere Veröffentlichung oder auch nur Reinschrift dachte er offenbar nicht:
Sein Tagebuch enthält keinerlei Hinweis auf derartige Pläne, und auch in
der Familie ist nichts dergleichen bekannt. Offenbar wurden nicht einmal
Abschriften vorgenommen. Statt dessen blieb das Tagebuch jahrzehntelang ungestört im Originalzustand liegen, bis es nach rund fünfzig Jahren
im Zuge der Arbeiten am sechsten Band der Konstanzer Stadtgeschichte
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ans Licht kam. Der Herausgeber schuldet großen Dank Herrn Adolf Vetter, von dem der entscheidende Hinweis kam, sowie Frau Karin Stei, die
damals die schwierige erste Übertragung des Textes in eine Reinschrift
vornahm. Vor allem dankt der Herausgeber Frau Gretel Klausmann, der
Tochter des Verfassers, die das väterliche Tagebuch zunächst zur Benutzung für die Stadtgeschichte und später auch zur Veröffentlichung freigab.
Während der ersten Monate brachte Holzer allabendlich lange Einträge zu Papier. Als dann nach einiger Zeit viele zunächst als mitteilenswert
erachtete Zustände und Neuerungen alltägliche Routine geworden waren, wurden die Einträge allmählich kürzer, die zwischen ihnen liegenden
Intervalle größer. Die schritt weise Wiederaufnahme eines geordneten
Schulbetriebes mag verstärkend hinzu gekommen sein, denn damit war
zwangsläufig eine Reduktion der frei verfügbaren Zeit verbunden. Ab Anfang 1946 lagen dann manchmal Wochen, gelegentlich Monate zwischen
zwei Einträgen; das Jahr 1948 schließlich wurde nur noch mit ganzen zwei
Einträgen bedacht. Der Schwerpunkt der Aufzeichnungen liegt also deutlich auf dem ersten Nachkriegsjahr. Für diesen Zeitraum sind sie von bemerkenswerter, ja beeindruckender Ausführlichkeit.
Dies ist um so erfreulicher, als bislang für die frühe Nachkriegszeit nur
wenige vergleichbare Tagebücher bekannt geworden sind: Beispielsweise
berichtete auch Käthe v. Normanns »Tagebuch aus Pommern 1945/46«7
über den Alltag in den auf die Besetzung folgenden Monaten – aber ihr
Alltag unterschied sich fundamental von der Konstanzer Situation: Normanns Alltag war geprägt vom Einmarsch der sowjetischen Armee mit
allen seinen schlimmen Folgeerscheinungen, von Gewalt und einer ersten
Vertreibungswelle, von der Allgegenwart sowjetischer und polnischer Soldaten, die sich gegenüber den Deutschen kaum an Regeln gebunden fühlten und schließlich von erneuter (und diesmal endgültiger) Vertreibung.
Margaret Boveris Aufzeichnungen über ihre »Tage des Überlebens«8 dokumentieren Berlin im Sommer 1945 – eine in mehr als einer Hinsicht extreme Situation also, die nur wenig mit der Konstanzer gemeinsam hatte.
Auch wurden die in Boveris Aufzeichnungen enthaltenen Schriftstücke
nach Mitteilung der Autorin zumindest auch für den sowjetischen Zensor
geschrieben, und obendrein ist manches wohl später bearbeitet worden.
Letzteres gilt auch für Carl Zuckmayers »Deutschlandbericht«9, der im
übrigen auch inhaltlich ganz andere Akzente setzte.
Ernst Jünger verstand seinen Bericht über die »Jahre der Okkupation« wohl von Anfang an mehr als literarischen Versuch denn als banale
Alltagschronik 10. Nicht umsonst wird er gelegentlich gerühmt als »einer
der wenigen, denen es gegeben ist, das Tagebuch zu einer eigenständigen
Kunstform zu erheben«11. Victor Klemperers Tagebücher aus den ersten
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Nachkriegsmonaten 12 haben manches mit dem Tagebuch Holzer gemeinsam, doch wiegen die Unterschiede weit schwerer: Klemperer stieg als
während der NS-Jahre vielfach geschundener Jude nach Kriegsende binnen kurzem zu einem »hohen Tier« auf, wie er selbst es ausdrückte, während sich Holzers bürgerlich bescheidener Status nicht änderte. Deshalb
spielte Klemperer fortan gewissermaßen in einer anderen Liga als der
Konstanzer Tagebuchautor, und Klemperers Aufzeichnungen spiegeln
dies auf jeder Seite deutlich wieder. Obendrein fühlte er sich geleitet von
der kämpferischen Maxime »Erst ausrotten, niemals paktieren und verzeihen«13, während Herbert Holzer im Grunde nichts anderes wollte als
unter halbwegs annehmbaren Bedingungen überleben.
Die von Jürgen Klöckler in einer mustergültigen Edition vorgelegte
»Chronik des Kreises Rott weil«14 schließlich ist ein penibel geführtes
dienstliches Journal. Es enthält viele hoch interessante Informationen,
deren Bedeutung teilweise die rein ortsgeschichtliche Sphäre weit überschreitet. Die Freuden und Leiden des einzelnen Bürgers, der einzelnen
Familie kann und will die Chronik freilich nicht berücksichtigen.
Man wird insgesamt nicht fehl gehen, wenn man Holzers Tagebuch
gerade deshalb als ungewöhnliches Dokument einstuft , weil es nicht die
extremen Formen von Flucht, Vertreibung und Neubeginn zum Gegenstand hat. Lassen wir die Einwohner der sowjetisch besetzten Zone sowie
die aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße Vertriebenen einmal
außer Betracht, so stellen wir bald fest, dass die Masse der deutschen Bevölkerung das erste Nachkriegsjahr unter Bedingungen erlebte, die Holzers Tagebuchwelt viel ähnlicher waren als den turbulenten Lebensumständen von Normann, Boveri oder Klemperer. Das schloss gewiss nicht
aus, dass auch die unter vergleichsweise günstigen Bedingungen lebenden Deutschen sich subjektiv in einer Extremsituation wähnten: Wie wir
aus Befragungen wissen, reichte beispielsweise für manche Reichenauer
Familie die geordnete und verlustlose Evakuierung auf das benachbarte
Festland während einiger Sommerwochen 1945 subjektiv durchaus an das
heran, was die Ostdeutschen als endgültige Vertreibung unter katastrophalen Begleitumständen und nach Millionen zählenden Menschenverlusten erlitten. Aber gerade ein Vergleich etwa des Normann’schen mit
dem Holzerschen Tagebuch zeigt doch recht eindrücklich, wie groß die
Unterschiede in Wirklichkeit waren.
Die besondere Stärke des vorliegenden Tagebuchs beruht also weder
auf der Schilderung dramatischer Episoden, wie sie Klemperer, Normann
oder Boveri mitteilen, noch auf komplexen politisch-philosophischen Reflexionen wie sie Klemperers oder Jüngers Aufzeichnungen charakterisieren. Sie liegt vielmehr gerade in der Schilderung von für damalige Verhältnisse alltäglichen Lebensumständen in einer »normalen« mittelstänBURCHARDT, Aufregende Tage und Wochen. ISBN 978-3-86764-251-4
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dischen Bürgerfamilie, die vom Krieg nicht allzu hart getroffen worden
war.
Zentraler Sachverhalt des Tagebuchs und ceterum censeo seines Verfassers ist der Mangel – Mangel an Lebensmitteln, Kleidung, Medikamenten und Hausbrand. Während bis in die letzten Kriegsmonate hinein
immerhin noch eine halbwegs geordnete Versorgung bestanden hatte,
konnte davon nach Kriegsende keine Rede mehr sein. Zunächst behalfen
sich die privaten Haushalte, indem sie die bescheidenen Reserven einsetzten, die sie (verbotener Weise) während des Krieges für Notzeiten hatten ansammeln können. Als diese verbraucht waren, was meistens ab etwa
Spätsommer 1945 der Fall war, begann eine Zeit akuter Not. Erstmals seit
den Hungersnöten der 1840er Jahre und den Mangeljahren 1917/18 erlebte
Deutschland eine Situation, in der es nicht mehr selbstverständlich war,
dass sich auch nur das zum nackten Überleben Notwendige an Lebensmitteln würde beschaffen lassen. Der Mangel blieb keineswegs auf den Ernährungssektor beschränkt. Vielmehr erstreckte er sich praktisch auf alle
Bereiche des täglichen Lebens von den Grundlebensmitteln über Kleidung
und Medikamente bis hin zu Fahrradschläuchen, Kohle oder Seife15 – von
Gütern des gehobenen Bedarfs ganz zu schweigen. Holzers Tagebuch enthält zahlreiche Passagen voll des Lobes über das, was seine Ehefrau unter
diesen widrigen Umständen auf haushaltlichem Gebiet leistete.
Zum Nahrungs- und Kleidungsmangel kam ein ausgeprägter Mangel an Informationen: Vor allem in den ersten Nachkriegsmonaten existierten landesweit keinerlei Zeitungen. Überdies besaß ein großer Teil
der Konstanzer Haushalte keine Rundfunkgeräte mehr, da sie im April
1945 auf Befehl der Militärregierung hatten abgeliefert werden müssen.
Deshalb besaß die Konstanzer Bevölkerung (und in den anderen Zonen
war es ähnlich) monatelang praktisch keine Möglichkeit, die in großer
Zahl kursierenden Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Der Verfasser hat einige dieser Gerüchte in seinem Tagebuch aufgezeichnet – und seine Notizen zeigen immer wieder, wie ratlos er ihnen
letztlich gegenüber stand.
Ein nicht geringer Teil aller dieser Gerüchte betraf die künft ige Entwicklung der Stadt, des Besatzungssystems, Deutschlands insgesamt. Der
Durchschnitt sbürger von 1945 kannte weder die einschlägigen interalliierten Vereinbarungen, noch konnte er das zwischen den vier Besatzungsmächten bestehende Verhältnis beurteilen. Über den beginnenden Kalten
Krieg erfuhr er monatelang nur gerüchtweise. Selbst nach Erscheinen des
»Südkurier« blieben die Informationsmöglichkeiten in dieser Hinsicht
begrenzt, solange deutsche Kritik an einer der vier alliierten Nationen
noch unter Strafe stand.
Besonders schmerzlich wurde vielfach der fast totale Mangel an Tabak
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und Zigaretten empfunden. Die damalige Gesellschaft (und hier besonders die Männer) betrachtete den Genuss von Tabakwaren als selbstverständlichen Bestandteil des täglichen Lebens. Besondere »Raucherkarten« hatten während der Kriegsjahre für eine gewiss nicht reichliche, aber
doch immerhin einigermaßen regelmäßige Belieferung mit Rauchwaren
gesorgt.16 Mit Kriegsende und Besatzung hatte dieses Arrangement geendet. Fortan konnten Raucher allenfalls noch mit knappen Sonderzuteilungen rechnen, die obendrein keinem festen Terminplan folgten. Erst
ab November 1946 gab es wieder Raucherkarten, bemerkenswerter Weise
übrigens nur für Männer. Holzers Tagebuch enthält zahlreiche Klagen
über die Einschränkungen, die dieser Zustand den Rauchern auferlegte.
Die Raucher ersannen immer neue Maßnahmen zur Abhilfe. Sie
streckten ihre Tabakvorräte durch Beigabe von getrockneten Blättern
anderer Pflanzen; Zeitzeugen berichten gelegentlich von männlichen
Verwandten, die damals »die Blätter von den Bäumen« geraucht hätten.
Auch versuchten zahlreiche Raucher, selbst Tabak anzubauen oder Tabak
im Tausch gegen andere Güter zu erwerben. Vor allem aber suchten und
sammelten sie die Stummel von Zigaretten, die französische Soldaten geraucht und dann weggeworfen hatten. Das Beschämende dieses Verfahrens war ihnen – auch dem Tagebuchschreiber – durchaus bewusst, doch
meinten sie keine andere Wahl zu haben.
Sehr viel aufwändigere Selbsthilfemaßnahmen verlangte die desolate
Ernährungslage. Ein Erwachsener verbrennt selbst bei mäßig schwerer
Tätigkeit etwa 2500 Kalorien pro Tag; als langfristiges Existenzminimum
gelten 1800 Kalorien. Der alliierte Kontrollrat, höchstes alliiertes Organ in
Deutschland, hatte seinerzeit einen Tagessatz von 1500 Kalorien als Norm
festgesetzt, doch lagen die in der französischen Zone tatsächlich ausgegebenen Rationen deutlich selbst unter diesem bescheidenen Niveau: Im
Durchschnitt des Jahres 1946 erhielt ein erwachsener Konstanzer »Normalverbraucher« gut 1100 Kalorien täglich, also nicht einmal die Hälfte des
Friedenssatzes17.
Unter diesen Umständen überlebte auf längere Sicht nur, wer sich weitere Nahrungsquellen erschloss. Wer Gelegenheit dazu fand, sicherte sich
den Zugriff auf einen Garten oder wenigstens auf eine Parzelle, die gärtnerisch genutzt werden konnte. Die Familie Holzer besaß und pflegte einen Garten mit Beerensträuchern, Obstbäumen und Gemüsebeeten. Keineswegs alle Konstanzer befanden sich in ähnlich günstiger Lage, doch
hatten sie in ihrer großen Mehrzahl mindestens Zugriff auf einen Flecken
Gartenland 18. Der Beitrag, den diese Gärten und Gärtchen zur Ernährung
leisteten, lässt sich natürlich nur schwer abschätzen. Immerhin zeigt gerade das Holzer’sche Tagebuch deutlich, dass dieser Beitrag mindestens in
den Sommer- und Herbstmonaten erheblich gewesen sein muss.
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Als Bewohner einer Grenzstadt besaßen viele Konstanzer verwandtschaft liche oder freundschaft liche Kontakte zur nahen Schweiz. Grundsätzlich war die Grenze dorthin geschlossen. Jedoch fanden sich immer
wieder Gelegenheiten, kleine Päckchen durch den Grenzzaun zu reichen
oder wenigstens mündliche Nachrichten auszutauschen. Zu besonderen
Anlässen (beispielsweise an Weihnachten) wurde die Grenze mindestens
für Schweizer oder für Konstanzer mit naher schweizerischer Verwandtschaft vorübergehend geöff net. Bei solchen Gelegenheiten gelangten im
Rahmen des Möglichen vor allem Lebensmittel des gehobenen Bedarfs,
also beispielsweise Schokolade oder Kaffee, nach Konstanz, wo dergleichen seit langem nicht mehr erhältlich war. Angesichts ihrer engen verwandtschaft lichen Bande in den Thurgau kamen auch Johanna und Gretel
Holzer verschiedentlich in den Genuss dieser Vergünstigungen. Hinzu
traten gelegentliche Kreuzlinger Hilfsaktionen wie vor allem die zeitweiligen »Schweizerspeisungen« für die Konstanzer Schuljugend 19.
Neben dem Gartenbau bildeten Tauschhandel und Schwarzmarkt die
wichtigsten Methoden, die ungenügenden offi ziellen Rationen aufzubessern. Auch der Tagebuchschreiber und seine Familie gingen gelegentlich
auf »Hamsterfahrt« auf den Bodanrück, in den Linzgau oder nach Oberschwaben. Da man kaum hoffen durfte, mit der fast wertlos gewordenen
Reichsmark der Landbevölkerung Lebensmittel abzukaufen, wurde meistens getauscht – Lebensmittel gegen Streichhölzer, Süßstoff, Zigaretten
oder was immer der »Hamsterer« sonst entbehren konnte.
Nicht selten wurde der Weg des Felddiebstahls vorgezogen. Wenn
beispielsweise Obst oder Kartoffeln reif waren, mussten die betreffenden
Gärten oder Felder sorgfältig bewacht werden; auch der Verfasser half
dabei gelegentlich aus. Bei diesen Diebstählen handelte es sich keineswegs nur um Mundraub: Der zeitgenössische Begriff des »Organisierens«
deckte eine Grauzone ab, die von aus wirklicher Not geborener Entnahme
hin zum regelrechten Diebstahl (und gelegentlich Vandalismus) reichte.
Beschlagnahmten beispielsweise die Franzosen ein Haus, so durfte dessen reguläre Bewohner nur eine sehr gering bemessene Menge ihres persönlichen Besitzes mitnehmen; alles Übrige war im Haus zu belassen.
Blieb dann ein solches Haus auch nur für wenige Tage von den Franzosen
ungenutzt, so standen Einbrüche zu erwarten, wie wir aus dem Tagebuch
wissen. Die Motive der Einbrecher waren nicht unbedingt krimineller
Natur. Vielmehr verschwammen in der Ausnahmesituation der ersten
Nachkriegsmonate vielfach die Grenzen zwischen Mein und Dein. Für
zahlreiche Menschen war der traditionelle Eigentumsbegriff gleichgültig
oder mindestens relativ geworden: »Der Begriff des Eigentums geht ganz
verloren«, kommentierte selbst der Moralist Klemperer im August 1945
recht ungerührt sein eigenes Verhalten 20.
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Erst 1947 begann sich die Versorgungslage in der französischen Besatzungszone, und damit auch in Konstanz, langsam zu bessern 21. Zu diesem
Zeitpunkt hatte man vielerorts die Hoff nung weitgehend aufgegeben, dass
sich die desolate Ernährungslage in absehbarer Zeit wieder normalisieren
könnte. An die Stelle dieser früheren Hoff nung war längst eine gewisse
Resignation getreten. Deshalb blieben manche (vorerst freilich noch recht
bescheidenen) Verbesserungen fast unbemerkt. In Holzers Tagebuch begegnen wir ihnen meist indirekt in der Form eines Abnehmens der Klagen
über Mangel und Versorgungslücken. Selbst die Währungsreform fand
im Tagebuch nicht ganz die Beachtung, die ihr später beigemessen wurde. Holzers letzter Eintrag vor der Reform datierte vom 1.September 1947.
Danach hatte er sein Tagebuch monatelang nicht weitergeführt, es praktisch aufgegeben. Als dann jedoch »die schon lange mit Spannung erwartete Währungsreform« schließlich erfolgte, nahm Holzer sein Tagebuch
nochmals zur Hand. Er skizzierte die aufgeregte Stimmung am Vortag der
Reform, notierte kurz die Modalitäten des Umtauschs in die neue Deutsche Mark – und setzte seinen Eintrag dann fort mit der ausführlichen
Schilderung einer kurzen Dienstreise, die er am Vortag nach Radolfzell
unternommen hatte. Mit anderen Worten: Wie Millionen anderer Deutscher, so unterschätzte auch Holzer die Bedeutung dieses Ereignisses bei
weitem. Da er das Einkaufen meistens seiner Frau überließ, nahm er die
unmittelbare Folgen der Währungsreform zunächst wohl gar nicht wahr
und ging in der Folgezeit auch nicht auf die geradezu dramatische Veränderung der Angebotssituation in den Konstanzer Geschäften ein 22.
Ein vor allem während der ersten Nachkriegsmonate häufig in Holzers
Tagebuch auftauchendes Thema ist das der Müdigkeit. Immer wieder notierte er, dass er sich kaum auf den Beinen halten könne und sich selbst zu
wenig anstrengenden Arbeiten in Haus und Garten zwingen müsse. Klemperer berichtete Ähnliches23. Die wichtigste Ursache dieses Phänomens
war ganz offensichtlich der chronische Nahrungsmangel. Diesem Zusammenhang begegnen wir schon während beider Weltkriege24, und unter
den katastrophalen Ernährungsbedingungen der frühen Nachkriegszeit
trat er in verschärfter Form auf. Verstärkend kamen psychologische Faktoren hinzu: Die tägliche Sorge um Nahrung, Wohnung und Kleidung,
das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der Militärregierung und das als
ort- und perspektivlos empfundene eigene Dasein – alle diese Faktoren
verstärkten die lähmende Wirkung des Nahrungsmangels.
Weite Kreise reagierten darauf mit Anflügen von Selbstmitleid, und
der Verfasser bildete da keine Ausnahme. Immer wieder taucht in seinem
Tagebuch die Frage auf, warum gerade in der französischen Besatzungszone, warum gerade in Konstanz die Lage so besonders schlecht sei. Gewiss konnte er angesichts des allgemeinen Nachrichtenmangels die Lage
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in den anderen Besatzungszonen nicht kennen. Aber auch der eigentliche
nahe liegende Vergleich mit den Häft lingen und Fremdarbeitern der
Kriegsjahre oder auch nur mit den Ausgebombten und Vertriebenen der
Nachkriegszeit wurde nie angestellt. Offenbar wogen die eigenen Sorgen
und Nöte zu schwer, als dass man noch Valenzen für ein solches Hinterfragen der eigenen Lage frei gehabt hätte.
Trost schöpfte der Verfasser (wie viele seiner Konstanzer Mitbürger)
aus dem Kontakt mit dem Bodensee und der ihn umgebenden Landschaft . Für den Zeichenlehrer und Maler Holzer erschöpfte sich solcher
Kontakt nicht in gelegentlichen Spaziergängen. Vielmehr verspürte er
immer wieder das Bedürfnis, das Geschaute auch malerisch umzusetzen.
Seine künstlerisch begabte Tochter Gretel hielt es ähnlich.
So entstanden zahlreiche Landschaftsbilder, für die sich sogar ein relativ lebhafter Markt fand: Zumindest die fi nanziell etwas besser gestellten
Konstanzer Haushalte hatten spätestens seit 1944 mehr Geld verdient,
als sie angesichts ihrer schlechter werdenden Versorgungslage ausgeben
konnten. Dadurch war in vielen Familien ein Überhang an Kaufk raft
entstanden 25. Er ermöglichte es mindestens theoretisch, Geld für Güter
oder Dienste zu verbrauchen, die man sich in normalen Zeiten nicht hätte leisten können oder wollen. In der Realität kamen dafür allerdings nur
Güter in Frage, die nicht rationiert waren und die es tatsächlich zu kaufen
gab. 1945/46 konnten das nur Güter sein, die sich ohne den Einsatz nicht
beschaffbarer Rohstoffe herstellen ließen. Dadurch reduzierte sich das
Feld der in Frage kommenden Produkte weitgehend auf den Kunstsektor.
Konzerte und Theater erfreuten sich großer Beliebtheit, zumal sie etwas
Ablenkung von den Sorgen des Alltags boten. Vor allem aber existierte ein
aufnahmebereiter Markt für geschnitzte, getöpferte oder gemalte Kunstgegenstände jeglicher Art sowie für Kunstunterricht. In den Jahren 1945
und 1946 erteilte Holzer immer wieder solchen Unterricht an Schulkinder
und Erwachsene aus seinem weiteren Bekanntenkreis. Mit dem Verkauf
seiner Bilder tat er sich schwerer – offenbar nicht aus Qualitätsgründen, sondern deshalb, weil er Hemmungen hatte, sich solcherart auf den
Kunsthandel einzulassen. Seine Tochter sah die Dinge unkomplizierter:
Wie wir dem Tagebuch entnehmen können, erzielte sie beträchtlichen Erfolg beim Verkauf ihrer Bilder an Deutsche wie Franzosen.
Holzer hatte der NSDAP angehört, doch war er dort ganz offensichtlich ein bloßer Mitläufer gewesen und als solcher auch im Entnazifi zierungsverfahren eingestuft worden. Der Abschied von Nationalsozialismus und NS-Staat war ihm nicht schwer gefallen. Da er sich selbst
nichts vorzuwerfen fand, verzichtete er in seinem Tagebuch auf jegliche
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Dritten Reich
und seiner eigenen damaligen Haltung. Andererseits hatten Kriegsende,
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Besetzung und Besatzung sein inneres Gleichgewicht erschüttert. Die
diesbezüglichen Sorgen pflegte er seinem Tagebuch anzuvertrauen. Vor
allem fühlte er sich als gleichsam zwischen zwei Feuern befi ndlich – den
ewig Gestrigen, die vom Dritten Reich nicht loskamen und denen, »die
dauernd mea culpa wimmern« und unter dieser Prämisse Deutschland
neu aufbauen wollten 26.
Den Aktivitäten des Konstanzer »Widerstandsblocks« begegnete er
dem entsprechend mit großer Skepsis, womit er übrigens in Konstanz
keineswegs allein stand 27. Ein gewisses Misstrauen brachte er selbst dem
neuen »Südkurier« entgegen, obwohl er mit dessen Gründungs-Chefredakteur Harzendorf seit seiner Schulzeit befreundet war. Hier wie beim
Widerstandsblock witterte er offenbar Anbiederungsversuche, die ihm
innerlich widerstrebten. Nicht zufällig irritierten ihn ähnliche Aktivitäten der französischen Seite viel weniger: Die »Reinigung« der Schulbibliotheken, das Ausmustern politisch unkorrekter Schulwandkarten, die
schon das Groteske streifende Anordnung, alle Plakate der Militärregierung bewachen zu lassen – alles das entsprach offenbar dem, was Holzer und viele seiner Mitbürger von einer Besatzungsmacht erwarteten.
Demgemäß wurden diese Maßnahmen ergeben hingenommen, allenfalls
müde belächelt. Initiativen des Widerstandblocks hingegen oder Oberbürgermeister Kerles glücklose Aktionen gegen ehemalige NSDAP-Angehörige28 verfielen empörter Ablehnung.
Während Holzer also für den Widerstandsblock und ähnliche Initiativen wenig Verständnis aufbrachte, stellte sich sein Verhältnis zur Besatzungsmacht komplexer dar. Zunächst einmal wurde ihm, wie wohl allen
erwachsenen Konstanzern, täglich vor Augen geführt, dass die Franzosen
die Macht in Konstanz besaßen und sie auch ausübten. Die zahlreichen
Paraden im Sommer 1945, über die Holzer mit grimmiger Heiterkeit berichtete, die absurden Plakatwachen, an denen Holzer sich beteiligen
musste, der Grußzwang während der allabendlichen französischen Flaggenparade – alles das diente dazu, der Bevölkerung immer wieder klar zu
machen, wer in Konstanz zu befehlen, wer zu gehorchen hatte.
Die Konstanzer gewöhnten sich daran, und dieser Gewöhnungsprozess wird auch aus den Tagebucheinträgen erkennbar. Sehr viel schwerer
wogen zwei andere Probleme – die Ernährung und der französische Bedarf an Wohnraum. Der Wohnraumbedarf erwuchs vor allem daraus,
dass in Konstanz mehrere höhere Stäbe der französischen Armee lagen,
deren Angehörige großenteils nicht in den Kasernen wohnen wollten oder
konnten. Für sie benötigter Wohnraum wurde vom ersten Tag der französischen Besatzungszeit an durch Beschlagnahme privater Häuser oder
Wohnungen gedeckt; es sollte mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis die letzten beschlagnahmten Wohnungen wieder geräumt waren. Holzer, der in
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schöner Wohnlage in der Alpenstraße wohnte, erlebte die Beschlagnahme
einzelner Zimmer oder auch ganzer Häuser immer wieder aus nächster
Nähe mit. In seinem Tagebuch hielt er einiges von den Problemen fest, die
solche Maßnahmen für die betroffenen Familien aufwarfen.
Schließlich erreichte die Beschlagnahmewelle auch Holzer und seine
Familie, aber man hatte Glück im Unglück: Im Holzer’schen Fall wurde
nicht das ganze Haus, sondern nur ein einziges Zimmer sowie das Bad
konfisziert. Dieses Zimmer bewohnte fortan jeweils ein junger französischer Offi zier. Insgesamt sechs solche Mieter lernte die Familie während
der nächsten drei Jahre kennen. Die Notizen über das Zusammenleben
mit diesen Franzosen gehören zu den interessantesten Passagen des Tagebuchs. Zum freudigen Erstaunen der deutschen Quartiergeber erwiesen
sich alle sechs »Zimmerherren« als höfl ich und hilfsbereit. Meistens ergaben sich bald nach ihrem Einzug erste menschliche Kontakte zwischen
beiden Seiten, oft ausgelöst durch das, was Holzer als »Zigarettenspende«
zu bezeichnen pflegte.
Im Lauf der Zeit folgten dann gelegentlich gemeinsame Unternehmungen, nicht selten abendliche Gesprächsrunden, bei denen selbst so
sensible Themen wie die deutschen Konzentrationslager zur Sprache
kamen. Auch darüber berichtet der Verfasser und dokumentiert damit
zugleich die ersten zögernden Schritte auf dem Weg zum guten deutschfranzösischen Verhältnis späterer Jahre. Kürzlich hat Catherine Paysan
diesen Prozess aus französischer Sicht thematisiert: Ihr autobiographischer Roman »L’amour là-bas en Allemagne« ist primär eine Liebesgeschichte. Außerdem zeichnet er jedoch aus eigenem Erleben den nicht immer konfl iktfreien Alltag innerhalb der französischen Garnison in Speyer
nach sowie den schwierigen Prozess einer Verständigung zwischen den
Verlierern von 1940 und 1945 29.
Die zweite der oben angesprochenen beiden Problemzonen war die Ernährung. Wie bereits angedeutet, reichte die Eigenproduktion der französischen Besatzungszone in den ersten Nachkriegsjahren nicht entfernt für
eine angemessene Versorgung mit Lebensmitteln aus. Die Situation wurde
noch zusätzlich dadurch belastet, dass die Franzosen den Nahrungsbedarf
ihrer in Deutschland stationierten Truppen möglichst weitgehend aus der
Produktion ihrer Zone deckten.30 Die deutsche Bevölkerung wiederum
neigte dazu, diese Entnahmen als die eigentliche Ursache ihrer eigenen
Ernährungsmisere zu betrachten. Dies traf zwar nicht zu, doch konnte
die Bevölkerung das nicht wissen. Da die Franzosen begreifl icherweise
sich selbst besser verpflegten als die deutsche Bevölkerung, entstand bei
den Deutschen obendrein der Eindruck, dass bei den Franzosen »geprasst
und geschlemmt« werde, wie Holzer es gelegentlich ausdrückte, während man selbst nur »magere Hungerkost« bekomme31. Als dann jedoch
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einer der Holzer’schen Zwangsmieter eines Tages seine Frühstücksration
mitbrachte, vermerkte Holzer erstaunt, es seien doch »sehr bescheidene
Portionen, was er da erhielt«32. Auch in diesem Fall wirkte der persönliche
Kontakt also eher entkrampfend als verschärfend.
Holzers letzter Tagebucheintrag unterstreicht nochmals das gute, teilweise geradezu herzliche Verhältnis der Familie zu ihren französischen
Mietern: Im Juli 1948 hatte der letzte im Tagebuch erwähnte Mieter seine Frau aus Frankreich nachgeholt und war mit ihr wenig später in eine
eigene Wohnung gezogen. Daraufh in stand Holzers »Franzosenzimmer«
vorübergehend leer, doch riss der Kontakt zu diesem Mieter nicht ab, wie
Holzers letzte Notiz zeigt: »Habe gestern von Madame eine Tüte Würfelzucker erhalten«33.
Mit diesem Satz endet das Tagebuch. Warum Holzer auf weitere Einträge verzichtete, ist nicht bekannt. Ein sorgfältig geplanter Schlusssatz liegt
hier offensichtlich nicht vor, weshalb man wohl vergeblich nach einem
punktuellen Anlass für die Beendigung des Tagebuchs suchen würde.
Wahrscheinlicher ist Folgendes: Schon im Spätsommer 1945 hatte Holzer
die ausführlichen täglichen Einträge gelegentlich als Last empfunden34.
1946 und 1947 hatten dann die zeitlichen Lücken zwischen den einzelnen
Einträgen immer mehr zugenommen, und im folgenden Jahr war während
der ersten fünfeinhalb Monate gar nichts mehr notiert worden. Als dann
die Währungsreform kam, raffte sich Holzer angesichts der Besonderheit
dieses Ereignisses nochmals zu einem Eintrag auf, eingedenk seines Vorsatzes, die »aufregenden Tage und Wochen« der ersten Nachkriegszeit zu
dokumentieren.
Mitt lerweile war dieses Phase der »aufregenden Tage und Wochen«
offenbar vorbei: Die Besatzung war drastisch reduziert worden und hatte sich zu einem selbstverständlichen, aber nicht mehr bedrohlichen Teil
des Konstanzer Stadtbildes entwickelt; zusätzliche Beschlagnahmen von
Wohnraum erfolgten kaum noch; französische Übergriffe oder auch nur
Einwirkungen auf das Geschehen in der Stadt waren selten geworden. Die
Schulen waren längst geräumt, und der Schulbetrieb hatte wieder weitgehend normale Formen angenommen. Dem entsprechend hatte Holzer nun
weniger Zeit für sein Tagebuch als in den unterrichtslosen ersten Nachkriegsmonaten. Auch die Versorgung hatte sich stabilisiert, wenngleich
vorerst noch auf bescheidenem Niveau. Nun ließen die Währungsreform
und die mit ihr einhergehende Füllung der Schaufenster erwarten, dass
bald auch das Versorgungsniveau ansteigen würde. Alles spricht also dafür, dass Holzer einfach deshalb keine weiteren Einträge mehr vornahm,
weil nun zunehmend wieder Normalität den Alltag bestimmte: Die »aufregenden Tage und Wochen« waren vorüber.
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Einleitung
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Insgesamt haben wir es hier mit einem Dokument zu tun, das schwerpunktmäßig vor allem das erste Nachkriegsjahr abdeckt, dieses dafür
jedoch mit teilweise bemerkenswerter Ausführlichkeit. Es ist sozusagen
ein mittelständisches Dokument, das Tagebuch eines bescheidenen Menschen in auskömmlicher, aber keineswegs herausgehobener Position ohne
nennenswerte Ambitionen oder politische Wunschvorstellungen, der lediglich unter annehmbaren Bedingungen leben und arbeiten wollte.
Holzers Lebensumstände gestalteten sich, verglichen mit denen anderer Bevölkerungsgruppen, nicht ungünstig. Dennoch lässt sein Tagebuch
immer wieder erkennen, wie massiv die besonderen Umstände der Jahre 1945/46, jene »aufregenden Tage und Wochen«, das Leben selbst des
zurückgezogen und in geordneten Verhältnissen lebenden Bürgers berührten. Zugleich liefert uns das Tagebuch ein getreues Abbild des Alltags
während jener Monate – des täglichen Kampfes um Ernährung, Kleidung
und Heizung und der nagenden Ungewissheit hinsichtlich dessen, was
schon der nächste Tag bringen konnte. Wir erleben das jene Monate oft
kennzeichnende politische Desinteresse mit, aber auch die bescheidenen
Vergnügungen der frühen Nachkriegszeit – Spaziergänge am See, einzelne Theater- oder Konzertbesuche und vor allem Besuche bei oder von
Freunden. Sie galten nicht nur der Zerstreuung, sondern erleichterten
außerdem den Austausch von Informationen, manchmal den Tausch
von Lebensmitteln oder Haushaltsgerät und dienten nicht selten auch
der wechselseitigen Hilfe, falls Wohnungen von der Besatzungsmacht requiriert wurden. Wir erleben aber auch die zaghaften Anfänge deutschfranzösischer Kontaktaufnahme jenseits des rein dienstlichen Bereichs.
Sie bestätigen erneut die Vermutung, dass vieles von dem, was sich im kollektiven Gedächtnis an negativen Erinnerungen über die »Franzosenzeit«
erhalten hat, einer nüchternen Prüfung nicht standhalten würde.
Die subjektive Glaubwürdigkeit des Holzer’schen Tagebuchs steht
außer Zweifel. Wie oben schon berichtet, bezweckte ihr Verfasser weder
Rechtfertigung oder Abrechnung, noch Selbstdarstellung: Ihm ging es
lediglich darum, seine eigenen Erfahrungen für sich ganz persönlich festzuhalten. Jede Weitergabe seiner Aufzeichnungen an Dritte oder gar deren Veröffentlichung lagen weit außerhalb seiner Absichten. Damit entfiel
auch die Notwendigkeit, sich selbst in irgendeiner Weise zu inszenieren:
Holzer zeichnete auf, was ihm erinnernswert schien; dies tat er nach besten Kräften und ohne Hintergedanken. Weitergehende Absichten hegte
er nicht.
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Lothar Burchardt
Abschließend seien einige technische Bemerkungen angefügt:
1. Wo es nötig oder zweckdienlich schien, wurde der Text jeweils durch
Anmerkungen erläutert oder ergänzt.
2. Dem Text ist eine Auswahlbibliographie beigefügt. Sie enthält alle in
den Anmerkungen genannten Titel und gibt außerdem einige weiterführende Literaturhinweise.
3. Rechtschreibe- und Interpunktionsfehler wurden stillschweigend
korrigiert, gängige Abkürzungen stillschweigend aufgelöst.
4. Zahlen von eins bis einschließlich zehn wurden ausgeschrieben.
5. Ein kleiner Datierungsfehler im Juni 1945 wurde stillschweigend korrigiert.
6. Lücken im Original wurden als solche durch ... gekennzeichnet, offensichtlich vergessene Wörter in [] hinzugefügt.
7. Buchtitel etc. werden bei ihrer ersten Nennung vollständig bibliographiert. Später erscheinen sie nur noch mit Verfassernamen bzw. Kurztitel.
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Die folgende biographische Skizze Herbert Holzers beruht in erster Linie auf
mündlichen Angaben von Frau Gretel Klausmann, seiner Tochter. Ich möchte
Frau Klausmann auch an dieser Stelle für ihre ebenso willige wie sachkundige
Kooperation danken. Als wertvolle zusätzliche Quelle diente ein handschriftlich geführtes Erinnerungsbuch des Verfassers, das vor allem in den fünfziger
und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand. Es enthält autobiographische Episoden, die oft durch entsprechende kolorierte Zeichnungen ergänzt wurden. Dieses Erinnerungsbuch befindet sich in Familienbesitz, wurde
mir aber dankenswerter Weise zur Einsichtnahme zugänglich gemacht. Es wird
im Folgenden zitiert als »Holzerbuch«.
Im Kaiserreich galt folgende Regelung: Wer die mittlere Reife erworben
oder das Abitur abgelegt hatte und sich freiwillig zum Militärdienst meldete,
brauchte nur ein Jahr anstelle der sonst üblichen zwei Jahre abzuleisten.
Zu den Kämpfen bei La Bassée im Oktober 1914 vgl.: Geschichte des 6. Badischen Infanterie-Regiments Kaiser Friedrich III. Nr. 114 im Weltkrieg
1914 - 1918. Zeulenroda o.J. (1932), S. 74f. Speziell für Holzers Schicksal vgl. außerdem: Holzerbuch, S. 234-238.
Über die Austauschaktionen berichtet Arnulf Moser, Die Grenze im Krieg.
Konstanz 1985, S. 38-43. Speziell für Holzers Erlebnis vgl. Holzerbuch, S. 386.
Holzerbuch, S. 8. Ergänzend vgl. ebd., S. 380-382.
Eine Skizze der Schulgeschichte während dieses Zeitraums gibt: EllenriederGymnasium Konstanz (Hg.), 1877 – 2002. Ellenrieder-Gymnasium Konstanz.
Konstanz 2002, S. 25-35.
Käthe v. Normann, Ein Tagebuch aus Pommern 1945 – 1946: Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus
Ost-Mitteleuropa, 1. Beiheft. Bonn 1955; Taschenbuchausgabe München 1962
Margaret Boveri, Tage des Überlebens: Berlin 1945. München 1968;Taschenbuchausgabe München 1970
Carl Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Göttingen 2004
Ernst Jünger, Jahre der Okkupation. Stuttgart 1958
So der Klappentext der ersten Ausgabe von Jüngers »Jahre der Okkupation«.
Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher von Juni bis Dezember 1945. Berlin 1995; Taschenbuchausgabe Berlin 1996. Im Folgenden wird
nach der Taschenbuchausgabe zitiert.
Tagebucheintrag vom 18.9.1945 (S. 136 der Taschenbuchausgabe)
Jürgen Klöckler (Hg.), Chronik des Kreises Rottweil 1945 – 1949. Rottweil
2000
Detaillierte Angaben zur Versorgung der Konstanzer Bevölkerung in den Jahren 1945/1946 finden sich in: Lothar Burchardt, Konstanz zwischen Kriegsende
und Universitätsgründung. Konstanz 1996 (= Geschichte der Stadt Konstanz,
Bd. 6; fortan zitiert: Konstanz 6), S. 77-79, 176-182 und 185f.
Eine Raucherkarte ist abgebildet in Konstanz 6, S. 94.
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Lothar Burchardt
Konstanz 6, S. 176f.
Konstanz 6, S. 84
Einzelheiten bietet Konstanz 6, S. 88f.
Tagebucheintrag Klemperers vom 19.8.1945 (Klemperer, S. 98); ähnlich ebd.
S. 14f., 93 etc. Speziell für Konstanz vgl. beispielsweise die Einträge des vorliegenden Tagebuchs vom 5. und 11.9.1945
Vgl. oben Anmerkung 15.
Vgl. aus der Fülle der Literatur z.B. Michael Wildt, Am Beginn der Kosumgesellschaft. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland in den 1950er
Jahren. Hamburg 1993, ferner die Umfrage-Ergebnisse in: Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947 – 1955. 3.
Aufl. Allensbach 1956, S. 148-155. Speziell für Konstanz vgl. Konstanz 6, S. 222f.
Vgl. z.B. Klemperer, S. 10, 18, 91, 93 etc.
Den Zusammenhang zwischen unzureichender Ernährung in Kriegszeiten und
sinkender körperlicher Leistungsfähigkeit thematisiert neuerdings beispielsweise Arnulf Hügel, Kriegsernährungswirtschaft Deutschlands während des
Ersten und Zweiten Weltkriegs im Vergleich. Konstanz 2003, Kapitel 6 und 7.
Vgl. dazu allgemein Fritz Federau, Der Zweite Weltkrieg. Seine Finanzierung
in Deutschland. Tübingen 1962, S. 45, 59 und 65f. Speziell für Konstanz vgl.
Konstanz 6, S. 142 und 220.
Tagebucheintrag vom 7.6.1947.
Zum Konstanzer Widerstandsblock vgl. Konstanz 6, S. 114-116.
Zu Kerles Versuchen, die ehemaligen Parteimitglieder zur Rechenschaft zu ziehen, vgl Konstanz 6, S. 65-68 und 120 sowie die Tagebucheinträge vom 10. und
12.6.1945.
Catherine Paysan, L’amour là-bas en Allemagne. Paris 2006.
Über die französische Entnahmepolitik berichtet F. Roy Willis, The French in
Germany, 1945 – 1949. Stanford, CA 1962, S. 106f. Vgl. auch Rudolf Laufer, Industrie und Energiewirtschaft im Land Baden 1945 – 1952. Freiburg und München 1979, S. 135 sowie Konstanz 6, S. 80-82.
Vgl. den Tagebucheintrag vom 6.6.1947.
Vgl. den Tagebucheintrag vom 17.7.1947.
Vgl. den Tagebucheintrag vom 27.8.1948.
Vgl. den Tagebucheintrag vom 5.9.1945.
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Das Tagebuch von Herbert Holzer
23. Mai 1945 bis 27. August 1948
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Herbert Holzer (1889 –1980)
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Mittwoch, 23.5.1945
Es ist 7 Uhr abends Sommerzeit, also eigentlich erst 6 Uhr, die Zeit des
täglichen Ausgehverbots35. Vor einer Stunde kam ich todmüde von der
Plakatwache36 zurück und brachte mich mit drei Tassen Kaffee, die sogar etwas Magermilch enthielten, einer gekochten Kartoffel und einem
Stücklein Brot wieder auf die Beine. Fräulein Kamprath stiftete noch ein
paar Finger voll Trockenzwiebeln. Johanna37 sitzt im Zimmer bei Fräulein
Neugebauer, die ein Tütchen Vogelfutter brachte. Gretel38 kam soeben
nach dem vergeblichen Versuch, Brot oder Gemüse zu erhalten, zurück.
Seit 26. April, nachmitt ags 3.15 Uhr sind die Franzosen in unserer
Stadt. Aufregende Tage und Wochen liegen hinter uns, und noch aufregendere stehen uns vielleicht bevor. Die Zeit ist eine ununterbrochene
Kette von Nervenproben, und Tag und Nacht ist man auf unangenehme
Überraschungen gefaßt. Jedes durch die Straße fahrende Auto läßt einen
den Atem anhalten, und wenn es an der Ecke einen Augenblick bremst, ist
man schon darauf gefaßt, daß ihm ein paar Offi ziere entsteigen, um das
Haus wegen Beschlagnahmung zu besichtigen. Die meisten Familien der
näheren Umgebung mußten bereits ihr Heim verlassen. Sie bekamen ein
bis zwei Stunden, wenn es hoch kam einen Tag Zeit, um das Allernotwendigste, wie Kleider, etwas Bett zeug und Lebensmittel herauszuschaffen.
Die ganze rechts und links neben uns liegende Seite der Haydnstraße ist
zur Beschlagnahmung vorgemerkt.
Samstag, 26.5.1945
Zwei bange Tage liegen wieder hinter uns. Schon vorgestern Abend fuhr
der Lautsprecher durch die Stadt und verkündete, daß jeder männliche
Einwohner einen Anzug mit zugehöriger Wäsche, die Parteigenossen
aber alles bis auf das abzugeben hätten, was sie auf dem Leibe trügen. Und
schon standen die mit der Beschlagnahmung Beauft ragten vor der Tür,
Hilfspolizisten und städtische Beamte. Auch gestern dauerte die Sammlung an. Zechiel39 mußte seine beiden besten Anzüge, Hugo Schäfer40
restlos alles abgeben, was er besaß. Da er als befohlener Beschlagnahmer
von Clubsesseln, Divan usw. auch sonst noch in die schwierigsten Lagen
kommt, steht dem Armen der Gedanke an Selbstmord bedenklich nahe.
Ich stand heute früh wieder Posten. Auf dem Heimweg sprach ich mit
Präsident Homburger41, der mit seinen bald 80 Jahren die Glärnischstraße
entjäten und reinigen mußte. Er trug dabei seinen besten dunklen Anzug,
aus Angst, er könnte ihm in der Abwesenheit zu Hause weggenommen
werden. Von einer kleinen Gruppe hörte ich, daß hinter Allmannsdorf
zwei Häuser geplündert wurden. Es waren wohl keine französischen SolBURCHARDT, Aufregende Tage und Wochen. ISBN 978-3-86764-251-4
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Tagebuch
daten, die im Allgemeinen sehr anständig und zum Teil sogar recht mild
sind, sondern wahrscheinlich eigenes Gesindel, das seit der neuesten Entwicklung hier Oberwasser spürt. Heute abend war Herr Professor Röhrer42 da, mit dem ich zur Zeit auf Posten bin und brachte einen Brief an
seine Frau in Heidelberg. Gretel soll ihn in einen solchen an Lottchen Kull
stecken, den ein freundlicher Amerikaner mitnehmen will.
Familie Hans Stromeyer43 mußte heute ihr Haus verlassen. Die übrigen Nachbarn sind noch in banger Sorge, wann das Schicksal auch sie
erreichen wird. Geigers holen langsam ihre Sachen wieder bei uns ab. Es
wurde bei ihnen nur ein Stockwerk beschlagnahmt. Unser kleines Zimmer sieht aber immer noch wie das Innere eines Möbelwagens aus. Tante
Antoinette habe ich einen Zettel an die Türe geheftet mit der Bitte, auf die
älteste Bürgerin mit ihren 96 Jahren Rücksicht zu nehmen 44.
Es kam mir heute vor, als ob nicht mehr so viel Militär hier wäre, jedoch
stehen in der Laube und auf dem Stefansplatz immer noch ziemlich viele
Panzer und Raupenwagen 45. Neger und Marokkaner sah ich heute keine.
Diese sind übrigens sehr freundlich und anständig, und ich beobachtete
schon mehrmals, wie sie die Kinder mit Süßigkeiten fütterten.
Sonntag, 27.5.1945, 8.45 Uhr vormittags
Ich komme soeben wieder vom Postenstehen zurück. Die Unterhaltung
mit Dr. Röhrer war heute wie eine Art Frühgottesdienst. Ich beneide den
Mann um seine üppige Mundgegend, die Kraft und Sicherheit ausdrückt.
Wir sind so ziemlich derselben Meinung über Mensch und Leben. Fühle
mich in meiner Auffassung sehr bestärkt. Heimweg über die Seestraße. Es
hat doch noch Marokkaner hier. Die ganze Seestraßenfront ist beschlagnahmt. In der Hebelstraße liegt wie bei Erwin und vor Hübingers46 Haus
ein zuschandengefahrenes Auto. Sie sind bereits ausgeschlachtet. Den
leichter zu bewegenden Dreck, wie kaputtes Hauszeug, Rationenschachteln, Konservenbüchsen usw. müssen die Anwohner bis 5 Uhr nachmittags sauber weggeräumt und gekehrt haben. Das erste Mal durften wir
dies am Pfi ngstsonntag tun, dem Tag der Parade vor General de Gaulle 47.
Es war ein großes Hacken, Scharren und Kehren in der Haydnstraße und
Alpenstraße. Alles was Arme und Beine hatte, mußte angreifen. Das reizte
zu Scherzen und nahm der Sache das Entwürdigende. Um 5 Uhr mußten
alle Bewohner der Stadt in ihren Wohnungen sein, die Läden öff nen, Fenster schließen und Vorhänge zuziehen. Der Aufenthalt hinter den Vorhängen war streng verboten. Die Geschichte wurde dann wieder abgeblasen
und auf den anderen Morgen verlegt.
Heute werden wir es gut haben. Fräulein Kampraths frühere Kollegin
brachte uns ein Pfund Fleisch aus Radolfzell mit, wo die Versorgung wie
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Sonntag, 27.5.1945, 8.45 Uhr vormittags
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überall sonst besser ist als hier in Konstanz, dem »Fiedlen«48 Deutschlands. Wir sind hier so übel dran, daß man demnächst von Hungersnot
sprechen kann. Einmal in der Woche 50 Gramm Fleisch, das heißt, wenn
man in der Riesenschlange vor dem Laden noch vor der Mitte steht. Die
Bäckereien zeigen in der Zeit, in der sie Brot haben, 40 – 50 Meter lange
Anstehbänder. Zucker ist uns schon so fremd, daß wir bald nicht mehr
wissen, wie er schmeckt. Gemüse kommt auch keines auf den Markt, da
es zur Zeit beschlagnahmt ist. Die Reichenau, die uns versorgen könnte,
ist bis auf einen Teil der Männer von den Bewohnern geräumt 49. Sie soll
Auffanggebiet für die Konzentrationslagerbefreiten sein. Leider weiß aber
niemand etwas, auch in allen anderen Dingen. Was man erfährt, erfährt
man gerüchtweise, und die Phantasie treibt die verrücktesten Blüten.
Professor Oster sitzt seit drei Wochen in der Kaserne fest50. Sie behielten ihn wie viele andere nach der Volkszählung als Geisel zurück.
Diese Volkszählung war eine Männerzählung, zu der man für fünf Tage
Verpflegung mitbringen mußte. Ich hatte bereits mit einer Verschickung
gerechnet, kam als Kriegsverletzter aber am Abend wieder heim. Erwin
mußte mit der großen Masse in der Reithalle der Klosterkaserne übernachten. Der Ausweis, den wir bekamen, sagte aus, daß es einem erlaubt
sei, vorläufig in Konstanz zu wohnen.
An den Anschlagsäulen, an Bretterzäunen und Schaufenstern hängen
in Massen Plakate des Gouvernement Militaire, die Vorschriften und Verhaltensmaßregeln in Deutsch, Französisch und Englisch enthalten. Ihnen
gilt unsere tägliche Wache. Außer uns Lehrern sind noch die Postbeamten
dazu eingeteilt. Wir haben zu verhindern, daß solche Anschläge verletzt
oder entfernt werden, was, einem der französischen Affiches zufolge, die
Niederbrennung eines Stadtviertels nach sich ziehen würde51.
Ich sprach oben von den Entbehrungen, unter denen wir leiden. Sie stehen in schärfstem Gegensatz zu den Stunden vor und den ersten Tagen
nach der Besetzung, über die ich nun schreiben werde. Einmal, es war am
[1. Mai]52, hatten wir es besonders gut. Wir bekamen 12 Mann ins Quartier, die uns bei ihrer plötzlichen Abberufung während des Frühstücks
allerlei Kostbarkeiten zurückließen. Unter anderem konnten wir uns einmal wieder an märchenhaft süßem Milchkakao gütlich tun. Noch tagelang naschten wir Biskuits und eine Art süßer Kornflocken. Erinnerungsstützen: Deutschredender Student (Medizin oder Zahnheilkunde) aus
Belfort, sehr netter Kerl/Hock in der warmen Küche/Ausräumen meiner
Zimmer/Matratzen und Betten von Laukus, Goedecke und Dr. Frank/der
Filou mit dem Kaugummi, überhaupt der Kaugummi/Luftgewehr und
angeschossenes Hühnerbeinchen/Hühnerrupfen und Hühnerbraten/der
kaputte Rundfunkapparat, überhaupt das requirieren (Waffen und Photoapparate) an diesem Tag/außer meinem Kalendertäfelchen nichts weggeBURCHARDT, Aufregende Tage und Wochen. ISBN 978-3-86764-251-4
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Tagebuch
kommen, im Gegenteil, also lauter sehr anständige Soldaten/französisch
parlieren – das iljabbatem = il n’y a pas de temps/Morgentoilette im Garten, wo große Schweinerei – drei Stück Seife/allgemeiner Eindruck des
Befreitseins von dem Druck der letzten Jahre. Jetzt, das heißt heute?
Montag, 28.5.1945
Gestern Abend die letzte Flasche Sekt weggetrunken, nachdem ich mir
den Kopf wundgearbeitet hatte – Vermögenserklärung an Devisenstelle
des Gouvernements. Um ½ 5 Uhr aufgestanden und weitergearbeitet, von
½ 7 bis 8 wieder Posten geschoben mit Dr. Röhrer. Unterhaltung wieder
recht stärkend. Nachher zu Lueger. Darauf Zeichenstunde im Garten für
die drei Kühnen-Buben und den kleinen Schuhmacher, nachher wieder
Vermögenserklärung. Um 12 Uhr zu Zechiel wegen Durchsicht. Dort großer Umtrieb, da sie innerhalb einer Stunde das Haus verlassen mußten.
Auch Frau Kecks und Grießers Haus beschlagnahmt. Es ist jammervoll.
Um 4 Uhr zur Stadt mit Koffern und Schachteln, sowie den Kleidern für
die Sammlung von Frauenausstatt ung. Die Koffer und Schachteln bei Eltern der Antoinette niedergelegt. Abends 9.15 Uhr Lautsprecherverkündigung betreff s Ausgehzeitverlängerung (morgens 6 bis abends 10 Uhr).
Letztere gewährt auf Fürbitte des Münsterpfarrers Kuenzer als Vertreter
des Erzbischofs Gröber53. Frau Oberst Neugebauers Tochter, die auch ihr
Haus verlassen mußte, bei uns zum Schlafen. Zieglers in großer Sorge wegen der drohenden Ausweisung. Herrn Straehl54 bzw. seiner Frau die Vollmacht für die Kreuzlinger Bank gegeben, um die Summen des Nachlasses
der Mutter zu erfahren.
Dienstag, 29.5.1945
Nach dem täglichen Wacheschieben mit Röhrer nach Hause gegangen.
Gretel zur Ablieferung der Kleider Johannas. Als Frau eines Parteigenossen mußte sie eine volle gute Garnitur mit Schuhen abgeben55. Den ganzen
Tag räumen und richten, da die Beschlagnahmung wie eine Seuche durch
unser Viertel geht. Die völlig gelähmte bzw. steife Frau Schmeche mußte
auch raus. In der Wohnung bei uns sieht es aus wie in einer Zigeunerbude.
Fräulein Neugebauer wieder bei uns zum Schlafen. Heute war Besichtigung der Mozartstraße. Die Leute dort bringen bereits ihre Sachen fort.
Flüchtlingselend überall, doch ist man bereits daran gewöhnt. Zorn und
Angst ist einer Verachtung gewichen.
Heft ige Zwiesprache mit Fräulein Fehling wegen mangelnden Stolzes
und der immer noch vielfach anzutreffenden Selbstbeschmutzung des eigenen Nests. Die heutigen Lautsprecherverkündigungen drangen nicht zu
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